n weniger als einer Stunde hatte sich das halbe Dorf mit Taschenlampen und Stalllaternen vor dem Hotel eingefunden. Pippa stellte sich zu Debbie, Phoebe und Nicola.
»So viele wollen helfen, Paw zu suchen«, sagte Pippa gerührt. »Und du hast sogar deinen Laden geschlossen, Nicky.«
Nicola lachte. »Wer sollte denn jetzt bei mir einkaufen? Sind doch alle hier! Aber Amanda und Cecily gehen gleich rüber ins Café und halten die Stellung. Sie bereiten heiße Getränke und einen Berg Sandwiches vor. Sam hat meinen Laden zur offiziellen Verpflegungsstation für Aufwärmrunden und Heimkehrer erklärt.«
Pippa sah sich suchend nach Freddy um und entdeckte ihn in angeregter Unterhaltung mit Sam Wilson und Chris. Eine Gruppe bis zur Nasenspitze eingemummelter Grundschulkinder zappelte aufgeregt um ihre Lehrerin herum, während die Schauspieler zwar geschlossen aufgetaucht waren, aber aussahen, als fühlten sie sich in der allgemeinen Aufregung wie Statisten.
Rebecca Davis blies in eine Trillerpfeife und bat um Aufmerksamkeit. Sie stand auf der Freitreppe des Hotels und sah zufrieden auf die Menge hinunter. »Könnt ihr euch erinnern, wie wir damals nach den Wilderern gesucht haben, die glaubten, dass unsere Felder und Wälder ihnen gehören?« Rebeccas Blick wanderte wie zufällig in Amanda Blooms Richtung, die prompt angestrengt versuchte, ihre Wachsjacke von einem nicht vorhandenen Fleck zu reinigen. »Wir werden uns wieder ganz genauso aufteilen. Jede Gruppe hat ein Nachtsichtgerät und ein Walkie-Talkie – und benutzt das bitte diesmal auch. Meine Gruppe durchsucht den Wald im Westen des Ortes, die Südgruppe durchkämmt zusammen mit Constable Custard die Feldmark unterhalb der Kirche, Constable Bransons Suchtrupp übernimmt den Osten ab Taubenhaus bis runter nach Chipping Neighbours. Sam Wilson leitet die Nordgruppe und steigt mit ihr bis hinauf auf den Glorious Hill.«
Ohne weitere Anweisungen Rebeccas fanden sich die Dorfbewohner zu Gruppen zusammen und ernteten damit den anerkennenden Blick der Kommissarin.
»Die Frau kann organisieren«, sagte Freddy zu Sam Wilson, der das mit »Immer. Und besonders gut nach Feierabend« quittierte.
»In Nickys Laden könnt ihr euch mit einem heißen Getränk aufwärmen und etwas essen, Amanda und Cecily werden sich dort um euch kümmern. Amanda, such dir noch eine Verstärkung aus«, sagte Rebecca.
Amanda Bloom überlegte nicht lange. Sie zeigte auf Sir Michael und rief: »Ich nehme den da!«
Sir Michael Hornsby starrte die resolute Frau verdattert an. »Ich soll Ihnen helfen?«
»Klar!«, gab Amanda Bloom zurück. »Stellen Sie sich einfach vor, Sie sind auf einer Benefiz-Veranstaltung. Das macht ihr Prominenten doch so gerne. Sandwiches schmieren für einen guten Zweck. Und schön warm haben Sie es bei mir auch.«
Sir Michael hatte sich wieder gefasst und machte eine formvollendete Verbeugung. »Dann soll es mir eine Ehre sein. Sie befehlen, Gnädigste, und ich bin Ihr gehorsamer Diener.«
Er bot ihr den Arm, und die beiden gingen unter dem Applaus der Menge die Auffahrt hinunter.
»Ich brauche noch eine Meldezentrale«, rief Rebecca Davis. »Phoebe, kannst du das übernehmen? Ich gebe dir ein Walkie-Talkie mit.«
Phoebe nickte zustimmend, und Pippa sagte: »Am besten im Cosy Cottage, oder?«
»Ich muss sowieso dringend versuchen, Lysander zu erreichen. Wir brauchen immer noch eine Lösung für unser Dilemma. Barbara-Ellen, mögen Sie mir Gesellschaft leisten? Ihnen fallen bestimmt noch Regisseure ein, die wir anrufen können, oder?« Phoebe hakte sich bei Barbara-Ellen unter. »Sie haben ohnehin zu viele Beruhigungsmittel intus, als dass ich Sie jetzt in den Wald lassen würde, meine Liebe.«
»Wo dürfen wir suchen?«, krähte einer der Schüler. »Bitte, Detective Inspector Davis, wir dürfen doch mitmachen?«
»Natürlich, ihr bekommt eine ganz besonders wichtige Aufgabe«, sagte Rebecca und tauschte einen kurzen Blick mit der Lehrerin. »Ihr dürft das ganze Dorf durchsuchen. Nichts auslassen: Ihr guckt in jeden Garten, in jeden Briefkasten und in jede Mülltonne.«
Die Kinder jubelten entzückt.
Die Zwergenschar formierte sich in Zweierreihen. Pippa beugte sich zu einem kleinen Jungen, von dessen Gesicht lediglich die Nasenspitze sichtbar war, da er zusätzlich zum dicken Schal und der tief in die Stirn gezogenen Mütze eine große Sonnenbrille trug.
»Ist es nicht etwas zu dunkel für eine Sonnenbrille? Du kannst doch überhaupt nichts sehen!«
»Peter Paw soll mich nicht erkennen«, flüsterte der kleine Junge.
Er schob den Ärmel seiner dicken Jacke hoch und zeigte mehrere Kratzer. »Das war Paw.« Einige andere Kinder taten es ihm gleich und legten ein ebenso beredtes Zeugnis von Peter Paws Kampfgeist ab.
»Aber Paw kratzt euch doch nicht einfach ohne Grund?«, fragte Pippa erstaunt.
»Nee, stimmt. Das hatte wohl was mit den Steinen zu tun, die wir geworfen haben«, sagte der Grundschüler verlegen. »Meinst du, er ist wegen uns weggelaufen?«
Pippa schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber mit Steinen nach ihm zu werfen ist gemein. Das würde euch doch auch nicht gefallen, oder?«
»Nein«, murmelte der Junge betreten. »Machen wir nie wieder, großes Indianerehrenwort.«
Auf ein Kommando der Lehrerin hin setzte sich der Zug in Bewegung, und schon auf dem Weg die Auffahrt hinunter leuchteten Dutzende kleiner Kindertaschenlampen gewissenhaft unter jeden Busch und hinter jeden Strauch.
»Und jetzt die Zusatzkräfte«, rief Rebecca Davis. »Pippa, Freddy, Debbie, Anita Unterweger und Duncan Blakely – ihr begleitet Sam Wilson. Hendrik Rossevelt, Chris, Dr. Mickleton – ihr schließt euch bitte Constable Branson und seinem Trupp an. Nicky, Tom Barrel, John Napier – ihr kennt euch im Süden gut aus. Die Constables Custard und Branson brauchen eure Ortskenntnis. Johannes Berkel, Alain Bettencourt und Dana Danvers – Sie kommen mit mir.« Rebecca sah noch einmal eindringlich ihre Kollegen an. »Ihr wisst, was wir besprochen haben. Und los geht’s!«
Als die Constables Branson und Custard sich mit ihren Gruppen gen Süden und Westen aufmachten und im Schein der Fackeln davonzogen, winkte Rebecca Sam Wilson zu sich.
»Wir gehen gemeinsam bis zum Weg, der zum Turm führt. Zeit genug für deinen Bericht.« Sie wandte sich zu den Wartenden um. »Wir marschieren zusammen durch Pandora’s Box und biegen dann links auf den Blisswalk ab. An Rowdys Grab trennen wir uns.«
Während Rebecca und Sam flott vorausgingen, zockelte der Rest des Trupps hinterher.
Rebecca drehte sich kurz um. »Jetzt haben wir genug Abstand. Also? Was hat die schöne Dana so alles unternommen?«
»Ich kenne jetzt jeden Laden in Stratford, der Kinderkleidung führt. Sie hat kofferweise Hosen, Kleider und T-Shirts zurücklegen lassen, aber kein einziges Teil gekauft. Wir waren Stunden unterwegs. Ich musste ständig eifrige Verkäuferinnen abwehren, um nicht von ihr entdeckt zu werden.«
»Na, dann warst du doch wenigstens beschäftigt. Warum hast du dir nicht einfach einen Sohn angedichtet, für den du ein Fußballshirt suchst?«
»Habe ich doch!« Sam seufzte dramatisch. »Blöderweise bin ich sofort aufgeflogen.«
»Wieso?«
»Weil ich mich mit Kleidergrößen von Kindern nicht auskenne. Ich habe in meiner Panik gesagt, mein Sohn hätte meine Größe!«
Rebecca betrachtete den schmalen Körper des Sergeants. »Erscheint mir durchaus glaubwürdig.«
»In einem Geschäft für Babykleidung?«
Rebecca Davis lachte leise. »Dann spul weiter vor: Wann wurde es für uns interessant?«
»Miss Danvers ging schließlich zu einem Juwelier, Preston Jewellery.« Sam machte eine Kunstpause, bis Rebecca ihn ungeduldig anstieß. »Ich habe mir erlaubt, mit dem Besitzer zu sprechen, nachdem sie weg war. Sie hat eine Perlenkette zum Kauf angeboten.« Wieder eine Pause.
»Sam!«, zischte Rebecca warnend.
»Echte schwarze Tahitiperlen.«
»Schwarze Perlen? Ungewöhnlich.«
»Und teuer. Die Perlen werden in der schwarzlippigen Perlenauster Pinctada margaritifera gezüch…«
»Sam! Komm sofort zur Sache, sonst darfst du demnächst an irgendeiner gottverlassenen Kreuzung den Verkehr regeln.«
»Es war nicht nur so ein kleines Collier mit einer popeligen Perle dran – o nein. Perle an Perle. Ewig lang.«
»Wer Schmuck verkaufen will, braucht Geld«, überlegte Rebecca laut. »Schnell und viel und bar. Von welcher Summe reden wir?«
»3500 Pfund. Aber das Geschäft ist nicht zustande gekommen.«
»Hatte der Juwelier kein Interesse?«
»Im Gegenteil«, sagte Sam Wilson triumphierend, »der Chef von Preston Jewellery hätte die Kette sofort genommen. Es ist ein besonders schönes Stück.« Sam genoss die Situation sichtlich. »Sie hatte ihm schon beim ersten Mal gefallen …«
Rebecca Davis blieb abrupt stehen. »Beim ersten Mal?«
Sam nickte wichtig. »Dem Juwelier wurde die Kette schon einmal vorgelegt, einschließlich Zertifikat. Vom Besitzer.«
»Und der hieß nicht Dana Danvers«, vollendete Rebecca. »Personenbeschreibung?«
»Mann um die fünfzig, leger gekleidet, Ausländer, vermutlich Deutscher, mit fast perfektem Englisch. Er hat nicht nur die Kette angeboten, sondern auch ein Paar Eheringe aus Platin gekauft. Mit Gravur. Und jetzt raten Sie …«
»Muss ich nicht«, sagte Rebecca Davis grimmig. »Das war Carlos Kwiatkowski.«
Sie hatten die Weggabelung erreicht. Rebecca Davis ging mit ihrem Suchtrupp weiter den Blisswalk entlang, und Sam Wilson führte seine Gruppe auf den Weg zum Aussichtsturm hinauf. Pippas Blick streifte Rowdys Grab, und sie spürte, wie die Erinnerung an den fröhlichen Hund schmerzhaft zuschlug. Sie schluckte.
»Ich weiß nicht, Freddy. Erst Schreberwerder – jetzt Hideaway. Ich suche Ruhe, aber das Schicksal hat Chaos geplant.« Sie wickelte gedankenverloren eine Haarsträhne um den Zeigefinger und sah den Hügel hinauf, wo Sam Wilson gerade einige Sucher in einen alten Schafstall schickte. »Ich soll ein Haus hüten, und schon liegt eine Leiche daneben … es ist, als würde ich Unglück anziehen.«
»Das würde ich nicht persönlich nehmen.« Freddy zog seine Schwester an den Haaren. »Das ist das Los aller Feuermelder.«
Ehe Pippa antworten konnte, knisterte und krachte es aus Sam Wilsons Funksprechgerät, und Constable Custard meldete: »Soeben streunende Katze auf Bauer Blooms Feldern gesichtet. Wir kreisen ein. Lederhandschuhe und Kescher griffbereit.«
Pippa krallte sich aufgeregt in Freddys Arm. Custard hatte sein Funkgerät nicht abgeschaltet, so dass sie Zeugen der Treibjagd wurden. Sie hörten seinen keuchenden Atem und seine gebrüllten Befehle: »Tom, jetzt rechts rüber! Er versucht, abzuhauen … Nicky, schneller, er ist direkt vor dir … Jetzt!«
Aus dem Gerät drang das wütende Kreischen einer empörten Katze, dann rief Nicky: »Ich habe ihn! Au! Er strampelt wie verrückt … Au! Kann mir mal bitte jemand helfen?«
Es folgten Stimmengewirr, Fauchen und klägliches Miauen, dann meldete Custard außer Atem: »Katze eingefangen, unbekannte Rasse und Besitzverhältnisse. Sichergestelltes Objekt hat schwarz-weißes Fell. Keine Ähnlichkeit mit Zielper…kater. Setzen wieder aus.«
»Untersteht euch«, meldete Rebecca Davis sich zu Wort, »das Tier wird behalten. Nicky soll ihn in ihren Laden bringen und füttern. Später kann Doc Mickleton ihn untersuchen.«
Beinahe hätten Pippas Knie nachgegeben, so groß war ihre Enttäuschung.
»Nicht den Mut verlieren«, sagte Freddy, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie weiter den Weg zum Turm hinauf.
Mit einem Seufzer legte Phoebe Smith-Bates den Hörer auf. »Wieder eine Absage. Niemand hat Zeit – oder Lust –, sich an einer halbfertigen Inszenierung die Finger zu verbrennen. Langsam gehen mir die Ideen aus. Und Lysander kann ich auch nicht erreichen. Sein Handy ist entweder abgeschaltet oder hat kein Netz. Wo treibt sich der Junge rum? Im Dschungel?«
Barbara-Ellen sah hoch. Sie saß am Computer, und das Licht aus dem Monitor ließ ihr Gesicht bläulich schimmern. »Wir werden eine Lösung finden, Phoebe.«
»Sind Sie mit der Suche nach dem Ansprechpartner für das Stipendium weitergekommen?« Phoebe hatte den Hörer schon wieder in der Hand und wählte, während sie sprach.
Barbara-Ellen hörte dem Gespräch zu, bei dem Phoebe eine weitere Absage bekam. Dann sagte sie: »Ich habe gerade die Richtlinien für das Stipendium auf dem Monitor. Nur EU-Bürger kommen für Regie und Stipendien in Frage. Widerrechtlich erschlichene Gelder oder mutwillig abgebrochene Stipendien müssen mit Zins zurückerstattet werden.«
»Das wird teuer.«
»Sicher, bei dem üppigen Etat.« Barbara-Ellen las weiter. »Jedes Jahr muss ein anderes Land die Regie übernehmen, damit die stilistische Bandbreite möglichst groß ist.«
»Gute Idee eigentlich«, sagte Phoebe abwesend, da sie noch einmal versuchte, ihren Sohn zu erreichen.
»Irland führte noch nie Regie. Sie sind doch Irin, oder?«
»Der Zufall hat mich in Irland zur Welt kommen lassen, also habe ich nicht nur die britische, sondern auch die irische Staatsbürgerschaft. Geburtsrecht. Meine Eltern waren im diplomatischen Dienst. Aber worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Phoebe misstrauisch.
»Ich überlege gerade, ob das nicht doch die Lösung sein könnte«, sagte Barbara-Ellen.
»Was meinen Sie, meine Liebe?«
»Dass Sie die Regie übernehmen. Als Irin würden Sie die Kriterien für die Fördergelder erfüllen.«
»Damit würde man die Richtlinien arg strapazieren.« Phoebe runzelte die Stirn.
»Aber alle wollen doch so gern weitermachen, Phoebe. Wir werden Sie nach Kräften dabei unterstützen, auch Sir Michael, ganz sicher.«
Sie sah die Ablehnung in Phoebes Gesicht und fuhr hastig fort: »Ich fände es wunderbar und bitte Sie inständig, es sich zu überlegen. Auch für Hasso. Wenn sein Ego ihm nicht immer im Weg gestanden hätte … er hatte großartige Ideen. Wäre es nicht schön, der Welt doch noch zeigen zu können, wozu wir imstande sind? Sie glauben doch an unser Talent, oder?«
Phoebe atmete tief ein. »Unter anderen Umständen gerne. Schon allein, um Lysander zu helfen – aber nichts und niemand kann mich dazu bringen, noch einmal mit Sir Michael zusammenzuarbeiten.« Sie presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Wir hatten bereits einmal das mehr als zweifelhafte Vergnügen. Ich bin nicht bereit, meine Gefühle zu verraten, nur weil viel Zeit vergangen ist.«
Barbara-Ellen betrachtete die ältere Schauspielerin nachdenklich. »So sehr lieben Sie ihn?«
Phoebe starrte Barbara-Ellen betroffen an. Sie sah zutiefst erschrocken aus. Spontan stand Barbara-Ellen auf und setzte sich neben die schockierte Phoebe.
Für eine Weile herrschte Schweigen, bis Barbara-Ellen leise sagte: »Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich – schieben Sie die richtige Entscheidung nicht zu lange hinaus.«
Rebeccas Trupp suchte unter großem Getöse im Wald nach Peter Paw. Unterholz krachte, und ab und zu keuchte jemand erschrocken auf, wenn sich von einer Tanne tauender Schnee löste und auf einen der Suchenden klatschte. Rebecca Davis sah sich nach Alain und Johannes um. Die beiden waren in eine Unterhaltung vertieft, die ihre Umwelt völlig ausschloss. Rebecca ließ die beiden passieren und folgte ihnen dann in Hörweite.
»Ich bleibe bei Barbara-Ellen«, sagte Berkel gerade, »sie wird seelischen Beistand brauchen.«
»Du willst als Assistent für sie arbeiten?«, fragte Alain erstaunt.
»Nein. Ich bin ihr Freund, und sie ist eine Freundin, die trauert. Ich werde bei ihr bleiben, solange sie es möchte. Diese Assistenz bei von Kestring war sowieso nichts als ein schlecht getarnter Butler-Job. Wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte er mich glatt in eine Uniform gesteckt.« Er lachte leise. »Ein Wunder, dass ich ihm morgens nicht die Zeitung bügeln musste. Und was hast du vor, wenn du nach Frankreich zurückkehrst?«
»Ich habe ein Angebot«, antwortete Alain. »Eine internationale Produktionsfirma muss ihren in die Jahre gekommenen Urwalddoktor neu besetzen. Er hat zu viele weiße Haare, um noch glaubwürdig zu sein. Das vorwiegend jugendliche Publikum nimmt ihm die Rolle nicht mehr ab.«
»Eine Serie – Wahnsinn. Damit hättest du ausgesorgt.«
»Allerdings. Der Vertrag geht über die nächsten drei Staffeln mit je zehn Episoden.«
»Hast du eine Ahnung, wer dich bei denen ins Gespräch gebracht hat? Deine Agentur?«
»Nun: In meinem Lebenslauf stehen eben jetzt dieses Stipendium und die Rolle des Hamlet«, sagte Alain stolz. »Das hat den Ausschlag gegeben.«
»Kein Wunder, dass du dir die Rolle nicht wegnehmen lassen wolltest. Die kommen bestimmt her, um dich auf der Bühne zu sehen.«
Alains Stimme klang enttäuscht, als er antwortete. »Leider nicht. Sie wollten nur mit von Kestring reden. Seine Referenz einholen.«
»Und die hat er ihnen gegeben?«, fragte Johannes verblüfft.
»Klar. Warum auch nicht?«
Erst nach einer kleinen Pause sprach Johannes wieder. »Weil er nicht der Mensch war, der das getan hätte, ohne etwas dafür zu verlangen, Alain.«
»Vielleicht hat er sich irgendwelche Chancen bei der Serie ausgerechnet«, murmelte Alain ausweichend.
»Von Kestring? Beim Fernsehen? Du machst wohl Witze.«
»Auch dort werden gute Regisseure gesucht. Und an meiner Serie ist Hollywood beteiligt. Aber warum reden wir hier über von Kestring? Denk doch stattdessen mal darüber nach, ob du Lust hättest, mich zu den Drehorten zu begleiten. Namibia, Botswana, Südafrika …«
Die beiden stürzten sich in Phantasien, wie man die Zeit dort gemeinsam verbringen könnte. Rebecca Davis blieb stehen und sah ihnen nachdenklich hinterher.
In Chipping Neighbours herrschte Gedränge an einer eilig aufgebauten Feldküche. Die durchgefrorenen Mitglieder des Suchtrupps nahmen dankbar Schalen dampfender Suppe entgegen, an denen sie sich gleichzeitig die kalten Hände aufwärmen konnten. Constable Branson beobachtete interessiert, dass Hendrik Rossevelt von zwei Mädchen, höchstens halb so alt wie der Schauspieler, mit Fragen bombardiert und kichernd angehimmelt wurde. Seinen Eintopf löffelnd, schob Branson sich unauffällig an die drei heran.
»Bei uns Schauspielern zählt nicht allein das Können«, verkündete Hendrik seinen staunenden Fans, »ein Erfolg wie der meine ist von vielen Faktoren abhängig. Talent, Biss, Durchhaltevermögen – und die richtige Rolle zur richtigen Zeit. Ich werde beim Festival natürlich den Hamlet spielen.«
»Sie sprechen so gut Englisch«, zwitscherte eines der Mädchen bewundernd.
Hendrik lächelte geschmeichelt. »In meinem Land spricht beinahe jeder zwei Sprachen …« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Ich wollte übrigens immer schon Schauspieler werden«, fuhr er dann hastig fort, »aber meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich zunächst eine bürgerliche Ausbildung mache.«
»Und was haben Sie gelernt?«, hakte das andere Mädchen nach.
Rossevelt rückte nah an die junge Frau heran und sah ihr tief in die Augen. »Computerfachmann. Hast du einen Computer?«
Das Mädchen, völlig hypnotisiert, nickte stumm.
Rossevelt lächelte anzüglich und legte den Arm um ihre Hüfte. »Ich komme gerne bei dir vorbei und zeige dir, was ich alles kann.«
Rebecca Davis zückte ihr Funkgerät. »Hier Detective Inspector Davis. Bitte um Meldung. Constable Custard?«
»Krrrch … stable Custard … chrrrr … lei … ehlanzeige … krrrch …«
»Weitermachen«, befahl Rebecca. »Sergeant Wilson?«
»Hier bisher leider auch nichts«, sagte Wilson, »sind dabei, die Farmgebäude abzusuchen. Hier gibt es Unmengen Schuppen und Ställe.«
»Constable Branson?«
»Hier … chrrrr … ipping Neighbours … krrrchrrr … antastisches Essen … krrch … kehren um, wenn Gulaschkanone leer … chrrrr … bis spät … chrrr …«
Das schrille Kreischen einer Rückkopplung beendete Constable Bransons Rapport so abrupt wie gnädig.
»In Ordnung«, sagte Rebecca Davis. »Wir treffen uns dann anschließend alle im Dorfladen. Over and out.«
Sam Wilson und Duncan kletterten auf den Heuboden der riesigen Scheune, während die anderen das Erdgeschoss des Gebäudes durchsuchten, das mit landwirtschaftlichen Maschinen vollgestellt war.
Duncan schnappte sich zwei Heugabeln, die an der Wand lehnten, und warf eine davon Sam zu, der sie geschickt auffing.
»Dann wollen wir mal«, sagte Sam und stöhnte angesichts der Menge Heus, die sich vor ihnen türmte. Seite an Seite arbeiteten sich die beiden Männer vorsichtig durch den Haufen.
»Du liebe Güte«, rief Duncan, als er seine Heugabel herauszog und an einem der Zinken ein benutztes Kondom baumelte. »Was ist bloß los mit euch? Das Taubenhaus, der Aussichtsturm, dieser Heuschober – habt ihr in euren Häusern keine Schlafzimmer?«
»Das ist doch langweilig.« Sam machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihn als souveränen Playboy ausweisen sollte und Duncan ein Grinsen entlockte. Wilson erinnerte sich an seinen Auftrag. »Bis ihr hier aufgetaucht seid, hieß die Parole bei uns Make Love, not War – aber jetzt …«
Duncan hielt mit dem Umschichten des Heus inne und stützte sich auf den Stiel der Gabel. »Im Drama gibt es zwischen Liebe und Krieg keinen Unterschied. In beiden Fällen ist der Mann als Held gefordert. Im Krieg muss er sein Land und in der Liebe seine Angebetete retten – und hat nach vielen Irrungen und Wirrungen meistens die Chance auf ein Happy End.«
»Es sei denn, er verbockt es von Anfang an.« Sam Wilson ließ die Heugabel sinken und sah Duncan unglücklich an. »Bei gleich zwei Frauen, wenn er so ein Trottel ist wie ich.«
»Verstehe. Pippa und Debbie.«
Sam riss entsetzt die Augen auf. »Woher … Haben die beiden was gesagt?«
»Keine Sorge, nichts dergleichen«, sagte Duncan, und Sam atmete sichtlich auf. »Aber du wirkst in ihrer Gegenwart immer, als wärest du gern ihr Held und wüsstest nicht, wie du es anstellen sollst.«
»Die Gelegenheit habe ich verpasst. Da hätte ich vor dreißig Jahren am Aussichtsturm …«
Er erstarrte und ließ die Heugabel fallen. Vor Duncans Augen vollzog sich eine erstaunliche Verwandlung: Sams ganzer Körper straffte sich, sein Kinn reckte sich entschlossen vor, seine Augen blitzten feurig. Er zog das Funksprechgerät heraus und sprach mit fester Stimme hinein: »Hier Sergeant Wilson. Brauchen sofort den Schlüssel für den Aussichtsturm und alle verfügbaren Wärmebildkameras. Treffen uns am Turm. Scannen die Gegend von der obersten Plattform so lange, bis Vermisster aufgespürt. Over and out.«