Kapitel 18

Der Ostersonntagmorgen präsentierte sich mit milden Temperaturen und strahlendem Sonnenschein. Nachdem sie Christabel das Frühstück serviert und ein weiteres Kapitel vorgelesen hatte, half Pippa der alten Dame, es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen. Dick eingewickelt in eine weiche Kaschmirdecke saß Christabel in einem Lehnstuhl in der offenen Terrassentür, ließ sich von der Sonne bescheinen und beobachtete durch ein Fernglas den Zug der Storchwinkeler zur alten Mühle, wo das große Eiersuchen beginnen sollte.

»Jeder Einzelne, der sich heute auf den Weg macht, kostet die Biberbergs bares Geld«, sagte Christabel vergnügt, »diesen Anblick lasse ich mir auf keinen Fall entgehen!«

Ganz Storchwinkel schien auf der Pappelallee unterwegs zu sein, um am Osterhappening der Biberbergs teilzunehmen, und selbstverständlich wurden aus Storchhenningen und Storchentramm viele weitere Besucher erwartet. Kinder saßen in Bollerwagen und Kinderwagen oder hüpften aufgeregt an den Händen ihrer Eltern. Alle hatten Körbe und Taschen für die erhoffte Ausbeute an Süßigkeiten dabei.

Nicht nur Christabel will sich das Spektakel nicht entgehen lassen, dachte Pippa belustigt. »Man kann nur hoffen, dass die Bürgermeister tief genug in die Tasche gegriffen haben, sonst haben sie heulende Kinder und wütende Eltern am Hals, und ihr Wahlkampf mit Hilfe von Schokoladenhasen und Krokanteiern erweist sich als kapitaler Flop.«

Christabel ließ das Fernglas sinken und sah Pippa an. »Mein Mitleid hält sich in engen Grenzen. Wer Kinder mit Süßigkeiten besticht, um an die Wählerstimmen der Eltern zu kommen, hat sich einen Reinfall redlich verdient.« Sie kicherte. »Ein wenig Schadenfreude werden Sie einer alten Frau doch gönnen, oder?«

Pippa vergewisserte sich, dass Christabel es warm genug hatte, dann ging sie hinauf in ihr Zimmer, um ihren Eltern telefonisch ein schönes Osterfest zu wünschen. Als niemand den Hörer abnahm, versuchte sie es bei ihrem Bruder. Sie stand am Fenster, darauf eingestellt, es lange klingeln zu lassen. Wenn die Wasserschutzpolizei ihm dienstfrei gab, pflegte Freddy sein Bett bis mittags nicht zu verlassen und auch dort zu frühstücken.

Sie runzelte die Stirn, als Freddy auch nach dem zwanzigsten Klingeln nicht abhob. Dass er um elf Uhr noch im Tiefschlaf liegen sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ob er die Kinder der Transvaalstraße 55 schon morgens in den Park von Rehberge begleitet hatte, um seinerseits Eier zu suchen? Bei seiner sprichwörtlichen Bequemlichkeit höchst unwahrscheinlich.

»Jetzt mache ich mir aber doch Sorgen«, murmelte sie und wählte kurz entschlossen die Nummer ihrer Freundin Karin. Schon nach zweimal klingeln hob diese ab.

»Pippa! Wie geht es dir?«

»Gut. Aber ich erreiche niemanden von meiner Familie. Hast du eine Ahnung, wo die sind? Ich halte es selbst bei Freddy für unwahrscheinlich, dass er jetzt noch schläft.«

»Jetzt noch? Du bist gut!« Karin lachte. »Als seine Schwester solltest du wissen, dass an einem freien Tag zehn Uhr für ihn noch tiefe Nacht ist.«

Pippa blickte auf ihren Wecker am Bett. »Versteh ich nicht. Es ist doch schon elf.«

»Offenbar liegt Storchwinkel in einer anderen Zeitzone. In Berlin ist es erst zehn.«

»Aber wir haben doch seit heute Nacht Sommerzeit! Ich habe gestern Abend extra alle Uhren eine Stunde vorgestellt.«

Karin lachte wieder. »Dann ticken sie bei dir tatsächlich anders. Wegen Ostern wurde die Umstellung zwischen die beiden Feiertage gelegt. Wir stellen erst heute Nacht um.«

»Hier ist so viel passiert, dabei ist mir das völlig entgangen!« Pippa seufzte theatralisch.

»Stopp!«, rief Karin aufgeregt. »Warte einen Moment!«

Pippa hörte, wie der Hörer abgelegt wurde, dann folgten eilige Schritte und Geschirrklappern. Sie wusste genau, was Karin jetzt tat, weil es sich bei unzähligen Telefonaten zwischen Berlin und Florenz eingespielt hatte: Sie goss sich Tee in einen Bierhumpen und setzte sich dann in den gemütlichen Sessel, der als ihr ausgewiesenes Hoheitsgebiet galt.

»So«, sagte Karin schließlich, »wir können. Du bist mein Osterei, Pippa: Du servierst mir akustische Leckerbissen, die ich weder suchen noch später wieder abtrainieren muss. Und wenn deine Familie wieder zurück ist, werde ich jedes schmutzige Detail farbenfroh ausschmücken und genüsslich weiterreichen. Gegen Gebühr.«

»Wo sind denn die anderen? Im Park?«

»In Paris.«

»Bitte?« Pippa glaubte, sich verhört zu haben. »Mit Grandma Hetty und Ede Glassbrenner auf Seniorenreise? Alle?«

»Samt und sonders. Seniorenreise kann man das kaum noch nennen: deine Eltern, Freddy, Sven … deine Homepage kannst du erst mal vergessen.«

Und ich sollte eigentlich auch jetzt dort sein, dachte Pippa sehnsüchtig, das wäre sicher um einiges problemloser. »Paris ist eben ein echter Magnet«, sagte sie.

»Paris? Wohl eher die holde Tatjana.« Karin kicherte.

»Verstehe. Wenn sich unsere Jungs da mal nicht ohne es zu ahnen eine zu große Aufgabe gestellt haben. Ich lerne auch gerade, wie sich das anfühlt.«

»Erzähl. Und nichts auslassen, wenn ich bitten darf.«

Pippa wollte gerade loslegen, als es an ihrer Tür klopfte.

»Warte einen Moment«, sagte sie zu Karin und rief dann: »Herein!«

Zu ihrer Überraschung kam Herr X ins Zimmer. Er trug eine karierte Schiebermütze und einen handgestrickten dunkelgrauen Pullover, auf dessen Brust ein Storch prangte. Wie immer war Pippa erstaunt, wie jugendlich der Mittdreißiger durch sein fast kindliches Gesicht und seine schlaksige Gestalt wirkte.

»Guten Morgen, Pippa. Hast du Lust, mich auf einer Fahrradtour durch meine Freiluft-Galerie zu begleiten? Ich könnte dir einige Nester zeigen, in denen die Storchenpaare auf hohem künstlerischen Niveau brüten!«

»Mit dem größten Vergnügen.« Pippa lachte über die von Herrn X benutzte Formulierung. Sie nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Ich muss mich leider von dir verabschieden, Karin, aber wir holen das nach. Grüß bitte alle von mir, die in der Transvaal die Stellung halten. Und jetzt gebe ich dich weiter.« Sie drückte dem verdutzten Herrn X den Hörer in die Hand. »Für dich. Deine Nachbarin aus der Kleingartenidylle Schreberwerder. Ich schätze, du warst es, der ihr den Urlaub in dieser Gegend empfohlen hat. Leider hat sie das mir gegenüber unerwähnt gelassen, sonst hättest du mich entsprechend auf das Storchendreieck vorbereiten können. Und dann wäre ich jetzt ganz sicher in Paris!«

Pippa flitzte zu Christabel ins Wohnzimmer, um nachzufragen, ob sie für einige Stunden entbehrlich war.

»Aber sicher. Gönnen wir uns ein wenig Auszeit voneinander – sonst ereilt uns zwei noch der Lagerkoller«, sagte Christabel. »Ich habe es hier gemütlich, und Sie machen sich einen schönen Tag. Hilda hat vorgekocht. Julius und ich werden es uns schmecken lassen.«

Dir kommt zupass, dass du unter vier Augen mit deinem Adoptivsohn sprechen kannst, dachte Pippa. Ob es ihm allerdings so recht sein wird, weiß ich nicht …

Als hätte Christabel ihre Gedanken gelesen, sagte diese: »Es ist ohnehin besser, wenn Sie Julius und mich allein lassen, wir haben einiges zu bereden. Und heute Abend gehen wir alle gemeinsam ins Konzert.«

»Dann lasse ich mir jetzt ein wenig von Herrn X die Gegend zeigen«, sagte Pippa.

Christabel nickte wohlwollend. »Tun Sie mir den Gefallen und nehmen die Hunde mit. Die freuen sich über Bewegung, und Florian wird froh sei, wenn er vor seinem großen Auftritt noch proben kann, statt Gassi zu gehen.« Sie lächelte liebevoll. »Der Arme ist sehr aufgeregt.«

»Kann ich die drei denn bändigen? Sind sie daran gewöhnt, neben einem Fahrrad herzulaufen?«

»Machen Sie sich keine Sorgen, sie lieben ihr Geschirr. Sie werden nicht einmal selbst treten müssen, die Hunde werden Sie auch gerne ziehen. Aber lassen Sie sie nicht von der Leine, sonst übernehmen sie auch noch das Eiersuchen. Sie haben verflixt gute Nasen.« Sie zwinkerte. »Und wir wollen der kleinen Lucie doch nicht den Spaß verderben.«

Wie Christabel gesagt hatte, liefen die Hunde diszipliniert vor und neben dem Rad her und ließen es rollen, ohne dass Pippa sich anstrengen musste. Als Herr X und sie die Mühle erreichten, war der Tross der Eiersucher bereits in Richtung Storchenkrug und Vogelschutzgebiet weitergezogen.

Herr X bremste und stieg vom Rad.

Pippa hielt ebenfalls an. Die Hunde blieben sofort stehen und setzten sich dann, um geduldig zu warten, bis es weiterging.

Herr X schützte seine Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht und beobachtete die Windmühlenflügel, die sich träge vor dem blauen Himmel drehten.

»Ich liebe Windmühlenflügel in Bewegung«, sagte Herr X verträumt, »sie haben mich schon immer inspiriert. Ein riesiges rotierendes X …«

Pippa grinste innerlich. Stets wirkte Josef Krause leicht versponnen und in kreativen Sphären schwebend, immer auf der Suche nach Inspiration für sein nächstes Kunstwerk. Der alte Spökenkieker müsste ganz nach seinem Geschmack sein.

Sie deutete mit dem Kopf zur Mühle. »Was hältst du von Heinrich?«, fragte sie.

»Warum fragst du mich das?« In seiner Stimme lag ein Hauch von Argwohn.

Pippa zuckte mit den Schultern. »Kein besonderer Grund. Ich würde mir einfach gerne eine Meinung bilden.«

»Du bist nicht halb so harmlos, wie du tust«, erwiderte Herr X. »Immer, wenn du dir eine Meinung bildest, wird es gefährlich. Das habe ich auf Schreberwerder erlebt. Dann gerät jeder unter Verdacht.«

»Glaubst du denn, dass Heinrich etwas mit den … Vorkommnissen zu tun hat?«

»Es sollte mich wundern, wenn hier irgendjemand nichts mit den Ereignissen zu tun hätte. Manche werden allerdings nicht einmal selbst wissen, was genau oder wie viel. Und das ist vielleicht auch gut so.«

»Gesprochen wie der alte Heinrich höchstselbst«, sagte Pippa und grinste. »In Rätseln.«

Ein schöneres Kompliment hätte sie ihm offenkundig nicht machen können, denn Herr X strahlte über das ganze Gesicht. Sie stiegen wieder auf ihre Räder, und die Hunde sprangen schwanzwedelnd auf. Da weit und breit kein Auto zu sehen war, fuhren sie mitten auf der Landstraße auf Salzwedel zu, und Pippa stellte erfreut fest, dass ihre unbeabsichtigte Schmeichelei dem jungen Künstler die Zunge löste.

»Der alte Heinrich ist ein später Jünger von Gustaf Nagel. Der lebte knapp dreißig Kilometer von hier am Arendsee«, begann er und sah sie fragend an. »Du weißt, wer das ist?«

Pippa schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich hier schon öfter gehört, aber …«

»Damals hielten ihn alle für verrückt, aber meiner Meinung nach war er seiner Zeit nur weit voraus«, erzählte Herr X. »Gustaf Nagel war ein bekannter Wanderprediger. Er lief grundsätzlich barfuß oder trug allenfalls Sandalen an den bloßen Füßen und lebte seit seiner Jugend vegetarisch. Seine Interessen waren vielfältig: Er gründete eine Partei, entwickelte eine eigene Rechtschreibung und schwor auf Naturheilkunde. Am Arendsee schuf er einen Zufluchtsort für Gleichgesinnte, von denen jedes Jahr Zehntausende zu ihm pilgerten, um von ihm zu lernen. Nagel baute eine Kurhalle, in der er selbst hergestellte Säfte und Naturprodukte verkaufte. Stell dir vor: Er war zeitweise sogar der größte Steuerzahler der Gegend!«

»War er auch ein Spökenkieker?«

»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall galt er durch seine asketische Lebensweise als Sonderling, und die wurden damals nicht gern gesehen. Sein Paradiesgarten am Arendsee wurde von den NS-Behörden geschlossen. Heute wäre er vielleicht bei den Grünen, wer weiß. Oder er würde sich bei Greenpeace engagieren. Als Naturheilkundler hätte er mit Sicherheit eine volle Praxis.«

»Wie Heinrich, meinst du? War Gustaf Nagel verheiratet?«

»So weit ging die Askese dann doch nicht, dass er darauf verzichtet hätte.« Herr X kicherte. »Er war dreimal verheiratet. Von seinen vier Söhnen hat er allerdings nur die drei aus seiner zweiten Ehe anerkannt.«

»Und Heinrich?«

»Heinrich war einmal verheiratet.« Herr X wurde ernst. »Und er hatte einen Sohn, aber der ist gestorben. Als Baby, gleich nach der Geburt. Heinrichs Frau hat den Verlust nicht verkraftet. Die beiden haben sich ein Jahr später getrennt.«

Wie tragisch, dachte Pippa und fragte dann: »Woran ist das Kind gestorben?«

Herr X konnte die Frage nicht hören, denn er bog in einen kleinen Waldweg ein, den ein gelbes Schild als Verbindung nach Storchhenningen auswies. Für Pippa kam das etwas zu überraschend; sie musste bremsen und umdrehen. Dann folgte sie ihm den Weg entlang, der sich durch lichten Birkenwald schlängelte. Genüsslich sog sie die milde Luft ein, die nach Frühling und frischer Erde duftete. An den Zweigen der Birken saßen Blattknospen, die bereits kurz davor standen, sich zu öffnen.

Als sie zu Herrn X aufgeschlossen hatte, wiederholte sie die Frage nach Heinrichs Baby.

»Das ist es ja, das weiß man nicht«, erwiderte er. »Christabel hadert bis heute damit, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht hat.«

»Wie bitte?« Vor Überraschung trat Pippa abrupt in die Bremse und verlor das Gleichgewicht, denn die Hunde liefen noch ein paar Schritte weiter und schleiften die auf einem Fuß hüpfende Pippa samt Rad ein Stück hinter sich her.

Herr X hielt an, um sie bei ihrem Kampf mit dem Fahrrad und den drei Hundeleinen zu unterstützen. Als alles entwirrt und Pippa wieder standfest war, fragte sie atemlos: »Christabel? Was hat denn Christabel damit zu tun?«

Herr X sah sie erstaunt an. »Weißt du das nicht? Christabel war früher, weit vor der Wende, hier in der Gegend die Hebamme. Sie half bei Hausgeburten oder im Kreißsaal des kleinen Krankenhauses in Storchhenningen.«

»Es muss furchtbar sein, ständig mit dem Gedanken zu leben, etwas getan – oder nicht getan – zu haben, das ein Menschenleben kostete«, sagte Pippa leise und schüttelte sich. »Ich frage mich, wie Leute damit klarkommen, die mutwillig töten.«

Herr X nickte und stieg wieder aufs Rad. Eine Weile fuhren sie schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Pippa: »Wenn man diese gemeinsame Vergangenheit bedenkt, finde ich die Freundschaft zwischen Christabel und Heinrich noch bemerkenswerter.«

»Er hat niemals an ihrer Kompetenz gezweifelt, nur am Krankenhaus und an der Schulmedizin.«

»Jetzt verstehe ich auch, warum Heinrich sich der Naturheilkunde verschrieben hat.«

»Das passte gut zu seiner Vorbildung. Er hat in der DDR Biologie studiert, an der Humboldt-Uni in Berlin. Nach der Wende machte er zusätzlich eine Ausbildung zum Heilpraktiker.« Herr X lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch nur eine Pflanze in unseren Breitengraden gibt, deren Heilwirkung Heinrich nicht kennt. Er ist eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet. Und ein Segen für uns alle.«

»Du bist aber gut über ihn informiert. Gehörst du auch zu den Kunden für seine wundersamen Elixiere?«

»Klar! Ich vertraue ihm. Ich kenne Heinrich schon so lange, wie ich meine Tante Hilda hier besuchen komme. Und das sind schon einige Jahre.«

»Ist sie auch deine modische Beraterin?«

Herr X verstand sofort. »Jedes Jahr bekomme ich einen Pulli von ihr. Dieser hier ist ganz neu. Meine Verbundenheit mit Storchwinkel ist so eng, dass ich sogar zwei Exemplare mit Gartenzwergen drauf besitze.« Er lachte fröhlich. »Ich bin gerne Werbeträger für 3L, denn dank Christabel kann ich als freischaffender Künstler überleben. Sie ist meine einzige regelmäßige Kundin«, fuhr er fort. »Dass ich jetzt die Skulptur zu ihrem Hundertsten kreieren darf, ist nicht nur eine große Ehre, sondern sichert mir für lange Zeit den Lebensunterhalt.«

Pippa freute sich für ihn, fragte sich aber, wie Christabels üppiger Auftrag zu Hollwegs Aussage über ihre prekäre Finanzsituation passte. Hoffentlich hat sie sich nicht übernommen und muss Herrn X am Ende enttäuschen, dachte sie. Das wäre für beide ein Desaster.

Herr X bemerkte ihre Zweifel nicht, sondern redete begeistert weiter. »Wir wollen die durchgeixte Hundert mitten im Naturschutzgebiet platzieren. Selbstverständlich werde ich ausschließlich Naturmaterialien verwenden. In die drei Ziffern und das große X baue ich Ansiedlungsmöglichkeiten für Kleintiere aller Art: Nistkästen, Igelhäuser, Insektenhotels, Bienenstöcke …« Seine Wangen glühten vor Freude. »Professor Piep und der alte Heinrich beraten mich, damit meine Kreativität eine perfekte Verbindung mit den neuesten Erkenntnissen des Naturschutzes eingehen kann!«

Da sie den Ortseingang von Storchhenningen erreicht hatten, konnten sie sich während des Fahrens nicht mehr unterhalten. Das Dorf war deutlich größer als Storchwinkel und verfügte über gepflasterte Bürgersteige und regen Autoverkehr, der sie zu mehr Aufmerksamkeit als bisher zwang. Eine alte Kirche bildete den Mittelpunkt des Ortes, sie war umgeben von Backsteinbauten und Fachwerkhäusern. Wo in Storchwinkel große Nester auf Masten thronten, dienten hier Letztere – sichtlich nicht von Herrn X konstruiert – dem perfekten Handyempfang. Ein großer moderner, eckiger Kasten entpuppte sich als Kombination aus Gemeindeverwaltung und Wache der Freiwilligen Feuerwehr.

Wenn Seegers Kommissariat hier wäre statt in Salzwedel, müsste der Ärmste nicht ständig Dutzende Kilometer Landstraße fahren, dachte Pippa, als sie Herrn X auf die Straße folgte, die am Storchenkrug vorbei nach Storchwinkel zurückführte. Vorsichtig manövrierten sie mit den Fahrrädern durch die vielen Menschen, die zu Fuß zum Eiersuchen unterwegs waren.

Pippa bremste und stieg ab. »Mir ist das hier mit den Hunden zu heikel«, sagte sie zu Herrn X. »Lass uns lieber laufen.«

Er stimmte zu, und sie schoben ihre Räder, während die Hunde folgsam bei Fuß gingen. Pippa fiel eine Gestalt auf, die sich gegen den Menschenstrom ihren Weg bahnte.

»Kommissar Seeger! Sind Sie hier, um dem Volk aufs Maul zu schauen? In der Hoffnung, ein paar Informationen aufzuschnappen?«, fragte Pippa ihn scherzhaft, als sie aufeinandertrafen.

Seeger schüttelte grimmig den Kopf. »Ganz im Gegenteil: Ich habe gerade eben mehr erfahren, als mir lieb ist. Und zwar über die Biberbergs.«

Pippa lachte auf. »Wie das?«

Der Kommissar seufzte. »Ich war zu meiner täglichen Meditationsstunde im Vogelbeobachtungshaus – wegen der Eiersuche früher als sonst. Ich dachte, das wäre eine schlaue Idee, aber dann wurde ich von zwei bürgermeisterlichen Osterhasen gestört. Die beiden streiten wirklich über alles. Sogar darüber, wo welche Eier versteckt werden.«

»Sie machen Witze.«

»Ich wollte, es wäre so, aber Thaddäus Biberberg verweigerte sich lautstark den Anordnungen seines Bruders.«

»Die beiden haben die Süßigkeiten selbst versteckt?«, fragte Pippa. Sie wechselte einen amüsierten Blick mit Herrn X.

»Einen Teil davon. Zusätzlich haben sie noch eine ganze Mannschaft von Helfern herumgescheucht. Aber natürlich mussten sich die Biberbergs ausgerechnet meinen Rückzugsort aussuchen, um selbst aktiv zu werden.«

»Und wo wollte Zacharias die Eier versteckt haben?«

Seeger verdrehte die Augen. »In echten Vogelnestern. Wie einfallsreich. Aber ich vermute dahinter weniger kreative Ironie als vielmehr den Wunsch, Material zu sparen. Wahrscheinlich ging er zudem davon aus, dass die Leute dort nicht suchen würden.«

»Vielleicht sind alle Eier und Süßigkeiten Kommissionsware, und er hofft, die nicht gefundenen zurückgeben zu können.«

»Würde mich nicht wundern. Oder er hat vor, sie einschmelzen zu lassen und als Weihnachtsmänner wiederzuverwenden«, brummte Seeger. »Aber bei dieser Völkerwanderung dürfte er sich da schwer geschnitten haben.«

Während des Gesprächs hatten die Hunde ruhig neben Pippa gesessen. Jetzt erhob sich Unayok, näherte sich dem Kommissar und beschnüffelte ihn ausgiebig. Dann lehnte er sich an Seegers Bein und schaute ihn aus eisblauen Augen auffordernd an.

Lächelnd beugte Seeger sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihn. »Na, erkennst du mich wieder? Guter Junge! So einen wie dich könnte ich mir für meinen Ruhestand gut vorstellen. Dann wären wir zu zweit und könnten aufeinander aufpassen.«

Pippa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ja, das stimmt, er kann wunderbar unwillkommene Leute auf Abstand halten.«

Der Kommissar zwinkerte verschwörerisch. »Ich sehe, wir verstehen uns bestens.«

Je weiter Pippa und Herr X kamen, desto bevölkerter wurde es um sie herum. Das Naturschutzgebiet wimmelte von Menschen, und es herrschte ein Höllenlärm. Die Kinder bejubelten jeden Fund mit ohrenbetäubendem Kreischen, und die meisten von ihnen hatten mittlerweile mehr Schokolade im Gesicht als in ihren Körben. Den Kleinsten halfen die Eltern, indem sie sie sanft zu den Verstecken dirigierten. Kein Grashalm, kein Busch, kein Büschel Schneeglöckchen blieben von den Suchenden verschont. Eines war klar: Die Biberbergs würden an dieses Osterfest noch lange denken.

»Hier ist es mir zu voll«, sagte Pippa. »Gibt es nicht einen anderen Weg zurück nach Storchwinkel?«

Da Herr X Menschenansammlungen verabscheute, musste er nicht überredet werden. Sie wollten gerade auf einen Wiesenweg abbiegen, als Timo Albrecht Pippas Namen rief und zu ihnen herüberkam.

»Gut, dass ich Sie treffe, Frau Bolle«, sagte er und senkte dann konspirativ die Stimme. »Ich hörte, Sie fungieren als geheimer Briefkasten.«

»Allerdings nur für Topagenten mit Topinformationen«, erwiderte Pippa im gleichen Tonfall. »Ich will gar nicht wissen, warum Sie mit Ihren Informationen nicht zur Polizei gehen, sondern frage gleich nach dem Preis.«

»Ich wünsche mir einen freien Tag, mitten in der Woche. Ich möchte einmal mit Mandy und Lucie auf dem Arendsee herumschippern, ohne dass wir von der gesamten Bevölkerung des Storchendreiecks beobachtet werden.«

Pippa lachte. »Das lässt sich machen. Falls die Informationen einen freien Tag wert sind.«

»Super!«, rief der junge Mann erfreut. Dann aber zögerte er und sah Herrn X auffordernd an. Der zuckte mit den Schultern und ging mit seinem Rad ein Stück beiseite. Als Timo Albrecht sicher war, dass nur noch Pippa ihn hören konnte, sagte er leise: »Frau Heslich wollte ihr Testament ändern.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Pippa erstaunt.

»Sie hat bei mir mehrere Bücher zu diesem Thema ausgeliehen. Gleich, nachdem Herr Bornwasser … ertrunken ist.«

»Vielleicht wollte sie nur ihr Testament schreiben, weil ihr durch seinen Tod bewusst wurde, dass man seine Angelegenheiten regeln sollte, bevor es zu spät ist.«

Timo Albrecht schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Sie brauchte die Bücher, um sich zu vergewissern, dass ihre geplanten Änderungen rechtlichen Bestand haben würden. Und sie wollte, dass ich das geänderte Testament unterschreibe. Als Zeuge, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist.«

»Sie haben zugesagt?«

»Klar! Ich war neugierig!«

»Und warum ging sie damit nicht zu einem Notar?«

»Das habe ich sie auch gefragt! Sie sagte, sie habe nicht die Zeit, dafür eigens nach Wolfsburg oder Salzwedel zu fahren. An dem Tag, als Bornwasser beerdigt wurde, sollte ich unterschreiben. Deshalb war ich auch mit dem Bus in Storchwinkel. Kunden für die Bibliothek mussten wir nicht befürchten, ich war ja außerplanmäßig dort.«

Eine Rentnerin hat nicht genug Zeit, mal schnell zwanzig Kilometer zu fahren?, grübelte Pippa. Für ein so wichtiges Vorhaben? Trotz eigenem Auto? Da in ihrer Schublade ein Autoschlüssel lag, muss sie motorisiert gewesen sein. Und warum soll ausgerechnet ein Wildfremder ihr Testament bezeugen, soweit dieser Begriff auf die Menschen im Storchendreieck überhaupt anwendbar ist, bei all den verschlungenen Verbindungen? Braucht man überhaupt einen Zeugen für ein rechtskräftiges Testament? Ich denke nicht. Wieso wollte sie also einen Zeugen? Klingt, als fühlte sie sich nach Bornwassers Tod bedroht.

Timo Albrecht sah sie abwartend an, schien aber nicht bereit, freiwillig weitere Informationen preiszugeben. Pippa seufzte. »Okay, Sie haben Ihren freien Tag. Ich bin sicher, Frau Gerstenknecht ist einverstanden.«

Sein Gesicht leuchtete auf.

»Jetzt aber raus damit«, sagte Pippa. »Was stand in dem Testament? Was haben Sie gegengezeichnet?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Zur Unterschrift ist es ja nicht mehr gekommen, erinnern Sie sich?«

Stimmt, dachte Pippa, an dem Tag wurde Waltraut Heslich ermordet.

Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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