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Hasso von Kestring wippte ungeduldig mit dem rechten Fuß. Was gab es so lange zu beraten? Sollte doch einer seiner jüngeren Kollegen die Chuzpe gehabt haben, sich zu bewerben? Undenkbar bei den gezielt gestreuten Mahnungen an den Nachwuchs, sich die Karriere nicht gleich zu Beginn durch ein Scheitern in England zu versauen. Blieb die Frage, welcher gestandene Konkurrent es wagte, für ein paar Monate auf der Insel seinen gut gepolsterten Regiestuhl zu riskieren. Der Rivale vom Thalia-Theater in Hamburg? Oder vom Berliner Ensemble? Schauspiel Frankfurt? Völlig egal, denn falls er hier tatsächlich eine Absage bekam, würde er jede entstandene Lücke ausfüllen. Das wussten die anderen Regisseure. Und wenn er erst einmal im Sattel saß, gab er die Zügel nie wieder ab. Dort oder hier. Das nannte man eine Win-win-Situation.

Hasso von Kestring zückte sein original mongolisches Schnupftabaksfläschchen und nahm eine kräftige Prise, was von der Dame am Schreibtisch mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert wurde.

Von Kestring wartete im Vorzimmer des Leiters des Shakespeare Birthday Festivals. Lysander Smith-Bates würde ihm hoffentlich in ein paar Minuten die verbindliche Zusage geben. Die Zusage, dass er, Hasso von Kestring, Koryphäe des deutschen Regietheaters, sein Land beim Festival zu Ehren von Shakespeares Geburtstag mit einer Inszenierung vertreten würde.

Und das war auch bitter nötig. Von Kestring brannte darauf, diesen verstaubten englischen Theatertrotteln zu zeigen, wie brillantes modernes Theater aussah.

Er warf einen unauffälligen Blick in den Spiegel im Rücken der persönlichen Assistentin der Festspielleitung. Mit geübtem Griff zerzauste er die mühsam gezüchtete Künstlermähne. Dann befahl er seinem rechten Fuß, mit dem Wippen aufzuhören.

Die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch der Vorzimmerdame knackte. »Ms Jones, wir wären dann so weit. Bitten Sie Herrn von Kestring zu uns herein«, sagte eine männliche Stimme.

»Gerne«, gurrte die Angesprochene, musterte den Regisseur noch einmal von oben bis unten und machte, ohne sich vom Platz zu rühren, eine knappe Handbewegung Richtung Tür.

Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast, dachte von Kestring.

Schwungvoll betrat er das Büro. Er sah sich zwei Herren gegenüber, die er sofort als typische Engländer einstufte: gut geschnittene Anzüge mit Einstecktuch in der Brusttasche, ein Hut neben sich auf dem Stuhl. Sie hätten beide eine Grundmodernisierung vertragen können, fand er.

Der jüngere Mann erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Willkommen in Stratford, Herr von Kestring. Ich bin Lysander Smith-Bates, und das ist Sir Michael Hornsby.«

Von Kestring hielt den Atem an, denn er hatte nicht damit gerechnet, Sir Michael schon jetzt zu begegnen. Er schüttelte Smith-Bates’ ausgestreckte Hand, aber Hornsby nickte ihm nur knapp zu.

»Setzen Sie sich bitte«, fuhr Smith-Bates fort. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise? Gefällt Ihnen das Hotel?«

Hör auf zu schwafeln, dachte von Kestring, komm zur Sache. Bin ich im nächsten Jahr der Mann der Wahl? Sein Herz klopfte aufgeregt, als er sich in den angebotenen Sessel setzte.

»Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir uns einstimmig für Sie und Ihr Konzept entschieden haben«, sagte Smith-Bates lächelnd.

Hasso von Kestring konnte sich nur mühsam zurückhalten, nicht aufzuspringen und ein Triumphgeheul auszustoßen, dass der Putz von den Wänden des ehrwürdigen Gemäuers bröckelte. Er hatte den Zuschlag bekommen, nicht einer seiner stümperhaften Kollegen!

Lysander Smith-Bates sah ihn freundlich an. »Wenn Sie uns jetzt bitte Ihre Idee zu …«, er machte eine Pause, als fiele ihm das Sprechen schwer, »zu Hamlet Reloaded näherbringen könnten?«

Von Kestring nickte. Natürlich hatten diese Traditionalisten sein Konzept nicht begriffen, aber die Brillanz seiner Idee hatte dennoch überzeugt. Das sollte ihm erst mal einer nachmachen.

»Ich werde das Stück wie ein Computerspiel inszenieren und dabei …«, er machte eine wirkungsvolle Pause, die den beiden Männern helfen sollte, ihm zu folgen, »… ein innovatives Feuerwerk kreieren, das in Shakespeares Worten unser Jahrhundert der Gier spiegelt und einem War-Game in nichts nachsteht. Ich werde die Schauspieler dazu bringen, alles zu geben. Sie werden Shakespeare aus jeder Körperöffnung atmen, leben, rülpsen und furzen … die pure Ekstase!«

Sir Michael zuckte mit keiner Wimper. »Sehr elisabethanisch. Die Zuschauer werden in Scharen kommen – und sei es nur wegen des Skandals. Ganz wie zu Shakespeares Zeiten.«

Hasso von Kestring ignorierte die Ironie in den Worten des alten Mannes. Was wusste der schon? Die Zeit des großen Sir Michael Hornsby war fast vorüber. Aber sein Name hatte noch Klang. Und den würde er nutzen. Zu seinen Gunsten. Er sah das Plakat schon vor sich: sein Name in großen Lettern vor dem von Sir Michael.

Er lächelte die beiden Männer hochmütig an.

Er würde es allen zeigen.