ind alle, die wir brauchen, hier?«, fragte Rebecca Davis.
»Ja«, sagte Pippa. »Pete und ich haben alle zusammengetrommelt.«
Sam Wilson sah sich suchend in Phoebes Cottage um. »Freddy fehlt.«
»Für den ist es noch zu früh«, sagte Debbie ironisch, »der sitzt bestimmt noch bei gebratenen Eiern, Bohnen und Speck.«
Pippa schüttelte den Kopf. »Freddy ist im Moment wunschlos glücklich – und das ganz ohne Frühstück.«
Diese Informationen löste bei den Anwesenden erstauntes Raunen aus. Nicky und Lysander kamen sogar aus der Küche, wo sie Tee und Kaffee für die Versammlung vorbereitet hatten.
»Freddy und Barbara-Ellen sind im Cotswolds Farm Park«, erklärte Pippa.
Rebecca wurde ernst. »Er beschäftigt auf meinen Wunsch Barbara-Ellen, damit sie von unserem Treffen nichts mitbekommt. Es geht immerhin um die Aufklärung des Mordes an ihrem Mann. Je weniger sie von unserem Plan weiß, desto unbelasteter kann sie später agieren.«
»Freddy wird rechtzeitig zur Probe mit ihr zurück sein«, versicherte Pippa.
»Gut«, sagte Rebecca Davis, »dann werde ich jetzt alle Helfer auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen, von dem aus und mit dem wir heute agieren werden.«
Sie stand auf und stellte sich so, dass sie alle im Blick hatte. »Kwiatkowskis Auto wurde durch von Kestring manipuliert, das Wissen dazu hatte er von Rossevelt – der dadurch zwar moralisch mitschuldig ist, aber nicht belangt werden kann.«
»Wieso nicht?«, fragte Phoebe erstaunt.
»Hinweis und Weitergabe von Informationen, die frei zugänglich sind, stehen nicht unter Strafe«, erklärte Pete Wesley. »Jeder kann ins Internet gehen und dort recherchieren. Das ist wie mit den Anleitungen zum Bombenbauen – wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass dieses Wissen zum Zwecke der Tötung beschafft wurde …«
Mit einem knappen Nicken bestätigte Rebecca Davis Pete Wesleys Worte.
»Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass von Kestring den Tod Kwiatkowskis beabsichtigte, aber er hat ihn zumindest billigend in Kauf genommen. Nach Berkels Rückzug als Assistent benutzte er dann für seine Pläne bevorzugt den Mann als Erfüllungsgehilfen, der sich am freiesten fühlte und doch am kürzesten Gängelband hing: Hendrik Rossevelt.«
»Zunächst klappte auch alles wie am Schnürchen«, ergänzte Pippa, »aber ausgerechnet von Kestring unterschätzte die Kraft der Gefühle, an denen er nicht immer unschuldig war: die Scham und die Liebe.«
»Und damit kommen wir zu unseren Verdächtigen und ihren Motiven.« Rebecca sah sich ernst in der Runde um. »Zunächst hatten wir Barbara-Ellen im Visier, die den Tod ihres Geliebten rächen wollte. Aber durch ein entscheidendes Indiz, das uns«, sie lächelte leise, »durch Inspector Peter Paw zugespielt wurde, haben wir unsere Ermittlungen auf zwei andere Verdächtige konzentriert: Johannes Berkel und Alain Bettencourt.«
»Ausgerechnet die beiden?«, entfuhr es Phoebe, und Lysander schüttelte ungläubig den Kopf.
Wieder meldete Pete Wesley sich zu Wort.
»Mehr als alle anderen wurden diese beiden Männer durch die letzten Wochen verändert. Sie haben sich gefunden und sind entschlossen, gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Berkels Selbstbewusstsein wurde immens gestärkt, seit Alain seine Zuneigung nicht nur erwidert, sondern auch bereit ist, diese Liebe öffentlich zu leben. Alain, berühmtes Teenie-Idol und Frauenschwarm, will sich zu einem Mann bekennen. Das ist noch immer ein Vabanque-Spiel, obwohl es mittlerweile viele Künstler gibt, die offen homosexuell sind – und trotzdem Frauenschwärme bleiben.«
»Wie wahr!« Nicola seufzte theatralisch. »Warum passiert es uns immer wieder, dass die besten und schönsten Männer es vorziehen, unter sich zu bleiben?«
»Ich darf doch sehr bitten«, protestierte Lysander.
»Weil ihr Frauen immer genau das haben wollt, was ihr nicht kriegen könnt.« Pete Wesley grinste. »Wenn ihr Locken habt, wollt ihr glatte Haare und …«
Rebeccas Räuspern unterbrach ihn. »Alain Bettencourt hat gerade eine Serienhauptrolle ergattert und befindet sich auf dem Weg vom Soapdarsteller zum internationalen Fernsehstar. Er trägt allerdings eine Altlast mit sich herum, die seinem perfekten Image nicht entspricht, die aber von Kestring bekannt war: die Mitwirkung in einem Porno mit dem Titel Komm rein, Liebling.«
»Oh ja?«, unterbrach Debbie interessiert. »Gibt es Beweismaterial, das man sich ansehen kann?« Sie spitzte interessiert die Lippen und zuckte mit den Schultern, als sie einen entsetzten Blick ihres Vaters auffing.
»Vermutlich hätte er die Hauptrolle als Urwalddoktor wieder verloren, wenn der Streifen an die Öffentlichkeit gelangt wäre«, warf Pippa ein, »eine seriöse Produktion kann sich einen Hauptdarsteller mit Schmuddel-Vergangenheit nicht leisten.«
»Verstehe«, folgerte Debbie, »so etwas wie Homosexualität bekommt man mit dem Hinweis auf Toleranz weggebügelt – aber ein Teenie-Star mit Porno-Qualitäten ist dann doch zu viel.«
»Das ist also Alains Motiv«, sagte Phoebe, »er will die Veröffentlichung verhindern und bringt von Kestring um. Aber was ist mit Johannes?«
»Wir wissen nicht, wie viel Berkel von Bettencourts Vergangenheit weiß«, antwortete Rebecca Davis, »falls Alain ihm alles gestanden hat, könnten die beiden gemeinsam gehandelt haben, um sich und ihre Zukunft zu schützen. Sicher ist allerdings, dass Berkel für Bettencourt gelogen hat, als es um die Kratzer auf dessen Armen ging.«
»Er hat dessen Aussage bestätigt, dass die Schrammen von einem Brombeergestrüpp stammen«, sagte Pippa, »aber in Wirklichkeit hatte er sie von Peter Paw. Alain vermutete einen winzigen Datenstick mit verräterischen Filmausschnitten im Medaillon an Paws Halsband – und der hat sich natürlich mit allen Krallen gewehrt, als Bettencourt es abgerissen hat.«
»Dummerweise fand er darin nicht, was er zu finden hoffte«, fügte Rebecca Davis hinzu.
»Soll das heißen, die beiden suchen das Ding immer noch?«, rief Debbie aufgeregt. »Und sie könnten noch einmal morden, um es zu bekommen?«
Pete Wesley rieb sich die Hände. »Um das zu verhindern, haben wir Pippas Pantomime-Plan …«
In den folgenden zwei Stunden verwandelte Pippa die Fläche vor dem Aussichtsturm mit Unterstützung der eingeweihten Helfer in eine Kulisse für die erste Freilichtprobe. Die Constables Branson und Custard ächzten unter der Last der Bank, auf der Hasso von Kestring sein Leben ausgehaucht hatte, den Glorious Hill hinauf.
»Wo soll die hin?« Custard wischte sich keuchend den Schweiß von der Stirn.
»Vor die Töpfe mit dem Buchsbaum.« Pippa zeigte auf die Stelle, und die beiden Constables wuchteten die Bank unter Aufbietung ihrer verbliebenen Kräfte auf den angewiesenen Platz.
Pippa betrachtete stolz das Ergebnis: Einige Buchspflanzen deuteten einen Wald an, eine Ritterrüstung stand neben dem Eingang des Turms, eine Hellebarde lehnte an der Wand – mit wenigen Requisiten hatten sie Hamlets Schloss entstehen lassen.
Phoebe kam zu Pippa hinüber und nickte anerkennend. »Phantastisches Bühnenbild, Pippa. Ein Jammer, dass die Aufführungen nicht hier, sondern in Stratfords Theatergarten stattfinden.«
Pippa wiegte den Kopf. »Wichtig ist, dass wir damit erreichen, was wir wollen: den Mörder überführen.«
»Lass mich nur machen.« Phoebe tätschelte ihr beruhigend den Arm. »Ich werde unsere drei Hauptakteure gemeinsam auf die Bühne bringen, schließlich führe ich hier die Regie.«
Die Dorfbewohner kamen mit eigenen Sitzgelegenheiten, um der öffentlichen Probe beizuwohnen, und ließen sich rund um die Bühne nieder. John Napier schloss für Chris den Turm auf, damit er als dänischer Soldat auf der Aussichtsplattform Wache halten konnte. Pete Wesley schlenderte heran und gesellte sich mit einem Klapphocker zu Freddy und den anderen Zuschauern.
Pippa stand am Rand des Platzes und überprüfte nervös die Kleinrequisiten, die sie auf einem Tisch bereitgelegt hatte. Sie hatte ihn so aufgestellt, dass sie mit ihm gänzlich hinter einer Buchsbaumgruppe verborgen blieb. Unauffällig sah sie sich nach Rebecca um. Sie wusste, dass die Kommissarin mit ihrer Mannschaft in der Nähe war, konnte sie aber nirgends entdecken.
Hauptsache, ihr kommt rechtzeitig aus eurem Versteck, dachte sie und spürte, dass sie immer angespannter wurde, je näher der Beginn der Probe rückte.
Abseits der stilisierten Naturbühne versammelte Phoebe das Ensemble um sich.
»Da wir bei der Premiere unter freiem Himmel spielen werden, möchte ich die Situation heute simulieren und euch dabei Gelegenheit geben, mit den ungewohnten akustischen Anforderungen umgehen zu lernen. Netterweise haben sich einige Theaterenthusiasten aus Hideaway eingefunden, um unser Publikum zu sein und durch ihre Anwesenheit ein realistisches Ambiente zu schaffen. Pippa, bist du so nett und verteilst die Textbücher? Ich habe eine Änderung anzukündigen.«
Sie wartete ab, bis jeder ein Exemplar in der Hand hielt, und fuhr dann fort: »Alles bleibt wie geprobt, bis auf eine kleine Ausnahme: Dritter Akt, zweite Szene. Hier hat Shakespeare eine Pantomime vorgesehen, gespielt von einer Schauspieltruppe, die den dänischen Hof besucht.«
Die Mitglieder des Ensembles schlugen die genannte Stelle auf und sahen Phoebe erwartungsvoll an.
»Hasso von Kestring hat diese Szene gestrichen, aber ich finde sie zu wichtig, um sie wegzulassen. Ich möchte sie wieder aufnehmen, als das, was sie ist: als Anklage an den Mörder«, erklärte Phoebe. »Fassen wir also zusammen: Hamlet erfährt vom Geist seines toten Vaters, dass König Claudius ihm, während er schlief, Gift ins Ohr geträufelt hat. Jetzt bittet er die Schauspieler, den Mord an seinem Vater nachzuspielen. Er will seinem Stiefvater zeigen: Du bist entdeckt. Ich weiß, dass du es warst.« Phoebe machte eine wirkungsvolle Pause. »Es ist eine Drohgebärde, die Ankündigung seiner Rache.«
Das Ensemble kommentierte Phoebes Worte mit zustimmendem Gemurmel.
Phoebe sah in die Runde und fragte: »Wie aber können wir die Schärfe erreichen, der Sir Michael, pardon, König Claudius, sich ausgeliefert fühlt? Wie können wir erzwingen, dass er nervös wird, sich schuldig fühlt – und diese Schuld öffentlich zugibt?«
Niemand antwortete, denn alle hatten gelernt, rhetorische Fragen als solche zu erkennen und die Regie in ihren Ausführungen niemals zu unterbrechen.
»Wir lassen diese wortlose Szene mit Opfer, Mörder und Königin nicht die angereisten Schauspieler vorführen, sondern von Figuren aus dem engsten Umfeld des Königs: Rosencrantz, Guildenstern und – Hamlet selbst.«
»Klasse Idee – das wirkt!«, sagte Duncan anerkennend.
Das fürchte ich auch, dachte Pippa, nur – wie?
Phoebe ging mit Barbara-Ellen, Johannes Berkel und Alain Bettencourt zur Seite, um die neue Szene durchzusprechen.
»Kein Problem«, sagte Berkel abschließend, »ich, der trottelige Rosencrantz, spiele den König und werde von Hamlet vergiftet.« Er warf Alain ein strahlendes Lächeln zu. »Ich hoffe, du tust mir nicht weh.«
Barbara-Ellen lachte, aber Alain runzelte die Stirn, als ärgerte ihn das zusätzliche Pensum.
Die Probe begann, und Pippa bewunderte von neuem die Schauspielkunst des Ensembles. Trotz der Unterbrechungen, Fehlschläge und tragischen Zwischenfälle waren alle mit Leib und Seele bei der Arbeit. Alain und Anita rührten in den Gesprächen zwischen Hamlet und Ophelia zu Tränen, Hendrik bot einen fesselnden Laertes, Dana und Sir Michael beeindruckten als liebende Königin Gertrud und ehrgeiziger König Claudius. Hamlets Monolog Sein oder nicht sein machte Pippa in seiner Eindringlichkeit atemlos. Dann wurden ihre Handflächen feucht vor Aufregung – die Pantomime stand unmittelbar bevor …
Johannes Berkel und Barbara-Ellen kamen zum Requisitentisch, und Pippa übergab Johannes die Königskrone, die ihm ein wenig zu groß war.
»Da muss ich wohl noch reinwachsen«, flüsterte dieser und zwinkerte Pippa zu. Dann trat er mit seiner Königin auf die Bühne und nahm seine Position auf der Bank ein, während Alain sich zwischen den Buchsbaumtöpfen versteckte, um das Königspaar von dort aus zu beobachten.
In sparsamen, aber beredten Gesten skizzierten Barbara-Ellen und Johannes das liebende Paar, bis die Königin ihren Gemahl zum Abschied küsste und sich zurückzog. Der König legte sich auf die Seite, streckte sich der Länge nach aus und schlief ein. Alain verließ sein Versteck, sah sich betont unauffällig nach Beobachtern um und schlich dann in Richtung Bank. Als er an Pippas Tisch vorbeikam, drückte sie ihm die Requisite in die Hand, die Alain ohne hinzusehen in die Tasche seines weiten Hemdes gleiten ließ. Sein Blick war starr auf die Bank gerichtet.
Alain blieb still stehen und sah nachdenklich auf den Schlafenden, dann beugte er sich hinunter und nahm ihm die Krone ab, küsste sie und legte sie zur Seite. Pippa wusste, dass Phoebe an dieser Stelle einen triumphierenden Blick gefordert hatte, aber Alains Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Beinahe zärtlich strich er Berkels Haar zurück und legte dessen Ohr frei. Ohne die Augen von seinem Opfer zu wenden, zog er die Giftflasche aus der Hemdtasche und verharrte erneut. Als der Verschluss sich widerspenstig zeigte, sah Alain zum ersten Mal auf seine Hand und erstarrte. Er schluckte trocken, als er von Kestrings Schnupftabaksfläschchen erkannte. Er atmete heftig und beugte sich mit der Flasche über Johannes’ Ohr, um das Gift hineinzuträufeln. Seine Hand zitterte angesichts des versetzten Schnupftabaks, der herausrieselte.
Alain wankte leicht, dann ließ er die Steinflasche fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Er drehte sich jäh um, stürzte zum Turm, riss die Tür auf und rannte hinein.
Mit dumpfem Krachen fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Pippa wurde schwindelig.
Er war es tatsächlich, dachte sie erschüttert.
Die Zuschauer jubelten und klatschten, hörten aber sofort auf, da sie den erstaunten Kollegen Alains ansahen, dass die Szene nicht wie geplant verlaufen war. Gleichzeitig ertönte ein schriller Pfiff, mit dem Rebecca ihren Leuten den Befehl gab, Alain zu folgen und ihn festzunehmen.
Johannes öffnete die Augen, richtete sich auf und sah sich fragend um. Sein Blick fiel auf das Fläschchen, das vor der Bank lag. Die Erkenntnis ließ sein Gesicht versteinern. Sein Blick flog zu Barbara-Ellen, deren schockierte Miene Bände sprach. Pippa eilte zu Berkel und nahm ihn in den Arm.
»Ich war mir nicht sicher«, stammelte Johannes und klammerte sich an sie, »aber es war mir gleichgültig … ich liebe ihn trotzdem …«
Alle schraken zusammen und starrten hinauf zur Aussichtsplattform des Turms, als sie Chris oben schreien hörten: »Nein, Alain, tu das nicht! Alain! Nein!«
Pippa wurde übel, als sie den Körper an der Rückseite des hohen Turms auf den Boden prallen hörte. Johannes riss sich los und stürmte um den Turm herum, dicht gefolgt von Pippa und Rebecca.
Alain lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen, sein schönes Gesicht war unversehrt, aber unter seinem Kopf breitete sich eine Blutlache aus.
»Ruf einen Krankenwagen!«, rief Pippa Rebecca zu, aber Johannes schüttelte den Kopf.
Er kniete neben seinem toten Freund und hielt Alains leblose Hand.
»Good night, sweet prince«, murmelte Pippa. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um.
Rebecca Davis sah sie ernst an. »Der Rest ist Schweigen. Versprochen.«