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166500.jpgm nächsten Morgen konnte Pippa Carlos Kwiatkowski trotz aller Bemühungen nicht abschütteln. Seine Anhänglichkeit ließ sie permanent an Nicolas Information denken, dass er Kondome gekauft hatte. Würde er sie tatsächlich in die peinliche Lage bringen, erklären zu müssen, dass ihre Gastfreundschaft nicht die Option eines Aufenthalts im Bett der Gastgeberin beinhaltete?

Carlos begleitete sie zum Hühnerfüttern und beobachtete genau, wie Pippa aus versteckten Winkeln des Stalles Eier hervorholte.

»Frische Eier. Herrlich. Kann ich heute hier frühstücken?«, fragte er.

»Du machst den Kaffee, während ich Rowdy und Peter Paw versorge«, sagte Pippa gottergeben. »Und jetzt rück raus mit der Sprache. Was willst du wirklich?«

»Du triffst heute Smith-Bates. In Stratford. Kann ich mitkommen?«, fragte er. »Du könntest mir die Stadt zeigen.«

Die Stadt zeigen – klar. Pippa war davon überzeugt, dass Carlos nur Gelegenheiten suchte, sie über das Ensemble auszufragen, denn natürlich kannte er Stratford wie seine Westentasche. Er war ein Shakespeare-Experte, und dazu gehörte auch, Aufführungen in der Heimatstadt des Barden zu besuchen und über sie zu schreiben.

»Du kannst mich hinfahren – und dann verschwinden«, antwortete sie freundlich, aber bestimmt. »Dann spare ich mir den Bus, und du hast jede Chance, dich einer Stadtführung anzuschließen.«

Sofort wechselte er das Thema. »Was meinst du, geht da was zwischen Anita und Duncan?«

»Ich bin für die Betreuung der Gruppe zuständig – nicht ihre Anstandsdame. Mich interessiert so etwas nicht.«

Carlos schüttelte amüsiert den Kopf. »Mich schon. Klatsch und Tratsch sind die Würze meines Berufes. Zwischenmenschliches – das wollen die Leute lesen.«

»Und ich dachte, es geht dir um objektive Berichterstattung. Ich war schon fast geneigt, in dir den seriösen Theaterkritiker zu sehen.«

Kwiatkowski verschluckte sich vor Vergnügen und hustete.

»Und weil das so ist, will ich die Leute mit kleinen Leckerbissen in die Vorstellungen locken«, sagte er. »Der Eintritt zahlt sich leichter, wenn man einen Skandal gratis dazubekommt. Du siehst: Für Shakespeare tue ich alles.«

Pippa sah den Journalisten spöttisch an. »Du bist zu gut für diese Welt.«

Pippa stieg aus dem Auto und wartete darauf, dass Carlos abschloss. Sie parkten direkt an der Holy Trinity Church in Stratford-upon-Avon.

Pippa sah auf die Uhr. »Ich bin zu früh für meinen Termin bei Lysander. Du fährst um einiges rasanter als der Bus.« Sie überlegte einen Moment. »Ich gehe noch zum Grab von Shakespeare. Das tue ich immer, wenn ich hier bin.«

»Um zu kontrollieren, ob er in der Zwischenzeit umgezogen ist?«, fragte der Journalist und sah sie unschuldig an.

Pippa lachte und wandte sich zum Gehen. Über die Schulter sagte sie: »Kommst du mit? Du wolltest doch eine Führung.«

Durch das schmiedeeiserne Tor betraten sie das Kirchengelände der Holy Trinity Church und gingen über den alten Friedhof zum Eingang. Carlos blieb an verwitterten Grabsteinen stehen und suchte einen Blickwinkel, von dem aus die Kirche, die alten Weiden und die ehrwürdigen Steine ein besonders ausdrucksvolles Motiv abgaben.

Pippa betrat das Kirchenschiff ohne ihn und genoss den  Moment der Stille. Die Atmosphäre der Kirche nahm sie sofort gefangen: die reichen Schnitzereien, die farbenprächtigen Fenster und die vielen handbestickten Betkissen, die vom Eifer der Gemeindemitglieder zeugten und die  Bänke zu fast privaten Orten der inneren Einkehr machten.

Im kleinen Laden an der Eingangstür kaufte sie ein paar Postkarten, setzte sich in eine Bankreihe und schrieb an Lisa und Sven.

Carlos tippte ihr auf die Schulter und ging dann wortlos an ihr vorbei zur Sperre, um den kleinen Obolus zu bezahlen, der ihnen den Zugang zu Shakespeares Grabstätte erlaubte. Eine einzelne rote Rose lag auf der grauen Platte. Carlos zückte seine Kamera und schoss ein Foto, auf dem nichts als ein Teil der dunkelroten Blüte und der Name Shakespeare zu sehen war.

»Der Sage nach ist Shakespeare in sieben Metern Tiefe beigesetzt, um ihn vor Grabräubern zu schützen«, sagte Pippa. »Aber wer sollte Interesse haben …«

»Wenn da unten wirklich noch verschollene Handschriften von Shakey lagern, dann würde ich mich gerne bis zu ihm durchbuddeln«, unterbrach Carlos sie sofort. »Und wenn ich nichts anderes fände als seinen Schädel, könnte ich den immer noch als erstklassige Requisite für Hamlet-Aufführungen vermieten.«

Pippa lachte. »Keine Angst vor der Warnung auf dem Grabstein?«

»Du guter Freund, tu’s Jesus zu Gefallen und wühle nicht im Staub, der hier verschlossen. Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine. Und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine«, zitierte Carlos ohne hinzusehen und wurde unversehens ernst. »Sieh dich vor, Hasso von Kestring«, sagte er leise, »und geh respektvoll mit … Hamlet um, sonst wird der Fluch dich treffen.«

Langsam schlenderten sie am Avon entlang, bis sie die Theater vor sich liegen sahen. An der Kurbelfähre, die den Sommer über den Fluss querte, gingen sie durch den Theatergarten bis zur Straße und weiter zum Festivalbüro. Links standen Häuschen aus rotem Klinker und mit bleiverglasten Fenstern, manche direkt an der Straße, andere mit einem schmalen Vorgarten.

An dem winzigen zweistöckigen Doppelhaus, in dem Lysanders Büro untergebracht war, verabschiedete sich Carlos.

»Ich sehe mir die Nachmittagsvorstellung an. Romeo und Julia. Wir treffen uns dann später am Auto.«

Er winkte kurz und ging zielstrebig weiter in Richtung Theater. Pippa wollte ihm gerade nachrufen, dass die Vorstellungen seit Wochen ausverkauft seien, als sie sich neidvoll an Carlos’ Presseausweis erinnerte, der ihm problemlos alle Türen öffnen würde. Sie beobachtete, wie er im Eingang zum Swan Theatre verschwand, und zwang sich, sich wieder an den Grund ihres Besuchs zu erinnern.

Der Platz der Sekretärin war unbesetzt und die Tür zum angrenzenden Büro einen Spalt geöffnet. Bevor Pippa sich bemerkbar machen konnte, hörte sie Lysanders Stimme und zögerte.

»Mir fehlt immer noch ein Kapitel über dein Privatleben, Michael«, sagte er gerade. »Die Leute wollen auch etwas über den familiären Michael Hornsby erfahren. Das musst du doch verstehen.«

»Ich möchte, dass meine Biographie strikt beruflich bleibt«, hörte Pippa Sir Michael antworten.

»Aber …«

»Kein Aber«, beharrte Sir Michael freundlich, aber bestimmt. »Mein Privatleben hat niemanden zu interessieren, es geht nur um meine Arbeit als Schauspieler.«

»Deine Biographie sollte mehr sein als nur eine Auflistung deiner Erfolge«, sagte Lysander.

»Und du meinst, mein Privatleben ist ein Misserfolg und muss deshalb unbedingt erwähnt werden?« Sir Michaels Stimme klang müde.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber es wird doch irgendetwas geben, das erwähnenswert wäre, ohne dass …«

»Bitte akzeptiere meinen Wunsch«, fiel Sir Michael Lysander ins Wort. »Entweder das Buch erscheint so, wie es ist – oder gar nicht.«

Ich muss mich unbedingt bemerkbar machen, dachte Pippa und sagte: »Hallo? Ich möchte nicht stören, aber …«

»Pippa, kommen Sie doch bitte herein!«, rief Lysander und kam zur Tür, um sie in Empfang zu nehmen. »Meine Vorzimmerdame ist beim Zahnarzt, die Ärmste, deshalb …«

Mit einer Handbewegung bat er Pippa in sein Büro. Sir Michael erhob sich höflich, um Pippa zu begrüßen, während Lysander einen zweiten Stuhl holte.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.

»Ich kann später noch einmal wiederkommen«, bot Pippa an. »Ich laufe gern noch ein wenig durch die Stadt.«

»Wir haben alles geklärt. Lassen Sie uns lieber über Sie sprechen. Wie gefällt Ihnen die Arbeit mit den Schauspielern? Ich hörte, der Ausflug am letzten Sonntag war recht abenteuerlich?«

»Debbie!«, sagte Pippa. »Sie hat alles brühwarm erzählt.«

»Nicht nur. Auch unser geschätzter Michael hat die Blessuren seiner Kollegen bemerkt.«

»Die waren ja auch nicht zu übersehen«, sagte dieser. »Um ehrlich zu sein, habe ich mich ein wenig geärgert, dass ich nicht dabei war. Wann hat man schon mal eine bühnenreife Schlägerei in authentischer Kulisse – köstlich.« Er sah nachdenklich aus dem Fenster. »Ich bewundere Hettys Mut, noch einmal ganz neu anzufangen. Für meinen Ruhestand wünsche ich mir auch einen Ort, an dem ich mich heimisch fühlen kann. Einen Ort wie Hideaway.« Nach ein paar Sekunden Pause stand er auf und sagte: »Wie dem auch sei. Ich lasse euch jetzt allein. Bis morgen, Pippa.«

Smith-Bates begleitete Sir Michael aus dem Raum, und Pippa beobachtete durch die Bürotür, wie sich die beiden Männer in einer exakt gleichen Geste über ihr Haar strichen, nachdem sie sich zum Abschied die Hand geschüttelt hatten. Da kann man mal sehen, dachte Pippa, wie intensive Zusammenarbeit aufeinander abfärbt. Hoffentlich fange ich durch die Nähe zu von Kestring nicht eines Tages mit Schnupftabak an …

Die Formalitäten waren schnell erledigt, und Pippa war glücklich, dass Lysander ihr für das Unterhaltungsprogramm der Gruppe freie Hand ließ.

»Und jetzt gehen wir essen«, sagte Lysander, nachdem sie die Geldangelegenheiten geklärt hatten.

Gleich neben dem Festivalbüro befand sich das berühmte Dirty Duck, in dem die Akteure der Royal Shakespeare Company nach den Vorstellungen in Stratfords Theatern einzukehren pflegten, um einen Absacker zu trinken, die Vorstellungen des Tages zu diskutieren und mit dem begeisterten Publikum zu plaudern.

Lysander und Pippa holten sich ihre Getränke am Tresen und ergatterten einen Tisch am Fenster.

»Und jetzt erzählen Sie, Pippa. Wie gefällt Ihnen der Job? Ich möchte alles wissen.« Smith-Bates erhob das Glas. »Aber vorher: Ich bin Lysander.«

Pippa nickte zögernd. Sie fand die Vorstellung seltsam, Debbies Vater nach all den Jahren plötzlich beim Vornamen zu nennen. Sie stieß mit ihm an und sagte: »Lysander ist ein so schöner Name.«

»Nicht, wenn man ihn trägt«, parierte Smith-Bates trocken, »und besonders nicht bei einer Mutter wie Phoebe, die Wert darauf legte, jedem zu erzählen, dass ich das Ergebnis einer Mittsommernacht bin – und deshalb gar nicht anders heißen konnte.«

»Das sieht ihr ähnlich!« Pippa lachte. »Ich habe deine Mutter immer für ihre Ehrlichkeit und ihren Mut bewundert. Es kann nicht einfach gewesen sein, dich nach dem Tod deines Vaters allein aufzuziehen.«

»Für wen: für sie oder für mich?«, fragte Lysander und trank sein Glas in einem Zug aus. »Ich hole uns jetzt beiden noch einen Cider, und dann erzählst du.«

Pippa biss sich auf die Lippen. Ich sollte mir angewöhnen zu denken, bevor ich rede. Der unerwartete Freitod des erfolgreichen Schauspielers Dorian Bates hatte in den Fünfzigern die Boulevardblätter bewegt, war aber später weder von Hetty noch Phoebe jemals wieder erwähnt worden. Stattdessen hatten beide versucht, den Jungen vor dem Mitleid anderer zu beschützen.

Als Lysander zurückkam, räusperte Pippa sich verlegen. »Es tut mir leid. Ich bin ein Trampel. Ich wollte nicht …«

Lysander winkte ab. »Das ist lange her. Mein Vater konnte sich ein Leben ohne das Theater nicht vorstellen, aber er hielt den Druck der Öffentlichkeit nicht aus. Was glaubst du, weshalb ich Theater organisiere, statt selbst zu spielen?« Lysander hob sein Glas. »Auf alle, die jeden Abend auf der Bühne … ihr Leben für uns wagen.«

»Und auf die Leute im Hintergrund, durch die das Wagnis Plan und Farbe bekommt«, sagte Pippa.

Lysander nickte. »Auf die Bühnenbildner, Schneiderinnen, Beleuchter, Musiker, Kartenverkäufer …«

»… und gewissenhafte Regisseure.« Pippa stieß mit Lysander an und hatte das köstliche Gefühl, sich einmal in ihrem Leben in die lange Reihe all derer stellen zu dürfen, die eine Produktion erst möglich machten.

»Die Mitarbeit an diesem Projekt gefällt mir gut«, sagte sie, »Ehre und Vergnügen zugleich, wann hat man das schon? So nah mitzuerleben, wie eine Produktion entsteht, so eng mit den Schauspielern arbeiten zu dürfen …«

»Gibt es sprachliche Schwierigkeiten? Die Stipendiaten kommen ja immerhin aus ganz Europa.«

»Alles halb so wild. Ich übe mit Anita Unterweger, aber mehr weil sie unsicher ist, als dass sie es wirklich nötig hätte. Duncan allerdings …« Pippa lächelte, als sie an den harten Akzent des jungen Schauspielers dachte. »Dass er Schotte ist, kann man beim besten Willen nicht überhören, aber ich mache mir keine Sorgen. Irgendwie passt es zu seiner Rolle. Außerdem ist er sehr motiviert und trainiert buchstäblich Tag und Nacht.«

»Und die Stimmung im Ensemble?«

»Du spielst auf den Ausflug an«, sagte Pippa, und Lysander nickte.

»Ich denke«, fuhr Pippa fort, »dass Duncan und Hendrik einfach zu viel getrunken hatten. Revierkämpfe. Sie sind sich noch fremd, suchen ihre Position in der Gruppe und wollen den Damen imponieren. Sie kapieren schon noch, dass es hier um Teamarbeit geht.«

Die Bedienung brachte die bestellten Fish & Chips an den Tisch und unterbrach so die angeregte Unterhaltung. Sie aßen schweigend, bis Lysander den Gesprächsfaden wieder aufnahm.

»Du hast noch nichts über von Kestring erzählt. Was hältst du von seiner Arbeit?«

Pippa zuckte innerlich zusammen und suchte nach Worten. Verdammt, dachte sie, warum soll ich eigentlich diplomatisch sein? Sie sah Lysander an und fragte: »Warum habt ihr ihn ausgewählt?«

»Deutschland war an der Reihe, ein Stück zu inszenieren. Vorgabe der Europäischen Union.«

»Aber ausgerechnet von Kestring? Er ist nicht gerade das kleinste von vielen Übeln unter den deutschen Theaterregisseuren.« Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich. »Allesamt überbezahlte Verschwender von Steuergeldern.«

Lysanders Mundwinkel zuckten. »Und das weißt du so genau, weil …«

»Weil ich als Publikum die Leidtragende bin. Wie oft bin ich schon in der Pause gegangen! Ich will das Original hinter der eitlen Regie wenigstens erahnen können – aber viele inszenieren, als wären sie selbst die Zielgruppe und nicht das zahlende Publikum. Ich verdiene nicht genug Geld, um es zu verplempern. Ich muss für jeden Theaterbesuch lange sparen. Und jetzt ausgerechnet dieser von Kestring – es muss doch Alternativen gegeben haben. Ein solches Elend hat Shakespeare nicht verdient.«

Smith-Bates wich ihrem Blick aus. In seinem Gesicht arbeitete es, als wollte er einen schweren Monolog beginnen.

Schließlich sagte er: »Ich weiß, dass du das, was ich dir jetzt sage, vertraulich behandeln wirst, Pippa.«

Was kommt denn jetzt?, dachte sie und nickte.

Er räusperte sich, bevor er weiterredete. »Er war der einzige Bewerber. Wir hatten keine Wahl.«

»Was? Weiß von Kestring …?«

Lysander schüttelte den Kopf. »Er denkt, sein Konzept hätte uns überzeugt.«

»Natürlich denkt er das.« Pippa verdrehte die Augen. »Typisch Hasso. Das erklärt einiges. Großartig. Jetzt kann ich endlich wieder ruhig schlafen.«

Smith-Bates lachte leise. »Du hattest also schon an Sir Michaels und meinem Verstand gezweifelt? Kein Wunder, das hätte ich an deiner Stelle wohl auch getan.«

»So hart würde ich es nicht formulieren, aber …«

Er winkte ab. »Kein Grund, dich zu entschuldigen, Pippa. Hauptsache, ich bin rehabilitiert. Übrigens, wenn du eine Theaterkarte für die Royal Shakespeare Company benötigst, sag einfach Bescheid, ja? Ich komme immer an Karten.« Lysander zwinkerte ihr zu. »Sogar für Hamlet Reloaded

Auf der Rückfahrt nach Hideaway war Carlos Kwiatkowski bester Laune. Er summte die Lieder aus dem Radio mit, und seine Finger trommelten den Rhythmus auf dem Lenkrad.

»Die Vorstellung war gut?«, fragte Pippa.

»Großartig!«, antwortete Kwiatkowski enthusiastisch. »Romeo und Julia – die schönste Liebesgeschichte der Welt.«

»Hast du diese Inszenierung zum ersten Mal gesehen?«

»Natürlich nicht, aber …« Er holte krampfhaft Luft und nieste. »Sieht aus, als hätte ich mich erkältet, verdammt.« Er nieste wieder. »Pippa, sei doch so nett … ich habe in meiner Jackentasche Vitaminpillen, hinten auf der Rückbank.«

Pippa drehte sich um und angelte nach seiner Lederjacke. »Rechte oder linke Tasche?«

»Rechts, glaube ich.« Wieder nieste er heftig, diesmal mehrmals nacheinander.

»Du solltest lieber eine frische Hühnersuppe essen und früh ins Bett gehen. Diese Pseudo-Vitamine sind völliger Blödsinn«, sagte Pippa, während sie in die rechte Jackentasche griff. Sie ertastete etwas, das sich wie das Plastikfläschchen mit den Pillen anfühlte.

Als sie es herauszog, fiel eine aufgerissene Kondompackung auf den Rücksitz. Hastig stopfte Pippa sie zurück.

Wenn Carlos nicht die Angewohnheit hat, die Dinger als Trophäen herumzuschleppen, dachte sie, dann hatte er heute Nachmittag eine Privatvorstellung, aber bestimmt nicht im Theater.

Am Abend saß Pippa mit einer Tasse Tee auf Hettys Samtsofa, als das Telefon läutete. Sie versuchte, Peter Paw von ihrem Schoß zu schieben, aber der rote Kater fuhr die Krallen aus und verhakte sich im weichen Stoff des Kaftans. Bis Pippa jede Kralle einzeln herausgezogen und Paw unsanft auf den Fußboden gesetzt hatte, sprang bereits der Anrufbeantworter an, und Hettys Stimme erklang: »Guten Abend, Dear, hier ist deine Großmutter. Du bist bestimmt ins Pub …«

Pippa hechtete zum Apparat. »Grandma? Ich bin da! Paw war ein wenig widerspenstig …«

Hetty erzählte, wie gut es ihr in Berlin gefiel und dass der Hinterhof der Transvaalstraße optimal geeignet sei, Bastard und seinem Weibsvolk ein neues Zuhause zu bieten. Statt eines Hühnerstalls hatte Ede Glassbrenner aus dem 1. Stock eine Hühnerleiter vom Hof in den Gemeinschaftskeller vorgeschlagen, um es den Tieren dort gemütlich zu machen.

»Übrigens«, sagte Pippa, »Sir Michael lässt dich grüßen. Er würde sich gerne in Hideaway niederlassen, hat er mir gesagt.«

»In Hideaway? Tatsächlich?«

»Falls du dich für Berlin entscheidest, wäre er da nicht der richtige Käufer für dein Cottage?«

»Findest du?«

Moment mal, dachte Pippa, ist das alles? Nur: Findest du? Behagt ihr einfach der Gedanke doch nicht, das Haus endgültig in andere Hände zu geben? Oder nur nicht in Sir Michaels?

»Ich würde sofort nach Hideaway ziehen. Ich kann Sir Michael gut verstehen«, sagte Pippa.

Sogar durch das Telefon spürte sie, dass ihrer Großmutter dieses Gesprächsthema unangenehm war – zu lange dauerte das Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Möchtest du deine Mum noch sprechen, Dear?«, fragte Hetty endlich, aber Pippa ließ nicht locker.

»Raus mit der Sprache. Du verheimlichst mir etwas. Hast du Schulden auf dem Haus? Hast du es heimlich schon verkauft? Hat es mit Phoebe zu tun?«

Hetty Wilcox’ Lachen klang unecht. »Unsinn, Liebes, kein Geheimnis. Ich habe Phoebe nur vor langer Zeit ein Mitspracherecht erteilt. Schriftlich. Sie muss jedem Verkauf zustimmen. Nach Mick dürfte ich sie niemals fragen.«