Kapitel 16

Während Seeger die Tür des Storchenkrugs sorgfältig absperrte und zur Sicherheit noch einmal die Klinke drückte, wartete Pippa auf dem Vorplatz. Fröstelnd knöpfte sie ihren neongrünen Filzmantel bis zum Hals zu und zog sich die geringelte Strickmütze über die Ohren. Der kurze, aber sehr heftige Regenschauer hatte die Luft empfindlich abgekühlt. Tiefhängende grauschwarze Wolken und dichte Nebelschwaden ließen die Landschaft wirken wie aus einem viktorianischen Schauerroman.

Fehlt nur noch das Heulen des Hundes von Baskerville, dachte Pippa. Für diese Rolle wäre Unayok bestens geeignet, denn er ist deutlich größer und respekteinflößender als Tuktu oder Tuwawi. Und dabei ist er so anschmiegsam und verspielt … Sie lächelte unwillkürlich, als sie den Malamut mit den eisblauen Augen vor sich sah, wie er sich an Christabels Beine lehnte und ihr sanft den mächtigen Schädel auf die Knie legte, um sich ein paar Streicheleinheiten zu holen.

»Sie nehmen mir mein zweifelhaftes Ansinnen nicht übel?«, fragte Seeger, der in diesem Moment neben sie trat.

»Tut mir leid, mein Lächeln galt nicht Ihnen«, sagte Pippa, »ich dachte gerade an Unayok. Das Schöne an Hunden ist, dass sie einen nicht zu Dingen überreden wollen, die unmoralisch sind.«

»Ist das der große mit den blauen Augen? Der hat mir hier im Keller einen schönen Schreck eingejagt, als er sich schützend vor der alten Dame aufbaute.«

Pippa zuckte mit den Schultern. »Dann hat er geglaubt, Sie wollten Christabel angreifen. So ist das bei treuen Freunden.«

Sie gingen in Richtung Wiesenweg. Pippa trat prompt in eine tiefe Pfütze und verzog das Gesicht. Falls sie tatsächlich den direkten Weg entlang des Grabens zum Gutshaus nahm, würde sie sich vermutlich die Schuhe ruinieren und ihre Hose bis zu den Knien durchnässen.

»Keine gute Idee, bei diesem Wetter nur leichte Turnschuhe anzuziehen«, kommentierte Seeger, als er ihr Gesicht sah.

Pippa musterte den Kommissar. Der Mann hatte leicht reden: Mit seiner regendichten Wachsjacke, der derben Hose und den festen Schuhen konnte das Wetter ihm nichts anhaben. Aber sie hatte ja nur kurz zu Julius Leneke gehen wollen.

Er zeigte die Straße hinunter zur Mühle. »Lassen Sie uns hier entlanggehen. Weniger Pfützen und kein Morast.«

»Den Weg kenne ich schon«, erwiderte Pippa ausweichend. Auf keinen Fall wollte sie ihm gegenüber zugeben, dass sie es momentan für besser hielt, die Mühle zu meiden.

»Dann gehen wir durch das Vogelschutzgebiet«, bestimmte Seeger, »das ist allerdings ein gutes Stück länger.«

Mit langen Schritten marschierte er los, und Pippa folgte ihm. Der Regenschauer hatte die Landschaft buchstäblich mit Wasser gesättigt, von den kahlen Zweigen der Bäume und Büsche tropfte es noch immer. Sie gingen schweigend nebeneinanderher, bis sie zu einem Weiher kamen, an dem ein Vogelbeobachtungshaus stand. Kein Lufthauch bewegte die Wasseroberfläche.

»Ist das schön hier!«, sagte Pippa überrascht.

Plötzlich packte Seeger sie am Arm. »Pst! Da – ein Graureiher!«

Pippa folgte seinem Blick und entdeckte am gegenüberliegenden Ufer einen großen grauweißen Vogel, der völlig bewegungslos im seichten Wasser stand. Er sah aus, als hätte der Nebel selbst ihn geformt, wäre da nicht der gelbliche Schnabel gewesen.

»Ich dachte, hier gäbe es nur Störche«, flüsterte Pippa.

Seeger schüttelte den Kopf und angelte sehr langsam, um den Vogel nicht zu verjagen, seine Digitalkamera aus der großen Hosentasche am Oberschenkel. Er hielt sie hoch und drückte ein paarmal ab. Durch das leise Geräusch des Auslösers wurde der Reiher aufmerksam, breitete seine Flügel aus und flog davon. Zufrieden begutachtete Seeger seine Ausbeute im Display der kleinen Kamera und verstaute sie wieder.

»Wunderbar!«, sagte er strahlend und rieb sich die Hände.

»Vogelliebhaber?«, fragte Pippa, obwohl sie die Antwort bereits ahnte. Die gesamte Gegend schien von diesem Virus befallen zu sein.

Seeger nickte. »Graureiher sind hier selten – bei den vielen Störchen.« Er deutete auf einen nahen Baum, in dessen Wipfel ein unordentlich wirkender Haufen Reisig hing. »Das ist ein Reihernest. Gebrütet wird im März und April, aber leider ist dieses Nest verlassen. Sie kommen nur zum Jagen hierher. Reiher wagen sich sogar an Wasserratten, die sie komplett hinunterwürgen. Mir sind von diesem Beobachtungsstand aus ein paar eindrucksvolle Schnappschüsse davon gelungen.«

Pippa war sich nicht sicher, ob sie dieses spezielle Motiv gerne sehen würde, behielt ihre Zweifel aber für sich.

Sie gingen weiter und betraten einen Plankenweg mit Geländer, der durch sumpfiges Gebiet führte. Seegers Schritte in den derben Schuhen hallten dumpf in der Stille des Nebels, der in zerfaserten Schwaden über den hohen gelblichen Gräsern schwebte.

Pippa blieb stehen und lehnte sich ans Geländer. »Selbst bei diesem Wetter ist es wunderschön hier. Bei Sonnenschein muss es das Paradies sein.« Sie blickte nach unten. »Sogar der Sumpf sieht friedlich und harmlos aus.«

»Das hat Severin senior auch geglaubt. Deshalb hat er sich nach einem nächtlichen Besuch im Storchenkrug ohne Taschenlampe hierher gewagt«, erwiderte Seeger seelenruhig. »Leider hat es ihn hier in den Morast gezogen. Ohne ein Heer von freiwilligen Helfern hätten wir ihn wohl nie gefunden. Er war über und über mit Entenflott bedeckt, als man ihn herauszog. Sie können sich nicht vorstellen, wie fürchterlich das stank!«

Pippa, die sich weit über das niedrige Geländer gebeugt hatte, um die Stelle besser sehen zu können, fuhr hastig zurück. Plötzlich hatte sie keine Lust mehr, hier zu stehen und die Landschaft zu bewundern. Sie ging rasch weiter, wobei sie sich in der Mitte des Plankenwegs hielt.

»Seitdem gibt es dieses Geländer«, erklärte Seeger.

Pippa schluckte, fing sich aber gleich wieder. »Und das Alkoholverbot, nehme ich an.«

»Nein, das gibt es erst seit drei Jahren.« Er blickte sie eindringlich an. »Ich wüsste ausgesprochen gern, warum Frau Gerstenknecht es damals erst erlassen hat. Natürlich bin ich besonders an schmutzigen Details interessiert.«

»Natürlich sind Sie das. Aber ich verspreche nichts. Ich werde höchstens weitergeben, was offiziell autorisiert wird. Und das auch nur dann, wenn es unsere Seite weiterbringt.«

Seeger nickte anerkennend. »Sie lernen schnell.«

»Woher wollen Sie wissen, dass ich gerade etwas lerne?«, fragte Pippa belustigt. »Abgesehen davon sollten Sie nicht vergessen, mit wem ich hier spazieren gehe. Es spricht doch für sich, dass ausgerechnet Sie mich brauchen, um an Informationen zu kommen.«

Der Kommissar seufzte theatralisch. »Glauben Sie mir, mein Angebot ist wirklich ganz ehrenhaft! Es geht nur um den Informationsaustausch zwischen staatlicher Ermittlungsbehörde und kundiger Hofberichterstatterin. Schließlich wollen wir doch der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, indem wir den wahren Schuldigen überführen.«

Plötzlich wusste Pippa, an wen der erfahrene Ermittler sie erinnerte: an Rebecca Davis, die kluge englische Kommissarin, mit der zusammen sie die Morde im beschaulichen Hideaway aufgeklärt hatte. Rebecca glaubte fest daran, dass ein guter Polizist dem Volk aufs Maul schauen und gut zuhören sollte, weil das die Aufklärungsquote von Verbrechen deutlich erhöhte.

Seeger scheint ähnlich unkonventionell zu denken, überlegte Pippa. Davon können Christabel und ich nur profitieren, denn wir werden umgekehrt auch immer umfassend informiert sein.

»Mal abgesehen von den schmutzigen Details, die uns alle brennend interessieren«, sagte Pippa. »Was will die Polizei denn genau wissen?«

»Schön, dass Sie sich entschlossen haben, Ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen, Frau Bolle.« Seeger grinste zufrieden.

In großem Einverständnis lächelte Pippa ihn an. »Ich sollte meine Frage präzisieren: Welche Informationen bringen beide Seiten momentan weiter?«

Seeger hob den Zeigefinger. »Bornwasser besaß ein Domizil auf Mallorca, eins in Salzwedel, zwei Häuser in Storchentramm und eines in Storchwinkel. Fünf Immobilien! Darüber hinaus haben wir in seinem Haus ein Exposé des Storchenkrugs gefunden. Das Objekt hat seine Busenfreundin Waltraut Heslich ersteigert – merkwürdigerweise ohne jegliche Mitbieter.«

»Deshalb hatte sie ein Exposé in ihrer Schublade! Nicht, weil sie Kaufinteressentin war, sondern weil sie den Storchenkrug mit Gewinn weiterverkaufen wollte.«

Der Kommissar sah sie erstaunt an. »Woher wissen Sie denn, was sie in ihrer Schublade hatte?«

Mit rotem Kopf berichtete Pippa von ihrer Durchsuchung in Waltraut Heslichs Haus und der Beinahe-Begegnung mit Gabriele Pallkötter. »Selbst schuld, wenn hier niemand seine Haustür abschließt«, beendete sie ihre Beichte trotzig.

Seeger zog leicht die linke Augenbraue nach oben. »Frau Pallkötter hat, im Gegensatz zu Ihnen, Frau Bolle, jedes Recht dazu, das Haus zu betreten, denn die Herrschaften Bornwasser, Heslich und Pallkötter haben sich gegenseitig als Erben eingesetzt. Sowohl der Storchenkrug als auch Waltraut Heslichs Haus gehören ihr praktisch bereits.«

Dann kann ich für den armen Julius nur hoffen, dass sie nicht vorhat, dort einzuziehen, dachte Pippa. »Einer für alle, alle für einen. Wie die drei Musketiere. Aber wer ist d’Artagnan?«

»Das muss Maximilian Hollweg sein. Der ist mit von der Partie, da bin ich mir sicher.«

Pippa schlug sich vor die Stirn. »Natürlich! Die Doppelkopf-Runde!«

Sie erzählte ihm, was sie darüber wusste.

»Meine Rede: Durch Tratsch erfährt man oft mehr als aus direkten Befragungen«, sagte Seeger triumphierend.

»Eine englische Kollegin von Ihnen glaubte, dass man nur fragen kann, was man schon halbwegs ahnt oder weiß. Viele Fragen werden gar nicht gestellt, weil das Hintergrundwissen fehlt.«

»Ganz genau. Sie hat völlig recht. Das wäre eine Kollegin nach meiner Fasson.«

Und umgekehrt, dachte Pippa. Wäre Rebecca in der Nähe, würde die Palle beim Kommissar erst recht keinen Stich machen.

»Jetzt aber mal Butter bei die Fische«, sagte sie. »Auch ich kann nur gezielt suchen, wenn ich weiß, welche Puzzleteilchen Ihnen fehlen.«

»Sie haben recht.« Seeger überlegte einen Moment. »Ich will es mal so formulieren: Sie sind doch in Storchwinkel, damit Christabel nie allein ist … Da sind wir d’accord?«

Pippa nickte.

»Damit sind Sie so etwas wie ihr Bodyguard«, fuhr er fort, »und als solcher haben Sie das Recht, in alles eingeweiht zu sein. Aus Sicherheitsgründen sozusagen.« Seeger räusperte sich. »Um ehrlich zu sein: Wir denken ernsthaft über Personenschutz für Frau Gerstenknecht nach. Wir halten auch ihr Leben für gefährdet.«

Pippa blieb so abrupt stehen, dass Seeger noch einige Schritte weiterging, bevor er es bemerkte.

Eine solche Möglichkeit hatte Pippa nie in Betracht gezogen. Sie fröstelte und empfand die stille Umgebung plötzlich als bedrohlich. Wer wusste schon, wer ihnen im Schutz des Nebels folgte? Hastig schloss sie wieder zu ihm auf.

»Sie gehen also tatsächlich von Mord aus. Bei beiden Fällen«, sagte sie. Als Seeger sie lediglich bedeutungsvoll anschaute, begriff sie, dass es noch schlimmer war. »Mein Gott, in allen vier Fällen! Und das bedeutet, dass Christabels Familie auf der Liste des Mörders steht. Also könnte sie selbst in Gefahr sein.«

»Deshalb werden Hartung und ich in der kommenden Woche sehr sorgfältig die alten Fallakten von … Erde und Luft durchgehen.«

»Aber der alte Heinrich hat doch gesagt …« Sie unterbrach sich. Jetzt nichts Falsches sagen, sonst dachte Seeger noch, sie wäre den Beteuerungen des Spökenkiekers, die Elemente seien besänftigt, auf den Leim gegangen. »Denken Sie denn, der alte Heinrich hat etwas mit den Morden zu tun?«

Der Kommissar zuckte mit den Achseln. »Ich will nur nicht riskieren, dass er als Einziger auf dem richtigen Weg ist.«

»Mich würde interessieren, wie und wann er in diese Gegend kam«, sagte Pippa, »und ob er sofort den seltsamen Einsiedler in der Todesmühle spielte. Ich will wissen, ob Christabel dem Richtigen vertraut. Was glauben Sie, warum die beiden so gut befreundet sind?«

»Wahrscheinlich, weil er ihr nicht nach dem Munde redet. Und vermutlich hält sie ihn in seiner Verrücktheit für normaler als den ganzen Rest um sie herum.«

Sie lächelten sich zu und setzten ihren Weg fort. Von Zeit zu Zeit erklang ein Plätschern im Wasser oder der Schrei einer Krähe, aber Pippa fühlte sich mit dem Kommissar an ihrer Seite sicher. Dies war eine gute Gelegenheit, ihn einige Dinge zu fragen, die ihr unter den Nägeln brannten.

»Wie und wo Bornwasser gestorben ist, weiß ich jetzt. Können Sie mir noch etwas zu Waltraut Heslich sagen? Ich musste sie ja leider selbst sehen, als sie … Ich weiß nicht, aber auf mich wirkte die Szenerie irgendwie seltsam, so als habe die Frau sich durch Unvorsichtigkeit selbst verbrannt.«

Seegers Gesicht wurde hart. »Genau … und zwar nur sich selbst.«

Was meint er damit?, dachte Pippa, aber dann dämmerte es ihr. »Jemand hat dafür gesorgt, dass der Brand sich auf Frau Heslich beschränkte?«

Seeger nickte ernst. »So grauenhaft das klingt: Es muss jemand dabei gewesen sein, der eine Ausbreitung des Feuers verhinderte.«

Während Pippa schluckte, fuhr er fort: »Alles deutet auf hervorragende Planung hin. Nicht nur, dass die bei den Opfern gefundenen Gartenzwerge geheime Prototypen waren – sie wurden überdies sorgfältig ausgewählt.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

»Ihnen würden die Parallelen auffallen, wenn Sie so viele Leute befragt hätten wie ich. Jeder Einzelne hat im Gespräch über Harry Bornwasser gesagt, der Gerichtsvollzieher habe sich durch Gier und Eitelkeit ausgezeichnet. Selbst seinen Storchenturm hat er nur aufgestellt, um auch am Wettbewerb um den ersten Storch teilnehmen zu können. Er bekam also den Hals nie voll und wollte immer hoch hinaus. Und wo wurde sein Zwerg gefunden?«

»Oben im Storchennest.«

»Sehen Sie? Frau Heslichs Zwerg ist die personifizierte Schadenfreude und Häme, und bei beinahe jeder Befragung wurde erwähnt, dass dies die hervorstechenden Charakterzüge dieser Frau waren. Sie hatte großes Vergnügen daran, den Betroffenen deren persönliche Niederlagen immer wieder unter die Nase zu reiben, noch jahrelang.«

»Aber hätte dem Mörder dann nicht daran gelegen sein müssen, die Opfer mit ihren Zwergen zu konfrontieren? Das war aber nicht der Fall, denn beide Zwerge tauchten erst nach dem Tod der beiden auf – und nicht an den Tatorten.«

»Das ist richtig. Aber vielleicht sollen die Zwerge eine Warnung für andere sein. Oder die Tat rechtfertigen. Oder beides.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Pippa bestimmt. »Die Sprechfunktion bei Frau Heslichs Wichtel war nicht aktiviert, erinnern Sie sich? Das hat erst Florian gemacht. Bis auf ein paar Leute wusste auch niemand, dass es diese Funktion überhaupt gibt, denn Lüttmanns Lütte Lüd will die Bewegungsmelder erst jetzt auf den Markt bringen. Ich glaube, die Zwerge haben eine andere Bedeutung – und vielleicht nicht einmal etwas mit dem Täter selbst zu tun.«

»Sie meinen, der Wichteldieb wollte auf diese Weise den Verdacht auf jemanden aus der Manufaktur lenken?«

»Wäre möglich. Auf jeden Fall schadet eine Verbindung zu den Morden dem Ruf der Firma und lässt ihren Wert sinken, besonders wenn die neue Kollektion unter diesen Umständen jetzt auch noch vorzeitig bekannt wird.«

Seeger nickte. »So kann man Christabel Gerstenknecht auch fertigmachen. Der Mörder muss nicht immer töten.«

Kommissar Seeger und Pippa hatten die Einfahrt des Gutshauses erreicht und erblickten Christabel, die in der offenen Haustür stand und mit Gabriele Pallkötter diskutierte. Selbst aus etlichen Metern Entfernung war zu erkennen, dass die Pallkötter die sichtlich genervte Christabel zu umschmeicheln versuchte.

»Ich muss los, wir reden ein anderes Mal weiter«, sagte Seeger eilig und gab Pippa den Schlüssel vom Storchenkrug. »Wenn Sie den bitte Frau Gerstenknecht geben würden?«

»Wann ist unser nächstes konspiratives Treffen?«, raunte Pippa ihm zu.

Über Seegers Gesicht huschte ein Lächeln. »Immer zwischen zwölf und dreizehn Uhr, wenn Sie wollen, an Sonn- und Feiertagen gerne auch länger. Sie finden mich im Vogelbeobachtungsstand bei den Teichen. Dorthin gehe ich täglich, um meinen Kopf zu klären und meine Zukunft zu üben.«

»Sie üben Ihre Zukunft?«

»In einem Monat bin ich Pensionär. Es wird Zeit für ein Hobby, und Vogelbeobachtung steht in der engeren Auswahl.« Er versuchte, fröhlich zu klingen, aber es gelang ihm nicht.

»Sie sollten sich darauf freuen, nichts mehr mit Verbrechen zu tun zu haben.«

»Aber leider auch nicht mehr mit so vielen verschiedenen Menschen. Trotz all dem, was ich im Berufsleben gesehen und erfahren habe, mag ich Menschen immer noch.«

»Da wird sich doch wohl jemand finden lassen«, sagte Pippa aufmunternd.

»Ja, Frau Pallkötter«, gab Seeger düster zurück.

»Ich dachte, wir reden von Menschen«, murmelte Pippa und entlockte ihm damit ein Grinsen. Sie blickte zum Gutshaus hinüber und registrierte alarmiert, dass Gabriele Pallkötter auf sie und Seeger aufmerksam geworden war und neugierig den Hals nach ihnen reckte.

Seeger sah an sich herunter. »Um bei Damen Eindruck zu machen, werde ich wohl auf meine geliebte Hose und die alte Jacke verzichten müssen, schätze ich.«

»Um die Jacke machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Pippa, »die wäre bei mir in den besten Händen. Und ich würde sie ewig in Ehren halten, das schwöre ich.«

Seeger schüttelte lachend den Kopf.

»Ich frage mich, warum ich Ihnen das alles überhaupt erzähle.«

»Na, so von Kollege zu Kollege …«, erwiderte Pippa und zwinkerte ihm zu.

»Ich gehe mal besser, bevor ich hier noch eine Lebensbeichte ablege.«

Sie schüttelten sich die Hand, und Pippa ging die Auffahrt zum Gutshaus hinauf. Mit großen Schritten kam Gabriele Pallkötter auf sie zu.

Die Palle wär gerne Seegers Schnalle, fuhr es Pippa durch den Kopf. Sie konnte nicht verhindern, dass sie über das ganze Gesicht grinsen musste.

Gabriele Pallkötter stutzte und funkelte sie wütend an.

Halte mich ruhig für eine Konkurrentin, dachte Pippa amüsiert, dann strengst du dich wenigstens an. Der Mann hat es verdient.

»Ich habe Sie überall gesucht, Paul-Friedrich«, hörte sie im Weitergehen die Frau mit mädchenhafter Stimme zum Kommissar sagen. »Sie spielen doch Doppelkopf? Herr Hollweg und ich fragen uns, ob Sie vielleicht …«

Christabel erwartete sie an der Haustür. »Da sind Sie ja endlich, Pippa. Wohnt Julius neuerdings im Vogelschutzgebiet?«

Pippas verblüfftes Gesicht brachte die alte Dame zum Lachen. »Ich habe vom oberen Stockwerk aus … ferngesehen.«

»Tut mir leid, dass ich so lange unterwegs war.«

Christabel winkte ab. »War nicht schlimm. Ihr Herr X und ich haben ja über der Planung gesessen. Aber er hat eilig das Weite gesucht, als Frau Pallkötter plötzlich vor der Tür stand. Feiertage sind wirklich fürchterlich, sie bringen die Menschen auf die seltsamsten Ideen. Was denkt sie sich dabei, hier einfach aufzukreuzen?«

»Was wollte sie denn?«

»Was alle wollen: sich bei mir einschmeicheln. Sie hat mir von Waltraut Heslichs zweigleisigen Kooperationsbemühungen mit den Biberbergs erzählt. Angeblich wollte sie mich davor warnen, dass die Herren sich verbrüdern, um das Regiment im Storchendreieck zu übernehmen.« Nachdenklich betrachtete sie Gabriele Pallkötter, die noch immer eifrig auf den Kommissar einredete. »So etwas müssen Sie mir sagen, wenn Sie davon erfahren, Pippa. Auch, dass Frau Leising schon angefragt hat, was ich für ihre Stimme zu zahlen bereit bin.«

»Woher weiß die Palle denn das schon wieder? Und warum muss sie alles herumtratschen, bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, mit Ihnen zu reden?«, ereiferte Pippa sich empört. »Was glaubt sie, wer sie ist? Nicht nur das Jugendamt, sondern Gott persönlich?«

»Oh, das ist hier traditionell ein und dasselbe«, sagte Christabel, aber es klang eher bitter als scherzhaft.

Am liebsten würde ich der Pallkötter den Hals umdrehen, dachte Pippa grollend.

Sie blickte zu Gabriele Pallkötter hinüber, die sich gerade kokett die Frisur richtete, an der es dank einer Überdosis Haarspray nichts zu richten gab. Dabei drehte sich die Jugendamtsleiterin ein wenig und entdeckte Florian, der mit Tuktu, Tuwawi und Unayok über den Dorfplatz auf sie zukam. Ihr Gesicht verzerrte sich panisch, und sie stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ehe der Kommissar wusste, wie ihm geschah, hatte sie die Arme um ihn geschlungen. Ununterbrochen kreischend, presste sie sich an ihn und barg ihr Gesicht an seiner Schulter.

»Sieh an, das unbarmherzige Jugendamt hat also doch eine Schwäche«, murmelte Christabel, die das Geschehen interessiert verfolgte, »eine ausgewachsene Hundephobie.« Laut rief sie: »Nimm die Hunde an die Leine, Florian, und geh durch euren Garten zu den Hundehäusern!«

Florian nickte und stieß einen kurzen Pfiff aus. Sofort kamen die drei Hunde zu ihm und ließen sich anleinen. Dann führte er sie durch das Gartentor von Nummer 4 und verschwand hinter dem Haus.

Obwohl die vermeintliche Gefahr gebannt war, klammerte Gabriele Pallkötter sich nach wie vor zitternd an Seeger – immerhin war sie mittlerweile still. Der Kommissar blickte verzweifelt zu Pippa und Christabel hinüber. In dem hilflosen Bemühen, die Pallkötter nicht anzufassen, hielt er seine Arme ungelenk abgespreizt.

»So haben wir als Backfische auch Kontakt zum anderen Geschlecht aufgenommen. Die Gute hat wirklich Glück gehabt, dass das Objekt ihrer Begierde in Reichweite war.« Christabel kicherte vergnügt. »Und jetzt gehen Sie hin, Pippa, und laden Herrn Seeger zum Mittagessen ein. Retten Sie unseren Kommissar – sonst ist er morgen verheiratet.«

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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