Kapitel 9

Pippa ging die Auffahrt des Gutshauses hinunter und trat hinaus auf den belebten Dorfplatz. Sie wollte rechtzeitig zur Öffnung des Bücherbusses an der Haltestelle sein.

Bei Tageslicht sah Storchwinkel aus wie ein Dorf aus dem Bilderbuch. Links und rechts von ihr gruppierten sich jeweils sechs Häuser rund um den Platz und machten auf diese Weise der Bezeichnung »Rundlingsdorf« alle Ehre. Direkt in der Mitte lag ein Teich, aus dem ein weiterer der hohen metallenen Storchentürme ragte, die Pippa schon aus Christabels Garten kannte. Zwei Männer, mit Seilen gesichert wie professionelle Kletterer, nutzten die gekreuzten Verstrebungen, um zum Nest hinaufzusteigen. Etliche Dorfbewohner standen am Ufer, feuerten die beiden an und applaudierten, als sie das Nest erreicht hatten und anfingen, es von winterlichem Unrat zu reinigen. Zwei breite Planken, die in maßgeschneiderten Aussparungen der Stahlkonstruktion ruhten, führten wie eine Brücke vom Ufer zum Metallturm. Pippa schüttelte sich bei dem Gedanken, wie leicht man darauf ausrutschen und mit dem kalten Wasser des Teiches Bekanntschaft schließen konnte.

Vor zwei Häusern harkten Leute den ungepflasterten Bürgersteig und hinterließen im Sand ein akkurates Streifenmuster.

Pippa dachte spontan an die Wege aus märkischem Sand auf der Kleingarteninsel Schreberwerder, wo sie ihren ersten Mordfall erlebt hatte.

Um das fast meditativ anmutende Muster vor dem Haus eines älteren Herrn nicht zu zerstören, wich Pippa auf die Straße aus und erntete freundliches Kopfnicken. »Nett von Ihnen, junge Dame.« Der Mann stützte sich auf den Stiel seiner Harke und musterte sie forschend. »War ein ganz schön aufregender Tag gestern, besonders für Sie. Sind Sie noch bei Christabel?«

»Und ich werde auch noch einige Tage bleiben«, erwiderte Pippa.

»Das ist gut. Gerade jetzt.« Der Mann nickte wieder. »Jetzt sollte niemand allein sein.« Dann fuhr er fort, den Sandplatz vor seinem Haus in einen Zen-Garten zu verwandeln.

Pippa ging weiter zur Ausfallstraße, an der auch die Bushaltestelle lag. Als sie das Straßenschild las, musste sie grinsen. Ciconiaplatz … hier heißen sogar die Plätze nach den Weißstörchen! Es würde mich schon sehr wundern, wenn dahinter nicht mein Professor steckt – sponsored by Lüttmanns Lütte Lüd.

Eine Gruppe von Menschen stand beieinander und diskutierte lebhaft. Pippa ging unauffällig langsamer und spitzte die Ohren. Zwar schnappte sie tatsächlich ein paar Satzfetzen über den Tod von Waltraut Heslich auf, aber die Leute unterhielten sich offenbar über die zu erwartende Ankunft von jemandem oder etwas anderem. Als Pippa sie erreichte, grüßten die Dörfler sie wie eine alte Bekannte.

Kein Wunder, ich habe ja auch gestern vor der Ade-Bar die Personalien der meisten von ihnen aufgenommen, dachte Pippa.

Kurz entschlossen stellte sie sich dazu. »Warten Sie auf den Bücherbus?«, fragte sie einen Herrn mit Schnäuzer.

Der Mann sah sie verblüfft an. »Bücherbus? Nö – auf den ersten Storch.« Er deutete auf ein Fachwerkhaus links neben Christabel Gerstenknechts Grundstück. »Martha Subroweit da drüben hat vorhin einen über das Dorf fliegen sehen. Wenn das einer von unseren Störchen war …«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »dann steht bald fest, wer dieses Jahr gewonnen hat.«

Seit Pippa da stand, waren noch mehr Menschen zu der Gruppe gestoßen. Die sind genauso neugierig wie ich und wollen herausfinden, wer ich bin und was ich mit Christabel zu tun habe, dachte Pippa, und vor allem, was mich mit der Polizei verbindet. Neues Futter für die Gerüchteküche!

Tatsächlich musterten die Leute sie neugierig, aber nicht unfreundlich, während sie sich weiter über die sehnlich erwartete Ankunft der Störche unterhielten. Pippa erfuhr, dass die Dorfbewohner große Mühe investierten, um den Tieren ein artgerechtes Heim zu bereiten.

»Dieses Mal muss ich einfach Glück haben. Meine Störche müssen die Ersten sein. Ich habe ihnen ein wirklich komfortables Nest bereitgestellt«, sagte eine Frau stolz. »Unser Professor hat meinen Einsatz ausdrücklich gelobt, denn ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut. Mein halber Lohn ist draufgegangen.«

»Als ob du nicht jeden Cent von ihm und Christabel zurückbekämest, Martha«, knurrte ein älterer Mann.

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Der Gedanke zählt, Erich, ganz allein der Gedanke.«

»Darf ich Sie fragen, was Sie sich wünschen, wenn Sie gewinnen?«, fragte Pippa.

»Ich möchte einmal ins Fernsehen«, sagte Martha Subroweit schwärmerisch, »egal wie. Hinter die Kulissen gucken, Sie verstehen? Vielleicht bei einer Kochshow …«

»Willst du wirklich, dass alle Welt weiß, wie du kochst, Martha?«, brummte Erich. »Das würde ich mir aber noch mal überlegen.«

Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu und fuhr, an Pippa gewandt, fort: »Oder einmal als Statistin arbeiten. In einem Krimi. Oder einem Liebesfilm.«

Erich lachte laut, ein paar andere Männer gackerten. »Ich sehe es geradezu vor mir«, rief er, »wie der jugendliche Held sich von seiner Angebeteten abwendet und sein Herrenhaus verlässt, um dir von Cornwall in die Altmark zu folgen!«

Martha Subroweit verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Mann aus zusammengekniffenen Augen. »Am liebsten wäre ich allerdings eine erfolgreiche Mörderin in einem Dorf voller missgünstiger alter Zausel.«

»Nichts leichter als das«, schoss Erich zurück, »dann bitten wir Christabel einfach um eine Live-Übertragung aus Storchwinkel. Webcams haben wir genug … und früher oder später …«

»Wie wird überprüft, wer gewonnen hat?«, beendete Pippa das Geplänkel der beiden. »Könnte sich ein Storch auf ein Nest setzen, ohne dass es bemerkt wird?«

»Raten Sie mal, warum wir hier stehen und Ausschau halten«, erwiderte Erich mit besorgter Miene. »Seit gestern ist die Leitung gestört.«

Auf Pippas verständnislosen Blick hin sagte eine junge Frau in Florian Wieks Alter: »Ich erkläre es Ihnen.« Sie gab Pippa die Hand. »Ich bin Anett Wisswedel.«

»Pippa Bolle.«

Anett Wisswedel lächelte. »Ich weiß. Ich stand gestern in Ihrer Reihe. Alle haben mitgekriegt, dass Sie bei Frau Gerstenknecht wohnen. Dass Severin und Melitta gleichzeitig verreisen, ist noch nie vorgekommen. Und ausgerechnet jetzt …«

»Sie meinen die Todesfälle?«, fragte Pippa.

Die junge Frau nickte. »Gut, dass Sie in Zukunft für Frau Gerstenknechts Sicherheit sorgen.« Sie zeigte auf das Nest auf dem Mast. »Sehen Sie die kleine Kamera da oben? Alle Nester im Storchendreieck sind mit Webcams ausgestattet, dafür haben Professor Meissner und seine Studenten gesorgt. Die Kameras übertragen alles in sein Haus, und von dort aus werden die Bilder abwechselnd aus den verschiedenen Nestern in die Ade-Bar gesendet. Ist Ihnen der große Monitor bei Hilda aufgefallen? Wir können dort alle Störche ständig verfolgen: von der Ankunft über die Aufzucht bis hin zum Abflug. Und natürlich auch das Eintreffen des Gewinners.«

Pippa nickte. »Der alljährliche Wettbewerb um den ersten Landeplatz.«

»Genau. Aber wir kommen momentan nicht an Übertragungsbilder!«

Wieder nickte Pippa. »Weil Professor Meissner in Berlin krank im Bett liegt und die Anlage nicht in Betrieb nehmen kann. Wirklich ärgerlich.«

»An Professor Piep liegt es nicht«, sagte Martha. »Die Anlage läuft längst.«

»Dank Ihrer Kollegen ist die Ade-Bar seit gestern versiegelt, und dort steht doch unser Fernseher«, erklärte Anett Wisswedel. »Das ist der Grund!«

»Das sind nicht meine …«, setzte Pippa an, als ein Raunen durch die wartenden Menschen ging und einige zum Himmel zeigten.

Ein Storch flog direkt über sie hinweg.

»Das ist schon der zweite heute«, rief Erich aufgeregt und stieß den Mann neben sich an. »Jetzt wird es langsam eng, Hermann, was?«

Der Angesprochene kratzte sich am Kopf, während er den Flug des Weißstorchs nachdenklich verfolgte. »Der kam mir aber nicht bekannt vor. Dir?«

»Nee, keiner von unseren«, stimmte Erich zu. »Schätze, der gehört an die Elbe, ins Storchendorf Rühstädt oder nach Wahrenberg …«

Beinahe widerwillig löste Pippa sich aus der munteren Truppe und ging weiter in Richtung Bücherbus. Die unterhaltsamen Diskussionen der Storchwinkeler machten ihr Spaß, aber sie war schließlich in Christabels Auftrag unterwegs. Und deren Einfluss war überall gegenwärtig. In jedem der Vorgärten, die sie passierte, entdeckte Pippa Gartenzwerge. Sie bemerkte, dass die kleinen Figuren individuelle Gesichtszüge trugen, ganz so, als wären sie Miniaturversionen ihrer Besitzer. Ein Garten tanzte aus der Reihe: Dort standen überall Vogelskulpturen, in den Blumenkästen, auf dem Rasen und außen auf den Fensterbänken, so lebensecht, als würden sie jeden Moment auffliegen.

Das muss Meissners Ferienhaus sein, dachte Pippa. Professor Piep – das muss man sich erst einmal trauen, den seriösen Herrn Professor so zu nennen!

Wieder kam sie an einem Grüppchen Dörfler vorbei. Sie unterhielten sich auf Altmärkisch, und Pippa schnappte auf, dass de Dörpstrat vor den Häusern von Bornwasser und von Mandy Klöppel schon viel zu lange nicht mehr ordentlich geharkt worden sei und es allmählich tied wörd, das zu regeln. Der Verstorbene könne natürlich aus bekannten Gründen nicht mehr selbst harken, aber im Fall von Mandy Klöppel sei ein ernstes Wort überfällig …

»Bestimmt denkt sie nicht daran, dass morgen das lange Osterwochenende beginnt, und will es Samstag erledigen«, verteidigte sie eine Frau mittleren Alters. »Oder sie hat heute noch keine Zeit gehabt.«

Zwei Männer stießen sich feixend an. »Ganz bestimmt sogar, Elke. Die hat erst Zeit, wenn der Bücherbus wieder weg ist«, sagte der eine.

Die Frau runzelte die Stirn. »Arbeit is keen Has, se löppt nicht wech. Mandy kann später auch noch harken.«

Der Bücherbus stand bereits an der Haltestelle. Auf der verschlossenen Eingangstür prangte die Graphik eines Dreiecks mit einem Storch in jeder Ecke. Die Vögel waren einem aufgeschlagenen Buch in der Mitte des Dreiecks zugewandt, in dem die Öffnungszeiten zu lesen waren. Pippa suchte nach denen von Storchwinkel und erfuhr: Dienstag und Donnerstag 11.00 bis 14.00Uhr, keine Wartezeit für Leser in 3L-Mittagspause.

Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass es bereits kurz vor halb zwölf war. Sie drehte sich zu den drei ebenfalls wartenden Männern um.

Ein zahnloser Alter grinste sie an. »Schon richtig, Mädchen, der Bus sollte um elf Uhr öffnen, aber das wird noch dauern. Die Mandy ist heute erst spät aus Storchentramm zurückgekommen.«

Ein rotwangiger, stark übergewichtiger Mann lehnte am Bus. Er kicherte und sagte: »Aus den Krallen von der Pallen.«

Gerade als Pippa fragen wollte, was Mandys Rückkehr aus Storchentramm mit der verschlossenen Bustür zu tun hatte, tippte der Zahnlose auf das Ziffernblatt seiner Uhr. »Timo ist erst seit einundzwanzig Minuten bei der Mandy.«

Erich hatte die kleine Gruppe ebenfalls erreicht und diesen Kommentar gehört. »Na ja, dann wird’s ja nicht mehr lange dauern. Sein Durchschnitt sind dreiunddreißig Minuten.«

»Ja, der ist noch jung«, sagte der dritte Mann. »Bei den Bürgermeistern reichen fünfzehn Minuten. Maximal sechzehn.«

Die drei lachten.

Erich hob den Zeigefinger. »Nicht ganz richtig, Hannes. Das gilt für Zacharias, Thaddäus schafft es länger. Wenigstens dabei lässt er seinen Bruder hinter sich.«

»Das MEK stellt sich eben auf jede Zielperson individuell ein«, sagte der Zahnlose, und wieder lachten die Männer.

Pippas Verwirrung wuchs. MEK? Mobiles Einsatzkommando? Wieso das denn? Und wieso bei Mandy im Haus? War das vielleicht die Verstärkung, um die Seeger gebeten hatte?

Das MEK ist eine Spezialeinheit für Observation und Zugriff, grübelte Pippa, aber wer oder was benötigt hier Zugriff? Erwartet Seeger noch mehr Tote? Was macht hier im Dorf einen Sondereinsatz nötig – und was genau hat Mandy Klöppel damit zu tun?

Hilda Krause war zusammen mit Anett Wisswedel an den Bus gekommen, und die beiden Frauen gesellten sich zu Pippa. Hilda Krause trug einen Stapel Bücher, und Pippa verrenkte den Kopf, um die Aufschrift auf den Buchrücken lesen zu können.

»Dorothy L. Sayers und P. D. James – die lese ich auch gerne«, sagte sie, »und Sie haben sogar ein Buch gefunden, das ich noch nicht kenne.« Sie deutete auf den betreffenden Titel. »Hat es Ihnen gefallen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte Hilda Krause, »seit gestern ist mir der Appetit auf Kriminalromane vergangen. Ich bringe sie zurück und leihe mir stattdessen heile Welt aus.«

Der Zahnlose gackerte. »Liebesromane, ej? Stell dich doch einfach vor Haus Nummer 2! Da gibt es Liebe pur.«

Hilda Krause musterte den Alten empört. »Lasst endlich Mandy in Ruhe. Aus euch alten Knackern spricht der reine Neid. Ihr würdet ihr doch die Bude einrennen, wenn sie euch wollte!«

»Erst neulich hat der alte Heinrich gesagt, dass aus Mandy noch mal etwas ganz Großes wird«, warf Anett Wisswedel ein.

»Etwas ganz Großes?« Der Mann, den Erich mit Hermann angesprochen hatte, schnaubte spöttisch. »Nur über die Leiche von der Palle.«

Erich dagegen war beeindruckt. »Das hat Heinrich wirklich prophezeit? Dann wird das auch so sein. Seinem Schicksal kann man nicht entgehen, sagt er immer.«

Alle wandten sich um, als eine Haustür lautstark zuklappte. Timo Albrecht kam den Vorgartenweg von Haus Nummer 2 herunter und schlenderte ohne sonderliche Eile auf den Bücherbus zu.

»Respekt, Timo«, sagte der Zahnlose, »neunundvierzig Minuten! Handgestoppt! Persönliche Bestleistung, würde ich schätzen.«

Timo Albrecht zwinkerte ihm fröhlich zu und öffnete die Bustür, ohne sein verspätetes Auftauchen auch nur mit einer Silbe zu kommentieren. Er stieg ein und ließ sich in den Fahrersitz fallen, dann winkte er die Wartenden zu sich herein.

Weil man ihr den Vortritt ließ, betrat Pippa den Bus als Erste.

»Guten Tag. Sie wollen das Buch für Christabel Gerstenknecht abholen, nicht wahr?«

Der junge Mann strahlte sie an, und Pippa verstand sofort, warum er bei Mandy Klöppel einen Stein im Brett hatte. Timo Albrecht griff in ein Fach hinter sich und reichte ihr ein Buch mit festem Einband.

Pippa schnappte nach Luft, als sie sah, worum es sich handelte. »Lady Chatterleys Liebhaber? Sind Sie sicher?«

Sie blickte auf und fand sich umringt von den Storchwinkelern, die zusammen mit ihr auf den Bibliothekar gewartet hatten. Alle reckten neugierig die Hälse, um zu sehen, wie sie darauf reagierte, dass sie für die alte Dame einen Klassiker der erotischen Weltliteratur abholen sollte.

»Sind Sie sicher?«, wiederholte Pippa perplex, und alle um sie herum nickten. In Storchwinkel waren Christabel Gerstenknechts literarische Vorlieben offenbar kein Geheimnis.

»Frau Gerstenknecht hat einen exquisiten Geschmack«, erklärte Timo Albrecht, »nicht nur das Decamerone von Boccaccio, Balzacs Tolldreiste Geschichten und die Kurtisanengespräche des Aretino hat sie schon durch, sondern selbstverständlich auch Casanovas Erinnerungen – um nur einiges zu nennen.«

»Warum auch nicht?«, fragte Hilda Krause. »Viele junge Leute glauben, die Sexualität gehört ihnen allein. Aber wenn sie älter werden, ändern sie ihre Meinung. Nur weil der Körper sich verändert, hört man ja nicht auf zu … denken.«

Sie musterte Timo Albrecht, als wäre er ein besonders leckerer Kuchen, und blinzelte dann Pippa schelmisch zu. Diese errötete, denn Hilda Krause hatte offensichtlich auch ihren wohlgefälligen Blick auf den attraktiven jungen Mann bemerkt. Verlegen verschwand Pippa im Inneren des Busses. Sie suchte in den Regalen nach Literatur über die Altmark und entschied sich für einen Bildband über den Naturpark Drömling sowie eine Chronik Storchwinkels aus den Wendejahren.

»Wo hast du denn die Kunstbücher, Timo?«, hörte sie Hilda Krause fragen. »Josef kommt heute Abend und bleibt bei mir, bis … bis alles aufgeklärt ist. Irgendetwas über Skulpturen oder Kunst am Bau wäre für ihn genau das Richtige.«

»Immer auf der Suche nach Inspiration, verstehe.« Timo Albrecht deutete auf ein Regal. »Dort drüben lauern die schönen Künste, Hilda!«

Mehr und mehr Menschen drängten in den Bus, unter ihnen auch Florian Wiek.

»Ich bin beeindruckt, wie viele Leute in Storchwinkel lesen«, sagte Pippa zu Timo Albrecht, der seinen Platz verlassen hatte, um ihr die ausgewählten Bücher abzunehmen und sie zu registrieren.

»Bücher leihen und Bücher lesen – das sind zwei verschiedene Paar Schuhe«, entgegnete Timo Albrecht trocken. »Sagen wir so: Für meine Kunden macht sich jedes geliehene Buch bezahlt.«

Er lachte über ihr erstauntes Gesicht: »Christabel Gerstenknecht hat den Bücherbus ins Leben gerufen und ist sein größter Förderer. Für Mitarbeiter von 3L – also Lüttmanns Lütte Lüd – ist die Ausleihe gratis. Als Belohnung für jedes ausgeliehene Buch gibt es nicht nur einen Essensgutschein für die Ade-Bar, sondern obendrein eine verlängerte Mittagspause. Und Sie sehen: Man rennt mir buchstäblich die Bude ein.«

»Und das reicht Frau Gerstenknecht? Reger Zulauf?« Pippa schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihr zugetraut, dass sie Stichproben macht, um zu kontrollieren, ob die Bücher wirklich gelesen wurden.«

»Sie meinen, sie lässt alle im Gutshaus antanzen und einen Test schreiben? Oder eine Zusammenfassung?« Timo Albrecht lachte amüsiert. »Oder besser noch Nacherzählungsverhöre.«

»Sie werden sie besser kennenlernen, wenn Sie länger hier sind, Pippa«, sagte Hilda Krause. »Christabel geht es darum, Anreize zu geben. Aber jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Sie will niemanden zu irgendetwas zwingen.«

Timo Albrecht fügte hinzu: »Ihre Philosophie ist: Wenn sich von zwanzig Ausleihern auch nur einer tatsächlich in die Seiten eines Buches verirrt und es liest, hat sich ihre Investition gelohnt.«

Dennoch, dachte Pippa, so viel Geld für die bloße Möglichkeit, dass jemand wirklich ein Buch liest …

Florian Wiek überreichte Timo Albrecht einen Satz Noten für Trompete, damit er sie für die Ausleihe erfassen konnte.

Da Pippa nah genug stand, bekam sie mit, was Florian sagte, obwohl er seine Stimme senkte. »Kannst du mir Literatur über Porzellan und berühmte Manufakturen besorgen, Timo? Meissner, KPM Berlin, Nymphenburg, Graf von Henneberg – alles, was du kriegen kannst. Ich brauche so viele Informationen wie möglich.«

Albrecht schrieb die Namen auf und nickte. »Spätestens nächsten Donnerstag bringe ich dir was mit. Wenn ich in Salzwedel nichts für dich finde, dann in einer anderen Bibliothek.«

Florian deutete mit einer Handbewegung an, dass Timo nicht so laut sprechen solle.

»Ich habe mich in Fabriken in Berlin und Sachsen für ein Praktikum als Glas- und Porzellanmaler beworben«, flüsterte er. »Sollte ich zu einem Gespräch eingeladen werden, will ich gut vorbereitet sein. Das könnte für mich das Sprungbrett zu einer Anstellung sein. Nach meiner Lehre möchte ich mal was anderes sehen als Störche und Gartenzwerge. Aber kann das bitte erst mal unter uns bleiben? Ich habe es sogar dem alten Heinrich verschwiegen, und dem erzähle ich so gut wie alles. Ich wollte ihn Christabel gegenüber nicht in Gewissensnöte bringen.«

»Wann sind denn die Prüfungen?«, fragte Timo Albrecht kaum hörbar.

»Mit den schriftlichen bin ich durch, fehlen nur noch die mündlichen. In einem Monat habe ich alles hinter mir – hoffe ich.«

»Ich halte dir die Daumen«, sagte Timo Albrecht und drückte freundschaftlich Florians Schulter.

Mich sollte wundern, wenn Christabel Gerstenknecht über deine Pläne glücklich ist, dachte Pippa, sie verliert dann ihren besten Porzellanmaler. Ich bin sicher, sie weiß gar nichts von diesen Bewerbungen.

Pippa warf einen Blick auf die Uhr und erschrak, als sie sah, wie viel Zeit seit ihrem Aufbruch aus dem Herrenhaus vergangen war. Als sie eilig den Bus verlassen wollte, musste sie warten, weil ein Mann hereindrängte. Er war um die fünfzig und machte den Eindruck, als würde er keinen großen Wert auf sein Äußeres legen. Seine Strickjacke hatte Löcher an den Ellbogen, und er hatte sich schon länger nicht mehr rasiert. Fahrig strich er sich die Haare aus dem hageren Gesicht, in dem Pippa tiefe, dunkle Augenringe auffielen.

»Julius Leneke! Ich werd verrückt!«, rief Timo Albrecht. »Seit wann bist du denn zurück?«

»Der alte Heinrich hat mich gestern Abend abgeholt«, erwiderte der Mann leise.

»Und? Hast du dir in Wiesbaden einen Kurschatten zugelegt?«

Leneke verzog das Gesicht. »Welche Frau würde sich für mich schon interessieren? Und selbst wenn, ich hätte sie ja doch zurücklassen müssen. Also habe ich es erst gar nicht versucht.«

Mit Leidensmiene legte er einen Stapel Bücher vor Timo Albrecht, die dieser einzeln aufschlug, um im Computer ihre Rückgabe einzupflegen. Seelischer Schmerz als Lebensinhalt, Praktische Übungen im Dauerversuch las Pippa ungläubig die Titel, außerdem Ich leide, also lebe ich und Bis dass der Tod uns scheidet: Mein Schicksal und ich als Weggefährten.

»Geht es dir denn jetzt wieder … gut?«, fragte Timo Albrecht vorsichtig.

Ein tiefer Seufzer entrang sich Julius Leneke. »Heinrich sagt, ja – dann wird es wohl so sein.«

Du meine Güte, dachte Pippa schaudernd, wenn der nicht das Leid der ganzen Welt auf seinen schmalen Schultern trägt! Und dieser Heinrich wird mir langsam echt unheimlich.

Sie nickte Timo Albrecht zum Abschied zu und schlängelte sich an Leneke vorbei aus dem Bus.

Der Teich in der Mitte des Dorfplatzes lag verlassen da, als Pippa vorbeiging. Mit den beiden Kletterern waren auch die Planken hinüber zum Storchenmast verschwunden.

So können die Störche ganz ungestört brüten, dachte sie, sie hocken hier zwar auf dem Präsentierteller, sind aber sicher wie in einer Wasserburg mit Burggraben bei geschlossener Zugbrücke.

Sie blieb stehen und drehte sich um, als jemand hinter ihr ihren Namen rief.

Der mürrische Mann aus dem Bus, Julius Leneke, eilte ihr nach und sagte vorwurfsvoll: »Ich habe gerade erfahren, wer Sie sind. Sie haben sich mir nicht vorgestellt.«

»Hätte ich das denn tun sollen?«, fragte Pippa erstaunt.

Der Mann nickte ernst. »Selbstverständlich. Ich muss genau wissen, wen Christabel um sich hat. Ich bin sehr besorgt um ihre Sicherheit. Schließlich bin ich ihr Sohn und Erbe.«

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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