Kapitel 27

Pippa stand im Wohnzimmer vor der Stereoanlage und suchte vergeblich nach der ausgewählten Tagesmusik.

Kein Wunder, dachte sie, der gestrige Abend war so aufregend, dass Christabel nicht einmal mehr ihrem liebgewonnenen Ritual folgen und CDs herauslegen konnte.

Nach kurzem Zögern wählte Pippa deshalb britische Komponisten aus, denn eine Erinnerung an ihre zweite Heimat bot Christabel und ihr neutraleren Gesprächsstoff als die verwirrenden Zusammenhänge zwischen Florian, seiner Mutter, Severin und Hollweg, und Pippa wollte zusätzliche Aufregung vermeiden.

Sie beschloss, Christabels Frühstückstablett nicht wie sonst mit dem Treppenlift nach oben zu bringen, denn im Gästezimmer des ersten Stocks schlief Florian. Nachdem Kommissar Seeger gnädig zugestimmt hatte, dass der junge Mann bei Christabel übernachten durfte, sollte er jetzt nicht vorzeitig vom surrenden Motor oder von klapperndem Geschirr geweckt werden.

Der Arme, dachte Pippa, welche Bürde hat er in den letzten Wochen mit sich herumgetragen. Das kann nicht einfach gewesen sein.

Sie horchte kurz an seiner Tür, aber es war kein Laut zu hören. Florian schlief offenbar noch immer den tiefen Schlaf der Erleichterung.

Ein Stockwerk höher fand Pippa die alte Dame trotz der Musik noch schlummernd vor.

Christabel wachte erst auf, als Pippa die Vorhänge aufzog und Tee einschenkte.

»Guten Morgen, Christabel. Möchten Sie lieber noch einen Moment allein sein?«, fragte Pippa.

Christabel setzte sich aufrecht hin und nahm das Tablett entgegen. »Bei so schöner Musik würde ich in der Tat zu gern noch ein wenig dösen. Exzellent ausgewählt, meine Liebe. Aber ich denke, wir haben heute zu viel vor und sollten umgehend mit unserem Tagwerk beginnen. Unangenehme Dinge werden nicht einfacher, indem man sie vor sich herschiebt.« Sie trank einen Schluck Tee und sah aus dem Fenster. »Mich bekümmert, dass ich nur reagieren kann. Alle Maßnahmen, die ich ergreife, kommen immer ein klein wenig zu spät, weil ich die Böswilligkeit der Menschen unterschätze. Ganz zu schweigen von der Kraft der Motive, die sie antreiben. Ist auch das eine Art von Schuld, Pippa? Ist das meine Schuld? Habe ich bei allem zu lange zugesehen?«

Spricht sie von früher?, fragte sich Pippa. Heute kann sie nicht meinen – heute macht ihr doch niemand mehr etwas vor, oder?

Christabel seufzte und fuhr fort: »Meine Namenspatronin hätte sich niemals so ins Bockshorn jagen lassen, wie ich es all die Jahre getan habe. Sie suchte die Konfrontation zwar nicht, sah dazu aber auch keine Alternative, wenn sie ihre Ziele erreichen wollte. Sie scheute nicht einmal vor handgreiflichen Auseinandersetzungen zurück – sonst wären wir Frauen nicht, wo wir heute sind.«

»Ich würde niemals die Fenster von Geschäften mit Steinen einwerfen«, sagte Pippa. »Selbst heute noch würde man Christabel Pankhurst und ihre Mitstreiterinnen als radikal bezeichnen. Und das, obwohl inzwischen hundert Jahre vergangen sind.«

»Die Wahl dieser Mittel muss nicht jedem gefallen«, erwiderte Christabel, »aber glauben Sie, die Frauen hätten jemals das Wahlrecht bekommen, wenn die Furchtlosigkeit der Suffragetten den herrschenden Männern nicht gezeigt hätte, wie ernst es ihnen ist? Es galt zu verändern, was Jahrhunderte, Jahrtausende Bestand hatte. Es ist schade, aber wenn man nicht mit harten Bandagen kämpft, erreicht man nichts. Eine freiwillige Frauenquote in Aufsichtsräten? Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit? Wie lange muss es denn dauern, bis jede Putzfrau so viel verdient wie ein ›Gebäudereiniger‹? Es passiert nur dann etwas, wenn man die Entscheidungsträger mit ihren eigenen fragwürdigen Methoden konfrontiert.«

»Dennoch bleiben sie fragwürdig«, beharrte Pippa. »Gewalt kann keine Lösung sein.«

»Sanftmut ist Luxus – den kann man sich erst leisten, wenn das Ziel erreicht ist. Tatsache ist doch, dass man mit Bitten, Betteln und guten Argumenten nur als lästig wahrgenommen wird und rein gar nichts erreicht. Nur wer mit der Faust auf den Tisch haut, der bekommt ihn auch gedeckt.«

Zumindest für einen Bereich stimmt das, dachte Pippa, wenn man mit vielen anderen auf dem Flur einer Behörde steht, ist oft nicht der geduldig Wartende als Nächster dran, sondern der mit der lautesten Stimme!

Sie erinnerte sich, wie lange sie einmal vor einem Behördenschreibtisch auf eine Beglaubigung gewartet hatte, weil die Beamtin immer wieder an das ständig klingelnde Telefon ging. Die Frau kümmerte sich erst um sie, als sie ihr Handy nahm, bei ihr anrief und wütend fragte, wann sie endlich an der Reihe sei.

Pippa reichte der alten Dame ein Paar frische Baumwollhandschuhe, die Christabel vorsichtig über ihre geschundenen Hände streifte.

»Bei Ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit frage ich mich noch immer, warum ausgerechnet Hollweg Ihre Firma bekommen hätte«, sagte Pippa.

Christabel zog die Handschuhe glatt und lächelte unergründlich. »Hätte er das?«

»Hätte er nicht? Ich dachte …«

»Ich bestärkte ihn in seiner Hoffnung, und so fühlte er sich sicher. Auf diese Weise konnte ich herausfinden, wie er mit den Mitarbeitern umgeht, wenn er uneingeschränkte Macht fühlt – und wie das Personal über ihn denkt. Wäre diese Prüfung positiv ausgefallen, hätte er sich in die Firma einkaufen dürfen und wäre dem zukünftigen Besitzer an die Seite gestellt worden. Mit Hollwegs Geld wären dann die anderen Erben ausgezahlt worden. Hollweg ahnte es natürlich nicht, aber das war von Beginn an mein Plan.«

»Weder Julius noch Severin hätten sich mit Hollweg sonderlich gut verstanden …«

»Von den beiden spreche ich nicht. Julius und Severin haben durch 3L eine Grundsicherung für ihr Leben – und mehr wollten sie auch nie.«

»Aber wer soll denn dann die Firma bekommen?«, fragte Pippa erstaunt.

Christabel beobachtete Pippa genau, als sie antwortete: »Der Haupterbe ist der dritte Sohn meines verstorbenen Mannes. Das habe ich so beschlossen, und auch mein lieber Severin hätte es so gewollt.«

Pippa hatte gerade das Buch für die morgendliche Vorlesestunde vom Nachttisch genommen und ließ es prompt fallen. »Der dritte Sohn? Severin junior und Julius haben noch einen Bruder?«

Christabel genoss die Situation sichtlich. »Julius war sein Pflegekind, und Severin junior ist adoptiert. Aber er hatte noch einen leiblichen Sohn.«

Pippa konnte die alte Dame nur anstarren. Ein leiblicher Sohn? Wer sollte das sein? Plötzlich wurde es ihr klar, und sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Florian Wiek!«

Christabel nickte lächelnd. »Gut kombiniert. Deshalb hat Seeger nach unserem kleinen Vieraugengespräch auch erlaubt, dass der Junge hier bleibt. Er hat begriffen, dass Hollweg ein deutlich stärkeres Motiv hatte, Florian umzubringen, als umgekehrt. Hollweg war klargeworden, dass Florian sein Konkurrent war, jünger und deutlich fähiger als er selbst. Um ihn loszuwerden, hat er sein mieses Spiel mit ihm getrieben. Er wollte den Jungen unter Druck setzen und rausekeln.«

»Aber wie hat er Florian dazu gebracht, die Plagiate herzustellen und auch noch so zu platzieren, dass der Ruf von Lüttmanns Lütte Lüd massiv geschädigt wurde? Erst die Gartenzwerge haben doch die Verbindung zwischen den Todesfällen und der Manufaktur hergestellt! War es Größenwahn oder Verzweiflung, darauf zu spekulieren, dass nicht nur der Wert der neuen Kollektion, sondern auch der Kaufpreis der Firma sinkt? Und dass Florian schweigt?«

Christabel zuckte mit den Achseln. »Vielleicht beides, wer weiß. Aber Sie sehen doch: Hollwegs Spekulation ist aufgegangen – über seinen eigenen Tod hinaus. Er hat all das vorhergesehen, nur nicht, dass jemand auch ihn zum Schweigen bringen wollte – für immer.«

Christabel widmete sich ihrem Frühstück, während Pippa über das gerade Gehörte nachdachte. Obwohl sie nun bereits zum vierten Mal in Mordermittlungen verwickelt war, erschütterte sie von neuem die Erkenntnis, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig waren, um Nebenbuhler auszuschalten und ihre Ziele zu erreichen.

»Da ich nicht mehr selbst durch die Weltgeschichte jagen kann, nutze ich Sie, Brusche und moderne Kommunikationswege, um drängende Fragen zu klären«, sagte Christabel. »Unser Kommissar Hartung würde sich wundern.«

»Aber sogar über diese Wege haben Sie nicht herausgefunden, dass Severin und Melitta sich lieben.«

Christabel musterte Pippa amüsiert. »Glauben Sie wirklich, man kann tagtäglich mit zwei Menschen zusammen sein, ohne eine solche Veränderung zwischen ihnen wahrzunehmen? Kleine Gesten, verstohlene Blicke, strahlende Augen, abgebrochene Gespräche, wenn man zur Tür hereinkommt …«

»Das leuchtet mir ein. Aber warum wollten die beiden ihre Liebe überhaupt geheim halten? Wegen Melittas Stellung bei Ihnen?«

»Fragen Sie Melitta, wenn sie zurück ist. Ich bin sicher, sie hatte gute Gründe. Die hat sie immer – und sie haben in den seltensten Fällen mit ihr selbst zu tun. Sie ist eine wirklich großherzige Frau.«

»Und Sie? Freuen Sie sich über die Hochzeit?«

»Was kann es Schöneres geben, als wenn Menschen zusammenfinden, die ihr ganzes Leben auf der Suche nach Geborgenheit waren? Menschen, die einander Heimat sind, ob verwandt oder nicht, sind dem Glück am nächsten«, antwortete Christabel mit einem Lächeln, dann wurde sie ernst. »Aber schöne Worte gießen noch keine Butter über den Spargel. Heute wird es unsere Aufgabe sein, uns mit Dingen zu beschäftigen, die noch kein Happy End haben – und auch keines verdienen: mit dem Mörder und seinen grausamen Taten.«

»Aber es gibt so viel, was ich noch nicht verstehe«, protestierte Pippa.

Christabel schüttelte unnachgiebig den Kopf. »First things first, meine Liebe. Florian ist kein Mörder, aber irgendwo läuft einer herum – und um den sollten wir uns kümmern.«

Pippa fügte sich mit einem Seufzen und legte das Buch zurück auf den Nachttisch. »Okay, was soll ich als Nächstes tun?«

»Gehen Sie zu Mandy Klöppel, und finden Sie heraus, was Zacharias und Mandy gestern so lange besprochen haben, dass Daria den Babysitter spielen musste.«

So viel zu modernen Kommunikationsmitteln, dachte Pippa, als sie das Haus verließ, ich bin mal wieder auf einem altmodischen Botengang. Einem, der mir besonders unangenehm ist, denn Christabel dringt damit in Mandys Privatsphäre ein. Heimarbeit bedeutet nicht, dass es Mandys Chefin zu interessieren hat, was im Heim ihrer Mitarbeiterin passiert, selbst wenn es um das Bürgermeisteramt von Storchwinkel geht.

Pippa bog in Mandys Vorgarten ein und blieb unvermittelt stehen. Die Haustür war einen Spaltbreit offen, drinnen stand Gabriele Pallkötter und sprach wütend ins Innere des Hauses hinein: »Denken Sie doch einmal in Ihrem Leben nicht nur an sich!«

Eine strenge Männerstimme, die Pippa als die von Zacharias Biberberg erkannte, fügte hinzu: »Außerdem passt die Politik nicht zu dir, Mandy. Lass dir bloß von Christabel nicht das Gegenteil einreden. Wir sind deine Zukunft, nicht Frau Gerstenknecht. Du solltest auf unserer Seite sein.«

»Wieso sollte ich?«, entgegnete Mandy gelassen. »Wahre Allianzen werden im Herzen geschmiedet, nicht mit dem Portemonnaie oder im Bett.«

Gabriele Pallkötter schnappte nach Luft. »Bedenken Sie, was Sie aufs Spiel setzen: eine gesicherte Zukunft für sich und Ihr Kind!«

»Noch eine gesicherte Zukunft? So eine wie die letzte, die Sie mir verpasst haben?«, gab Mandy bitter zurück. »Sie sehen doch, was die aus mir gemacht hat. Ich bin sicher, sowohl Kommissar Seeger als auch Sebastian Brusche interessieren sich brennend für meine – für unsere gemeinsame – Geschichte.«

»Wagen Sie nicht, Verleumdungen über mich in die Welt zu setzen!«, rief Gabriele Pallkötter schrill. »Denken Sie daran: Zacharias hat ein verbrieftes Recht auf Lucie, das ich verteidigen werde. Ich kann Ihnen Lucie auch einfach kraft meines Amtes entziehen. Ihr Lebenswandel gibt mir allen Grund dazu, vergessen Sie das nie. Lassen Sie es nicht auf einen Kampf zwischen Ihnen und Zacharias ankommen – Sie würden zwangsläufig den Kürzeren ziehen. Tun Sie, wozu er Sie auffordert: Nehmen Sie die angebotene Wohnung in Stendal, beginnen Sie ein neues Leben, und überlassen Sie Lucie ihm und Daria. Dort ist sie in besten Händen.«

»Ich habe gestern Abend nein gesagt, und ich tue es auch jetzt. Ich verkaufe meine Tochter nicht«, erwiderte Mandy mit fester Stimme. »Die Zeiten, in denen solche Drohungen bei mir gezogen haben, sind vorbei.«

Darüber haben die beiden gestern Abend verhandelt, dachte Pippa. Gar nicht fein.

»Das werden Sie noch bereuen«, zischte Gabriele Pallkötter, »Sie zwingen uns damit, Maßnahmen zu ergreifen …«

Jetzt reicht es aber, dachte Pippa und marschierte entschlossen los, ich höre nicht weiter zu, wie ein kleines Mädchen als Druckmittel benutzt wird – selbst wenn Lucie Zacharias’ Tochter ist.

Sie stieß die Haustür auf. Gabriele Pallkötter sprang erschrocken zurück, als diese gegen ihren Rücken prallte.

»Lucie ist ein Geschenk des Himmels, keine Handelsware«, sagte Pippa wütend. »Frau Klöppel, falls Sie eine Zeugin für diesen Erpressungsversuch brauchen – ich habe alles gehört. Außerdem würde sich unser Herr Brusche gerade im bevorstehenden Wahlkampf alle Finger nach einer solchen Schlagzeile lecken, schätze ich. Ich kann ihn gerne ins Bild setzen. Und der netten Frau Pallkötter hänge ich ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs an den Hals – kraft meines Amtes als besorgte Bürgerin!«

Zacharias Biberberg pumpte sich auf und holte Luft, klappte seinen Mund aber nach einem kurzen Kopfschütteln der Jugendamtsleiterin wieder zu und stürmte an Pippa vorbei aus dem Haus.

»An Ihrer Stelle, Frau Bolle, würde ich mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten mischen«, erwiderte Gabriele Pallkötter unbeeindruckt. »Ich würde lieber dafür Sorge tragen, dass Christabel nicht noch mehr Nattern an ihrem Busen züchtet. Denn das ist es doch, wofür Sie bezahlt werden, oder nicht?«

Wovon faselt die Frau?, dachte Pippa alarmiert.

»Ich sehe Ihrem Gesicht an, dass Sie nicht wissen, wovon ich rede«, fuhr Gabriele Pallkötter triumphierend fort. »Ich meine zum Beispiel einen gewissen Gartenzwergmaler, der versucht hat, nach Berlin zu fliehen. Gott sei Dank konnte ich sein Verschwinden verhindern. Ich kam gerade vom Jugendamt in Stendal zurück und war auf dem Bahnhof, als er die Fahrkarte löste. Und dabei sollten wir uns doch alle zur ständigen Verfügung der Polizei halten und das Storchendreieck nicht verlassen. Auch ich bin eine besorgte Bürgerin, Frau Bolle.«

»Und deshalb haben Sie …«

»Die Polizei informiert, ganz richtig.«

»Anonym«, sagte Pippa angeekelt.

»Man will sich schließlich nicht in den Vordergrund drängen. Florian Wieks Versuch, sich den ermittelnden Behörden zu entziehen, ist heute in aller Munde. Hier spricht sich eben alles sehr schnell herum.«

Pippa kochte vor Wut. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Mandy Klöppel das Streitgespräch aufmerksam verfolgte, während sie sich mit ihrer kleinen Tochter beschäftigte.

»Florians Probleme sind nichts gegen Ihre, Frau Pallkötter, wenn Kommissar Seeger erst mal Ihre Doppelkopfrunde durchzählt und dabei feststellt, dass außer Ihnen keiner mehr übrig ist«, fauchte Pippa. »Und dann wird er sich nach dem Grund fragen.«

Pippa wollte einfach nur austeilen, aber Gabriele Pallkötter wurde schlagartig knallrot und keifte:

»Mir Mord zu unterstellen ist unerhört! Was erlauben Sie sich?«

Das frage ich mich auch gerade, gab Pippa innerlich zu, aber deine bloße Anwesenheit bringt mich dermaßen auf die Palme, dass ich den Mund nicht halten kann.

»Kommissar Seeger kennt das Storchendreieck wie seine Westentasche, ihm fällt alles auf, und ihm wird alles zugetragen. Die Menschen vertrauen ihm«, sagte Pippa bissig. »Solange er hier lebt, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben, Frau Pallkötter.«

Die Frau presste die Lippen zusammen, als wollte sie sich davon abhalten, noch etwas zu sagen. Dann drehte sie sich um, verließ das Haus und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.

»Willst du Kekse kaufen?«, piepste Lucie aus dem Wohnzimmer, wo sie mit ihrem Kaufmannsladen spielte.

»Gerne«, sagte Pippa und ging hinein, froh über die Ablenkung. Während sie so tat, als würde sie bezahlen, und Lucie ihr eine Spielzeugpackung Kekse aushändigte, sagte Mandy Klöppel: »Meine Hochachtung. Das war das erste Mal, dass die Pallkötter in meiner Gegenwart mal nicht das letzte Wort hatte. Und das will etwas heißen. Schließlich habe ich schon mein ganzes Leben mit ihr zu tun.«

»Genau wie Severin Lüttmann junior und Julius Leneke?«, fragte Pippa überrascht.

»Genau wie alle, die dank Christabel hier in Storchwinkel leben«, erwiderte Mandy. »Christabel hat durch Professor Meissner von Ihnen erfahren, richtig?«

»Ja, stimmt.«

»Gregor ist der Beste, er findet einfach alles und jeden. Seine Geduld ist schier unendlich, das muss er durch die Vogelbeobachtung gelernt haben. Er wühlt sich über Wochen und Monate durch Geburts- und Sterberegister, Archive und verschimmelte Stammbücher. Außerdem hat er die richtigen Verbindungen zu staatlichen Stellen, Selbsthilfegruppen und unterstützenden Vereinen. Er kommt überall rein.« Sie lachte leise. »Und sein Professorentitel ist dabei bestimmt nicht hinderlich.«

Wovon redet sie?, fragte sich Pippa verdutzt, wurde aber von Lucie abgelenkt, die ihr fröhlich plappernd Waschmittel, Nudeln und winzige Plastiktomaten anbot.

»Als Sie nach Storchwinkel kamen, war ich nicht sehr glücklich«, fuhr Mandy Klöppel fort. »Nicht noch eine, dachte ich, aber Julius sagte, Sie tun Christabel richtig gut. Und das ist die Hauptsache. Schon deshalb finde ich, wir sollten uns allmählich duzen, ich bin Mandy Elise.«

»Pippa«, sagte Pippa und ergriff automatisch Mandys ausgestreckte Hand.

»Ich habe ja schon Pech mit meinem Namen. Mandy Elise … was für eine Kombination.« Mandy kicherte. »Aber deiner ist die Krönung. Wie sind deine Adoptiveltern nur auf Pippa gekommen? Kennst du deinen ursprünglichen Namen? Willst du ihn wieder annehmen?«

Pippa verstand immer weniger, wovon die Rede war.

»Einen anderen Namen annehmen? Adoptiveltern? Was meinst du? Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor: Ich wohne im gleichen Gebäude wie meine leiblichen Eltern, nur im Hinterhaus.«

»Du lebst bei deinen richtigen Eltern?«, fragte Mandy verblüfft. »Wie hast du das denn geschafft? Und warum bist du dann hier bei Christabel?«

Pippa erklärte der jungen Frau, was es mit ihrem Aufenthalt in Storchwinkel auf sich hatte, und Mandy sank fassungslos in einen Sessel.

»Du bist gar keine von uns? Julius und ich waren uns so sicher. Du kennst Josef – Herrn X –, und Maik durfte dir alles über Christabels und Julius’ Alkoholprobleme erzählen. Und du bist bei ihr eingezogen, nachdem Gregor dich gefunden hat. Alles passte zusammen, du musstest einfach auch eine Zwangsadoptierte sein. Wir hatten überhaupt keinen Zweifel, dass Christabel dich für immer bei uns aufnehmen wollte.« Sie schüttelte entsetzt den Kopf. »Sonst hätte ich doch gar nicht so viel erzählt!«

»Du sprichst in Rätseln«, entgegnete Pippa verständnislos, aber Mandy hörte schon nicht mehr zu. Sie ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und drückte eine Kurzwahltaste.

Mandy wartete einen Moment und sagte dann: »Warum hast du mich in dem Glauben gelassen, dass Pippa eine von uns ist, Christabel?«

Sie lauschte konzentriert. Ab und zu nickte sie oder warf Pippa einen überraschten Blick zu.

»Verstehe«, sagte sie schließlich und legte auf.

Mandy sah Pippa lange nachdenklich an und sagte endlich: »Komm morgen früh zu mir. Bis dahin habe ich alle, die zu uns gehören, zusammengetrommelt. Dann werden wir dir alles erzählen, was du über uns wissen musst.«

Nach einer beredten Pause fuhr sie fort: »Christabel glaubt, wir Zwangsadoptierte sind der Schlüssel zu den Morden – und den sollen wir dir übergeben, damit das Töten ein Ende hat.«

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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