Kapitel 13
Pippa wurde rasch klar, dass sie mit ihrer Einschätzung richtiglag; Christabel kannte das Wort Langeweile tatsächlich nur vom Hörensagen. Die alte Dame drängte plötzlich auf Eile, denn sie hatte Herrn X zu sich bestellt, um ihm einen künstlerischen Auftrag zu erteilen.
»Währenddessen gehen Sie zu Julius«, bestimmte Christabel rigoros, »bei dem Gespräch mit Josef benötige ich Sie nicht. Es reicht, wenn Sie uns eine Kanne Tee zubereiten und den Servierwagen ins Wohnzimmer schieben. In der Speisekammer steht ein Baumkuchen, den Sie anschneiden dürfen. Und wir brauchen passende Musik, um den Künstler bei seinem kreativen Prozess zu inspirieren. Was halten Sie von Max Bruch?«
»Warum nicht?«
Pippa hatte keine Ahnung, ob Herr X die romantischen Klänge Bruchs als inspirierend empfinden würde, aber sie fand es bemerkenswert, dass ihre Auftraggeberin sich Gedanken über die perfekte musikalische Untermalung für das Gespräch machte.
»Was soll Herr X … Josef … für Sie gestalten, Christabel?«
»Die Zahl Hundert. Durchgeixt selbstverständlich«, verkündete Christabel strahlend.
Pippa lachte und half der alten Dame bei der Morgentoilette und beim Ankleiden, bevor sie ins Erdgeschoss hinunterging, um das Gewünschte vorzubereiten.
Die Auswahl auf dem Servierwagen hielt Christabels kritischer Begutachtung stand, und die Tatsache, dass Pippa Feuer im Kamin gemacht hatte, brachte ihr weitere Pluspunkte ein. Herr X traf pünktlich ein, einen großen Skizzenblock unter dem Arm. Pippa nahm ihm den Dufflecoat ab und führte ihn zu Christabel ins Wohnzimmer. Dann verabschiedete sie sich, packte sich warm ein und machte sich auf den Weg zu Julius Leneke.
Der Dorfplatz lag da wie ausgestorben.
Storchwinkel in Feiertagsruhe, dachte Pippa, während sie in der Straßenmitte am Teich entlangschlenderte. Es fühlt sich an wie erschöpfte Ruhe nach einem Sturm.
Kurz bevor sie Mandy Klöppels Haus erreichte, bog plötzlich eine dunkle Limousine mit hohem Tempo in die Dorfstraße ein und raste auf sie zu. Obwohl Pippa einen beherzten Sprung zur Seite machte, verfehlte der Wagen sie nur knapp, denn der Fahrer vollführte eine Vollbremsung und kam mit quietschenden Reifen quer vor ihr zum Stehen. Eine Wolke aus Sand und Staub hüllte die erschrockene Pippa ein, und sie rang hustend um Luft.
Na warte, dachte Pippa grimmig, dir werde ich ein paar passende Worte erzählen, du Wahnsinniger.
Die Fahrertür flog auf, und Zacharias Biberberg sprang heraus. Ohne Pippa auch nur zu bemerken, knallte er die Autotür zu und rannte an ihr vorbei in Mandy Klöppels Vorgarten und hinter das Haus.
Pippa sah ihm perplex nach. Nahm dieser Mann außer seinen eigenen Bedürfnissen denn gar nichts wahr?
Da Biberberg sich ihrem gerechten Zorn durch Flucht entzogen hatte, beschloss sie, bei Gelegenheit mit Mandy ein ernstes Wort über das rüpelhafte Verhalten ihres Verehrers zu wechseln. Kaum vorstellbar, dass Reifenspuren in aufgewühltem Sand das regelmäßige Harken des Gehsteigs adäquat ersetzen konnten.
Kopfschüttelnd ging sie um das Auto herum und setzte ihren Weg fort. Hinter der Haltestelle des Bücherbusses bog sie nach links und ging an Waltraut Heslichs Bungalow vorbei zu Julius Lenekes Domizil, das sich hinter einem großzügigen Vorgarten mit ausgedehnten immergrünen Gehölzen versteckte. Nimmersattstraße 13 stand auf einem Emailleschild am Gartenzaun. Die Zahl war aus zwei Vögeln dieser Storchengattung gestaltet.
Du meine Güte, dachte Pippa, Nimmersattstraße! Dieses Dorf ist wirklich besessen von seinem Vogelkult. Es würde mich gar nicht wundern, wenn auch die anderen Wege und Plätze nach Storchenarten benannt wurden. Was gibt es da noch? Jaribus und Marabus und Großstörche? Dank der letzten Übersetzungen für Professor Piep sollte ich das eigentlich wissen.
Pippa beschirmte die Augen mit der Hand gegen die Märzsonne, um das nächste Straßenschild besser erkennen zu können. Einige Meter weiter mündete die schmale Straße in eine von Pappeln gesäumte Allee, die um das Dorf herum und an Heinrichs Mühle vorbei nach Storchhenningen führte.
»Klaffschnabelallee«, murmelte Pippa und grinste. »Dacht’ ich’s mir doch.« Nur zu gern wäre sie jetzt durch den Ort geschlendert, um nach weiteren Straßennamen Ausschau zu halten, aber ihr Auftrag war wichtiger. Je schneller sie ihn hinter sich brachte, desto besser.
Pippa gab sich einen Ruck, öffnete das Gartentor und ging über den gepflasterten Weg zur Haustür. Einen irrationalen Moment lang hatte sie das Gefühl, mit dem Betreten des Vorgartens in eine andere Welt einzutauchen – die ganz eigene Welt von Julius Leneke, in die er sich zurückzog. Pippa war außerstande, das Ausmaß seiner Krankheit, oder besser: seine geistige Gesundheit einzuschätzen. Gut möglich, dass er dieses Haus am Ortsausgang absichtlich gewählt hatte, um sich von der Dorfgemeinschaft abzusondern.
An der rechten Seite des Hauses entdeckte sie einen der allgegenwärtigen Metalltürme mit aufgesetztem Storchennest. Allerdings war dieser hier schwarz lackiert. Pippa benutzte den wuchtigen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie fuhr zusammen, als dies den tiefen, hallenden Klang eines schaurigen Gongs auslöste, und bemerkte erst dann, dass die Tür aus Metall bestand.
Als niemand öffnete, betätigte sie den Türklopfer noch einmal. Aber wieder rührte sich nichts.
Da Christabel sie nicht so schnell zurückerwartete, entschied Pippa, einen Spaziergang zu machen und es später noch einmal zu versuchen. Sie ging zunächst in Richtung Pappelallee, kehrte aber wieder um, als ihr einfiel, dass Waltraut Heslichs Haus direkt nebenan lag. Und wenn sie schon einmal hier war …
Der Garten vor Waltraut Heslichs gepflegtem Bungalow war auch zu dieser frühen Jahreszeit die demonstrative Zurschaustellung des Ordnungssinnes seiner Gärtnerin: akkurate Beete mit ordentlichen Einfassungen, in denen kegelförmig zugeschnittene, von Kies umgebene Buchsbäume standen wie die Zinnsoldaten. Verschwenderische Blütenfülle war hier das ganze Jahr nicht zu erwarten. Zur Straße hin gab es ein großflächiges Blumenfenster mit kurzer Spitzengardine. Weder die pinkfarbenen Orchideen auf der Fensterbank noch die Buchskegel in den Beeten verstellten den freien Blick von drinnen auf die Straße und die gegenüberliegende Kirche.
Und umgekehrt, dachte Pippa und sah sich um. Die Straße war menschenleer. Sie trat ans Fenster und spähte hinein.
Beinahe hätte sie aufgelacht, so groß war der Kontrast zwischen den zartrosa Wänden mit breiter Rosenborte in Taillenhöhe, dem altrosa Teppichboden und dem Sideboard mit Flachbildfernseher in schwarzglänzendem Klavierlack. Die strenge Couchgarnitur aus schwarzem Leder und Chrom war mit vielen rosa Rüschenkissen dekoriert. Eine farblich passende, offenbar selbstgehäkelte flauschige Decke hing sorgfältig gefaltet über der Rückenlehne des Sofas und rundete das ungewöhnliche Ensemble ab.
Wenn ich noch einen Beweis benötigt hätte, dass Rosa die Lieblingsfarbe dieser Frau war – hier sehe ich ihn mit eigenen Augen, dachte Pippa. Gemütlich ist anders, aber es sieht klasse aus.
Sie gestand sich ein, dass sie das Haus nur zu gern betreten hätte. Wieder sah sie sich um, ob sie noch immer unbeobachtet war. Dann legte sie wie zufällig die Hand auf die Haustürklinke. Mit dem Öffnen der Tür bestätigte sich, dass in Storchwinkel kaum jemand sein Haus absperrte.
Wenn man mich schon so nett hereinbittet, dachte Pippa, schlüpfte hinein und schloss rasch die Tür.
Alles war penibel aufgeräumt, nichts lag herum. Zwei Stockschirme standen in einem schmiedeeisernen Ständer neben der Garderobe, ein Mantel hing ordentlich auf einem Bügel, der hell geflieste Boden wirkte wie frisch gewischt. Makellose Sauberkeit, wohin sie auch blickte.
Nichts, nicht einmal Fußspuren, dachte Pippa mit wachsender Verwunderung, und das bei dem Schmuddelwetter der letzten Zeit. Merkwürdig, wo doch die Polizei vor zwei Tagen durchs Haus getrampelt ist. Die werden wohl kaum eine Putzkolonne geschickt haben, um sauberzumachen; das hier ist schließlich kein Tatort.
Ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte, aber ihre Neugier trieb sie ins Wohnzimmer. Die Bücherregale fremder Wohnungen zogen sie stets magisch an, denn sie war sicher, durch die Auswahl der Literatur eine Menge über den Besitzer zu erfahren. Entdeckte sie eines ihrer Lieblingsbücher, hatte die Person bei ihr sofort einen Stein im Brett – und wäre er oder sie Pippa zuvor auch noch so unsympathisch gewesen.
Im Wohnzimmer standen zwei schlichte schwarze Regale. Das erste war Fachliteratur vorbehalten: dicke Wälzer über Krankheiten – auch der Pschyrembel fehlte nicht – und ärztliche Ausbildung, reihenweise Bücher über Gynäkologie und die Arbeit von Hebammen. Die Inspektion des zweiten Regals zeigte Arztromane, so weit das Auge reichte. Auf einem Bord in Augenhöhe stand ein gerahmtes Bild: Waltraut Heslich in der Tracht einer Oberschwester, wie sie, offenbar am Tag ihrer Pensionierung, mit verkniffenem Gesichtsausdruck von einem silberhaarigen Mann eine Urkunde und einen Blumenstrauß entgegennahm.
Sie hat ihren Beruf wirklich geliebt, dachte Pippa, und ist nicht gern in den Ruhestand gegangen.
Sie fuhr herum, als eine Tür klappte. Jemand war von hinten ins Haus gekommen! Hektisch suchte Pippa nach einem Versteck. Sie hechtete in letzter Sekunde hinter das Sofa und hielt die Luft an. Insgeheim pries sie den hochflorigen Teppich, der sie hoffentlich vor blauen Flecken an Knien und Ellbogen bewahrt hatte. Sie presste sich flach auf den Boden und spähte unter dem Sofa hindurch. Eine Frau – Pippa sah lediglich Unterschenkel in Nylonstrümpfen und robuste Pumps mit Blockabsätzen – stand auf der Türschwelle zu einem benachbarten Raum. An ihrem rechten Schuh klebten Grashalme.
Mist, dachte Pippa, wer einen Garten hat, hat auch eine Hintertür! Und diese Schuhe kenne ich, die repräsentieren die Vereinigten Jugendämter des Storchendreiecks. Nicht auszudenken, wenn die Palle mich hier erwischt!
Die Frau beugte sich herunter, um die Schuhe abzustreifen, schaute aber zu Pippas Erleichterung nicht in ihre Richtung. Dennoch bestätigte sich, was Pippa bereits vermutet hatte: Es war Gabriele Pallkötter, die jetzt auf Strümpfen den Raum durchquerte und außer Sicht geriet. Das schabende Geräusch einer Schublade, die sich dem Öffnen widersetzte, war zu hören. Gleich darauf klimperte es, und die Lade wurde mit einem energischen Ruck wieder geschlossen. Gabriele Pallkötter erschien in Pippas Blickfeld, schlüpfte wieder in ihre Schuhe und verließ den Raum. Sekunden später fiel die Haustür hinter ihr ins Schloss, und ein Schlüssel drehte sich.
Pippa fluchte verhalten. Als Freundin von Waltraut Heslich besaß die Pallkötter natürlich einen Schlüssel, um im Haus nach dem Rechten zu sehen und die Blumen zu gießen. Nichts anderes hatte sie vermutlich gerade gemacht, als Pippa ihr beinahe in die Arme gelaufen war. Von wegen offene Häuser!
Pippa blieb noch einige Minuten zusammengekauert auf dem Fußboden sitzen, falls Gabriele Pallkötter auf die Idee kam, noch einmal durch das Fenster hineinzusehen. Dann schlich sie geduckt hinüber zum Sideboard, um herauszufinden, welche der Schubladen Gabriele Pallkötter geöffnet hatte. Gleich die erste links oben klemmte. Sicherheitshalber probierte Pippa die anderen ebenfalls aus, aber sie glitten alle geräuschlos auf und zu.
Die erste Lade war mit Papieren vollgestopft. Obenauf lagen eine Broschüre des Storchenkrugs sowie ein Autoschlüssel. Pippa nahm die Broschüre heraus, die sich wie ein Verkaufsexposé las: Die Gastwirtschaft mit Fremdenzimmern wurde darin gepriesen als ein Kleinod in einem traumhaften Landschaftsschutzgebiet, umgeben von idyllischen Teichen und in Fußmarschnähe international gepriesener Vogelbeobachtungsplätze. Der Kaufpreis für das Anwesen legte nahe, dass es sich dabei um ein luxuriöses Schloss handelte, in dem zufällig eine Bierzapfanlage stand.
Ganz schön dick aufgetragen, dachte Pippa. Aber wieso lagen diese Unterlagen in der Schublade der Toten? War sie tatsächlich am Kauf der Immobilie interessiert gewesen? Und Gabriele Pallkötter? Was hatte sie der Lade entnommen? Oder hatte sie etwas gesucht, aber nicht gefunden?
Pippas Herz klopfte, als sie durch die anderen Papiere blätterte. Sie fand etliche Dankschreiben ehemaliger Patienten sowie einige Urkunden und Auszeichnungen. Eine flache Schatulle erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie ließ den Verschluss aufschnappen. Das Kästchen enthielt einen goldenen Stern, dessen Mitte ein Medaillon mit umlaufendem Lorbeerkranz bildete. Innerhalb des Kranzes waren ein Hammer, ein Zirkel und zwei flankierende Ähren eingeprägt. Die Medaille hing an einer Spange, die mit einem roten Band verkleidet war. Pippa nahm den Stern aus dem Etui und entdeckte auf seiner Rückseite eine Gravur: Held der Arbeit.
Schau an, dachte Pippa, soweit ich mich erinnere, war mit dieser äußerst seltenen Auszeichnung eine Prämie von bis zu zehntausend Mark verbunden. Eine Menge Geld – was Waltraut Heslich wohl damit gemacht hat?
Sie legte alles wieder genauso zurück, wie sie es vorgefunden hatte, und schloss die Schublade. Es war höchste Zeit, aus dem Haus zu verschwinden, bevor sie doch noch erwischt wurde.
Mit wenig Hoffnung probierte sie, ob die Klinke der Haustür nachgab, aber Gabriele Pallkötter hatte tatsächlich von außen abgeschlossen.
Blieb nur die Hintertür als Fluchtweg. Innerlich schimpfte Pippa mit sich selbst, dass sie sich in diese unmögliche Situation gebracht hatte. Fehlte nur noch, dass die hintere Tür ebenfalls abgeschlossen war und sie durch ein Fenster klettern musste. Pippa ging durch die blitzblanke Küche. In der Tür zum Garten steckte von innen ein Schlüssel. Rasch schloss sie auf und wünschte sich inständig, dass die Pallkötter die unverschlossene Tür bei einem späteren Besuch als eigene Nachlässigkeit verbuchen würde. Im Garten atmete sie tief durch.
Die Entspannung währte nur kurz, denn eine Trompetenfanfare ließ sie zusammenfahren. Sie sah sich erschrocken um, begriff aber schnell, worum es sich dabei handeln musste: Florian übte im Birkenwäldchen hinter dem Dorf, um die Nachbarn nicht zu sehr zu stören.
Pippa schwang sich über den niedrigen Zaun und stapfte über die Wiese hinter Waltraut Heslichs Haus. Sie sah sich nicht um. Wenn überhaupt, konnte sie dabei höchstens von Julius Leneke gesehen werden, und der war nicht zu Hause.
Sie folgte dem Klang der Trompete und fand Florian, wie erwartet, mitten im Wald auf dem kleinen Fußweg, der vom Dorf bis zur Mühle führte. Er bemerkte sie nicht, und sie lauschte andächtig seinem virtuosen Spiel, ohne ihn zu stören. Als er das Instrument absetzte, klatschte sie begeistert. Florian drehte sich erstaunt um und verbeugte sich dann strahlend.
»Wunderbar gespielt«, sagte Pippa. »Das machen Sie aber nicht erst seit gestern?«
»Seit zwölf Jahren«, erwiderte er. »Ich habe in Salzwedel einen sehr guten Lehrer und belege von Zeit zu Zeit Sommerkurse. Schon als Kind wollte ich unbedingt ein Instrument lernen.«
»Umso schöner, dass sich Ihnen diese Möglichkeit geboten hat.«
»So, wie Sie das sagen, klingt das ganz einfach.« Florian verzog das Gesicht. »Aber so war es nicht.«
Pippa sah ihn fragend an.
»Vor zwölf Jahren landete der erste Storch des Jahres auf unserem Dach«, erzählte er. »Ich dachte schon, Mama und ich hätten gewonnen, und tobte wie ein Indianer beim Regentanz um unseren Dorfplatz herum. Da flog das blöde Vieh plötzlich wieder los, um sich doch ein anderes Nest zu suchen. Vor Wut brüllte ich wie am Spieß. Vermutlich stand es echt auf der Kippe, ob je wieder ein Storch in diese Gegend kommen würde; so laut war ich.« Bei der Erinnerung daran schüttelte er lachend den Kopf, und Pippa stimmte ein.
»Alle haben versucht, mich zu trösten, und faselten das Zeug, das Erwachsene in solchen Situationen von sich geben: Man muss auch mal verlieren können, und nächstes Jahr hast du wieder eine Chance und so weiter.« Er zwinkerte Pippa zu. »Scheinheilige Kommentare, die meisten waren froh, dass sie selber wieder im Spiel waren.« Florian sah liebevoll auf seine Trompete hinunter. »Ich habe mich erst wieder beruhigt, als Christabel mich zu sich rufen ließ, um zu erfahren, was passiert war. Ich habe ihr mein Leid geklagt und sie gefragt, ob man Störche auch auf dem Nest festbinden dürfte, um sein Ziel zu erreichen. Oder ob auch gilt, wenn der Storch nur ein kleines bisschen gelandet ist, wo es doch für einen guten Zweck wäre.«
»Für einen guten Zweck?«
»Na – meine Musikstunden!«, sagte Florian mit der gleichen Überzeugung, wie er es als kleiner Junge wahrscheinlich auch getan hatte.
»Und davon war sie so gerührt, dass sie zugestimmt hat, Ihre Stunden zu bezahlen.«
»Das wäre so überhaupt nicht Christabel. Nein, sie stellte eine Bedingung: Sie würde meinen Unterricht finanzieren, wenn ich bereit wäre, eines ihrer Lieblingsinstrumente zu lernen.«
»Und die sind?«
»Harfe und Querflöte.« Florian verdrehte die Augen. »Ich bitte Sie! Ich habe natürlich abgelehnt.«
»Erstaunlich willensstark für ein Kind – Hut ab. Aber wieso zahlte sie dann doch?«
»Wegen meines Arguments gegen diese Instrumente.«
Er grinste über Pippas erstauntes Gesicht und fuhr fort: »Kommt nicht in Frage, habe ich gesagt, die sind mir nicht laut genug. Ich will gehört werden!«
»Das war eine Antwort nach ihrem Geschmack.«
»Absolut. Aber sie hat trotzdem eine Bedingung gestellt: Sie wollte, dass sie und die ganze Manufaktur von den Musikstunden profitieren.«
Er sah sie abwartend an, und Pippa ging ein Licht auf.
»Der Appell!«
»Richtig.« Florian nickte. »Sie setzt jede Unterrichtsstunde von der Steuer ab. Als betriebliche Sonderausgabe.«
Und entbindet den jungen Mann durch dieses Arrangement gleichzeitig von der Last lebenslanger Dankbarkeit, dachte Pippa. Sehr clever. »Mir ist aufgefallen, dass Sie Christabel als Einziger von den Jüngeren des Ortes duzen«, sagte Pippa. »Stammt das auch aus der Zeit Ihrer kleinen geschäftlichen Vereinbarung?«
»Nein, ich kenne sie, seit ich denken kann. Ich habe sie immer schon geduzt, schon als kleines Kind – und sie mich sowieso. Später hat sie es nie korrigiert, also denke ich, sie hat noch immer nichts dagegen.«
»Ich übrigens auch nicht.« Spontan reichte Pippa ihm die Hand. »Wir werden in nächster Zeit viel miteinander zu tun haben. Also sollten wir uns auch duzen.«
Erfreut schlug Florian ein, dann sagte er: »Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss noch üben. Ich bin Mitglied im Blasorchester des Storchendreiecks, und wir geben am Ostersonntag ein Konzert in der Salzwedeler Mönchskirche. Hätten Sie … hättest du Lust zu kommen? Ich spiele sogar ein Solo.«
»Liebend gern, aber dann müsste ich Christabel allein lassen. Das möchte ich nicht.«
»Julius könnte euch fahren«, schlug Florian eifrig vor, »dann könntet ihr alle drei kommen.«
»Julius macht sich gerade rar«, sagte Pippa und seufzte. »Ich war vorhin bei ihm, weil ich morgen ein Rezept für ihn einlösen soll. Aber niemand hat auf mein Klopfen reagiert.«
Florian winkte ab. »Das liegt sicher daran, dass die Palle im Garten der Heslich war und nach ihm gerufen hat. Hab ich selbst gehört. Da wird er sich in seinem Mauseloch verbarrikadiert haben. Wenn die was von ihm will, macht er sich unsichtbar.«
Auf Pippas ungläubigen Blick hin fügte er hinzu: »Er hasst sie wie die Pest. Der Ärmste hat schon sein ganzes Leben lang mit dieser schrecklichen Frau zu tun. Es reicht, wenn ihr Name fällt, und schon kriegt er Ekelausschlag.«
»So extrem?«
»Noch schlimmer. Kann man aber auch verstehen: Julius war ein Waisenkind, und sie ist vom Jugendamt. Sie hat ihn schon seit frühester Jugend unter ihrer Fuchtel. Die hat ihn von einem Heim ins andere verfrachtet. Eine Weile war er sogar bei den Lüttmanns, aber die haben sich dann für Severin entschieden.«
Pippa fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. »Wie darf ich das denn verstehen?«
»Wie es sich anhört. Eva Lüttmann wollte einen Sohn, und da haben sie zunächst Julius aus dem Heim in Pflege geholt. Aber das ging nicht gut, Julius war oft krank und hat viel geweint. Jedenfalls war er nicht, was sich Frau Doktor unter einem Vorzeigekind vorgestellt hat. Und dann haben sie ihn einfach wieder zurückgegeben und ein anderes Kind adoptiert.«
»Severin Lüttmann?«, fragte Pippa entsetzt.
Florian nickte ernst. »Severin war erst ein paar Wochen alt, da musste Julius ins Krankenhaus. Wegen einer Blinddarmentzündung. Von dort aus ging es direkt wieder ins Heim. Einfach so. Ohne Erklärung. Nur Severin senior hat ihn noch besucht.«
Und ich finde es schon widerlich, wenn man einen Hund aus dem Tierheim wieder zurückbringt, weil man einen niedlicheren gefunden hat, dachte Pippa erschüttert. Kein Wunder, dass Julius einen Knacks hat.
»Dass Christabel ihn adoptiert hat, war dann so etwas wie ihre Wiedergutmachung«, sagte sie langsam.
»Das denkt meine Mutter auch. So ist er wenigstens finanziell abgesichert.«
»Und Severin? Macht ihm das etwas aus? Immerhin arbeitet Julius in seiner Firma und ist praktisch unkündbar, wenn ich das richtig verstehe.«
»Severin und Julius?«, fragte Florian ehrlich verblüfft. »Die beiden kommen großartig miteinander aus. Julius ist das beste Aushängeschild für Severins Pläne, seelisch angeknackste Menschen mit Hilfe der Hunde wieder auf die Beine zu bringen. Er probiert an Julius seine Therapien aus, und der Erfolg bestätigt ihn auf ganzer Linie. Dass Julius wieder Auto fährt, verdankt er nur dieser gemeinsamen Arbeit, auch wenn er nach wie vor einen Beifahrer braucht, weil er sich noch nicht allein auf die Piste traut.«
»Woran leidet er? Depressionen?«
»Julius? Der ist nicht verkehrt«, antwortete Florian ausweichend, »er ist nur einfach überfordert vom … normalen Leben.«
Kein Wunder – Normalität ist in Storchwinkel ja offensichtlich ein Fremdwort, dachte Pippa.
»Werden sich Julius und Severin die Leitung der Manufaktur später teilen? Christabel ist nicht mehr … äh … die Jüngste.«
»Weder Julius noch Severin sind interessiert. Der eine kann es nicht, der andere will es nicht. Severin träumt von einer eigenen Einrichtung zur Hundetherapie. So wie die Therapien mit Pferden oder Delphinen. Nur will Severin sich auf Patienten mit Erschöpfungszuständen spezialisieren.«
»Wer kommt denn dann in Frage?«
Vor ihrem geistigen Auge sah Pippa bereits die feindliche Übernahme von 3L durch einen riesigen anonymen Hersteller stereotyper Billiggartenzwerge aus Plastik.
»Soweit ich weiß, hat Christabel schon vor Jahren den Betriebsleiter als ihren Nachfolger eingesetzt, falls keiner der Söhne ihres Mannes Interesse zeigt.«
»Also Maximilian Hollweg.«
»Leider! Gnade uns Gott, wenn der mal nicht mehr von Christabel im Zaum gehalten wird. Wenn Hollweg das Regiment übernimmt, dann gute Nacht, Marie, das wird kein Spaß.« Beim Gedanken daran stöhnte Florian auf. »Hollweg hält alle Vergünstigungen für Mitarbeiter und Heimarbeiter für überflüssige Geldausgaben.«
»Kein netter Mensch?«
»Geht so …« Florian hielt inne, als wäre ihm aufgegangen, dass er zu viel erzählt hatte. »Ich werde dann mal besser weiter üben – und Julius übernehme ich. Das Rezept kann ich zusammen mit ihm einlösen, dann bitte ich ihn gleich, mit euch zum Konzert zu kommen. Auf diese Weise haben wir wenigstens vier Zuhörer. Aus dem Storchendreieck wird sicher niemand dort auftauchen: Die gucken lieber in den Himmel und warten auf die Störche.«
»Christabel, Julius und ich – das sind drei. Wer ist Nummer vier?«
»Vitus Lohmeyer, er fährt mich hin. Das hat er meiner Mutter versprochen.« Florian grinste spitzbübisch. »Er würde alles tun, um sich bei ihr einzuschmeicheln. Oder bei mir. Jeder hier weiß: Der Weg zu Melitta Wiek führt direkt über mich.«