Kapitel 11
Schlagartig wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Aller Augen richteten sich auf Christabel. In den Mienen ihrer Mitarbeiter spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Spannung, so als erwarteten sie von der alten Dame eine Reihe von knappen Anweisungen, die zur sofortigen Lösung dieses Rätsels führen würden.
In diesem Moment platzte Brusche in den Raum. Instinktiv erfasste er die geladene Atmosphäre. »Was habe ich verpasst?« Er zückte sein Aufnahmegerät, schaltete es an und hielt es hoch. »Wem galt die Bombe, die hier gerade hochgegangen ist?«
Laute Rufe vor dem Gebäude lenkten die Anwesenden vom Auftauchen des Lokalreporters ab. »Der erste Storch! Er ist gelandet!« – »Wo denn? Ich habe nichts gesehen!« – »Der muss irgendwo zwischen MEK und dem Gutshaus runter sein!« – »Mist! Falsche Dorfseite! Ich bin aus dem Rennen!«
Bis auf Christabel hielt es niemanden mehr am Konferenztisch; auch Pippa sprang auf, um aus dem Fenster zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich vor der Ade-Bar die halbe Dorfbevölkerung versammelt und diskutierte aufgeregt. Ein paar Neugierige machten sich bereits auf den Weg zum Ciconiaplatz.
»Der erste Storch? Ich muss los!«, rief Brusche und rannte aus dem Konferenzzimmer.
»Er könnte bei uns gelandet sein«, murmelte Florian Wiek und wandte sich aufgeregt zu Christabel um, die ihm mit einer knappen Handbewegung die Erlaubnis erteilte, die Besprechung vorzeitig zu verlassen.
»Meine Herren, es sieht so aus, als hätte ein Ciconia ciconia soeben unsere Sitzung beendet«, sagte die alte Dame. »Höhere Gewalt, sozusagen. Hollweg, Sie erstellen bis Mittwoch nach Ostern eine Liste von Verdächtigen, die für die Herstellung des Plagiats in Betracht kämen, und händigen sie dann den Herren Kommissaren aus. Wer nach einem Mörder sucht, kann auch für uns Augen und Ohren offen halten. Und jetzt, meine Herren, entschuldigen Sie mich. Ich bin müde.«
Sofort eilten Pippa und Bartels zu Christabel, um ihr behilflich zu sein.
»Wir begleiten Sie nach Hause, Frau Gerstenknecht«, sagte Hartung schnell. »Wir wollen noch einmal mit Ihrem Stiefsohn und Frau Wiek sprechen.«
Die alte Dame sah ihn ungerührt an und zog sorgfältig ihre Handschuhe glatt. »Merken Sie sich Ihre Fragen während der nächsten zwei Wochen, Kommissar Hartung. Die beiden sind heute Morgen abgereist und jetzt …«, sie blickte auf die Uhr an der Wand, »über den Wolken, wenn ich nicht irre.«
Über Seegers Gesicht huschte ein amüsiertes Lächeln, aber der junge Kommissar schnappte nach Luft. »Das ist unerhört! Sie alle sollten sich zu unserer Verfügung halten, falls wir noch weitere Auskünfte wünschen.«
»Sicher.« Christabel Gerstenknecht nickte graziös. »Aber nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung, junger Mann.«
Bartels und Lohmeyer wurden von Christabel zum Sänftendienst eingeteilt, während Pippa, Hollweg und die beiden Kommissare neben ihr gingen. Als sie aus dem Fabriktor kamen, wartete vor der Ade-Bar eine Delegation von Dorfbewohnern auf sie. Auf einen Wink Christabels hin setzten Bartels und Lohmeyer die Sänfte ab.
Ohne Umschweife fuhr Erich, der offenbar als Wortführer eingesetzt war, Kommissar Seeger an: »Auf Sie haben wir schon gewartet! Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Denken Sie, wir können fliegen?«
»Ich verstehe nicht …«
»Lassen Sie uns in die Ade-Bar! Wie sollen wir sonst herausfinden, wo der erste Storch landet?«
Die anderen Dörfler murmelten zustimmend.
»Was bringt uns die ganze moderne Technik, wenn wir sie nicht nutzen können?«, fuhr Erich fort. »Mord hin oder her – wir wollen an unseren Übertragungsmonitor!«
»Tut mir leid, aber das geht nicht«, sagte Seeger. »Haben Sie noch etwas Geduld. Spätestens am Wochenende können Sie Ihr Café wieder betreten.«
Erich rang verzweifelt die Hände. »Am Wochenende? Das ist viel zu spät! Bis dahin kann alles entschieden sein … und wir haben vielleicht einen falschen Gewinner! Wir brauchen unsere Direktübertragungen jetzt, Herr Kommissar! Dringend.«
Wieder taten die Umstehenden murmelnd ihre Zustimmung kund und nickten ernst.
»Alles sehr heikel, Herr Kommissar«, witzelte Martha Subroweit. »Sie müssen Erich verstehen. Der Storch hat eben eine ganze Weile auf seinem Dach gesessen. Mein Nachbar würde sehr ungern seinen Gewinn verpassen, nur weil der Beweis fehlt.«
»Wozu haben wir denn an jedem Nest Webcams installiert?«, rief Erich. »Damit wir Beweise haben! Und jetzt soll der erste Storch landen, ohne dass wir es gemeinsam beobachten und bezeugen können?«
»Wie gesagt: So leid es mir tut«, sagte Seeger, »aber ich sehe keine Möglichkeit, das zu erlauben.«
»Ich habe einen Vorschlag, mit dem bestimmt beide Parteien leben können«, schaltete Pippa sich ein. »Wenn Sie den Fernseher ins Schaufenster stellen, könnten die Storchwinkeler von der Straße aus alles verfolgen. Und es muss keinen Streit geben, wer der rechtmäßige Gewinner ist.«
»Na toll«, murrte Hartung und verdrehte die Augen, »damit haben wir rund um die Uhr Gaffer vor dem Fenster, die uns bei der Arbeit beobachten.«
»Und ich dachte, Sie stehen gerne im Rampenlicht und lassen sich bewundern«, bemerkte Christabel leichthin.
Hartung setzte zu einer geharnischten Erwiderung an, aber Seeger ließ es nicht dazu kommen.
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte er. »Kollege Hartung, wir sorgen jetzt dafür, dass das Schaufenster seinem Namen gerecht wird.«
Die Dorfbewohner klatschten Beifall und eskortierten die Kommissare die wenigen Schritte zum Eingang des Cafés. Nach und nach versammelten sich immer mehr Storchwinkeler vor dem Schaufenster, und diejenigen, die in der Zwischenzeit im Dorf nach dem Storch Ausschau gehalten hatten, berichteten nun.
»Erich, in deinem Garten ist er definitiv nicht«, sagte einer, und ein anderer Mann fügte hinzu: »Vom Weg zu Heinrichs Mühle aus konnte ich den Storch auf Bornwassers Nest stehen sehen.«
»Wie bitte?«, rief Erich entrüstet. »Das fehlte gerade noch! Säuft ein ganzes Fass alleine aus und soll dann auch noch gewinnen?«
Während die Storchwinkeler diese Neuigkeiten aufgeregt diskutierten, führte Christabel mit Hollweg eine leise Unterhaltung über das plagiierte Modell der aktuellen Zwergenkollektion. Pippa schnappte allerdings nichts als ein paar Wortfetzen auf.
Interessiert sah sie zu, wie die beiden Kommissare den Fernseher im Schaufenster aufstellten und anschlossen. Als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie erschrocken zusammen. Eine Frau flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin Beate Leising, ich arbeite in der Fabrik. Kann ich Sie kurz sprechen? Unter vier Augen?«
Pippa nickte und ging mit ihr ein paar Schritte zur Seite.
»Ich wollte nur …«, sagte Beate Leising schüchtern, »weil doch Frau Gerstenknecht vorhin gesagt hat, wir sollen es Ihnen erzählen, wenn wir …«
Es geht los: der erste Hinweis aus der Bevölkerung, dachte Pippa.
»Sie möchten mir etwas erzählen …« Pippa suchte kurz nach einer neutralen Formulierung und fuhr dann fort: »Etwas, das Herrn Bornwasser oder Frau Heslich betrifft?«
»Ganz genau. Ich weiß ja nicht, ob es wirklich wichtig ist, aber ich dachte … weil doch Frau Gerstenknecht will …«
»Es kann alles wichtig sein«, sagte Pippa. »Keine Scheu, Sie können den beiden nicht mehr schaden – nur noch nutzen.«
»Es geht um Frau Heslich.« Beate Leising holte Luft. »Also, meine Schwester arbeitet in Salzwedel im Reisebüro, und da habe ich sie vorgestern abgeholt. Das mache ich jeden Dienstag, und dann gehen wir erst zum Italiener und dann zum Chinesen. Meine Schwester mag keine Pizza, und ich kriege keinen Reis runter, Sie verstehen?«
Obwohl Pippa keineswegs verstand, was das mit Waltraut Heslich zu tun hatte, nickte sie. »Deshalb besuchten Sie nacheinander zwei Lokale.«
»Ganz genau. Und in beiden Lokalen war auch die Waltraut. Also, die Frau Heslich, meine ich.« Die Frau senkte die Stimme. »Mit zwei unterschiedlichen Männern.«
Pippa horchte auf. »Kannten Sie die Männer?«, fragte sie gespannt.
»Ja, sicher. Die Pizza war für Thaddäus und der Reis für Zacharias Biberberg. Aber sie haben beide kaum etwas gegessen, weil sie sich so aufgeregt unterhalten haben.«
Sieh mal an, die beiden konkurrierenden Bürgermeister, dachte Pippa. Es fehlte nicht viel, und sie hätte durch die Zähne gepfiffen.
»Von den Unterhaltungen haben Sie nicht zufällig etwas mitbekommen, Frau Leising?«
Die Frau nickte. »Doch, sicher, aber das war gar nicht so leicht, besonders in der Pizzeria, weil meine Schwester und ich direkt unter dem Lautsprecher saßen.« Sie verdrehte die Augen. »Eros hat gesungen. Immer wieder Tutte storie. Ich mag den ja, den Eros. Aber in diesem Fall …« Sie machte eine Kunstpause.
»In diesem Fall?«
»Haben wir uns an einen anderen Tisch gesetzt.«
Diese Dame weiß, wie man die Spannung steigert, dachte Pippa amüsiert. »Und was haben Sie gehört, nachdem Sie am anderen Tisch saßen?«
»Die Biberbergs, also besonders der Zacharias, die wollen ja schon lange dieses große Einkaufszentrum. Aber daraus kann nur etwas werden, wenn Frau Gerstenknecht und ihre Mitstreiter überstimmt werden.«
»Oder wenn die Bürgermeister es schaffen, die Gegner auf ihre Seite zu ziehen.«
»Ganz genau. So, und jetzt hat die Waltraut den beiden – aber eben jedem für sich – einen Plan serviert, wie das klappen könnte.«
»Sie hat also beide unabhängig voneinander auf die gleiche Schiene gesetzt?«
Beate Leising nickte. »Ganz genau. Die Waltraut hat allen beiden vorgeschlagen, den Zusammenschluss unserer drei Dörfer zu einer Samtgemeinde Storchendreieck voranzutreiben und sich dann selbst zum Oberbürgermeister wählen zu lassen.«
Allmählich dämmerte es Pippa. »Und sie hat jedem der beiden Herren angeboten, ihn zu unterstützen und zu wählen – gegen Geld natürlich.«
»Ganz genau!«, rief Beate Leising. »Und jetzt würden meine Schwester und ich gerne wissen, wie viel Frau Gerstenknecht bietet.«
Pippa rang um Fassung. Dass es auf so etwas hinauslaufen würde, hatte sie nicht geahnt.
Lautes Klatschen unterbrach die beiden, als der mittlerweile im Schaufenster platzierte Fernseher das erste Bild übertrug: Ein stattlicher Weißstorch stand auf einem Nest.
»Ach, das ist doch Bornwassers Nest«, sagte Erich und seufzte enttäuscht.
Martha stellte die Frage, die auch alle anderen Beobachter beschäftigte: »Davon mal abgesehen – wieso steht der da so ungemütlich rum?«
»Ganz genau!« Beate Leising ließ Pippa stehen und ging näher ans Schaufenster. »Ist der denn nach so langem Flug nicht müde? Also ich würde mich erst einmal ausruhen wollen.«
Erich schöpfte Hoffnung. »Er hat sich vielleicht noch nicht entschieden und fliegt noch mal los. Vielleicht weiß er, dass mit diesem Nest kein Blumentopf zu gewinnen ist. Jedenfalls nicht für uns. Sag du doch auch mal was dazu, Hermann. Gilt der zweite Storch, wenn der hier in Bornwassers Nest bleibt?«
Der Angesprochene kratzte sich am Kopf, während die Umstehenden verschiedene Möglichkeiten diskutierten. »Vielleicht erben die Hinterbliebenen den Wunsch, wenn der Besitzer tot ist.« – »Du meinst: die Erfüllung des Wunsches.« – »Auch das!« – »Was ist, wenn der Erbe mit dem Wunsch nichts anfangen kann? Kann er den dann weitergeben?« – »Keine Ahnung. Gab es das schon einmal?« – »Dass sich das Vieh aber auch von allen Nestern ausgerechnet dieses …«
»Ich kläre das«, sagte Hermann und trat an die Sänfte. Es kümmerte ihn nicht, dass er Hollweg mitten im Satz unterbrach, als er sich an Christabel wandte. »Frau Gerstenknecht, wir brauchen Ihre Entscheidung. Der erste Storch steht im Turmnest von Haus 6, also wäre eigentlich Bornwasser der Gewinner des ersten Preises.«
Er zeigte auf den Monitor im Schaufenster, und Christabels sichtlich irritierter Blick folgte seinem Finger. Einen Moment lang schwieg sie, während die Menschen vor der Ade-Bar wie auf heißen Kohlen ihre Entscheidung abwarteten.
Dann sagte sie: »Bornwassers letzten Wunsch habe ich bereits erfüllt. Ich habe sein Grab bezahlt. Mehr gibt es nicht. Dieses Nest – und damit auch dieser Storch – läuft außer Konkurrenz. Deshalb hatte ich diese Kamera auch vorsorglich abgestellt.«
»Bravo!«, rief Erich. »Ein Hoch auf Christabel Gerstenknecht!«
Die Hochrufe und der begeisterte Applaus der Leute ließen Pippa zu ihrer Überraschung Genugtuung empfinden. Die Königin von Storchwinkel wickelt ihre Untertanen um den Finger, dachte sie, die beiden Bürgermeister und ihr Komplott um das überdimensionale Einkaufszentrum haben nicht den Hauch einer Chance, wenn sie nur an sich denken – ob mit Waltraut Heslich als Komplizin oder ohne.
Pippa stellte verwundert fest, dass auch sie auf dem besten Wege war, ein eingefleischter Fan der alten Lady zu werden. Waltraut Heslich hatte gegen Christabel Gerstenknechts Interessen gearbeitet, was auch hieß, dass Christabel trotz ihres biblischen Alters als ernstzunehmende Gegnerin betrachtet wurde. Hätte es sonst konspirativer Treffen bedurft, bei denen Komplotte geschmiedet wurden? Und Waltraut Heslich war noch weiter gegangen: Sie hatte sogar ihre eigenen Komplizen gegeneinander auszuspielen versucht. Überall schwarze Flecken auf vermeintlich weißen Westen, selbst in diesem winzigen, hübschen Dorf …
Pippa wurde wieder aufmerksam, als Erich erstaunt fragte: »Was macht der denn jetzt?«
Alle starrten auf den Monitor. Der Storch stand noch immer im Nest, nur pickte er jetzt an etwas herum, das sich außerhalb der Reichweite der Kamera befand.
»Nach Bornwassers Tod hat niemand daran gedacht, das Nest zu reinigen«, sagte Christabel. »Ihn wird der Unrat vom Winter stören.« Sie winkte Florian heran. »Such dir einen Freiwilligen, und dann bringt das Nest in Ordnung. Sofort.«
Brusches Hand schnellte in die Höhe. »Ich bin dabei! So bekomme ich gleich ein Foto aus der Perspektive des ersten Storches in diesem Jahr. Das hatte ich noch nie.«
Als Pippa den beiden Männern hinterherblickte, sah sie den alten Heinrich gemessenen Schrittes zur Ade-Bar kommen. Wie schon auf dem Friedhof ging er barfuß in leichten Sandalen und war in eine alte Wolldecke gewickelt. Er trat an die Sänfte und sagte leise: »Ich habe deinen Auftrag ausgeführt, Christabel. Zu deiner Zufriedenheit.«
Christabel Gerstenknecht lächelte und legte Heinrich sanft die Hand auf den Arm. »Wir reden später darüber.«
Vermutlich ging es bei dem Auftrag um den kranken Julius Leneke, dachte Pippa, es sei denn, die beiden haben noch andere Dinge miteinander zu klären.
Hauptkommissar Seeger kam eilig aus der Ade-Bar und sagte zu Heinrich: »Freut mich, dass ich Sie endlich treffe. Ich …«
Der alte Mann musterte ihn ruhig. »Viele Menschen haben mich herbeigewünscht – dem wollte ich mich nicht entziehen. Verfügen Sie über mich, wenn Sie Hilfe bei der Aufklärung der Todesfälle brauchen.«
»Nun, ich hätte einige Fragen an Sie«, erwiderte Seeger.
Heinrich machte eine kleine Verbeugung. »Ganz der Ihre. Ich habe die vier grässlichen Todesfälle vorhergesagt, also werde ich Ihnen auch bei der Aufklärung behilflich sein.«
Erstaunt zog Seeger die Augenbrauen hoch. »Vier? Ich zähle zwei. Sie meinen, es wird noch mehr passieren?«
»Ich sehe Verbindungen, und ich zähle die Toten. Alle«, sagte Heinrich ernst. »Eva Lüttmann und ihr Tod in der Mühle, Severin Lüttmann senior und sein tragisches Ableben im Sumpf, Bierleiche Bornwasser im Storchenkrug und Frau Heslichs Feuertod in der Ade-Bar. Das sind vier.« Er machte eine dramatische Pause und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »Erst Luft, dann Erde, dann Wasser, dann Feuer. Merkt euch: Wer sich gegen die Elemente stellt, von dem fordern sie Tribut. Einstweilen sind sie besänftigt. Friede kann wieder einziehen in unser Dorf – bis eines der Elemente aufs Neue erzürnt wird. Dann wird sich die Erde abermals auftun, und der zornige Wind wird neuerlich wehen, und die Schuldigen werden ihrer Strafe nicht entgehen. Deshalb hütet euch! Hütet euch, sage ich: So dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn; und so es ihn reut, vergib ihm.«
Hartung war ebenfalls aus dem Café getreten und hatte Heinrichs Worten gelauscht, im Gesicht eine Mischung aus Faszination und Skepsis. Ihm war anzusehen, dass er den seltsamen Mann am liebsten aufs Präsidium geschleppt und dort nach allen Regeln der Verhörkunst auseinandergenommen hätte, aber er riss sich zusammen. Stattdessen fragte er: »Wie machen Sie das? Wahrsagen, meine ich.«
»Ich bin kein Wahrsager«, entgegnete Heinrich, »ich lese im Leben der anderen. Und wenn es seinem Ende zugeht, spüre ich, ob es ein gutes oder ein schlechtes Ende sein wird. Das ist alles.«
Pippa lief ein Schauder über den Rücken. Sie sah Hartung schlucken und wusste, ihm erging es ähnlich.
Heinrich betrachtete den jungen Kommissar ruhig und lange. »Machen Sie sich keine Gedanken, mein Junge. Sie müssen nur lernen, sich helfen zu lassen, dann werden Sie die Schuldigen finden.«
»Die Schuldigen?«, fragte Seeger interessiert. »Es sind mehrere?«
»Das spüre ich ganz deutlich«, bestätigte Heinrich.
Seeger nickte ihm kurz zu und reckte dann den Hals, als er Gabriele Pallkötter erspähte, die eben die Praxis von Doktor Wegner verließ und nun Kurs auf die Versammlung vor der Ade-Bar nahm. Als sie das Café erreichte, hielt er sie auf. »Frau Pallkötter, auch von Ihnen möchte ich noch wissen, wo Sie sich zum Zeitpunkt des Todes von Frau Heslich aufgehalten haben.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Exakt um 12.30 Uhr.«
Ein kurzes Grinsen huschte über Gabriele Pallkötters Gesicht. »In Wolfsburg.« Sie zeigte auf Pippa. »Die da kann das bestätigen, denn wir haben gemeinsam auf den Zug nach Oebisfelde gewartet. Doktor Wegner war so freundlich, uns dort abzuholen. Der Mann ist ja so zuvorkommend. Das ist noch ein Landarzt alter Schule.« Mit einem beredten Blick auf Heinrich fügte sie hinzu: »Und seine Medikamente helfen sogar.«
Heinrich hielt ihrem Blick gelassen stand. »Gegen das Böse in der Welt ist eben kein Kraut gewachsen, Gabriele.«
Die Dörfler hatten dem Wortwechsel gespannt gelauscht und nicht mehr auf den Fernseher geachtet, aber jetzt rief Erich: »Seht mal, die Jungs sind oben auf dem Nest!«
Alle wandten sich wieder dem Schaufenster zu. Im Monitor winkte Brusche ihnen zu, dann beugte er sich über das Nest, hob einen Gartenzwerg heraus und hielt ihn direkt in die Kamera.
Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge.
»Daran hat der Storch herumgepickt?«, fragte Pippa ungläubig.
Lohmeyer starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Zwerg und schnappte nach Luft. »Aber das kann nicht sein! Das ist mein Lourdes-Wichtel!«
»Ihr was?«, stellte Martha einmal mehr eine Frage, deren Beantwortung alle Storchwinkeler interessierte.
Lohmeyer fuhr sich nervös mit der Hand über die Stirn. »Das habe ich in Frankreich gesehen, in Lourdes«, erklärte er. »Es gibt dort Madonnen, bei denen man den Kopf abschrauben kann, um Weihwasser einzufüllen. Das brachte mich auf die Idee, eine entsprechende Wichtel-Version zu gestalten, als sicheres Depot für Haustürschlüssel oder wichtige Nachrichten.«
Pippa fand Lohmeyers Eifer liebenswert, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass ihre nächste Frage ironisch klang. »Und wie muss ich mir das vorstellen? Kopf abdrehen, Schlüssel rein, Kopf wieder zu?«
»Genau so!« Lohmeyer nahm vor Bestürzung über das Auftauchen seines neuen Gartenzwergs den leichten Spott in ihrer Frage gar nicht wahr. »Die üblichen Verstecke wie Blumentöpfe oder die Fußmatte vor der Haustür sind viel zu gängig, die kennt jeder. Mein Lourdes-Wichtel hingegen, irgendwo im Garten platziert, garantiert maximale Sicherheit für das traute Heim.«
»Ich darf wohl annehmen, dass auch dies ein Plagiat des Prototyps ist, dessen Original sich im Safe von Herrn Hollweg befindet und ihn nicht verlassen hat. Jedenfalls nicht offiziell«, mutmaßte Seeger.
Lohmeyer war so erschüttert, dass er den Kopf hängen ließ.
»Das ist unerhört!«, rief Bartels. »Das ist Werksspionage!«
»Haben Sie eine Erklärung, Frau Gerstenknecht? Herr Hollweg?«, fragte Seeger. Beide schüttelten den Kopf.
»Zwei Tote – und zwei noch geheime Gartenzwerge«, sagte Hartung nachdenklich.
Zum zweiten Mal schauderte es Pippa. Was ging in diesem Dorf vor? In was war sie da wieder hineingeraten?
Sie trat einen Schritt zur Seite, um ein Taxi durchzulassen, das neben der Ade-Bar anhielt. Zuerst stieg Hilda Krause aus, sah sich erstaunt um und fragte: »Was ist hier denn für ein Menschenauflauf? Seid ihr das Empfangskomitee für meinen Neffen?«
Pippa entfuhr ein freudiger Ausruf, als sie den jungen Mann im selbstgestrickten Pullover erkannte, der jetzt das Taxi verließ.
Er drehte sich zu ihr um, und sein Gesicht hellte sich auf. »Pippa Bolle – ich glaube es nicht!«
»Herr X!«
Seit den Morden auf Schreberwerder hatte sie den jungen Künstler, den sie dort kennen- und schätzengelernt hatte, nur selten getroffen.
Strahlend kam er auf sie zu und küsste ihr die Hand.
»So eine Überraschung!«, sagte Pippa. »Aber jetzt verstehe ich endlich, woran mich die vielen Xe in Storchwinkel erinnert haben. Die konnten ja nur von dir sein.«
Misstrauisch verfolgte Gabriele Pallkötter die herzliche Begrüßung der beiden. »Mir können die nichts vormachen, die haben sich hier doch verabredet«, murmelte sie. »Das ist ein abgekartetes Spiel!«
Heinrich sah sie lange von der Seite her an. Dann sagte er laut: »Nein, das ist Schicksal, Gabriele Pallkötter. Und glaube mir: Seinem Schicksal kann man nicht entgehen. Niemand. Auch du nicht.«