Prolog

Mit weit geöffnetem Mund lag der Tote unter dem Zapfhahn des größten Bierfasses, aus dem immer noch Reste des Inhalts tröpfelten. Das Bier lief ihm übers Gesicht und vereinigte sich auf der Wange mit Blut aus einer hässlichen Stirnwunde. Das Rinnsal suchte sich den Weg auf den Steinfußboden und bildete dort eine übelriechende Pfütze aus Alkohol und Schmutz. Irgendwo in dem Labyrinth aus Getränkekisten, Gerümpel und weiteren Fässern fiel ein steter Tropfen auf blankes Blech und spielte zur düsteren Szenerie eine nervtötende Melodie.

Kriminalhauptkommissar Paul-Friedrich Seeger sah hinab auf die Bescherung zu seinen Füßen.

Wunderbar, dachte er, nur noch einen Monat bis zu meiner Pensionierung, und ich stehe im verdreckten Keller eines Dorfkrugs vor einer Leiche – und nicht nur vor irgendeiner Leiche, sondern vor der von Gerichtsvollzieher Harry Bornwasser, Storchwinkels persönlicher Heimsuchung.

Seeger blickte sich nach seinem Kollegen um. Kriminaloberkommissar Christian Hartung sprang geschickt über die stinkende Lache aus Blut und Bier, sorgfältig darauf bedacht, sich weder die blankpolierten Schuhe noch die Aufschläge seiner Anzughose zu beschmutzen. Im Sturmschritt lief er zur Kellertreppe.

Dem ist es ernst mit der Beförderung, dachte Seeger.

Christian Hartung schob zwei Personen die Stufen hinauf: einen etwas linkischen Mann um die vierzig, der es eilig hatte, vom Ort des Geschehens wegzukommen, und eine angenehm weiblich wirkende Frau gleichen Alters, die den Kellerraum sichtlich ungern verließ. Oben an der Kellertür drängten sich Neugierige und versperrten ihnen den Weg. Hartung warf Seeger einen ratlosen Blick zu, aber dieser zuckte nur mit den Schultern.

Er wandte sich von der Leiche ab und ging mitten durch die Brühe auf eine alte Dame zu, die so elegant auf einem Stapel Bierkisten neben der Treppe thronte, als säße sie auf einem Sessel in der Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels. Sie trug Jeans und einen Kaschmirpullover, der farblich auf ihre Handschuhe und den Seidenschal abgestimmt war. Eine stabile Gehhilfe mit vier Gummifüßen lag über ihren Knien. Wie eine Sphinx ruhte neben ihr ein mächtiger Malamut, den der Kommissar eher vor einem Schlitten in Alaska als in einer Dorfschänke mitten in der Altmark erwartet hätte. Herrin und Hund sahen den Kommissar gelassen an, beide aus eisblauen Augen von exakt derselben Farbe.

Als könnte sie Seegers Gedanken lesen, sagte die alte Dame plötzlich: »Niemand hat ihn angerührt.« Ihr Blick wanderte zum tropfenden Hahn im Spundloch des Fasses. »Wir haben nicht einmal den Hahn zugedreht. Wäre ohnehin zu spät gewesen. Bornwasser war schon tot.«

»Sie haben den Toten gefunden, Frau Gerstenknecht?«, fragte Seeger freundlich und zückte sein Notizbuch.

Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Das war Severin. Mein Stiefsohn, Severin Lüttmann.«

Sie hob ihre vierfüßige Gehhilfe und stieß sie gegen die Wade des Mannes auf der Treppe, der noch immer versuchte, sich an den Gaffern vorbeizudrängen. »Severin, komm her. Und Sie auch, Melitta!«

Christabel Gerstenknecht machte eine ungeduldige Handbewegung, und ihr Stiefsohn und die Frau in seiner Begleitung kamen die Stufen wieder herunter. Christian Hartung wollte sie aufhalten, aber ein Blick Seegers stoppte ihn.

Selbst im Halbdunkel des Kellers wirkte Severin Lüttmann kreidebleich. Er vermied es angestrengt, der Leiche zu nahe zu kommen oder in ihre Richtung zu blicken.

»Severin, berichte!«, befahl die alte Dame in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloss. »Aber der Reihe nach. Und verständlich.« Sie begann, ihre langen Handschuhe sorgfältig und konzentriert glattzuziehen, bis sie zu den Ellbogen reichten.

Feinstes Ziegenleder, dachte Seeger, handgenäht. Die sitzen wie eine zweite Haut – aber wieso trägt sie die im Haus? Als Schutz vor Druckstellen durch die Gehhilfe?

»Ich kam runter, die Kellertreppe, meine ich.« Severin Lüttmann stellte sich neben die alte Dame. Er sprach mehr zu ihr als zu Seeger. »Und da lag er. Harry Bornwasser, meine ich. Ich dachte noch, wo will der denn den Kuckuck hinkleben? Unter das Fass? Aber dann habe ich gesehen, dass der Kuckuck schon neben dem Zapfhahn klebte und dass der Bornwasser ein bisschen zu ruhig dalag. Und da bin ich ganz schnell wieder nach oben und …«

»Wir waren mit Gerichtsvollzieher Bornwasser in der Schankstube verabredet«, fiel Christabel Gerstenknecht ihrem Stiefsohn ins Wort. »Wir wollten ihm ins Gewissen reden. Für den Fall, dass er sich nicht verhandlungsbereit zeigte, wollten wir die Fässer auslösen.«

Seeger zog die Augenbrauen hoch, und wieder beantwortete Christabel seine Frage, bevor er sie stellen konnte.

»Ganz richtig«, sagte sie. »Wir wollten die Schulden des Wirts bezahlen.«

Seeger wusste, dass er sein »Wieso das denn?« nicht aussprechen musste, tat es aber, um sich das Zepter nicht völlig aus der Hand nehmen zu lassen.

»Ich bin schuld an seiner misslichen Lage«, sagte Christabel, und Seeger registrierte den Stolz in ihrer Stimme. Ehe er auf ihre Auskunft reagieren konnte, kam Christian Hartung die Kellertreppe herunter. Er hatte es endlich geschafft, die Tür zu schließen und die Neugierigen auszusperren.

Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen baute er sich vor der alten Dame auf, blitzte sie aus schmalen Augen an und schnarrte: »Ach ja? Sie sind schuld? Und wieso das?«

Christabel Gerstenknecht zuckte nicht mit der Wimper, als sie eisig erwiderte: »Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel Pause, junger Mann.« Sie wandte sich der Frau zu, die hinter Severin Lüttmann stand. »Melitta, helfen Sie mir hoch. Ich möchte gehen.«

Sowohl die Angesprochene als auch Severin Lüttmann bemühten sich sofort um Christabel. Auch Seeger und Hartung machten instinktiv einen Schritt auf sie zu. Weiter kamen sie nicht, denn der Hund sprang auf und fixierte sie so drohend, dass die Beamten zu Salzsäulen erstarrten.

»Unayok. Ruhig«, sagte die alte Dame leise.

Das Tier setzte sich wieder, blieb aber aufmerksam.

Phantastisch abgerichtet, dachte Seeger beeindruckt, und das gilt nicht nur für den Hund. Die menschlichen Satelliten der Lady wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie ohne Erlaubnis ihre Umlaufbahn verlassen. Wie hat sie das geschafft? Und ließe sich diese Methode auch auf Kollegen wie Hartung anwenden?

»Bevor Sie gehen, Frau Gerstenknecht, dürfen Sie uns noch unsere Frage beantworten«, erinnerte Seeger freundlich. »Sie wollten die Fässer also aufkaufen, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben. Wieso?«

Christabel Gerstenknecht lächelte anerkennend, als würde ein alter Hase den anderen als ebenbürtig akzeptieren. »Ich lasse mir von meinen Mitarbeitern unterschreiben, dass sie vierundzwanzig Stunden vor Arbeitsbeginn keinen Alkohol mehr trinken. Ich will nicht, dass sie in die Maschinen oder die Brennöfen geraten. Und beim Malen brauchen sie eine absolut ruhige Hand. Für die Arbeit bei Lüttmanns Lütte Lüd muss man einen klaren Kopf haben«, erklärte sie selbstbewusst.

»Diese Vereinbarung lässt höchstens noch ein paar Bierchen am Samstagabend zu. Wer seinen Arbeitsplatz behalten will, hält sich daran. Das hat den Umsatz des Storchenkrugs mehr als halbiert«, fügte Severin Lüttmann hinzu. »Von der Tränke der gesamten Nachbarschaft zum Trockendock der Region, so etwas kann auch der beste Wirt nicht wegstecken.« Er zuckte zusammen, als ihn der Blick seiner Stiefmutter wie eine Speerspitze traf, und sah verlegen zu Boden.

»Arbeiten denn alle Leute der Umgebung für Sie?«, fragte Christian Hartung erstaunt.

»Es gibt weit und breit keine andere Fabrik als Lüttmanns Lütte Lüd«, sagte Christabel. »Fast jeder im Storchendreieck arbeitet für mich. Als Heimarbeiter oder im Werk.«

Sie weiß, sie ist der Chef im Ring, dachte Seeger, und das merkt man ihr auch an. Aber in welcher Fabrik lassen sich Mitarbeiter auf eine solche Regelung ein? Er zuckte leicht zusammen, als die zierliche, aber unbeugsame Frau erneut seine Gedanken las und beantwortete.

»Wir fertigen Gartenzwerge«, sagte Christabel, »unser Schlager sind Nachbildungen stolzer Gartenbesitzer. Maßstabsgetreu und lebensecht.« Sie warf Hartung einen amüsierten Blick zu. »Gern auch für den Schreibtisch. Unauffälliger als Spiegel.«

Seeger verkniff sich ein Grinsen, als er die Gesichtszüge seines Kollegen entgleisen sah. Dann fragte er die alte Dame: »Wer wusste, dass Sie die Schulden des Storchenkrugs tilgen wollten?«

»Nur Melitta, mein Stiefsohn, der Wirt und ich.«

Christian Hartung hatte sich wieder gefasst und beschloss, polizeiliche Professionalität zu demonstrieren. Er deutete auf den toten Gerichtsvollzieher und resümierte: »Damit ist der Wirt von jedem Verdacht entlastet. Er hatte kein Motiv, den Gerichtsvollzieher zu töten; er wäre am Ende des Tages schuldenfrei gewesen.«

Christabel Gerstenknecht signalisierte ihr Einverständnis zu Hartungs Ausführungen mit einem huldvollen Nicken. Paul-Friedrich Seeger ließ seinen Kollegen weiterreden, behielt dabei aber die drei anwesenden Dorfbewohner aufmerksam im Blick.

»Wir haben es also mit einem höchst bizarren Unglücksfall zu tun«, fuhr Hartung fort. »Der Mann hat sich unter das Fass gelegt, um das Bier zu probieren, das er beschlagnahmen wollte. Leider überschätzte er sein … Fassungsvermögen. Betrunken, wie er war, wollte er wieder hochkommen, stieß mit der Stirn gegen den eisernen Zapfhahn, prallte zurück und fiel mit dem Kopf auf den Steinfußboden. Bewusstlos lag er da, wie ein Käfer auf dem Rücken. Das Bier ist immer weiter in seinen offenen Mund gelaufen, und so ist er schlicht … ertrunken. Das nenne ich mal einen ungewöhnlichen Abgang. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.«

»Unsinn, junger Mann!« Christabel Gerstenknecht sah Christian Hartung an, als wäre er ein Grundschüler und hätte entscheidende Teile des Abc nicht begriffen. »Sie sollten Ihre politische Bildung verfeinern. Wichtig in Ihrem Job. Was hier passiert ist, nennt sich Water…«, Christabel Gerstenknecht hielt einen Moment inne, »Beerboarding – in diesem Falle selbstverschuldet.« Sie machte eine Pause, strich noch einmal ihre Handschuhe glatt und sah dann wie Seeger und Hartung auf den Toten hinunter. »Bei diesem Kerl kein Wunder – er konnte den Hals nie vollkriegen.«

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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