Kapitel 8
Der Frühstückstisch war für sechs gedeckt, aber bisher saßen nur Hilda Krause, Christabel Gerstenknecht, Florian Wiek und Pippa am Tisch. Melitta Wiek briet in der Küche Speck und Eier. Von Severin Lüttmann war nichts zu sehen.
Christabel Gerstenknecht runzelte die Stirn und sah auf die Uhr. »Wo bleibt der Junge denn? Ich habe Hunger. Er ist bereits eine Viertelstunde zu spät.«
Sie zog sich mühsam am Tisch von ihrem Stuhl hoch, griff sich den Gehstock mit vier Füßen, der hinter ihr stand, und ging mit kurzen, langsamen Schritten zur Terrassentür.
Da Pippa registrierte, dass weder Hilda Krause noch Florian Wiek aufsprangen, um der alten Dame zu helfen, blieb auch sie sitzen.
Sie will so viel wie möglich allein schaffen, dachte Pippa, bestimmt gibt es ein Donnerwetter, wenn man sie zu sehr umsorgt.
Die alte Dame öffnete beide Flügel der Terrassentür und beschirmte die Augen mit einer weiß behandschuhten Hand, um in die Landschaft hinauszusehen.
Immer diese Handschuhe, dachte Pippa, ob sie die auch nachts trägt? Aber warum? Eine Hautkrankheit oder eine Kontaktallergie? Gicht?
»Tuktu! Tuwawi! Unayok! Wo seid ihr? Hierher!«, rief Christabel Gerstenknecht mit unerwartet kräftiger Stimme. Sie horchte einen Moment nach draußen, dann nahm sie eine Hundepfeife vom Tischchen neben der Tür und blies hinein.
Obwohl für menschliche Ohren kein Laut zu hören war, ertönte postwendend Gebell von der Mühle her.
Christabel Gerstenknecht legte den Kopf schief und lauschte. Dann kehrte sie zum Frühstückstisch zurück und sagte: »Die Hunde sind in einer Minute hier. Severin in fünf. Wir können anfangen.«
Melitta Wiek trug eine Platte mit Rührei herein und setzte sich zu den anderen.
»Gott sei Dank, endlich«, sagte Florian und verteilte Speck und Eier auf die hingehaltenen Teller. »Mein Magen knurrt wie Unayok, wenn er einen Angriff auf dich wittert, Christabel.«
Im Gegensatz zu den meisten anderen, inklusive seiner Mutter, bemerkte Pippa, genoss Florian also das Privileg, die alte Dame zu duzen, denn diese lächelte ihn wohlwollend an und fragte: »Hat Severin dir alles erklärt?«
Florian nickte. »Ich habe die Hunde bereits gestern Abend und heute Morgen gefüttert. Zur Zufriedenheit aller.«
Pippa kicherte innerlich. Seine Formulierung klang, als wären auch die Hunde zu seiner Eignung als Ersatz-Futtergeber befragt worden und hätten ihre Zustimmung verweigern können.
Melitta Wiek ging mit einer großen Teekanne um den Tisch herum und schenkte allen ein. Als sie bei Pippa stand, klingelte es an der Haustür.
»Ich gehe«, sagte Pippa und stand auf, aber die Haushälterin ließ es sich nicht nehmen, sie zur Tür zu begleiten.
»Guten Morgen, die Damen!« Sebastian Brusche strahlte über das ganze Gesicht.
Melitta Wiek verzog keine Miene. »Nicht jetzt, Herr Brusche«, sagte sie ruhig, aber bestimmt, »wir sitzen gerade beim Frühstück. Und wir haben heute Morgen noch viel vor.«
»Ich weiß, das ist der Grund für mein frühes Erscheinen, Frau Wiek.« Der Reporter hielt eine Kamera hoch. »Ich wollte Sie unbedingt erwischen, bevor Sie für Wochen in alle Winde verstreut sind.«
Melitta Wiek seufzte ungehalten. »Hat das nicht Zeit, bis wir wieder zurück sind? Herr Lüttmann und ich sind nur zwölf Tage weg, und Frau Gerstenknechts hundertster Geburtstag ist erst in etwas mehr als drei Wochen.«
Brusche machte einen Schritt nach vorn, aber Pippa und Melitta wichen nicht von der Stelle.
»Ich dachte, ich mache eine Serie. Pro Woche ein Bericht über die große alte Lady des Storchendreiecks. Jedes Mal unter einem anderen Aspekt, Sie verstehen? Das mögen die Leute. Wie wird man hundert Jahre alt? Wie hält man sich geistig und körperlich fit? Und Sie, Melitta, sind ein so wichtiger Teil von Frau Gerstenknechts Leben …«
Die Haushälterin erwies sich gegen seine Schmeichelei als unempfindlich und machte Anstalten, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber Brusche trat beherzt auf die Schwelle und rief: »Aber sie hat mir ein Interview versprochen!«
Melitta Wiek schüttelte den Kopf. »Wenn ich zitieren darf: Vielleicht gewähre ich Ihnen ein Interview, hat sie gesagt. Vielleicht, Herr Brusche.«
Der Reporter verlegte sich aufs Flehen. »Melitta, ich bitte Sie, haben Sie ein Herz!«
Pippa reichte es. »Hat sie – aber es schlägt nicht für Sie.« Sie fing einen beinahe erschrockenen Blick der Haushälterin auf und fuhr fort: »Vor ihrer Abreise hat Frau Wiek noch etliches zu erledigen. Und Sie sollten eigentlich tun, was jeder gute Journalist in Ihrer Situation längst täte. Ich verstehe nicht, warum Sie Ihre Zeit hier verplempern.«
Verständnislos ließ Brusche seinen Blick zwischen Pippa und der sich entspannenden Melitta Wiek hin- und herwandern.
»Ihre Leser warten auf einen Hintergrundbericht über den Tod von Waltraut Heslich!« Mit der Hand zeichnete Pippa eine schwungvolle Linie in die Luft. »Ich kann die Schlagzeile schon vor mir sehen: Tod durch Feuerwalze!«
Der Reporter stutzte, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Mädchen, Sie sind gut – die nehme ich!« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne ein Wort des Abschieds davon.
Melitta Wiek schloss die Tür und wandte sich Pippa zu. »Gut gemacht, Mädchen. Bei Ihnen weiß ich Frau Gerstenknecht in guten Händen.«
»Vielen Dank. Immer gern.«
Sie ist korrekt, aber großmütig, dachte Pippa und war erleichtert, dass die Haushälterin ihr die neugierigen Fragen nach ihrer Urlaubsplanung nicht krummnahm.
Severin Lüttmann saß ihr gegenüber, und Pippa musste zweimal hinsehen, um in ihm den schüchternen, unscheinbaren Mann vom Vortag wiederzuerkennen: Seine Augen blitzten, sein blondes Haar war verwegen zerzaust und die Haut von der morgendlichen Kälte gerötet.
Christabel Gerstenknecht folgte Pippas Blick und sagte: »Severin ist ganz in seinem Element, wenn er mit den Hunden zusammen ist. Die Firma interessiert ihn nicht halb so sehr wie seine Vierbeiner.«
Severin Lüttmann wirkte verlegen. »Meine Jungs sind echte Prachtkerle. Ihre Lebensfreude ist ansteckend. Wenn ich mit ihnen draußen war, fühle ich mich wie neugeboren. Das kann kein Bürojob leisten.«
Das ging an seine Stiefmutter, nicht an mich, dachte Pippa, er hat das Gefühl, sich ihr gegenüber rechtfertigen zu müssen, dass ihm die Tiere wichtiger sind als die Firma.
»Außerdem sind Hunde ein echter Frauenmagnet«, warf Florian ein. »Hoffe ich jedenfalls, wo ich doch jetzt täglich mit ihnen Gassi gehe.«
»Und wartet mal ab, wenn ich erst mit den beiden Mädchen aus Alaska zurückkomme …«
Froh, in Pippa eine Zuhörerin zu haben, die noch nicht Bescheid wusste, erzählte Severin ihr von seinen Plänen, zwei Hündinnen zu holen, mit denen er eine eigene Zucht gründen wollte.
»Aber müssen Sie sie denn wirklich aus Alaska mitbringen?«, fragte Pippa. »Gibt es Schlittenhunde nicht auch hier?«
»Nur überzüchtete Triefaugen«, erwiderte er. »Ich will gesunde Tiere mit Spaß am Leben, den sie an ihre späteren Besitzer weitergeben können. Und da sind die aus der Happy-Kennels-Zucht von Martin Buser genau die Richtigen.«
»Severin bildet Begleithunde für seelisch kranke und erschöpfte Menschen aus«, erklärte Florian. »Sie werden es erleben, wenn Sie mit ihnen spazieren gehen. Die Hunde passen sich ganz Ihren Bedürfnissen an und haben auch noch Spaß dabei. Das ist faszinierend!«
»Also wirklich, Florian«, tadelte Melitta Wiek, »Frau Bolle macht mir nicht den Eindruck eines körperlich oder seelisch erschöpften Menschen.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Christabel Gerstenknecht trocken. »Nach zwölf Tagen allein mit mir stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie ein ganzes Rudel solcher Hunde benötigen wird.« In das betretene Schweigen am Tisch hinein fuhr sie fort: »Wenigstens sind die Tiere weder ängstlich noch devot – und sie belügen mich nie. Ich wünschte, Severin würde seine Fähigkeiten auch an Menschen in meiner Umgebung praktizieren. Das würde vieles erleichtern. Nicht nur bei Lüttmanns Lütte Lüd.«
Als Pippa überrascht in die Runde blickte, stellte sie fest, dass Severin rot geworden war und Melitta, plötzlich appetitlos, den gebratenen Speck auf ihrem Teller von links nach rechts schob, während sich die alte Dame, offensichtlich hochzufrieden mit diesem Effekt, in aller Seelenruhe ihr Rührei schmecken ließ.
»Und, Severin«, sagte sie in die Stille hinein, »vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Die Transportkörbe für den Flug dürfen nicht zu groß sein, die Tiere haben dann keinen Halt. Das ist ebenso schlecht wie zu enge Körbe. Lass dich von Martin eingehend beraten. Du kannst dich auf sein Urteil verlassen.«
»Sie haben auch gezüchtet?«, fragte Pippa.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Ich habe mich früher ein wenig als Musherin, also Lenkerin von Hundeschlitten, versucht. Heutzutage gewähre ich nur noch einigen von Martins alten Hunden das Gnadenbrot, so wie Unayok und Tuktu.«
Severin strahlte Pippa an. »Und ganz nebenbei hat sie mich dadurch auch mit dem Schlittenhundevirus infiziert, weil ich überlegt habe, wie man den Tieren eine neue Aufgabe geben könnte.«
Christabel Gerstenknecht nickte. »Wenn sie nicht mehr vor den Schlitten können und nicht mehr ziehen dürfen, sind sie ihres Lebensinhalts beraubt. Dann brauchen sie einen Ersatz, damit sie sich nicht langweilen und depressiv werden. Bei uns können sie sich weiterhin austoben und im Ruhestand wohl fühlen.«
»Das ist genau wie bei uns Menschen«, sagte Hilda Krause, »wenn wir nach einem erfüllten Berufsleben nichts mehr zu tun haben, altern wir vorzeitig. Wer ein Hobby hat – oder zwei«, sie warf Christabel Gerstenknecht einen Blick zu und lächelte, »der blüht auf.«
Die alte Dame erwiderte das Lächeln. »Hat man eine Mission, wird man ganz leicht hundert.«
Das Gespräch wandte sich den langen Flügen zu, die sowohl Melitta Wiek als auch Severin Lüttmann bevorstanden.
Florian schüttelte den Kopf. »Unvorstellbar: Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn es Tag ist und der Körper wünscht sich Nacht. Wie nach einer durchfeierten Party?«
»Ja, Jetlag macht mürbe«, sagte Christabel Gerstenknecht. »Deshalb ziehe ich Schiffsreisen vor – dann kommen Körper und Seele gleichzeitig am Ziel an.«
O nein, die Frau geht doch in ihrem Alter nicht mehr auf Reisen!, dachte Pippa. Sie stellte sich gerade eine Christabel Gerstenknecht vor, die ein komplettes Kreuzfahrtschiff herumkommandierte und die Besatzung strammstehen ließ, als sie merkte, dass alle sie ansahen und eine Antwort erwarteten.
Gnädig wiederholte Christabel Gerstenknecht ihren Wunsch: »Heute Vormittag ist der Bücherbus im Dorf. Bitte holen Sie das von mir bestellte Buch ab. Timo Albrecht weiß Bescheid.« Sie und Hilda Krause, die auch bereits knapp sechzig Jahre zählte, kicherten wie Schulmädchen, ohne dass Pippa den Grund verstand.
Wie Oma Hetty, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen ist, dachte Pippa, die Lebensfreude dieser Frauen nimmt einem wirklich jede Angst vor dem Alter.
Als es erneut an der Haustür klingelte und Melitta Wiek aufstehen wollte, hielt Pippa sie mit einer Handbewegung zurück. »Ich übernehme, Frau Wiek. Das wird Brusches letzter Versuch für heute, das verspreche ich«, verkündete sie und marschierte aus dem Esszimmer.
»Ach, Sie sind es«, entfuhr es Pippa, ehe sie sich bremsen konnte.
Hartung runzelte die Stirn, aber Seeger lächelte amüsiert. »Wen hatten Sie denn erwartet? Einen Recken in silberner Rüstung?« Er hielt einen Gartenzwerg im Arm, als trage er ein Baby.
Pippa trat einen Schritt zurück und bat die beiden Ermittler ins Haus. Beide waren gekleidet wie am Tag zuvor, und Pippa fragte sich flüchtig, ob sie wohl in Cordhosen und Nadelstreifen schliefen.
Im Esszimmer knallte der Kommissar den Gartenzwerg ohne weitere Begrüßung auf den Tisch zwischen Käseplatte und Marmeladensortiment und sagte: »Wir haben Frau Heslichs Haus unter die Lupe genommen. Dieser kleine Mann hier stand bei ihr auf dem Stubentisch. Ich nehme an, der ist von Ihnen?«
Die frech grinsende Figur auf dem Tisch hatte die Schultern hochgezogen und beide Handflächen in einer Du-hast-es-so-gewollt-Geste nach außen gedreht.
»Woher hatte sie den?«, fragte Christabel Gerstenknecht scharf.
»Gibt es diese … Kunstwerke denn nicht überall zu kaufen?« Hartungs Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er vom ästhetischen Wert der Figur hielt.
»Dieser Zwerg gehörte Frau Heslich nicht«, entgegnete die alte Dame knapp. »Das ist ganz ausgeschlossen – dieses Modell stammt aus unserer neuen Kollektion, und die ist noch streng geheim.«
»Es gibt nur drei Exemplare, und die sind in der Fabrik unter Verschluss«, sagte Florian Wiek langsam.
Seeger sah den jungen Mann erstaunt an, und Christabel Gerstenknecht erklärte: »Florian ist einer unserer Keramik- und Porzellanmaler. Wir vertrauen ihm in jeder Hinsicht, wenn ich das sagen darf. Er ist für die Bemalung unserer Prototypen zuständig, denn er ist verschwiegen und hat die sicherste Hand. Nach der Qualitätskontrolle durch meinen Betriebsleiter Herrn Hollweg wandern die Modelle direkt in den Safe seines Büros.«
Hartungs fassungsloser Blick fixierte die bunte Figur auf dem Tisch. Ihm war anzusehen, dass er zwischen den Worten Safe und Gartenzwerg keinerlei logische Verbindung sah. »Safe? Wieso das denn? Ist das nicht ein ganz normaler … äh …«, er suchte nach Worten, »Vertreter seiner Gattung?«
Insgeheim stimmte Pippa ihm zu, aber Christabel Gerstenknecht schnappte empört nach Luft. Dann gab sie Florian ein Zeichen und sagte: »Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion, meine Herren.«
Melittas Sohn nahm den Zwerg vom Tisch, drehte ihn um und öffnete eine Klappe am Boden der Figur. Nachdem er einen winzigen Schalter neben zwei Batterien betätigt hatte, platzierte er den Gartenzwerg in der geöffneten Terrassentür.
Christabel Gerstenknecht deutete auf Hartung. »Gehen Sie hinaus«, befahl sie.
Zu überrumpelt, um zu protestieren, spazierte Hartung durch die Tür.
»Hehehe … Hehehe … Dumm gelaufen! … Hehehe … Hehehe … Dumm gelaufen!«, plärrte es hämisch aus dem Gartenzwerg, und der erschrockene Ermittler erstarrte. Er stand auf der Terrasse und zögerte sichtlich, das Haus wieder zu betreten. Er ahnte zu Recht, dass der Wichtel dies nicht schweigend hinnehmen würde. Da ihm nichts anderes übrigblieb, biss er die Zähne zusammen, stellte sich mannhaft dem erneuten Geschrei der Figur und kehrte ins Esszimmer zurück. Im Gegensatz zu ihm selbst hatten die meisten Anwesenden größte Mühe, ernst zu bleiben.
»Das ist Florians Stimme«, erklärte die alte Dame. »Unser erster Gartenzwerg mit verbalem Bewegungsmelder. Wir rechnen mit einem Verkaufserfolg. Noch hat unser kleiner Einbrecherschreck keinen Namen, aber vielleicht möchte einer der Herren Kommissare seinen Vornamen zur Verfügung stellen?«
Florian Wiek bückte sich und wedelte mit der Hand vor dem Zwerg herum, worauf das meckernde Gelächter abermals ertönte.
Bevor die Figur ihr gesamtes Programm abspulen konnte, war Hartung zur Stelle und entfernte die Batterien.
»Dumm gel…«, quakte der Gartenzwerg noch und verstummte.
»Sie behaupten also, Frau Heslich diesen Zwerg nicht geschenkt zu haben?«, herrschte Hartung Christabel Gerstenknecht an und hielt ihr die Figur anklagend vors Gesicht.
Diese musterte ihn gelassen. »Warum sollte ich Frau Heslich etwas schenken?«, erwiderte sie. »Noch dazu ein geheimes Exponat?«
»Sie waren befreundet«, gab Hartung triumphierend zurück, »immerhin haben Sie die Beerdigung von Frau Heslichs Lebensgefährten Harry Bornwasser mit ausgerichtet!«
»Pfffff«, machte Hilda Krause, »Lebensgefährte, dass ich nicht lache. Wohl eher Waffenbruder.«
Christabel Gerstenknecht warf Hilda Krause einen undefinierbaren Blick zu und sagte: »Tatsächlich kennen Frau Heslich und ich uns schon mein halbes Leben – aber das macht uns nicht automatisch zu Freundinnen. In einer Zeit, die lange vor Ihrer Geburt liegt, Kommissar Hartung, war Waltraut Heslich meine Chefin im Krankenhaus von Storchhenningen. Seitdem hat sich vieles geändert. Das Krankenhaus ist heute ein Altenheim, und es gibt nur noch einen deutschen Staat. Und auch wir haben uns verändert: Ich bin reich – und sie ist tot.«
Diese Unverblümtheit machte Hartung sprachlos, und Seeger ergriff das Wort, indem er sich an Florian Wiek wandte. »Vielen Dank, dass Sie gestern für uns den alten Heinrich gesucht haben.«
Florian Wiek zuckte mit den Achseln. »Keine Ursache. Aber es hat ja leider nichts genutzt, da ich ihn nicht finden konnte.«
»Ich habe heute auch schon nach ihm Ausschau gehalten«, sagte Severin Lüttmann, »morgens geht Heinrich immer Kräuter sammeln. Mit Tau benetzt müssen sie sein, sagt er. Ich bin mit den Hunden alle üblichen Stellen abgelaufen, aber er war nirgends. Auch nicht in seiner Mühle.«
»Jeder darf reingehen und sich an seinen Töpfen und Tinkturen bedienen«, warf Hilda Krause ein. »Für das Geld gibt es eine Spendenbox an der Tür. Einen Schlüssel …«
Seeger seufzte und hob die Hand, um die Erklärung abzukürzen. »Ich weiß, ich weiß, den gibt es nicht. Im Storchendreieck schließt niemand ab.«
Christabel Gerstenknecht und Hilda Krause nickten wohlwollend.
»Kannten sich der alte Heinrich und Frau Heslich?«, fragte Hartung scharf.
»Kennt der Papst den lieben Gott?« Christabel Gerstenknecht zog die Augenbrauen hoch. »Hier kennt jeder jeden. Storchentramm hat zweitausendsiebenhunderteinundsechzig Einwohner, Storchhenningen knappe viertausendfünfhundert, und in diesem Dorf wohnen einhundertachtundsechzig Menschen.« Sie legte eine vielsagende Pause ein. »Seit gestern.«
Seeger unterdrückte ein Lächeln. »Mochten sie sich?«
»Heinrich und Waltraut Heslich?« Christabel Gerstenknecht schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht – aber da ist Heinrich einer von vielen. Waltraut Heslich stand für Erziehung und Schulmedizin in ihrer unpersönlichsten Form, Heinrich ist Laisser-faire und ein leidenschaftlicher Naturheilkundler. Er kümmert sich um jeden Patienten persönlich. Jedes Tonikum ist maßgeschneidert.«
»Beruhigendes für den Multitasking-Choleriker«, erklärte Hilda Krause und sah Hartung an, »Aufbauendes für die Mutlosen und Schüchternen«, fuhr sie mit Blick auf Severin Lüttmann fort, »Unterstützendes für die Unterstützenden«, sie schenkte Melitta Wiek ein liebevolles Lächeln. »Aber es gibt noch mehr: Geduldswässerchen für die Ungeduldigen …«
Und alle Elixiere stehen in der Ade-Bar, erinnerte sich Pippa. Ich sollte Heinrich bei Gelegenheit um eine Spezialmischung für Konzentration beim Arbeiten bitten …
»Bevor Sie danach fragen, Kommissar Seeger«, sagte Christabel Gerstenknecht ruhig, »Heinrich würde ich tatsächlich als Freund bezeichnen. Er hat sich in mehr als einer Situation als solcher erwiesen.«
»Dann geben Sie uns die Handynummer Ihres sogenannten Freundes«, schnarrte Hartung, bevor Seeger eingreifen konnte.
Ein Prusten von Florian Wiek ließ Hartung herumfahren.
»Handy?! Heinrich hat in seiner Mühle gerade mal fließendes Wasser«, sagte Florian Wiek. »Er hat kein Telefon und erst recht kein Handy. Es gibt dort überhaupt nichts, was Strahlung verursachen könnte.«
»Wer den alten Heinrich sprechen will, wenn er nicht in der Mühle ist, hinterlässt eine Nachricht in einem Holzkasten an der Tür«, erklärte seine Mutter. »Irgendwann taucht er dann bei demjenigen auf.«
»Oder …« Christabel Gerstenknecht wartete, bis sich ihr alle Blicke zugewandt hatten, und fuhr dann, an Hartung gerichtet, fort: »Oder man wünscht ihn sich her. Telepathie, Sie verstehen?«
Hartung sah aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. Da er jemanden brauchte, an dem er sich abreagieren konnte, zeigte er auf Severin Lüttmann und blaffte: »Sie haben gestern Abend behauptet, Sie seien zu spät zur Beerdigung gekommen, weil Sie in Salzwedel auf der Bank waren.«
Severin Lüttmann nickte zögernd.
»Ich habe das überprüft, Herr Lüttmann. Sie waren tatsächlich auf der Bank.« Hartungs Stimme war kalt. »Allerdings will mir eines nicht einleuchten: Selbst wenn Sie auf dem Heimweg alle Reifen gewechselt hätten, sind vier Stunden Fahrzeit von Salzwedel bis ins Storchendreieck zu lang. Viel zu lang.« Er verengte die Augen und zischte: »Wo haben Sie die Zeit zwischen Ihrem Bankbesuch und Ihrem Eintreffen auf der Beerdigung verbracht, Herr Lüttmann?«
»Im Blumenladen! Ich sagte doch, dass ich noch Blumen abgeholt habe!« Severin Lüttmann fühlte sich sichtlich unwohl.
»Und die Blumen waren für …?«
Lüttmanns Antwort klang mehr nach einer Frage als nach Antwort. »Die Beerdigung?«
Hartung verschränkte die Arme vor der Brust. »Tatsächlich. Dunkelrote Rosen.«
Severin Lüttmann entging der interessierte Blick seiner Stiefmutter, denn er starrte vor sich auf den Tisch und erwiderte leise: »Kann sein, dass ich noch irgendwo anders war … vielleicht.«
Hartung hatte genug. »Salzwedel, Staubwedel, Palmwedel – mir ganz egal. Sie sagen mir jetzt, wo Sie waren.«
Severin Lüttmann errötete. »Ich war mit einer Frau zusammen«, flüsterte er kaum hörbar.
Christabel Gerstenknecht schnalzte mit der Zunge, während Melitta Wiek amüsiert lächelte.
»Aha! Das wird die Dame uns sicher bestätigen können«, sagte Hartung. »Die Telefonnummer, bitte.«
Lüttmann nickte ergeben. Dann bat er: »Können wir bitte unter vier Augen …«
Hartung ging mit ihm hinaus in die Eingangshalle.
Pippas Neugier war so groß, dass sie begann, den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Küche zu tragen. Lüttmann stand neben Hartung im Hausflur und sah ihm dabei zu, wie er eine Nummer in sein Handy tippte.
Lüttmanns Gesicht war tiefrot, und Hartung grinste zufrieden, als die beiden Männer ins Esszimmer zurückkehrten.
»Nun ist hoffentlich alles geklärt«, sagte Christabel Gerstenknecht zu Kommissar Seeger. »Ich darf Sie bitten, uns allein zu lassen. Heute ist der letzte Werktag vor Ostern. Wir haben heute noch andere Igel zu kämmen.«
Obwohl nicht angesprochen, antwortete Hartung: »In Ordnung, Frau Gerstenknecht – aber Sie halten sich zu unserer Verfügung. Gut möglich, dass wir weitere Fragen haben.«
Christabel Gerstenknecht blieb ruhig. »Selbstverständlich.«
Melitta Wieks entsetzte Miene sprach Bände, und Severin Lüttmann sackte resigniert in sich zusammen.
Damit hat mein Auftrag sich erledigt, dachte Pippa, jetzt fährt niemand mehr weg, und ich werde hier nicht mehr gebraucht!
Sie begleitete die Kommissare hinaus. Als sie die Tür hinter ihnen schloss, schnappte sie auf, wie Hartung zu Seeger sagte: »Das glauben Sie nicht: Der Typ war bei einer Nutte, einer gewissen Milena. Der ist extra bis nach Wolfsburg gefahren, damit hier keiner …«
Das sind Dinge, die ich nicht wissen will, dachte Pippa und ging rasch zurück ins Esszimmer.
Melitta Wiek stand am Tisch und fragte gerade verzweifelt: »Was bedeutet das jetzt für uns?«
»Dass ihr so schnell wie möglich losfahrt«, erwiderte Christabel Gerstenknecht gelassen.
Severin Lüttmann und Melitta Wiek sahen sich überrascht an.
»Aber der Kommissar hat doch gesagt …«
Die alte Dame winkte ab. »So wie ich das verstanden habe, hat er mit mir gesprochen, Severin. Von euch war nicht die Rede. Hilda, wie siehst du das?«
»Mich hat er jedenfalls nichts gefragt«, sagte Hilda Krause.
Christabel Gerstenknecht klatschte in die Hände. »Also – worauf wartet ihr? Und bitte keine langen Abschiedsszenen.«
Sofort sprang Severin Lüttmann auf und rannte die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, um sein Gepäck zu holen.
»Ihnen wünsche ich, dass Sie Ihre Korrektheit hier in Storchwinkel zurücklassen«, sagte Christabel Gerstenknecht zu Melitta Wiek. »Tun Sie alles, was ich auch täte. Dann wird genug Verbotenes dabei sein.«
Ehe die Haushälterin antworten konnte, kam Lüttmann bereits mit seinen Koffern herein. Florian Wiek hakte seine noch immer zögernde Mutter unter und zog sie mit sich zur Eingangstür. Lüttmann folgte ihnen, dann drehte er sich noch einmal zu seiner Stiefmutter um. »Wir sind rechtzeitig zu deinem Hundertsten zurück!« Er winkte und verschwand im Flur; dann fiel die Haustür mit einem Knall ins Schloss.
Christabel sah den beiden nach. »Bis eben hatte ich daran keinen Zweifel«, sagte sie trocken.