Kapitel 14
Die schwermütige Melodie aus Florians Trompete begleitete Pippa, während sie ihren Spaziergang durch das Birkenwäldchen fortsetzte.
Melitta Wiek und Vitus Lohmeyer wären ein schönes Paar, dachte sie, beide sind zuvorkommend und freundlich, und beide sind Christabel in besonderer Weise zugetan. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass die pflichtbewusste Melitta heiraten würde, solange die alte Dame noch lebt. Florians Mutter hatte ja schon Bedenken, für zwei Wochen Urlaub das Haus zu verlassen.
Durch ihre Überlegungen fiel ihr auf, wie wenig sie von Melitta wusste. Nicht einmal, ob diese je verheiratet gewesen war und wo Florians Vater lebte.
Der Wald ging in eine Weide über, und schließlich stieß der Weg wieder auf die Pappelallee, die in Richtung Storchhenningen führte. Auf der Brücke blieb Pippa stehen. Sie lehnte sich an das schmiedeeiserne Geländer und ließ den Blick über die weite Landschaft schweifen. Der Bach floss ruhig zwischen winterlichen Kuhweiden hindurch, führte aber wegen der Regenmengen der letzten Tage viel Wasser. An der niedrigen Uferböschung kündigten Büschel von Schneeglöckchen den nahen Frühling an. Steter Wind, der hier auf dem flachen Land durch nichts gebremst wurde, hatte die Bäume mit deutlich erkennbarer Neigung nach Osten wachsen lassen. In Sichtweite gab es nur ein einziges Gebäude, in dem Pippa den Storchenkrug aus Waltraut Heslichs Prospekt erkannte. Sie nahm sich vor, ihm auf jeden Fall einen Besuch abzustatten.
Auf der anderen Seite der Brücke, zwischen den nach Storchhenningen und Salzwedel führenden Straßen, erhob sich eine imposante hölzerne Bockwindmühle, die gleichermaßen düster und romantisch wirkte. Das rechteckige Mühlenhaus ruhte auf der Spitze eines Ständerwerks aus dicken Balken. Die Windflügel reichten beinahe bis zum Boden und überragten die Mühle nach oben beträchtlich. Auf der anderen Seite führte eine offene verwitterte Stiege zu einem ausladenden Anbau.
Da möchte ich nicht Don Quichotte sein, dachte Pippa, als sie die Spannweite der Flügel abschätzte. Auf der Scheitelhöhe schwebt man bestimmt zwanzig Meter über dem Boden. Ob Eva Lüttmann durch diese Flügel zu Tode gekommen ist? Pippa schauderte. Ausgerechnet einen solchen Ort hat der alte Heinrich sich als Wohnung ausgesucht? Der Mann hat wirklich einen ausgefallenen Geschmack.
Vor der Mühle entdeckte sie eine Schautafel, die das Gebäude als Kulturdenkmal des Storchendreiecks auswies. Ein Verein, der sich den Erhalt von Mühlen der Region auf die Fahne geschrieben hatte, kümmerte sich darum. Sie erfuhr weiter, dass Heinrichs Heim 1755 erbaut worden und noch voll funktionstüchtig war. Bei dem ungewöhnlichen Anbau handelte es sich um die »Feise« genannte Müllerstube.
Auf der Suche nach weiteren Informationen ging sie um die freistehende Schautafel herum und fand einen vergilbten, mit der Hand beschriebenen Zettel, der mit Reißzwecken am Holz befestigt war: Sprechzeiten: Wann immer du mich brauchst – Komm herein, und warte auf mich. Die Mühle ist immer offen. Frisches Quellwasser findest du in einem Krug neben dem Fenster – bedien dich.
Im Gegensatz zur nicht verschlossenen Haustür von Waltraut Heslich war dies eine echte Aufforderung einzutreten, und Pippa ließ sich nicht lange bitten. Sie kletterte die steile Treppe hinauf, die nur auf einer Seite einen einfachen Handlauf als Sicherheit bot. In circa fünf Metern Höhe endete die Stiege an einer kleinen Plattform vor der Eingangstür. Dort hing ein improvisierter Holzbriefkasten, unter dem ein offenes Fach angebracht war, wie man es für Zeitschriften oder Großbriefe benötigte. Heinrich nutzte das Fach allerdings, um dort einen selbstgebastelten Block vor der Witterung zu schützen. Neugierig nahm Pippa den Block zur Hand, der sich als eine Art Anamnesebogen entpuppte, an dem ein mit Schnur befestigter Bleistift baumelte.
Füll dies aus, wenn du keine Zeit hast zu warten, las sie, ich komme zu dir nach Hause, sobald ich kann, und bringe die passende Medizin.
Der Bogen fragte alle klassischen Krankheitssymptome ab, aber sie entdeckte auch: Erzähl mir von den Sorgen, die du in letzter Zeit hattest, und Gab es Vorahnungen oder Visionen? Wer ist außer dir betroffen?
Der Spökenkieker, wie er leibt und lebt, dachte Pippa, aber darf er überhaupt medizinischen Rat erteilen? Dafür benötigt man doch eine Ausbildung oder ein Zertifikat. Das braucht man doch in Deutschland immer und für alles. Sie kicherte. Ein Spökenkieker-Diplom …
Sie horchte an der Tür, aber kein Laut war zu hören.
Niemand zu Hause, dachte Pippa, die Mühle fühlt sich verlassen an.
Sie drückte die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich knarrend in einen stickigen Raum, in dem ein alter Kanonenofen Wärme verbreitete. Was sie bereits draußen zu spüren glaubte, bestätigte sich: Heinrich war nicht da.
Toll, dachte Pippa, ist Heinrich ansteckend? Jetzt bilde ich mir schon ein, die Schwingungen von Häusern, Pardon, von Mühlen deuten zu können!
Sie trat ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und öffnete auch das winzige Fenster, um Sauerstoff in die Kammer zu lassen. Dann sah sie sich in dem spartanisch eingerichteten Raum um: zwei Stühle, ein Holztisch, außerdem eine Art Massagetisch, auf dem gläserne Schröpfköpfe auf ihren Einsatz warteten. An einer Wand hatte Heinrich Regalbretter angebracht. Pippa entdeckte unzählige lateinisch beschriftete Flaschen mit flüssigem Inhalt, Mörser in unterschiedlichen Größen, Bündel getrockneter Kräuter, Gläser mit für sie nur zum Teil definierbaren eingelegten Beeren, Früchten oder Wurzeln, außerdem weitere Flaschen von der Art, die sie bereits in der Ade-Bar gesehen hatte: gekennzeichnet mit den Namen einiger Dorfbewohner.
Da Heinrich die Mühle in ihrem Urzustand belassen hatte und sich mit seiner kleinen Praxis nur auf den ohnehin verfügbaren Platz beschränkte, war der Innenraum im hinteren Teil weiter durch seine ursprüngliche Bestimmung geprägt. Pippa blickte auf große hölzerne Zahnräder, einen wuchtigen Mühlstein, Ständerwerk, Seilzüge, Tröge und Trichter – dort wirkte alles, als wäre der Müller nur schnell vor die Tür gegangen und würde bald zurückkehren, um mit seiner Arbeit fortzufahren.
Auf dem Tisch entdeckte Pippa ein Rezept, geschrieben in Heinrichs steiler, altertümlicher Schrift. Sie versuchte erst gar nicht, die an Hieroglyphen erinnernden lateinischen Abkürzungen zu entziffern. Eine schmale Flasche, mit Professor Piep – 3 x täglich einreiben beschriftet, stand neben einem wattierten Kuvert, das an den Vogelkundler adressiert war. Auf einem an eine dicke Kerze gelehnten Zettel hieß es: Lieber Besucher – bitte umgehend zur Post bringen, ganz gleich, wo. Danke.
Und das soll funktionieren?, fragte Pippa sich erstaunt. Irgendjemand kommt hier vorbei und nimmt die Tinktur mit, um sie brav an den Professor zu schicken? Und wenn Heinrich kein Telefon hat – woher weiß er von Meissners Zipperlein? Offensichtlich gibt es im Storchendreieck gut funktionierende Kommunikationswege jenseits von Handy oder E-Mail. Dürfte besonders für den armen Kommissar Seeger und seinen Adlatus ganz schön schwierig sein, diese Kanäle aufzuspüren oder gegen sie zu kämpfen.
Sie kicherte vor sich hin. Ein Spökenkieker mit Visionen war auf moderne Technik wohl nicht angewiesen.
Als sie sich umdrehte, entdeckte sie eine Tür, hinter der sich das ehemalige Müllerstübchen verbarg: eine winzige Kammer mit einem schmalen Bett und einer alten schmucklosen Truhe, die Heinrich als Schrankersatz für Kleider oder persönliche Unterlagen diente.
»Das ist pure Askese«, sagte Pippa halblaut, »aber was braucht man eigentlich mehr als das? Alles andere dient nur der Bequemlichkeit oder unserer Unterhaltung. Ich könnte ohne Musik, ohne Bücher, ohne tägliche Nachrichten auf Dauer nicht auskommen, Heinrich offenbar schon. Warum entscheidet ein Mensch sich dafür, derart spartanisch zu leben?«
»Weil er schon alles gehabt und nichts davon wirklich gebraucht hat«, sagte jemand mit Grabesstimme direkt hinter ihr.
Mit einem Aufschrei fuhr Pippa zusammen. Ihr Gesicht wurde heiß. Sie war nicht nur erschrocken, sondern zutiefst beschämt, dass der alte Heinrich sie dabei erwischt hatte, wie sie in seinem Privatbereich herumschnüffelte.
Sie drehte sich um und erkannte beinahe erleichtert den Lokaljournalisten Brusche, der grinsend im Türrahmen lehnte. Wie immer sah er aus wie das lebendig gewordene Klischee eines Reporters: zerknitterter Trenchcoat, karierte Schiebermütze, Umhängetasche – selbst der Stift hinter dem Ohr fehlte nicht, obwohl er auch sein Diktiergerät stets griffbereit hatte.
Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sie und fuhr ihn an: »Verdammt, Sie haben mich erschreckt! Müssen Sie sich so anschleichen?«
Der Journalist hob die Augenbrauen. »Wenn Sie schon die Tür offen lassen, dann sollten Sie mit Leuten rechnen, die Ihrem Beispiel folgen.« Sein Grinsen wurde breiter. »Aber zumindest mit mir.«
Jetzt fühlte Pippa sich erst recht in der Defensive. »Und Sie sind natürlich hier, weil Sie Heinrichs Heilkenntnisse in Anspruch nehmen wollen«, sagte sie ironisch. »Um welche Krankheit handelt es sich, wenn Sie mir die Frage erlauben? Infektiöse Schreibblockade oder bakterielle Ideenlosigkeit?«
»Wir beide haben uns mit dem gleichen Leiden angesteckt«, gab Brusche ebenso ironisch zurück, »Ermittlungsfieber.«
Die ertappte Pippa drehte sich schnell weg, denn sie spürte wieder, wie ihre Wangen heiß wurden. Dann fragte sie betont desinteressiert: »Was glauben Sie denn, hier herauszufinden? Etwas für Ihre Story über Christabel Gerstenknecht?«
Brusche zuckte mit den Schultern. »Kann man nie wissen. Ich interessiere mich selbstverständlich auch für ihre Wegbegleiter. Christabel und der alte Heinrich sind …«, er hakte seine Zeigefinger ineinander, »so eng. Außerdem sollte ein guter Reporter immer an mindestens zwei Storys gleichzeitig dran sein. Ich arbeite nicht nur an Christabels Hundertstem, sondern auch an meinen Vier-Elemente-Morden.«
Seine Morde? Glaubt der Mann, diese schrecklichen Todesfälle wären eigens für seine Zeitung inszeniert worden?, dachte Pippa und fragte dann: »Was meinen Sie? Welche Morde?«
»Tun Sie nicht so scheinheilig – als ob Sie das nicht selbst am besten wüssten. Sie waren doch dabei! Feuer, Wasser, Luft und Erde – tolle Geschichte. Heinrich soll mir noch ein bisschen mehr über seine Theorie erzählen. Ein paar interne Einzelheiten.«
»Die Polizei hat bisher nicht explizit von Mord gesprochen.«
»Die Polizei redet auch lange nicht so publikumswirksam wie der alte Heinrich«, erwiderte Brusche ungerührt.
Gegen ihren erklärten Willen bewunderte Pippa sein Engagement. Ein Reporter, wie er im Buche steht, dachte sie, ich wette, er redet mindestens so gern, wie er zuhört. Aber wenn er schon mal hier ist, kann ich ihn auch ausquetschen. »Wissen Sie, warum Heinrich in dieser einsamen Mühle wohnt?«
»Warum tun Sonderlinge überhaupt etwas? Die Frage ist doch: Wurde er zum Sonderling, weil er hier haust – oder haust er hier, weil er ein Sonderling ist? Ich bin sicher, dass er keine Miete zahlt. Die Mühle gehört den Lüttmanns schon ewig, und Christabel nimmt von Heinrich ganz bestimmt kein Geld.«
»Sie sind ja bestens informiert. Dann wissen Sie sicher auch, wie Eva Lüttmann hier zu Tode gekommen ist.«
Brusche zog sich die Mütze vom Kopf und setzte sich an den Tisch. Während er nachdenklich sein blondes Haar zerzauste, las er die Nachricht an dem Umschlag mit Professor Meissners Adresse. Der junge Reporter steckte die Flasche ins Kuvert und ließ es in seiner Umhängetasche verschwinden.
Nanu, dachte Pippa, bist du doch nicht nur der hartgesottene, gefühlskalte Starreporter, für den dieses Dorf allenfalls eine Durchgangsstation ist, sondern fest integriert in diesen kleinen Kosmos?
»Sie wollen dem Professor die Tinktur schicken?«, fragte Pippa.
Brusche sah erstaunt zu ihr auf. »Was denken Sie, warum ich hier bin? Der Professor hat mich angerufen und darum gebeten, ihm die Medizin per Kurier nach Berlin zu senden. Dafür versprach er mir, dass ich von Heinrich ein paar saftige Informationen bekomme.«
So funktioniert das also, dachte Pippa. Sie nahm die Streichhölzer von der Untertasse, auf der die Kerze stand, und zündete diese an. Dann schloss sie die Tür, setzte sich zu Brusche an den Tisch und sagte: »Ungewöhnlich, dass ein Wissenschaftler wie Professor Meissner beim alten Heinrich eine Tinktur bestellt, finden Sie nicht? Kaum vorstellbar, dass er hier etwas bekommt, das es in ganz Berlin nicht gibt.«
Brusche lächelte warm. »Heinrich ist nicht bloß irgendein Naturheilkundler. Er ist ein Gesundbeter der besonderen Art. Die Heilung beginnt schon bei dem Gedanken, dass es diese Medizin nur ein einziges Mal auf der Welt gibt und dass er, während er sie zusammenbraute, allein an dich gedacht hat.«
Wider Willen war Pippa von den liebevollen Worten des Reporters gerührt. »Sie mögen den alten Heinrich.«
»Eigentlich lustig, dass wir ihn alle so nennen«, antwortete er ausweichend. »Immerhin ist Frau Gerstenknecht dreißig Jahre älter als er.«
Pippa akzeptierte, dass Brusche sich um eine ehrliche Antwort drücken wollte, und ließ ihn weiterreden.
»Diese Gegend ist reich an interessanten Charakteren, die alles andere als konform sind«, fuhr Brusche fort. »Kennen Sie Gustaf Nagel? Er war Wanderprediger und – wie unser Heinrich – ein Asket. Oder Jenny Marx, die kluge Gefährtin Karls. Der alte Bismarck … allesamt gebürtige Altmärker. Ich habe eine Artikelserie darüber gemacht, die überregional Beachtung fand.«
»Die würde ich gern einmal lesen«, sagte Pippa aufrichtig.
»Tatsächlich?« Brusche wirkte erstaunt und erfreut zugleich.
Die Artikel werden mir eine Menge darüber verraten, wie die Serie über Christabel ausfallen wird, dachte Pippa.
Ihr Interesse schien Brusche in Hochstimmung versetzt zu haben. Eifrig sagte er: »Wann immer Sie etwas wissen wollen, egal, über wen oder was – wenden Sie sich an mich. Sollte ich über Informationen verfügen – und ich weiß einiges, was das Storchendreieck und seine Bewohner angeht –, werde ich sie gern mit Ihnen teilen.«
»Wunderbar, dann komme ich auf das Thema zurück, das Sie vorhin geflissentlich ignoriert haben: Eva Lüttmann. Wie ist sie gestorben?«
Der junge Reporter musterte sie zweifelnd. »Ich kann es Ihnen erzählen. Aber sind Sie sicher, dass ich es Ihnen hier zeigen soll? Am Ort des Geschehens?«
Pippa nickte zögernd, leicht verunsichert durch seinen Tonfall.
»Also gut. Wie Sie wollen. Kommen Sie.«
Pippa folgte ihm in den Innenraum der Mühle. Aus dieser Perspektive sahen der Antrieb der Flügel und das Mahlwerk geradezu monumental aus. Sie konnte sich leicht vorstellen, dass – einmal in Gang gesetzt – ungeheure Kräfte wirkten.
»Die Mühle ist noch voll funktionsfähig«, sagte Brusche und betrachtete das riesige, aufrecht stehende Zahnrad. »So etwas wie damals könnte heute allerdings nicht mehr passieren.«
»Es war ein Unfall?«
»So steht es in sämtlichen Gutachten, und so steht es im Abschlussbericht der ermittelnden Polizei. Ein wirklich verdammt hässlicher Unfall.«
Er strich nachdenklich über das hölzerne Rad.
»Nun sagen Sie schon, wie es passiert ist«, drängte Pippa, als Brusche einige Zeit geschwiegen hatte.
»Also gut.« Er seufzte. »An jenem Tag blies ein kräftiger Wind. Aber die Flügel standen still. Das haben jedenfalls die Leute ausgesagt, die auf dem Weg zum Storchenkrug an der Mühle vorbeigekommen sind. Einige haben Frau Lüttmann sogar noch gesprochen. Sie erzählte, sie wolle schauen, ob sich die Mühle eignete, um dort ihren Geburtstag zu feiern. Alles schien in bester Ordnung, aber als die Leute den Storchenkrug wieder verließen, drehten sich die Flügel.«
»Und das war ungewöhnlich?«
»Frau Lüttmann muss versehentlich den Bremsblock gelöst haben.« Er deutete auf das Zahnrad. »Das hier nennt sich Kammrad. Seine Zähne greifen in das sogenannte Stockrad – hier.« Er zeigte auf einen Radkranz mit Aussparungen, der in Höhe seiner Hüfte rechtwinklig zum Zahnrad stand. »Das treibt über eine Drehachse die Flügel an. Eva Lüttmann muss hier gestanden haben, als es passierte. Irgendwas von ihrer Kleidung hat sich verfangen, und sie wurde … nun ja.«
Pippa wurde übel. Obwohl sie die Augen schloss, sah sie die Zähne vor sich, die in die passenden Aussparungen griffen, Räder, die sich unbarmherzig weiterdrehten, die hilflose Eva Lüttmann blitzartig zwischen sich zerrten und …
»Die arme Frau hatte keine Chance«, sagte Pippa erschüttert.
Brusche schüttelte den Kopf. »Sie wurde in der Mitte durch …«
»Das reicht!«, donnerte Heinrich.
Pippa und Brusche fuhren herum. Der alte Mann stand in der Tür und starrte sie grimmig an.
»Ihr Narren! Wenn man bösen Dingen Sprache gewährt, wächst ihre Kraft – und sie können wieder geschehen. Und wieder und wieder! Wollt ihr das? Wollt ihr den Frieden meines Heims zerstören?«
Während Brusche keine sichtbare Reaktion zeigte, war Pippa vor Scham darüber, dass Heinrich sie ertappt hatte, wie versteinert. »Nein … nein, selbstverständlich nicht. Das war … war pietätlos von uns«, stammelte sie. »Ihre Tür steht für Hilfesuchende offen, und wir haben Ihre Gastfreundschaft missbraucht. Bitte nehmen Sie unsere Entschuldigung an.«
Sie sah Brusche auffordernd an, und dieser murmelte etwas Unverständliches, das mit viel gutem Willen als Entschuldigung durchgehen konnte.
Obwohl Heinrich besänftigt wirkte, wollte Pippa so schnell wie möglich weg. Wenn Brusche die Situation nicht peinlich war und er noch bleiben wollte, sollte er das tun. Sie verabschiedete sich hastig und trat den Rückzug an.
Auf dem Absatz vor der Eingangstür holte sie tief Luft. Als sie die steile Treppe hinabblickte, wurde ihr schwindelig. Der Aufstieg war einfach gewesen, aber jetzt … Sie hatte gerade beschlossen, wie von einer Leiter rückwärts hinunterzusteigen, als sie durch das noch immer offene Fenster Brusches Stimme hörte.
»Da hast du der Kleinen aber einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sagte der Journalist amüsiert. »Die kommt bestimmt nicht wieder.«
»Alles, was hier geschehen sollte, ist bereits geschehen, Sebastian. Hier wird sie nicht mehr gebraucht«, erwiderte der alte Heinrich gelassen. »Jetzt muss sie dringend herausfinden, wo sie wirklich vonnöten ist, und dort weiteres Unheil verhüten.«