Ethan und seine Mannschaft erreichten Ain Suleiman am nächsten Tag um die Mittagszeit. Sie lösten eine wahre Hysterie unter den Frauen aus. Zwar redete ihr Führer Ayyub, der ein wenig Tamasheq sprach, beruhigend auf sie ein, aber sie versteckten sich im Palmendickicht und wollten nicht wieder herauskommen. Von Mohamed, Aehrenthals Führer, war weit und breit nichts zu sehen.
Die Mönche nahmen ihre Waffen und stiegen aus, um nach Aehrenthal und dessen Truppe zu suchen. Sie wussten, dass das Geräusch ihrer Motoren sie aufmerksam gemacht haben musste. Als sie ausschwärmten, stießen sie bald auf die Leichen. Hier musste etwas passiert sein. Dann rief plötzlich eine Stimme.
»Ethan! Gavril! Es ist alles in Ordnung! Nehmt die Waffen herunter. Mit Aehrenthal ist es vorbei. Er und seine Männer sind alle tot.«
Ethan fuhr herum. Sein Herz schien ihm wie ein Vogel aus der Brust zu fahren und davonzufliegen. Durch den Sand kam Sarah auf sie zu, begleitet von einem Tuareg auf der einen und von einer jungen Tuareg-Frau mit einem Kind auf dem Arm auf der anderen Seite.
»Ich habe schon gefürchtet, du seist tot«, sagte er. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er bemerkte sie kaum.
»Auch ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben«, antwortete sie. Dann schluchzte sie tief auf und sank ihm in die Arme. Er drückte sie an sich, als wollte er einen Geist ins Leben zurückholen. Am liebsten hätte er mit ihr gesungen und getanzt oder auch nur schweigend dagesessen und ihre Hand gehalten.
Nach einer langen Umarmung führte sie Sarah zum Teich, wo sie sich erfrischen konnten. Der Koch brachte etwas zu essen, und die Mönche ließen sich am Wasser nieder, wo sie aßen und die Speisen mit frischem Wasser hinunterspülten, das Flaviu und Claudiu von der Quelle geholt hatten. Währenddessen schilderte Sarah Ethan und Gavril, so weit sie sich erinnern konnte, was inzwischen geschehen war. Das Morden, ihren Gang nach Wardabaha und Aehrenthals Ende.
»Ich bin ein bisschen dort unten herumgegangen«, sagte sie dann. »Diese Stadt ist viel größer als die Synagoge und die Gräber, die dein Großvater entdeckt hat. Sie sind vielleicht der wichtigste Teil, aber viele Archäologen-Teams werden Jahrzehnte brauchen, um das ganze Areal auszugraben. Wer weiß, worauf sie dabei noch stoßen?«
Sie lächelte in sich hinein. So viele Stunden hatte sie zusammengekauert dort unten gesessen. Nicht wegen Egon Aehrenthals Tod, der ihr jetzt schon nebensächlich erschien. Was war Aehrenthal angesichts der Gebeine von Jesus Christus, dem Speer des Longinus oder der Dornenkrone? Aber darum allein ging es nicht. Sie wusste etwas, das die halbe Welt in ihren Grundfesten erschüttern würde. Das betraf nicht die Reliquien, die Grabstätten, einen Haufen alter Knochen.
Sie ließ eine Hand ins Wasser sinken und spürte, wie es über ihre Haut rann. Später, wenn es dunkel war, wollte sie hierherkommen, sich nackt ausziehen und eine große Schüssel Wasser über sich gießen, um alles abzuwaschen, um sich von Aehrenthals Schmutz und Missbrauch zu reinigen. Sie lächelte sanft.
Neben ihr saß die junge Frau, die sie in der Nacht zuvor bei den Grabstätten gefunden hatte, die Frau mit dem kleinen Kind. Die hatte lange mit Mohamed, dem Tuareg-Führer, gesprochen.
Auf der anderen Seite neben ihr saßen Ethan und Gavril. Sie schickten sich an, zum ersten Mal die Heilige Stadt zu betreten, aus der man die Leichen von Aehrenthals Männern und den Frauen, die sie dort umgebracht hatten, inzwischen entfernt hatte.
»Ethan, Gavril«, sagte Sarah, »ich muss euch etwas erklären. Das ist gar nicht einfach zu verstehen. Die junge Frau neben mir ist die jüngste Witwe von Idris agg Yusuf, der Oberhaupt dieser Oase war, als Aehrenthal hier eintraf. Sein Leichnam liegt bei denen der anderen Männer, die begraben werden müssen.
Idris ist der arabische Name des Propheten Enoch. Yusuf ist Joseph. Alle Führer der Tuareg dieser Oase trugen die Namen von jüdischen Propheten oder Heiligen. Da sie in ihrer muslimischen Form gebraucht wurden, ist das niemandem aufgefallen. Aber alle Männer hier haben jüdische Namen. Es ist durchaus möglich, dass sie gar keine Tuareg sind, sondern direkte Nachkommen der jüdischen Christen, die die Oase einst als Erste besiedelt haben. Mehrere Männer haben Aehrenthals Massaker überlebt. Damit kann diese Linie weitergeführt werden. Aber da ist noch etwas. Fragt diese junge Frau, wie sie heißt.«
Ethan blickte Gavril erstaunt an. Keiner begriff, worauf Sarah hinauswollte.
Gavril sprach als Erster.
»Mohamed, fragen Sie bitte diese Frau, wie ihr Name ist.«
Die Antwort kam ohne Zögern.
Mohamed nickte.
»Sie heißt Maryam, was Maria bedeutet«, erklärte er. »Ihr Name ist Maria.«
»Fragen Sie sie, wie Ihre Mutter heißt.«
Das tat er.
»Hana«, sagte das Mädchen.
»Übersetzt ist der Name ihrer Mutter Anna.«
»Und jetzt fragen Sie sie nach dem Namen ihres Kindes.«
»Isa«, lautete die Antwort.
Mohamed blickte Gavril und Ethan verdutzt an.
»Das ist die arabische Form von Jesus«, sagte er. »Ihr Baby heißt Jesus wie der Prophet, salla, llah, alayhuma wa sallam.«
Tiefes Schweigen breitete sich aus, als der Zusammenhang den Anwesenden bewusst wurde. Als Erster fand Gavril seine Sprache wieder.
»Ich verstehe nicht«, sagte er. »Wie ist das gekommen?«
Sarah musste lächeln.
»So richtig verstehe ich es auch noch nicht. An diesem Problem werden Sprach- und Ahnenforscher wohl noch lange zu arbeiten haben. Aber im Moment stelle ich mir das so vor: In Wardabaha besteht offenbar seit langer Zeit eine heilige Abstammungslinie. Vielleicht seit 2000 Jahren. Seit der Zeit, da die ersten jüdischen Siedler um 70 nach Christi hierhergekommen sind. Die Linie reicht aber offenbar noch weiter zurück. Wenn ich recht habe, dann hat Jesus Nachkommen gehabt – Söhne und Töchter. Als Jerusalem niedergebrannt wurde, haben beide Linien die Stadt verlassen und sind bis hierher gezogen. Die weibliche Linie hat sich durchgesetzt, wie das bei den Juden stets war. Maria hat mir gesagt, die Frauen hier hießen immer im Wechsel Anna oder Maria. Und jedes männliche Kind wird Jesus genannt.
Heutzutage kann man DNA-Tests machen lassen. Wenn ich recht habe, dann ist dieses Kind ein direkter Nachkomme von Jesus Christus über dessen Tochter Anna.«
Gavril liefen Tränen übers Gesicht. Von etwas Derartigem hatte er noch nie geträumt, aber schon die Vorstellung war zu viel für ihn.
»Was machen wir mit ihnen?«, fragte Ethan.
»Machen?«
»Wollen wir diese junge Frau etwa aus ihrer Heimat reißen, die sie kennt, und sie mit ihrem Kind in eine Umgebung verpflanzen, wo sie zum Ziel für alle Sensationshungrigen dieser Erde werden wird? Schau dir doch an, was allein aus einer Prominenten wie Britney Spears geworden ist, wie der Ruhm zerstört, was er aufbaut. Dieses Kind wird als Sohn Gottes und was sonst noch alles hingestellt werden. Es wird keinen Augenblick mehr Frieden haben. Es dauert nicht lange, da richtet die Welt es zugrunde.«
»Und was schlägst du vor?«
»Man müsste einen Weg finden, um diese Siedlung wieder aufzubauen. Wir lassen die Reliquien hier. Wir finden ein paar junge Tuareg, die hierherkommen, heiraten und Kinder haben wollen. Sie werden unter Eid verpflichtet, die Existenz von Ain Suleiman oder Wardabaha nie preiszugeben. Die Frauen von hier und die überlebenden Männer weihen sie in die Geschichte ihrer Vorfahren ein. Aber dieser Ort wird unter dem Sand bleiben, wo er bisher war. Mit der Zeit wird Jesus heiraten und selbst Söhne oder Töchter haben, vielleicht auch beides. Die Linie wird weiterleben.«
Gavril brauchte länger, um sich zu äußern. Seine Hoffnungen hatten sich erfüllt und waren ebenso rasch wieder zerstört worden. Er saß nur wenige Meter von dem neuen Christuskind entfernt. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Menschen wussten oder was sie taten. Konnten die Jungen mit dem Namen Isa wohl Wunder vollbringen? Weckten sie die Toten wieder auf und heilten sie die Kranken? Würden die Männer und Frauen, die Aehrenthal umgebracht hatte, wieder lebendig, wenn dieses Kind ihnen seine Hand auflegte? Oder funktionierte das nicht?
»Ja«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben recht. Wir kommen hierher zurück, um dafür zu sorgen, dass es ihnen gutgeht. Ich würde gern öfter kommen und Isa aufwachsen sehen. Ich möchte ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe bringen. Oder vielleicht nützlichere Dinge.«
Das Baby begann heftig zu schreien. Seine Mutter Maria suchte den Jungen zu beruhigen. Sie gab ihm die Brust, und langsam wurde er still. Als das Kind nicht mehr weinte, fiel Gavril etwas auf. Das Wehklagen der Frauen, das seit dem Abend zuvor ohne Unterlass erklang, hatte sich verflüchtigt wie eine Wolke vor der Sonne. Tiefe Ruhe herrschte in der Oase. Sie sickerte durch die Palmenwedel auf das blaue Wasser, bevor sie ihren Weg in die endlose Wüste nahm.
Maria erhob sich und gab Sarah den Kleinen. Dabei schaute sie sie an und redete mehrere Minuten lang.
Sarah wiegte das Baby und fasste dann zusammen, was Maria gesagt hatte. »Ich habe dich gefragt, wieso du keine Kinder hast, habe aber deine Antwort zunächst nicht verstanden. Du sagtest, du seist fünfundzwanzig Jahre alt und hättest noch keinen Mann. Das muss ein merkwürdiges Land sein, wo du herkommst. Ich habe Gott gebeten, dir einen Mann zu geben, der einen großen Penis hat und dir viele Kinder macht. Ich habe meinen Mann verloren. Jetzt musst du einen haben.«
Sarahs Übersetzung löste große Heiterkeit aus. Sie gab Maria den Jungen zurück und wandte sich dann, immer noch lachend, Ethan zu.
»Na, Ethan Usherwood, was sagst du nun? Fühlst du dich groß genug für den Job?«
Später führte sie ihn in die Synagoge, die schon halb eine Kirche war. Sie stiegen in die Krypta hinab. Einige der Mönche waren zuvor unten gewesen, um das grelle Licht fortzuräumen, das Aehrenthals Truppe dorthin gebracht hatte, und es durch Hunderte Kerzen zu ersetzen.
Die Mönche sprachen still das Jesusgebet in der Tradition der Ostkirche. Sarah, der noch vor Augen stand, was sich hier vor wenigen Stunden abgespielt hatte, erschauerte. Das Blut war fortgewaschen, und überall brannte Weihrauch. Der Geruch von Speik, Onycha und Styrax zog durch den Raum. Später sollten hier Messen und Gebete stattfinden, um den Ort von den Schrecken des jüngsten Geschehens zu reinigen.
Sie verweilten noch ein wenig, dann gingen sie wieder an die frische Luft hinaus. Nun endlich berichtete sie Ethan, wie sie Aehrenthal mit dem pilum durchbohrt hatte. Als sie endete, erhob sich ein kalter Wind. Der trug Fetzen der Totenklage der Frauen herüber, die erneut eingesetzt hatte.
»Willst du mich heiraten?«, fragte er.
»Das brauchst du mich doch nicht mehr zu fragen.«
»Bist du dir sicher?«, wollte er dennoch wissen.
»Wenn du noch einmal davon anfängst, nehme ich alles zurück.«
»Du hast noch nicht ja gesagt.«
Sie schaute ihm in die Augen.
»Ja«, flüsterte sie, »ja.«
Noch am selben Nachmittag traute sie Gavril in der Synagogenkirche. Maria mit ihrem Kind war da, weitere Frauen und ein Mönchschor. Wolken von Weihrauch schwebten durch den Raum, und Kerzen in den uralten Ständern verbreiteten ein Licht, das es hier jahrhundertelang nicht gegeben hatte. Weder Ethan noch Sarah verstanden ein Wort der auf Rumänisch ablaufenden Zeremonie, aber das war jetzt nicht so wichtig. Maria hatte ihnen Ringe geschenkt. Die Frauen hatten Sarah mitgenommen, nackt ausgezogen, gewaschen und ihre Hände mit Henna gefärbt, sie in Tuareg-Kleider gehüllt und so zur orthodoxen Trauung gebracht. Als der Gottesdienst zu Ende war und die letzten Worte verklangen, küsste Ethan seine Braut, und die Frauen von Ain Suleiman brachen das Schweigen mit lautem Geschrei. Diesmal nicht der Trauer, sondern der Freude.