Kapitel 10

Vor dem Eingang des Gutshauses standen zwei Männer, rauchten und unterhielten sich – neben einer Sänfte.

Das kann nur eine Halluzination sein, dachte Pippa und vergaß darüber die Neuigkeit, dass Christabel einen Sohn hatte.

»Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Pippa und bestaunte das hölzerne Etwas, das genau einer Person Platz bot.

»Vitus Lohmeyer«, stellte sich einer der Männer mit einer kleinen Verbeugung vor. »Gartenzwergkonstrukteur. Wir warten auf die Chefin.«

Pippa erinnerte sich, Lohmeyer auf der Beerdigung gesehen zu haben. Allerdings hatte er dort, aus gegebenem Anlass, einen schwarzen Anzug getragen, der seine kräftige Statur mehr als nötig betonte und aussah, als hätte er ihn von jemandem geliehen. Jetzt war er, wie der Mann neben ihm, dunkelblau gekleidet: sportliche Hose und Polohemd mit einem winzigen eingestickten Gartenzwerg auf der linken Brustseite.

»Pippa Bolle«, sagte Pippa und verkniff sich die Frage nach der Sänfte, »ich sehe mal nach Frau Gerstenknecht.«

Vitus Lohmeyer nickte dankend, und Pippa eilte ins Haus.

Bereits in der Eingangshalle hörte sie, dass im Wohnzimmer gesprochen wurde. Eine männliche Stimme, vor Anspannung schrill, rief: »Wir müssen endlich den internationalen Markt ausbauen, ihn gänzlich erobern! Wir können und dürfen nicht mehr alles dem Zufall überlassen!«

»Tun wir das denn Ihrer Meinung nach, Herr Bartels?«, fragte Christabel Gerstenknecht gefährlich leise.

»Nun, ich finde, unsere Strategie muss in dieser Hinsicht gründlich überdacht werden«, ereiferte sich der Mann.

»Inwiefern?« Christabels Stimme klang ruhig, dennoch schien es Pippa eher die Ruhe vor dem Sturm zu sein.

Sie näherte sich zögernd der Wohnzimmertür. Durfte sie einfach hineinplatzen, oder ging es bei dem Gespräch um Interna? Unsicher blieb sie vor der halboffenen Tür stehen.

»Ich stelle mir ein Angebot vor, das auch der … nun ja …«, Bartels räusperte sich, »der Optik unserer Kunden in Übersee Rechnung trägt.«

»Sie denken an Schlitzaugen? Gartenzwerge in Uniformen der chinesischen Terrakotta-Armee?«, fragte Christabel Gerstenknecht.

»Ganz genau!« Bartels’ Stimme überschlug sich vor Eifer. »Ninjas für den japanischen Markt, Zulukrieger für Südafrika …«

»Nicht zu vergessen: Machos mit Schlafzimmerblick und Dreitagebart für Südamerika«, warf Christabel Gerstenknecht ironisch ein und brachte damit ihren Gesprächspartner zum Verstummen.

Pippa unterdrückte ein Kichern. Die alte Lady war wirklich schlagfertig!

»Eines müssen Sie mir erklären, Herr Bartels«, fuhr Christabel Gerstenknecht fort, »warum höre ich mir das alles hier und jetzt an – und nicht nachher bei unserer Besprechung in der Fabrik?«

»Ich wollte ganz in Ruhe … unter vier Augen …«, stammelte Bartels, »nur Sie und ich …«

»Ich verstehe«, unterbrach die alte Dame kühl, »Sie wollten sich einen Vorteil verschaffen.«

»Nein, nein!« Die Panik in Bartels’ Stimme war unüberhörbar. »Ich war mir nicht sicher, ob wir nach den Ereignissen der letzten Tage wirklich ein Teamgespräch haben werden … und wo doch heute der letzte Arbeitstag vor Ostern ist und die nächste Kollektion bald vorgestellt werden soll!«

»Und weil Sie dachten, ich komme heute nicht in die Fabrik, sind Sie inklusive Sänfte und Träger hier aufmarschiert«, konterte Christabel Gerstenknecht.

»Ich … Sie haben recht«, sagte Bartels kleinlaut. »Ich habe noch ein Anliegen …« Er räusperte sich krampfhaft, als brächte er das, was er zu sagen hatte, vor Verlegenheit kaum über die Lippen.

»Zieren Sie sich nicht so. Raus damit.«

»Also gut: Ich fürchte, auf Hollweg ist kein Verlass. Er nimmt meine neuen Entwürfe bei weitem nicht so ernst wie nötig. Er schenkt meinen Ideen nicht genug Aufmerksamkeit. Jetzt ist sogar ein Exemplar der neuen Muster in der Öffentlichkeit aufgetaucht, bevor wir es offiziell vorgestellt haben. Das ist ungeheuerlich.« Er schnaufte und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Wieso besaß Frau Heslich diesen Zwerg? Wie eng war sie mit unserem Betriebsleiter befreundet? Eng genug, dass er ihr einen Zwerg vor der Veröffentlichung gezeigt hat? Das wäre Vertragsbruch. Ich frage mich: Was genau wusste Waltraut Heslich von unseren Plänen?«

»Das wird sie uns nicht mehr verraten können«, erwiderte Christabel Gerstenknecht trocken. »Dafür hat jemand gesorgt. Gründlich.«

Bartels zog scharf die Luft ein, dann stieß er hervor: »Glauben Sie, Hollweg ist die undichte Stelle und wollte eine Mitwisserin ausschalten?«

Christabel Gerstenknecht ging auf diese Frage nicht ein, sondern sagte laut: »Kommen Sie endlich herein, Pippa, und sagen Sie uns: Wäre das möglich?«

Mit hochrotem Kopf trat Pippa ins Wohnzimmer.

Die alte Dame ignorierte ihre Verlegenheit. »Nun? Was denken Sie?«

»Eine ziemlich gewagte These«, antwortete Pippa ausweichend. »Und eine ungeheure Anschuldigung.«

Sie musterte den aufgeregten Mann. Er war ihr nicht sympathisch, seine Empörung empfand sie als aufgesetzt. Auch er trug die dunkelblaue Kluft der Fabrikarbeiter, aber an ihm sah sie unpassend aus, wie die Demonstration einer Zugehörigkeit, die in Wirklichkeit nicht existierte.

»Es geht immerhin um den Verrat von Werksgeheimnissen!«, rief Bartels pathetisch aus.

»Es geht um Mord an einem Menschen«, sagte Pippa, »immerhin

»Über Hollweg brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Pippa. Wir werden von ihm die gleichen Überlegungen hören – nur wird dann Bartels der Verräter sein.« Mit der Andeutung eines Lächelns schüttelte Christabel Gerstenknecht den Kopf. »Von Ihnen möchte ich nur wissen, ob Sie eine Verbindung zwischen Lüttmanns Lütte Lüd und diesen mysteriösen Todesfällen für möglich halten.«

Pippa rang mit sich. Sollte sie ihre Meinung kundtun oder lieber für sich behalten?

»Wenn sich in einem kleinen Ort innerhalb kürzester Zeit zwei ungewöhnliche Todesfälle ereignen und jeder in der Gegend auf die eine oder andere Weise etwas mit derselben Firma zu tun hat, dann ist eine Verbindung nicht völlig auszuschließen«, sagte sie schließlich.

Christabel Gerstenknecht gackerte amüsiert. »Was ist los mit Ihnen, Pippa? Sind Sie vom Haushüten in den diplomatischen Dienst gewechselt? Sagen Sie mir, was Sie wirklich denken!«

Pippa fing einen Blick von Bartels auf: Er starrte sie offenen Mundes an. Du bist nicht gewöhnt, dass Christabel jemanden nach seiner Meinung fragt, stimmt’s?, dachte Pippa.

Sie grinste. »Ich kann es auch anders ausdrücken, Frau Gerstenknecht. Die Polizei ist hier und befragt das halbe Dorf – also ist sie der gleichen Ansicht wie ich: Jeder ist verdächtig.«

Christabel Gerstenknecht kicherte – wie stets, wenn jemand den Mumm hatte, frei vor ihr zu sprechen. Dann sagte sie: »Genau, und deshalb sollten wir alles dafür tun, der Polizei zu helfen. Holen Sie meinen grünen Hut und die passenden Ziegenlederhandschuhe. Und nennen Sie mich verdammt noch mal Christabel. Wir sind jetzt ein Team.«

Mit Hilfe von Vitus Lohmeyer und des zweiten Mannes bestieg Christabel Gerstenknecht die Sänfte. Die beiden Männer ergriffen die Holme und marschierten los. Wie Pippa erwartet hatte, half Bartels nicht. Er ging links von der Sänfte, sie selbst auf der rechten Seite.

»Sie können jetzt aufhören, so zu tun, als würden Sie sich nicht wundern, Pippa«, sagte Christabel Gerstenknecht. »Das Privileg, in einer Sänfte getragen zu werden, verdanke ich Vitus Lohmeyer. Er ist in jeder Hinsicht kreativ, was ich sehr an ihm schätze. Als er mitbekam, wie ich es hasse, mit dem Rollstuhl über unser Kopfsteinpflaster zu holpern, kam er auf die Idee, mir mit einer Sänfte den täglichen Weg in die Manufaktur zu erleichtern. Dort behelfe ich mich dann mit meinen Vierfüßlern weiter, die an strategischen Stellen deponiert sind. Das erleichtert das Leben ungemein.« Sie lächelte. »Herr Lohmeyer wies mich übrigens darauf hin, dass Sänftenbeförderung schon vor langer Zeit für Würdenträger und Menschen mit Gehschwierigkeiten üblich war – und ich genieße jede Minute!«

Vitus Lohmeyer ging vorne zwischen den Tragestangen und sah nicht so aus, als würde ihm das Gewicht Mühe bereiten. Er drehte den Kopf zu Pippa und erklärte: »Sänften waren in den großen Städten im buchstäblichen Sinne die Vorläufer der Taxen …«

»Wenn ich Ihren Vortrag kurz unterbrechen darf, Herr Lohmeyer, aber Sie haben mir gerade ein so schönes Stichwort geliefert«, sagte Christabel Gerstenknecht und tippte Bartels auf die Schulter. »Sie sind doch immer so scharf darauf, ein Vorläufer zu sein, Bartels. Legen Sie mal einen kleinen Sprint hin. Informieren Sie Hollweg, dass ich in Kürze eintreffe.«

Sofort trabte Bartels los, und Lohmeyer sah ihm mit deutlicher Genugtuung nach. Dann wandte er sich wieder an Pippa. »Als ich unsere historische Zwergenwelt des Rokoko gestaltete, bin ich bei der Recherche auf die Sänften und auf viele interessante Informationen dazu gestoßen. Berlin erließ zum Beispiel für seine Sänftenträger die allerersten Vorschriften für den öffentlichen Personennahverkehr. Eine der Regeln legte fest, dass sie nur die Straße und nicht den Bürgersteig benutzen durften.«

»Haben Sie die Sänfte nach einem historischen Vorbild anfertigen lassen?«, fragte Pippa.

»Selbstverständlich nicht«, sagte Christabel Gerstenknecht, »sie ist ein Original und stammt aus dem Rotlichtviertel von Paris. Zugegeben, sie gehörte keiner erstklassigen Kurtisane, aber die Dame hatte genug Geld, um sich so gutes Holz zu leisten, dass sich eine Aufarbeitung lohnte.«

»Wäre es nicht naheliegender, Ihren Rollstuhl mit breiteren Rädern und einer Federung auszustatten?«

»Ich bitte Sie!« Die alte Dame schüttelte empört den Kopf. »Glauben Sie, ich verzichte freiwillig auf den Luxus, mich von zwei Männern auf Händen tragen zu lassen?«

»Darf ich diesen Satz zitieren?« Lokalreporter Brusche erschien plötzlich links neben ihnen. Er atmete schwer, denn er hatte sie erst nach einem kleinen Sprint eingeholt.

»Stopp!«, befahl Christabel Gerstenknecht, und die Sänfte wurde abgesetzt. »Herr Lohmeyer, wir sehen uns später. Herr Brusche übernimmt für Sie, denn er will lebensnah für einen Artikel recherchieren.« Sie kicherte. »Wie wäre es mit: Ich trug die Königin der Zwerge zu ihrem Volk, Herr Brusche? Und Sie sagen sogar die Wahrheit, wenn Sie es einen Insider-Bericht nennen!«

Verdattert stellte Brusche sich zwischen die beiden Holme. Er ächzte erschrocken, als er die Sänfte anhob und ihm klar wurde, auf was er sich gerade eingelassen hatte. Diesen Artikel würde er sich buchstäblich im Schweiße seines Angesichts erarbeiten.

Als sie am Tor des großen Backsteingebäudes ankamen, erwartete sie ein Mann, der dort breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen Position bezogen hatte. Sein rundes Gesicht war rot, seine Halbglatze glänzte.

»Ich muss Sie sprechen, Frau Gerstenknecht«, sagte er drängend.

»Um was geht es, Herr Hollweg?« Die Stimme der alten Dame klang ungnädig, aber der stämmige Mann im Anzug ließ sich nicht abwimmeln.

»Unter vier Augen. Es ist wichtig.«

Christabel machte keine Anstalten, irgendjemanden wegzuschicken, nur weil ihr Betriebsleiter es verlangte. Hollweg war ganz offensichtlich nicht begeistert, wollte sich aber seinen Ärger nicht anmerken lassen. »Frau Gerstenknecht, ich bin untröstlich. Einer unserer neuen Gartenzwerge auf unerlaubter Wanderschaft!« Sein Versuch, einen Scherz zu machen, zündete nicht, also sagte er ernst: »Wem trauen Sie diesen ungeheuerlichen Vertrauensbruch zu? Für Wiek, Lohmeyer und unsere Mitarbeiter würde ich jederzeit die Hand ins Feuer legen, und Sie doch sicherlich auch!«

Sieh da, Bartels taucht in dieser Aufzählung nicht auf, dachte Pippa und fing einen beredten Blick Brusches auf, dem diese Tatsache ebenfalls nicht entgangen war.

»Die Hand ins Feuer, lieber Kollege Hollweg – wie recht Sie haben«, sagte Bartels, der aus dem Pförtnerhäuschen am Werkstor getreten war und sich vor Hollweg aufbaute. »Jemand hat Frau Heslichs Hand viel zu lange ins Feuer gehalten, nicht wahr? Und es ist ihr nicht gut bekommen. Bleibt das Rätsel, wie der geheime Prototyp aus unserer neuen Kollektion in ihren Besitz gelangt ist. Nur: Wer außer Herrn Bornwasser, Frau Pallkötter und Ihnen hatte im Dorf noch mit Waltraut Heslich zu tun?«

Hollweg beherrschte sich mühsam, als er ruhig antwortete: »Wir haben jeden Freitagabend Doppelkopf gespielt – und nicht Monopoly mit Gartenzwergen, lieber Kollege Bartels.«

Brusche hatte sich neben Pippa gestellt und raunte ihr begeistert ins Ohr: »Großartig – hoffentlich kann ich mir alles merken. Dagegen war der Kalte Krieg ein Freundschaftsspiel!«

Hollweg straffte die Schultern. »Bei dieser unerhörten Unterstellung bleibt mir nichts anders übrig, als meinen Rücktritt …« Vergeblich forschte er im Gesicht seiner Chefin nach einem Zeichen des Protests. »… aus der Firma in Erwägung zu ziehen«, beendete er seinen Satz lahm.

»Ich stehe selbstverständlich jederzeit zur Verfügung, Kollege Hollwegs Position kommissarisch zu übernehmen«, verkündete Bartels pompös. Es fehlte nicht viel, und er hätte vor Christabel Gerstenknecht salutiert.

Hollweg maß seinen Kontrahenten von Kopf bis Fuß. »Nun, dann würde wenigstens wieder eine Stelle für einen Entwickler mit so hervorragenden Talenten wie denen meines geschätzten Kollegen Lohmeyer frei. Das täte der Firma wirklich gut.«

»Meine Herren!« Christabel Gerstenknecht hob die Hand, und die Konkurrenten verstummten schlagartig. »So sehr mich Ihre Unterhaltung amüsiert – es ist März und zu kalt, um hier draußen auf den Sommer zu warten. Wir sehen uns bei der Besprechung.«

Brusche nahm seine Position wieder ein, und die Sänfte wurde über einen großen gepflasterten Hof bis vor eine große Halle getragen. Bartels reichte Christabel Gerstenknecht die Hand und half ihr beim Aussteigen. Dann nahm er ihren Arm und ging mit ihr langsam zur Werkshalle. Brusche, endlich erlöst, zog einen Fotoapparat aus seiner Umhängetasche und machte Anstalten, den beiden zu folgen.

»Moment, Herr Brusche. Ihre Kamera, bitte.« Hollweg streckte auffordernd die Hand aus.

»Aber ich recherchiere gerade für einen Artikel«, protestierte der Reporter. »Frau Gerstenknecht hat …«

»Ihnen erlaubt, in der Halle zu fotografieren? Das hat sie garantiert nicht. Das nennt man nämlich Werksspionage.« Hollweg schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Entscheiden Sie sich, Brusche: Wenn Sie in die Halle wollen – her damit.«

Am Eingang der Halle stand eine der vierfüßigen Gehhilfen bereit. Christabel Gerstenknecht stützte sich schwer auf sie, als sie zu einem Pult ging, neben dem Florian Wiek mit einer Trompete in der Hand bereits wartete. Die alte Dame nickte ihm zu. Er setzte das Instrument an und blies eine ohrenbetäubende Fanfare, die aus allen Ecken der Fabrik widerhallte. Sofort verließen die Mitarbeiter ihre Arbeitsplätze und versammelten sich vor dem Rednerpult.

»Rufen Sie Ihre Leute jeden Tag um diese Zeit hier zusammen, Frau Gerstenknecht?«, fragte Brusche.

Die alte Dame lächelte fein. »Würde das wirklich zu mir passen, Herr Brusche? Berechenbarkeit? Nein, ich komme immer zu unterschiedlichen Zeiten. Erst durch die Fanfare erfahren die Mitarbeiter, dass ich im Betrieb bin. Käme ich täglich um Punkt zehn Uhr, würden sie um genau fünf vor zehn anfangen zu arbeiten – und den Rest des Tages verbummeln.«

Auf der einen Seite die harte, unnachgiebige Chefin, dachte Pippa, und auf der anderen fördert sie einen Bücherbus. Zusätzlich hat sie den Wettbewerb um den ersten Storch des Jahres ins Leben gerufen und erfüllt den Gewinnern kostspielige Wünsche – und selbst das dient noch dem Naturschutz. Wirklich alles, was diese Frau tut, ist zielgerichtet.

Christabel Gerstenknechts Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Liebe Mitarbeiter! Heute ist Gründonnerstag, und das Osterfest steht vor der Tür«, sagte die alte Dame. »Normalerweise würdet ihr von mir an diesem Tag einen frischen Baumkuchen für die österliche Kaffeetafel bekommen. Jeder weiß: Das ist in diesem Jahr nicht möglich.« Sie machte eine Pause und blickte ernst auf ihre Zuhörer. »Im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Tage möchte ich euch deshalb bitten, alles Ungewöhnliche, ja überhaupt alles, was zum Tode unserer Mitbürger Waltraut Heslich und Harry Bornwasser erwähnenswert scheint, nicht für euch zu behalten. Meine persönliche Assistentin und Sicherheitsberaterin Pippa Bolle«, sie zeigte auf die Haushüterin, die sich unerwartet im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit wiederfand, »wird für alles ein Ohr haben und sich bei Bedarf um weitere Maßnahmen kümmern.«

Pippa nickte den Mitarbeitern, die sie neugierig anstarrten, verlegen zu.

Die alte Lady schafft es immer wieder, mich zu überrumpeln, dachte sie leicht nervös. Erst wird mich die halbe Dorfbevölkerung verfolgen, um mir vermeintlich außergewöhnliche Beobachtungen zuzutragen, dann wird die andere Hälfte versuchen, mich nach diesen Informationen auszuhorchen … die zweitausend Euro sind alles andere als leichtverdientes Geld …

Christabel Gerstenknecht kam zum Ende ihrer Ansprache. »Ich gebe euch für den Rest des Tages frei«, verkündete sie, »damit ihr statt des Baumkuchens zu Hause selbst etwas backen könnt. Räumt eure Arbeitstische auf, und dann habt ein schönes Osterfest.«

»Ein Hoch auf die Chefin!«, brüllte jemand, und alle Mitarbeiter klatschten begeistert Beifall.

Während die Mitarbeiterversammlung sich in bester Laune auflöste, bat Christabel Gerstenknecht Lohmeyer darum, sie auf dem Weg ins Konferenzzimmer zu stützen. Als Brusche sich anschließen wollte, wurde er auf ein Zeichen der alten Dame hin von Florian Wiek aufgehalten.

»Kommen Sie, Herr Brusche, ich führe Sie ein wenig herum und erzähle Ihnen alles Wissenswerte über Lüttmanns Lütte Lüd«, sagte der junge Mann in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Dann schob er den Reporter zu einigen Werkbänken im hinteren Teil der Halle, auf denen halbbemalte Gartenzwerge standen.

Das Konferenzzimmer lag neben Hollwegs Büro und war durch eine Flügeltür mit ihm verbunden. In dem holzgetäfelten Raum stand ein ovaler Tisch mit Polsterstühlen, der Platz für gut fünfzehn Personen bot. An der Stirnwand gegenüber der Flügeltür hing ein Porträt von Christabel Gerstenknecht neben dem Ölgemälde eines streng blickenden Mannes, in dem Pippa den Betriebsgründer Severin Lüttmann senior vermutete. Durch die Sprossenfenster an der Längsseite blickte man auf Hilda Krauses Ade-Bar, die noch immer versiegelt war.

Christabel Gerstenknecht nahm unter den Porträts Platz, während Lohmeyer und Bartels sich rechts von ihr niederließen. Pippa und Hollweg setzten sich an die andere Seite des Tisches.

»Wir schließen für vier lange Tage«, sagte Christabel Gerstenknecht. »Also: Welche Themen stehen auf der Tagesordnung?«

Pippa erwartete, dass der bei Waltraut Heslich aufgetauchte Prototyp als Erstes angesprochen würde, aber Hollweg schnitt ein anderes Thema an.

»Ihr Geburtstag, Frau Gerstenknecht. Immerhin werden Sie hundert Jahre alt. Das ist ein Anlass für eine große Feier.«

»Was soll es da zu feiern geben? Ich habe bereits alles gefeiert, was es zu feiern gibt.« Die alte Dame sah in die Runde. »Spätestens seit ich siebzig bin, sage ich, was ich denke. Seit ich achtzig bin, tu ich das auch. Seit meinem Neunzigsten lasse ich es sogar von anderen erledigen. Hundert hin oder her – es gibt keine Steigerung mehr.« Sie schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein. Keine Feier.«

Vitus Lohmeyer, der Pippa gegenübersaß, sah seine Chefin bittend an. »Es ist der Belegschaft ein echtes Anliegen, Frau Gerstenknecht. Ihre Mitarbeiter würden Sie gern ehren.«

Pippa musterte ihn unauffällig. Er war etwa in ihrem Alter, ein kräftiger, aber keineswegs übergewichtiger Mann mit lebendigen Gesichtszügen und Künstlerhänden.

Christabel Gerstenknecht überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Einverstanden. Die Belegschaft darf mich gerne feiern. Hollweg – Sie arrangieren alles. Es soll an nichts fehlen: Hochzeitssuppe, Tiegelbraten und Baumkuchen für alle. Dazu aus der Diesdorfer Mosterei alles, was das Herz begehrt.«

Bartels zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Alles aus der Mosterei?«

»Alles«, bestätigte Christabel Gerstenknecht. »Die schmackhaften Säfte, die herrlichen Liköre und diesen wunderbar prickelnden Cider.«

Was?, dachte Pippa, auch in der Altmark wird mein englisches Lieblingsgetränk hergestellt? Davon muss ich meiner Mutter und Oma Hetty ein paar Flaschen mitbringen – und vor allem muss ich es bei nächster Gelegenheit selbst probieren.

»Arrangieren Sie etwas im Storchenkrug, Herr Hollweg«, fuhr Christabel Gerstenknecht fort, »dort ist Platz für alle.«

Bartels meldete sich zu Wort. »Ob die Leute dort feiern wollen … so direkt nach Bornwassers Tod?«

»Gerade deswegen, Herr Bartels«, erwiderte die alte Dame gelassen. »Alle werden das Todes-Fass sehen wollen. Das wird die Attraktion meiner Feier.« Sie sah ihre Mitarbeiter nacheinander an. »Damit ist das entschieden. Nächster Punkt.«

Meint sie das jetzt ernst, oder ist das mal wieder einer ihrer pädagogisch-psychologischen Schachzüge, um den Leuten zu demonstrieren, wozu übermäßiger Alkoholgenuss führen kann?, dachte Pippa.

Sie horchte auf, als der Name Julius Leneke fiel; bis jetzt hatte sie an die Begegnung mit ihm nicht mehr gedacht.

»Er ist wieder in Storchwinkel«, sagte Hollweg, »wie sollen wir uns ihm gegenüber verhalten?«

Christabel Gerstenknecht sah ihren Betriebsleiter kühl an. »Ich verstehe Ihre Frage nicht, Herr Hollweg. Während Julius’ Krankheit und der Kur wurde seine Stelle freigehalten. Meinem Adoptivsohn steht zu, was allen Arbeitnehmern in seiner Situation zusteht: die Rückkehr an seinen Arbeitsplatz. Irgendwelche Einwände?«

Julius Leneke ist überhaupt nicht ihr leiblicher Sohn, dachte Pippa erstaunt, meine Auftraggeberin steckt wirklich voller Überraschungen.

Hollweg gab sich noch nicht geschlagen. »Ich meinte nur, weil …«

Mit einer Handbewegung schnitt Christabel ihm das Wort ab. »Er hat Anspruch auf eine langsame Wiedereingliederung. Zunächst zwei Stunden täglich, dann vier und so weiter. Bis er wieder Vollzeit einsetzbar ist. Ich werde Julius über Ostern zu mir bestellen und mich über sein Befinden informieren. Sie erfahren als Erster, wenn ich ihn noch nicht für einsatzfähig halte.« Sie lächelte. »Allerdings sollten Sie sich darauf keine allzu großen Hoffnungen machen.«

»Bei allem Respekt, wir dachten … ich dachte … könnte es sein, dass Julius den Gartenzwerg entwendet hat? Er hasste Frau Heslich. Und er kennt die Zahlenkombination meines Safes.«

»Julius ist mein Sohn – er kann in meiner Firma überhaupt nichts stehlen. Merken Sie sich das«, entgegnete die alte Dame kalt, um dann versöhnlicher fortzufahren: »Außerdem würde eine solche Aktion überhaupt nicht zu ihm passen. Sie ist viel zu humorvoll für sein Naturell.«

Immerhin streitet sie nicht ab, dass er Waltraut Heslich hasste, dachte Pippa. Wann Christabel ihn wohl adoptiert hat? Ich frage mich, ob seine Unsicherheit und seine seelische Instabilität auf die dominante Mutter zurückzuführen sind.

»Für mich ist das Thema damit erledigt«, erklärte Christabel Gerstenknecht rigoros. »Nächster Punkt, meine Herren.«

»Alle Modelle für die neue Kollektion sind fertig«, verkündete Vitus Lohmeyer strahlend und erhielt dafür von seiner Chefin ein erfreutes Lächeln. »Ich habe mir erlaubt, einen zusätzlichen Wichtel zu entwerfen. Ich weiß, das war nicht geplant, aber …«

Christabel Gerstenknecht wedelte mit der Hand, um zu signalisieren, dass eine Entschuldigung unnötig war. »Zeigen Sie mir den kleinen Mann. Ich freue mich über jeden Zuwachs in meiner Zwergenfamilie – auch ungeplanten.«

Hollweg stand auf und ging zum Safe, um die Prototypen zu holen.

»Wie ich hörte, hatte Herr Lohmeyer die Idee für diesen Zwerg während seiner Pilgerreise nach Lourdes«, ätzte Bartels, »vermutlich eine göttliche Eingebung.«

»Wo und wann uns die Muse küsst, ist gleichgültig«, sagte Christabel Gerstenknecht scharf, »nur, dass sie es tut, ist wichtig.«

Bartels setzte zu einer Erwiderung an, kam aber nicht dazu, weil die Tür aufgerissen wurde und Hauptkommissar Seeger an Florian Wiek vorbei in den Raum trat. Hastig schloss Hollweg den bereits geöffneten Safe wieder.

»Ich habe versucht, ihn aufzuhalten«, erklärte Florian Wiek.

»Schon gut, Florian.« Christabel Gerstenknecht nickte dem jungen Mann beruhigend zu und sah dann den Kommissar an. »Nun?«

Wie immer kam Paul-Friedrich Seeger ohne Umschweife zur Sache. »Wie ich erfahren habe, hat einer Ihrer Arbeiter gestern Morgen auf dem Weg zur Schicht etwas Interessantes beobachtet: Ihr Adoptivsohn Julius Leneke und Spökenkieker-Heinrich standen zusammen vor der Ade-Bar.«

»Julius war längere Zeit in einer Kurklinik. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er den weiten Weg von Wiesbaden bis ins Storchendreieck mit dem Auto allein zurücklegt«, antwortete Christabel Gerstenknecht. »Deshalb ist ihm Heinrich auf meine Bitte hin mit dem Zug entgegengefahren und hat Julius auf der Rückfahrt begleitet.«

»Wussten Sie von der frühen Ankunft der beiden?«, fragte Seeger.

»Nein. Offenbar waren sie klug genug, nachts zu fahren, statt sich am Tage über volle Autobahnen zu quälen. Aber ich habe bisher weder mit Julius noch mit Heinrich gesprochen.«

Jetzt kam auch Kommissar Hartung mit Schwung hereingestürzt und hörte die Antwort. Er stemmte die Hände in die Seiten und schnarrte: »Und das sollen wir Ihnen glauben?«

Christabel Gerstenknecht würdigte ihn keines Blickes. Sie zog sich die Handschuhe bis zum Ellbogen glatt und sagte zu Seeger: »Lauern da draußen noch mehr von Ihren Männern? Als Nächsten hätte ich dann gern jemanden, der souverän ist und entsprechende Umgangsformen besitzt. Unsichere und vorlaute Menschen kann ich nur schwer ertragen.«

Hartung fiel buchstäblich in sich zusammen. Er rang sichtlich um Fassung und zwinkerte nervös hinter seiner modernen breitrandigen Brille.

Zu ihrer Überraschung empfand Pippa Mitleid mit dem etwas zu forschen Ermittler. Vermutlich hat Christabel bei ihm einen wunden Punkt getroffen, dachte sie, es kann für Hartung aber auch nicht leicht sein, neben jemandem wie Seeger ein eigenes Profil zu entwickeln.

Um die unangenehme Situation zu entspannen, sagte sie, an Hartung gewandt: »Die Herrschaften sind in einer Sitzung und wollten gerade die neue Kollektion in Augenschein nehmen.« An die Adresse von Christabel und ihren Mitarbeitern fügte sie hinzu: »Vielleicht lassen die Herren Kommissare und ich Sie deshalb für einen Moment allein, bis das erledigt ist.«

Christabel Gerstenknechts anerkennender Blick verweilte auf Pippa, als sie sagte: »Bleiben Sie. Sie gehören dazu, Pippa, und wenn man der Polizei nicht vertrauen kann – wem dann?«

Sie gab Hollweg, der noch immer am Safe stand, ein Handzeichen, und er öffnete die Tür weit und sah hinein. Dann drehte er sich entgeistert zu den anderen um. Um allen Anwesenden freie Sicht ins Innere des Stahlschranks zu gewähren, trat er einen Schritt zur Seite.

»Alle Zwerge sind da, die Kollektion ist vollständig«, sagte er. »Das kann nur eines bedeuten: Der Wichtel von Frau Heslich ist ein Plagiat.«

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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