27.jpg

166888.jpgei Janne ist besetzt?«, fragte Freddy, als er seine Schwester halblaut schimpfen hörte.

Pippa legte auf und nickte. »Wie immer! Wahrscheinlich telefonieren die Zwillinge mit einem Verehrer, der nach zig Treffen noch nicht kapiert hat, dass es sich bei seiner Angebeteten um ein Doppelpack handelt.«

»Die beiden teilen eben alles. Das ist echte Geschwisterliebe.«

»O bitte – nimm dir Leo, wenn du ihn willst.«

Freddy verzog das Gesicht und stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er zu Barbara-Ellen eilte, um ihr das Tablett mit dem benutzten Frühstücksgeschirr abzunehmen.

»Ich hoffe, deine Bekannte findet Lysander. Es macht mich nervös, dass er sich nicht meldet. Trotzdem halte ich Michaels Idee, er könnte sich irgendwo versteckt halten, für völlig absurd.« Barbara-Ellen schauderte sichtlich. »Ich glaube keinen Augenblick lang, dass er Hasso … Außerdem war Lysander längst nicht mehr hier, als es passierte.«

»Aus Sicht der ermittelnden Behörden macht ihn gerade das höchst verdächtig«, bemerkte Freddy. »Gut versteckt ist halb gemordet!«

Pippa warf ihm einen warnenden Blick zu, um ihn daran zu erinnern, dass er sich Bemerkungen dieser Art gegenüber der Leidtragenden der beiden Morde verkneifen sollte.

»Es spielt keine Rolle, ob Lysander zum Todeszeitpunkt hier war oder nicht«, sagte sie. »Laut Untersuchungsergebnis befand sich das flüssige Nikotin am Boden des Fläschchens und hat sich erst durch ständige Bewegung mit dem Rest vermischt. Es konnte lange dauern, bis Hasso die tödliche Dosis konsumierte. Außerdem hatte jeder von uns Hunderte von Gelegenheiten, den Inhalt des Schnupftabaksfläschchens zu manipulieren.«

»Lysander hatte doch gar kein Motiv«, warf Freddy ein. »Was wäre schon so schrecklich daran, wenn die Welt erfährt, dass er Sir Michaels Sohn ist?«

»Das kann ich dir sagen!«, sagte eine Stimme von der Haustür her. Phoebe zog den Windschutzvorhang zur Seite und schloss die Tür hinter sich.

»Phoebe, du musst unbedingt damit aufhören, dich so anzuschleichen«, tadelte Pippa und fügte in Gedanken hinzu: Und ich sollte mir merken, dass sie noch immer einen Schlüssel hat und nicht gewohnt ist zu klingeln.

Wie die anderen wartete sie darauf, dass Phoebe Smith-Bates weiterredete, und schließlich sagte diese: »Nach Dorians Freitod hat Lysander unter der Berichterstattung ebenso gelitten wie ich. Es gab eine Flut von unschönen Spekulationen und Artikeln. Er würde es niemals zulassen, dass das Andenken seines Ziehvaters noch einmal in den Schmutz gezogen wird.«

»Oder du noch einmal derartig in die Schusslinie der Presse gerätst«, ergänzte Pippa. »Außerdem: Es wäre ein gefundenes Fressen für die Medien. Zwei Männer arbeiten monatelang gemeinsam an der Biographie des einen, ohne zu wissen, dass sie beide hineingehören.«

»Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass ich es bin, die es den beiden sechs Jahrzehnte lang verschwiegen hat.« Phoebe dachte einen Augenblick nach. »Die Erklärung ist denkbar einfach: Dorian war da, als ich merkte, dass ich schwanger bin. Als alleinerziehende Mutter Karriere machen? Damals? Undenkbar.«

»Ihr habt euch gegenseitig geholfen«, sagte Barbara-Ellen.

»Mehr als das. Ich war nicht allein, und das Kind erstickte alle Gerüchte über Dorians Homosexualität im Keim.« Phoebe lächelte in dankbarer Erinnerung an ihren Mann. »Auch wenn es sich nach Zweckehe anhört: Wir haben uns geliebt und geachtet.«

»Was ich nicht verstehe …«, Freddy kratzte sich am Kopf, »warum hast du Sir Michael damals nicht einfach gesagt, dass du ein Kind bekommst?«

Phoebe winkte ab. »Unsere Zusammenarbeit war längst beendet, und er hatte ein lukratives Engagement in New York. Er kam erst zurück, als unser gemeinsamer Sommernachtstraum seinen eigenen Lysander hatte und er selbst mit einer reichen Gönnerin verlobt war.«

»Eigener Lysander?«, fragte Freddy verwirrt.

»Eine Figur aus dem Sommernachtstraum«, erklärte Barbara-Ellen. »Ein jugendlicher Liebhaber. Ein wenig wie Sie, Freddy.«

Freddys Verwirrung wuchs. »Verfressen?«

»Nee, trottelig!«, sagte Pippa lachend und kassierte dafür tadelnde Blicke von Barbara-Ellen und Freddy, die sie geflissentlich ignorierte. »Ehrlich, Phoebe – du hättest Sir Michael schreiben können. Auch damals gab es internationalen Briefverkehr.«

Die alte Dame nickte. »Aber auch schon meinen Ehrgeiz und meinen … Stolz.«

Von der weiteren Unterhaltung bekam Pippa nichts mehr mit, denn die Verbindung mit Janne kam zustande. Sie ging mit dem Telefon in den Garten, um ungestört reden zu können. Peter Paw strich ihr um die Beine, bis sie sich auf die Bank am Rosenspalier setzte, um die milde Morgensonne zu genießen. Der Kater sprang elegant auf ihren Schoß und machte es sich dort gemütlich. Froh, ihn wohlbehalten zurückzuhaben, streichelte Pippa sein weiches Fell, was ihm tiefes Schnurren entlockte.

Nach einer kurzen Begrüßung kam Pippa direkt zur Sache. »Und jetzt brauche ich die Janne, die als Kulturjournalistin beim Flämischen Auslandsfunk arbeitet«, schloss Pippa. »Aktiviere bitte deine Kontakte und finde Lysander Smith-Bates. Und das möglichst schnell.«

»Der schicke Mr Smith-Bates ist verschollen? Das Urbild des britischen Gentleman? Ich habe ihn vor drei Jahren einmal in Brüssel interviewt. Frisch geschieden.« Janne schnalzte mit der Zunge. »Ist eine neue Frau im Spiel?«

Ich wollte die Journalistin – ich kriege die Journalistin, dachte Pippa ergeben. »Nein, nein«, wiegelte sie ab, »sorg einfach dafür, dass er seine Mutter anruft. Oder mich. Wir wollen ihn erreichen, bevor er die Neuigkeiten über sein Festival aus der Zeitung erfährt. Noch hält die Presse still.«

»Ich versuche, was möglich ist, versprochen. Aber wenn die Presse nicht mehr stillhalten muss …«

»Kriegst du von mir alles aus erster Hand. Besser du als jemand anderer. Und wenn du schon dabei bist: Ich wüsste gern mehr über die Knowledge Company aus Vredendal in den Niederlanden und über Alain Bettencourts Agentur.«

Janne zog scharf die Luft ein. »Alain Bettencourt: der Mann, der selbst aus der Liste der schönsten Männer des Jahrzehnts herausragt?«

»Genau der«, antwortete Pippa.

»Meine Mädchen und ich verpassen keine Folge seiner Soaps. Seine erste Serie hieß Die Liebenden des Weltalls. Keine Sternstunde des Fernsehuniversums, aber Alain überstrahlte seine Kollegen wie eine Supernova. Dann kam Ich bin anders, da gehörte er schon zu den Hauptdarstellern. Schließlich hat er seine eigene Serie bekommen: Born to be sweet. Was nicht zu leugnen ist. Und dieser Typ ist bei euch?«

»Und spielt den Hamlet«, sagte Pippa.

»Sprechen kann er also auch«, stellte Janne fest. »Dann mache ich mich mal an die Arbeit. Ich nehme an, ich tue das hier für Ruhm und Ehre?«

»Und für eine Fahrkarte nach Stratford zur Premiere – wenn es die dank deiner Hilfe jemals geben sollte«, sagte Pippa.

»Bekomme ich das private Abendessen mit Bettencourt vor- oder nachher?«

Als Pippa wieder ins Haus kam, saßen Rebecca Davis und Sir Michael mit Phoebe im Wohnzimmer. Rebecca klimperte auffordernd mit ihrem Autoschlüssel, und Pippa fiel ihr Versprechen ein, mit Freddy die noch fehlenden Tankstellen abzuklappern. Freddy nahm ohne Murren den Schlüssel und verkündete, er warte draußen.

»Ich komme sofort. Ich hole nur noch ein paar Unterlagen und eine dickere Jacke«, sagte Pippa und lief auf ihr Zimmer.

Während Pippa noch einmal durch die Dossiers blätterte und nach der Adresse des Gloucestershire Echo suchte, hörte sie von unten Rebeccas klare Stimme: »Ich möchte mit Ihnen beiden über Lysander Smith-Bates reden. Wie weit wäre er bereit zu gehen, um seine Familie zu schützen?«

»Nicht bis zu Mord«, antwortete Phoebe. »Und nicht wegen eines Hasso von Kestring.

»Lysander und ich haben von Kestring unterschätzt«, sagte Sir Michael, »wir hielten ihn für einen aufgeblasenen Gockel, harmlos in seiner Eitelkeit. Wir dachten, er will mit einer internationalen Inszenierung nur sein Image aufpolieren. Aber auch da haben wir uns getäuscht. Der Mann hatte so viel Angst, in Vergessenheit zu geraten, dass er alles getan hätte, um sein übersteigertes Ego mit uns zu messen.«

»Zum Beispiel?«, hakte Rebecca nach.

»Erpressung.«

Phoebe zog die Augenbrauen hoch. »Dich?«

Sir Michael nickte. »Und Lysander.«

»Genauer, bitte«, forderte Rebecca. »Schließlich haben Sie sich den Herrn freiwillig ausgesucht.«

»Freiwillig? Keiner von uns hätte diesen Mann ausgesucht«, erwiderte Sir Michael, »aber Deutschland war an der Reihe. Dieses völlig überbewertete Regietheater, dessen Zeit längst vorüber ist! Da kann man ja fast nur zwischen Teufel und Beelzebub wählen. Deshalb dachten wir, das ist zu schaffen. Er ist zu schaffen. Außerdem …« Er brach ab.

»Außerdem? Sir Michael, bitte, ich muss alles wissen.«

Hornsby nickte widerstrebend. »Kwiatkowski hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit von Kestring sich bewirbt … und nur von Kestring. Es … gab ihm die Gelegenheit, Zeit mit Barbara-Ellen zu verbringen. Er sicherte mir zu, von Kestring so schnell wie möglich zu entsorgen, wie er es formulierte. Und später, wenn die deutsche Periode vorbei wäre …«, er warf Phoebe einen verlegenen Blick zu, »… dann wollten wir Phoebe überreden, die Regie zu übernehmen.«

Phoebe schüttelte fassungslos den Kopf. »Ihr auch? Ist es meine liebenswürdige Art, mein fester Charakter oder die Haare auf meinen Zähnen, die mich für die Rolle des Teufels empfehlen?«

Ohne darauf einzugehen, fuhr Sir Michael fort: »Lysander wollte seine Mutter endlich wieder aktiv sehen und ich noch einmal mit ihr arbeiten … und wieder in Kontakt kommen.«

Verdammt, ich kann Freddy nicht länger warten lassen, dachte Pippa, steckte die Adresse in ihre Handtasche und ging langsam nach unten. Immer wenn es spannend wird, muss man gehen. Es sei denn, man muss einem armen, übergewichtigen Kater noch eine lebenswichtige Notration geben … Sie beschloss, sich ausgiebig der Reinigung der Katzennäpfe zu widmen und weiter die Ohren zu spitzen.

»Damit ich das richtig verstehe«, sagte Rebecca Davis, »Sie haben das Engagement nur angenommen, um den Regisseur rauswerfen zu können und anschließend …«

Sir Michael unterbrach die Kommissarin leicht verlegen: »… Phoebe an seiner Stelle einzusetzen.«

»Und Carlos Kwiatkowski hat Sie unterstützt, um seinen eigenen Plan in die Tat umzusetzen. Aber dann ist alles schiefgegangen.«

Sir Michael nickte und atmete tief durch. »Dieser von Kestring war nicht so dumm, wie wir dachten. Der hat irgendetwas gewittert und seinen Schnüffler Rossevelt durch die Archive gejagt, um alles über Lysander und mich herauszufinden. Er hat auch etwas von einem Computerprogramm gefaselt, mit dem aufgrund von physischen Ähnlichkeiten die prozentuale Wahrscheinlichkeit von Verwandtschaft errechnet werden kann – und dass er es erfolgreich auf Lysander und mich angewendet hat.«

Rebecca Davis sah ihr Gegenüber forschend an. »Und wie wollte er sein Wissen vermarkten?«

»Ich sollte mit ihm auf Tournee gehen! Er und ich gemeinsam als Retter der Theaterwelt. Ein Alptraum.« Sir Michael stöhnte. »Ich bot ihm stattdessen Geld für sein Schweigen, aber er lachte mich aus. Als Nächstes ging er dann zu Lysander.«

»Deshalb gerieten Lysander und Sie in Streit«, sagte Rebecca Davis.

»Lysander warf mir vor, ich wolle das Andenken seiner Eltern beschmutzen. Er glaubte, ich hätte einer DNA-Analyse zugestimmt. Ich hasste von Kestring für das, was er angerichtet hat.« Er schwieg einen Moment und sagte dann hastig: »Deshalb fasste ich den Entschluss, von Kestring zu töten.«

Beinahe wäre Pippa der Napf aus der Hand gefallen, aber Phoebe brach in Gelächter aus und rief: »Was für ein Blödsinn! Du könntest dir nicht einmal direkt neben einem vollen Fass ein Glas Cider organisieren – geschweige denn, flüssiges Nikotin besorgen! Du bist außerhalb des Theaters völlig hilflos.«

Sir Michael protestierte nicht, und man sah ihm an, dass Phoebe mit dieser Charakterisierung ins Schwarze getroffen hatte.

Phoebe wurde wieder ernst, und ihr Gesicht bekam einen sanften Ausdruck. »Du denkst, Lysander hat von Kestring auf dem Gewissen und ist untergetaucht. Deshalb willst du ihn decken. Du hast tatsächlich mehr Vatergefühle als ich mütterliche – mir wäre so etwas nicht im Traum eingefallen. Jetzt sag der netten Kommissarin, dass du es natürlich nicht warst, und dann gehen wir beide endlich proben. Aber sieh dich vor: Shakespeare und ich führen ein strenges Regiment.«

Sir Michael wirkte in Sekundenschnelle um Jahre jünger. Er strahlte und küsste Phoebe die Hand, die seinen fragenden Blick mit einem Nicken beantwortete.

Pippa ging auf Zehenspitzen an dem Paar auf dem Sofa vorbei und zwinkerte Rebecca zu.

»Diese Schauspieler schaffen mich«, flüsterte Rebecca und verdrehte die Augen. »Kann mir jemand sagen, was ich jetzt machen soll?«

»Einfach gehen«, flüsterte Pippa zurück, »hier ist der Vorhang gefallen.«

»Da bist du ja schon«, sagte Freddy enttäuscht, als Pippa die Beifahrertür öffnete. »Wir haben uns gerade so nett unterhalten.«

Pippa beugte sich vor und sah Barbara-Ellen auf dem Rücksitz, die fragte: »Du hast doch nichts dagegen? Ich möchte mit nach Cheltenham. Ich möchte helfen.«

Freddy lenkte den Wagen sicher über die engen Straßen der hügeligen Landschaft. Nur auf wenigen Feldern lag noch Schnee, überall sonst war er der milden Witterung der letzten Tage gewichen. An den Straßenrändern blühten bereits die ersten Schneeglöckchen.

»Hier ist es wunderschön, sogar im Winter«, sagte Barbara-Ellen plötzlich und durchbrach das Schweigen. »Ich möchte nicht zurück nach Berlin. Dort wartet nichts als eine leere Wohnung auf mich. Ich habe keinen weiteren Vertrag gemacht, weil ich für die Zeit nach Stratford …« Ihre Stimme wurde unsicher, und sie räusperte sich. »Denkt ihr, eure Großmutter würde mir das Cottage vermieten, wenn sie in Berlin bleibt?«

»Ich kann sie ja mal fragen«, antwortete Pippa und hielt sich hastig am Haltegriff der Tür fest, da Freddy eine Tankstelle entdeckt hatte und ohne Vorwarnung mit quietschenden Reifen von der Straße auf die Auffahrt bog.

Auf das Foto von Kwiatkowski hin schüttelten die beiden Mitarbeiter synchron den Kopf, und Freddy kaufte die aktuelle Ausgabe des PaperRazzi, um Barbara-Ellen ein wenig aufzumuntern. Die Schauspielerin blätterte durch das Magazin und rief dann: »Das ist doch Alain! Hier steht, dass Born to be sweet abgesetzt wird. Die Einschaltquoten sind im Sinkflug.«

»Dann wäre der schöne Alain Bettencourt ohne das Stipendium also arbeitslos«, sagte Freddy.

»Das hat er aber ganz anders erzählt«, murmelte Pippa und dachte: Das Stipendium war nicht nur eine Sprosse auf seiner Karriereleiter, es sollte die Karriere sichern …

In der Bibliothek des Hotels herrschte aufgeregtes Stimmengewirr, nachdem das Ensemble von Phoebe und Sir Michael erfahren hatte, dass die Proben wieder aufgenommen wurden. Bis auf Hendrik waren alle erfreut, dass Phoebes Rollenverteilung der ursprünglichen entsprach.

Rebecca Davis hatte einige Mühe, sich Gehör zu verschaffen, und räusperte sich mehrmals laut. Schließlich war sie sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher und sagte: »Auch ich habe noch zu arbeiten. Deshalb möchte ich Sie nacheinander um Einzelgespräche bitten.«

»Einzelgespräche!« Hendriks Stimme troff vor Geringschätzung. »Was für eine typisch britische Umschreibung für Verhöre.«

»Ich sagte Gespräche, Herr Rossevelt«, sagte Rebecca ruhig. »Für Vernehmungen beordere ich Sie auf mein Revier. Hier und jetzt möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.« Sie sah in die Runde und nickte Anita zu. »Frau Unterweger, kommen Sie bitte mit?«

In ihrem Zimmer im ersten Stock lief Anita nervös auf und ab. »Es ist schrecklich. Aber immer wenn wir proben, vergesse ich sofort, dass es zwei echte Tote gegeben hat. Tote, die am Ende des Stückes nicht wieder aufstehen.«

»Hatten Sie von Kestrings Schnupftabaksfläschchen mal in der Hand, Frau Unterweger? Oder jemanden gesehen, der damit hantierte?«, fragte Rebecca.

»Wir alle hatten es mal in der Hand. Von Kestring ließ es immer irgendwo liegen, und jeder, auch ich, hat es ihm schon einmal zurückgebracht. Wohl auch, um ihn bei Laune zu halten.« Sie dachte angestrengt nach. »Ach ja, und manchmal hat er … Hendrik zu einer Prise eingeladen.«

Ihr Tonfall weckte Rebeccas Aufmerksamkeit. »Sie mögen Herrn Rossevelt nicht?«

Anita schüttelte sich. »Er ist einer von diesen Männern, die sich für unwiderstehlich halten und glauben, man ziert sich nur, um ihn zu locken. Durch die Nähe zu von Kestring wurde es noch schlimmer. Noch ein paar Wochen, und die beiden hätten sich gegenseitig doubeln können.«

»Dann brauche ich Sie wohl nicht zu fragen, ob Sie gern mit von Kestring gearbeitet haben?«

»Ich weiß nicht. Ich kam mir so dumm vor.« Anita lächelte. »Ich habe ein Stück bisher immer gespielt … wie es geschrieben wurde. Aber von Kestring sagte, der Text sei nur ein Vorschlag, und es läge am Regisseur und der Willfährigkeit der Schauspieler, was daraus wird. Er sagte, Hamlet müsse nicht jedes Mal sterben – wichtig sei, einen Weg zu finden, seine Ideen zu verwirklichen.«

»Wessen Ideen? Hamlets? Oder Shakespeares?« Rebecca Davis konnte sich die Frage nicht verkneifen.

»Von Kestrings Ideen, natürlich«, antwortete Anita ernsthaft.

Natürlich, dachte Rebecca Davis und kehrte zum eigentlichen Thema zurück.

»Mit wem hatte von Kestring am meisten Kontakt – außer mit seiner Frau?«

Anita trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Das … das habe ich nur mitbekommen, weil sein Zimmer gegenüber von meinem liegt. Ob ich wollte oder nicht. Ich bin nicht neugierig.«

»Wer?«, beharrte Rebecca trotz Anitas Unbehagen, vermeintlich indiskret sein zu müssen.

»Dana ist häufig mit ihm weggegangen. Und Hendrik hat ständig bei ihm auf dem Zimmer gehockt. Am Computer, hat er gesagt.«

»Und Sie selbst?«

Anita riss entsetzt die Augen auf. »Wo denken Sie hin? Dass er gegenüber wohnte, war mir schon viel zu nah. Hendrik hatte ein Klopfsignal, deshalb wusste ich immer, dass er kam. Und einmal ist Alain hineingegangen, als ich gerade aus der Tür trat. Er tat mir leid. Ich dachte, jetzt hat er ihn zu sich beordert und nimmt ihm den Hamlet weg.«

»Konnten Sie vom Gespräch der beiden etwas verstehen?«

»Nur einen Satz … als Alain an die Tür klopfte.« Anita wurde rot. »Und der hat mich verärgert.«

Rebecca zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«

»Dieser Widerling, dachte ich, jetzt macht er sich auch noch über Alains Homosexualität lustig.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Rebecca geduldig.

»Komm rein, Liebling!«

In Cheltenham ließ Pippa sich am Archiv des Gloucestershire Echo absetzen, während der überglückliche Freddy die Tour zu den Tankstellen mit seiner Traumfrau allein fortführte.

Sie bat einen behäbigen Archivar, ihr die Artikel über die Sommernachtstraum-Inszenierung von vor sechzig Jahren herauszusuchen. Für den Weg durch die Regale rüstete er sich mit einer halben Tafel Schokolade.

Als er ihr den Folianten vorlegte, brummelte er: »Wenn das so weitergeht, stelle ich diese Ausgabe gar nicht mehr zurück ins Regal.«

Pippa sah ihn neugierig an. »Wollen Sie damit sagen, dass es in letzter Zeit noch andere Interessenten für diese Artikel gab?«

Der Archivar nickte. »Kann man ja verstehen, oder? Wo der große Sir Michael jetzt bald seine Abschiedsvorstellung gibt. Dann wird die Vergangenheit immer interessant. Das kenne ich schon.«

»Können Sie sich erinnern, wer da war?«

»Konkurrenz, was? Jeder will die Story als Erster …« Der Archivar grinste schief. »Kenne ich. Unser Haus ist voll von euch Hektikern.«

Kwiatkowski muss hier gewesen sein, dachte Pippa, die Kopien aus den Dossiers kann er kaum an anderer Stelle gemacht haben.

Der Archivar legte seinen Zeigefinger ans Kinn, als würde das seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen. »Warten Sie mal, da war als Erstes dieser deutsche Journalist. Der kam öfter.« Er warf Pippa einen beredten Blick zu. »Und nie ohne eine kleine Aufmerksamkeit für mich. Bonbons oder Schokolade. Hat sich sogar meine Lieblingsmarke gemerkt. Guter Mann.«

»Als Erstes? Ja – wie viele Leute waren denn hier?«

»Dann war da noch dieser Typ von der Internetdetektei mit dem blöden Namen Knowledge Company – als ob das Internet das ganze Wissen gepachtet hätte! Wenn das so wäre, hätte er ja wohl nicht durch alte Zeitungen blättern müssen, oder? An den kann ich mich genau erinnern. Hält der mir doch einen Vortrag, von wegen es wäre mal an der Zeit, unser Archiv zu digitalisieren und ins Internet zu stellen. Schließlich habe nicht jeder Zeit, sich nur wegen eines lächerlichen Artikels bis nach Cheltenham zu bemühen.« Er schnaubte empört. »Schlechter Mann.«

Unser Freund Rossevelt hat auch den Weg hierher gefunden, dachte Pippa, hätte ich mir nach Sir Michaels Enthüllungen denken können.

Sie wollte sich gerade der Lektüre zuwenden, als der Archivar weiterredete.

»Und als Letztes kam ein Pärchen. Frisch verliebt, wenn Sie mich fragen. Und gutaussehend. Und großzügig. Haben ein schönes Trinkgeld dagelassen.«

Pippa starrte den Archivar verdutzt an und fragte sich, welches Pärchen das gewesen sein sollte. Duncan und Anita? Aber wieso?

»Wann war das?«, fragte sie.

Der Archivar musste nicht lange überlegen. »Gestern Morgen. Hat mir eine Wochenration feinster Pralinen eingebracht, das Trinkgeld. Gute Leute.«

»Können Sie sich noch an das Aussehen der beiden erinnern?«

Der Archivar schüttelte bedauernd den Kopf. »Freitags ist hier immer der Teufel los – und so hoch war das Trinkgeld nun auch wieder nicht.«

Pippas Grübelei, wer das Pärchen gewesen sein könnte, führte zu keinem Ergebnis, und sie schob dieses Thema beiseite. Stattdessen suchte sie nach dem Artikel aus Kwiatkowskis Mappe, den Phoebe elegant hatte verschwinden lassen.

Der Artikel bestand aus einem Bericht über die Probenarbeit und zwei Interviews, die der Journalist zwar unabhängig voneinander mit Phoebe und Michael Hornsby geführt, aber danach perfiderweise vergleichend nebeneinandergestellt hatte. So entstand das Bild einer naiv liebenden Jungschauspielerin und eines an nichts anderem als seiner Arbeit interessierten Regisseurs.

Frage: »Man hat Sie beide des Öfteren zusammen gesehen – außerhalb des Theaters.«

Phoebe: »Ihn und mich verbindet mehr als nur das Theater. Eine Verbindung wie die unsere hält ein Leben lang.«

Sir Michael: »Selbstverständlich. Ich treffe mich mit sämtlichen Mitgliedern des Ensembles außerhalb des Theaters. Schließlich bin ich ihr Regisseur.«

Autsch, dachte Pippa, das muss weh getan haben. Dabei wollte Michael wahrscheinlich nur neutraler antworten als du, Phoebe.

Frage: »Der Regisseur und seine Darstellerin – Sie sind ein schönes Paar. Was dürfen wir davon erwarten?«

Phoebe: »Sie dürfen erwarten, was ich auch erwarte.«

Sir Michael: »Erwarten Sie, was Sie wollen – nur nicht die Erfüllung ihrer Wünsche.«

Ach, arme Phoebe, dachte Pippa, es muss dich schwer getroffen haben, das zu lesen. Kein Wunder, dass du auf jede weitere Aussprache verzichtet hast. Und du hast dein Leben sofort wieder in die Hand genommen. Ich wünschte, ich hätte deine Tatkraft. Mit deiner Konsequenz könnte ich mich endlich von Leo lösen. Seit einem Jahr leben wir getrennt … wie viel Bedenkzeit brauche ich denn noch?

Während Pippa vor dem Gebäude auf Freddy wartete, rief sie Rebecca Davis an und erstattete Bericht über den Inhalt des Artikels, der das morgendliche Gespräch mit Phoebe und Sir Michael bestätigte. Dann verblüffte sie Rebecca mit dem erstaunlichen Interesse der vier Personen, die ihn ebenfalls gelesen hatten, aber auch die Kommissarin konnte sich keinen Reim auf das neugierige Pärchen machen.

Das Gespräch war gerade beendet, als Freddy vorfuhr und millimetergenau vor ihren Füßen bremste. Die Beifahrertür flog auf, und Barbara-Ellen steckte den Kopf heraus.

»Wir haben die Tankstelle gefunden! Carlito hat sich dort eine Wegbeschreibung geben lassen«, rief sie. »Wir wissen jetzt, wohin er wollte, steig ein! Schnell!«

Mehr verrieten die beiden nicht, und Barbara-Ellen dirigierte Freddy anhand der gleichen Wegbeschreibung aus der Innenstadt. Sie war so fröhlich wie schon lange nicht mehr. »Die nächste rechts«, kommandierte Barbara-Ellen, »müsste die Gardner’s Lane sein.« Sie beugte sich gespannt vor, um das Straßenschild zu lesen, und nickte zufrieden. »Die Einfahrt ist auf der rechten Seite. Sie ist schwer zu sehen, hat der Tankwart gesagt.«

Links der Straße, die von hohen, kahlen Bäumen gesäumt war, sah Pippa große Rasen-Fußballplätze, die durch Schulkinder in Uniformen von Schneeresten befreit wurden. Auf der rechten Seite lagen zuerst Häuser, dann weitere Rasenplätze. Die Straße, deren Asphalt schwere Frostschäden aufwies, schien ins ländliche Nichts zu führen.

»Hier ist es!«, rief Barbara-Ellen, und Freddy fuhr durch ein eisernes Tor auf einen kleinen Parkplatz, auf dem schon einige Autos standen.

Pippa stieg aus und sah sich um. Der Parkplatz gehörte zu einigen flachen, hellen Bauten. Tierheim, las sie auf dem Eingangsschild, was hatte Carlos denn hier gewollt?

Der freundliche Empfangsbereich befand sich unter einem Glasdach. An den Wänden und in Regalen wurden Produkte angeboten, die jedem, der sich für ein Tier entschied, die Möglichkeit gaben, sich vor Ort mit einer Erstausstattung einzudecken. Ein Holztresen zog sich auf der rechten Seite durch den Raum. Eine junge Frau beruhigte gerade am Telefon einen besorgten Kunden, dessen Katze nicht nach Hause gekommen war, eine zweite begleitete eine glückliche ältere Dame mit einem Katzenkorb, aus dem klägliches Miauen erklang, zu ihrem Auto. Beide Mitarbeiterinnen trugen dunkelgrüne Sweatshirts mit dem Aufdruck Cheltenham Animal Shelter.

Während sie warteten, blätterte Pippa in einem Ordner, der ausschließlich Fotos und Beschreibungen vermisster Vierbeiner enthielt – Steckbriefe, die die verzweifelten Besitzer selbst erstellt hatten. Dankbar dachte Pippa an Peter Paws wohlbehaltene Rückkehr.

Die Angestellte hinter dem Tresen beendete das Gespräch und wandte sich ihnen zu. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich.

»Wir haben eine Frage: War dieser Mann hier? Er heißt Kwiatkowski.« Pippa schob der Frau ein Foto von Carlos zu.

»Natürlich kenne ich ihn«, rief die Frau strahlend. »Sie sind Pippa und Sie Barbara-Ellen, richtig? Ich bin Sandy. Herzlich willkommen!« Sie gab erst Pippa, dann Barbara-Ellen die Hand und machte sich dann mit Freddy bekannt, ohne die Verblüffung in den Gesichtern der drei wahrzunehmen. »Ich habe Sie erst übernächsten Sonntag erwartet. Aber ich gebe Ihnen die Tiere auch gerne heute schon mit.«

»Tiere?«, riefen Pippa und Barbara-Ellen unisono.

Sandy strahlte. »Wir haben die beiden schon einmal aneinander gewöhnt. Klappt prima. Bitte kommen Sie mit!«

Sandy kam hinter der Theke hervor und ging ihnen voraus auf das Außengelände.

»Pippa muss wieder einen Hund haben, hat er gesagt, und Barbara-Ellen einen Schnurrer für die Zeiten, in denen ich nicht bei ihr sein kann.« Sie lächelte fröhlich. »Wir waren alle begeistert, welche Mühe er sich gab, die richtigen Tiere zu finden. Schade, dass er heute nicht dabei ist – grüßen Sie ihn bitte von mir, ja?«

»Das mache ich ganz sicher«, sagte Barbara-Ellen mit rauer Stimme. Sie warf Pippa einen Blick zu, den sogar Freddy verstand: Sie würden der jungen Frau nichts von Carlos’ Tod sagen.

Sandy führte sie zwischen Reihen von Zwingern hindurch. Jedes Tier hatte einen eigenen Bereich mit einer vergitterten Wand zu dem Weg, den sie entlangliefen. Vor Aufregung feuchte Hundenasen drückten sich sehnsüchtig durch die Lücken im Gitter. An jeder Box hingen Informationen zum Bewohner: Viele der Hunde waren bereits für neue Besitzer reserviert.

Die Boxen im Bereich der Katzen hatten mehrere Ebenen, damit die Tiere sich artgerecht bewegen konnten. Sandy plauderte munter weiter über Kwiatkowski und erzählte, er habe die Tiere bereits vorher im Internet angesehen und sei dann gekommen, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich zu den beiden neuen Besitzern passen.

»So, hier sind wir«, sagte Sandy und blieb so unerwartet vor einer größeren Box stehen, dass Pippa in Freddy prallte.

»Der sieht ja aus wie Rowdy!«, rief Freddy, während Barbara-Ellen entzückt »Oh …« hauchte.

Pippa sah nichts außer den Rücken ihrer Begleiter. Sie zog ihren Bruder unsanft zur Seite und spähte neugierig durch das Gitter. Zwei Weidenkörbe mit Kissen standen dort, im größeren saß ein massiger Bobtail, aus dem kleineren erhob sich gerade ein cremefarbener Siam-Mix mit blauen Augen, dessen Ohren, Schwanz und Gesicht golden schimmerten.

»Oh …«, sagte Barbara-Ellen wieder, ging in die Hocke und presste ihre Hand flach gegen das Gitter. Die Katze kam neugierig heran und schnupperte.

»Sieh mal, er mag mich!«, rief Barbara-Ellen entzückt und sah hoch zu Pippa. Sie strahlte, obwohl Tränen in ihren Augen schimmerten.

»Sie ist eine echte Dame«, sagte Sandy, »zwei Jahre alt und heißt Queenie.«

Sie schloss die Gittertür auf. Barbara-Ellen nahm die Katze auf den Arm, und Pippa hielt dem Bobtail ihre Hand hin. Der Hund beschnüffelte erst die Hand, dann ihre Jacke und Schuhe, bis er sie schließlich auffordernd anstupste und sich streicheln ließ.

»Das ist Sir Toby, aber er besteht nicht auf den Titel«, erklärte Sandy.

Freddys Blick fiel auf die gefüllten Fressnäpfe. »Die Versorgung hier ist wesentlich besser als meine.«

Pippa grinste glücklich, während sie Sir Toby durch das dichte Fell fuhr. »Wenn du dir angewöhnen könntest, Dinge zu apportieren und auf allen vieren zu laufen, hättest du auch immer einen vollen Napf.«

Sandy lachte laut und schlug eine Mappe auf, die sie aus einem Wandhalter gezogen hatte. »Sie haben sich problemlos aneinander gewöhnt. Sie sollen ja noch eine Weile miteinander auskommen, bevor Sir Toby nach Berlin zieht und das Haus Ihnen allein gehört, Barbara-Ellen.«

»Welches Haus?«, fragte diese erstaunt, und auch Freddy und Pippa sahen auf.

Sandy blickte wieder in die Unterlagen. »Hier. Das ist die Adresse, die uns gegeben wurde. Dort sollen die Tiere hin. Das Haus hat Carlos Kwiatkowski vor kurzem gekauft, hat er erzählt.«

»Darf ich mal sehen?« Pippa streckte die Hand aus, und Sandy übergab ihr die Mappe.

Ungläubig starrte Pippa auf die Adresse: Cosy Cottage, Heaven’s Gate Road, Hideaway.