och nie hatten so viele Menschen mitten in der Nacht am Aussichtsturm gestanden.
Mit großer Geste zog John Napier einen Schlüsselbund hervor, an dem zahlreiche beeindruckend altertümliche Schlüssel klimperten. Sichtlich stolz, als Hüter der Wahrzeichen Hideaways helfen zu können, schloss er die Tür zum Turm auf und öffnete sie einladend. Er schaltete das Licht an, und ein paar schwache Glühbirnen beleuchteten die steinerne Wendeltreppe, die auf die Aussichtsplattform führte.
»Danke, John.« Rebecca Davis sah sich um. Das halbe Dorf blickte sie erwartungsvoll an. »Meine Männer kommen mit, die anderen warten hier.«
»Rebecca?«, bat Pippa.
»Na gut. Aber höchstens drei Personen, sonst macht unser gutes Stück dem schiefen Turm von Pisa Konkurrenz.«
Sie wandte sich um und verschwand im Inneren, gefolgt von ihren Kollegen. Pippa, Freddy und Debbie schlossen sich ihnen an.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, und Pippa war leicht schwindelig, als sie durch eine dicke Holztür die Plattform betrat. Die Steinmauern des Turms waren hier oben von Zinnen gekrönt, deren Zwischenräume einen weiten Ausblick auf die sanften Hügel der Cotswolds gewährten. Jetzt war alles pechschwarz, nur hier und dort blinkten Lichter von Straßenlaternen, Autoscheinwerfern oder erleuchteten Fenstern. Unterhalb des Turms lag Hideaway wie ein funkelndes Juwel auf dem schwarzen Samt eines Schmuckkästchens.
»Jeder von uns nimmt eine Wärmebildkamera«, kommandierte Sam Wilson, »und scannt einen Bereich ab, den er vorhin nicht durchkämmt hat. Das gibt einen frischeren Blick auf die Landschaft.«
Constable Custard, der Hideaway in Richtung Chipping Neighbours absuchte, sagte plötzlich: »Was ist denn mit den Tauben los? Warum hocken die Dummköpfe auf dem Dach, statt im warmen Haus zu sitzen?«
»Unsere wertvollen Tauben!« Sam Wilson stellte sich neben Custard und sah durch sein Gerät. »Die müssen Samstag fit sein, die sollen auf der Hochzeit von Kollege …«
Er brach ab und starrte angestrengt in die Nacht. Dann drehte er sich zu Pippa um, schob sie an die Balustrade und hielt ihr das Gerät hin.
Pippa sah hindurch, ohne zu wissen, auf was zu achten war. Sie zuckte fragend mit den Schultern. »Tut mir leid, Sam, aber …«
Der Sergeant trat dicht hinter sie, murmelte »Du gestattest?« und dirigierte die Wärmebildkamera vor ihren Augen sanft in die richtige Richtung. Pippa erblickte die vagen Umrisse des mächtigen Taubenhauses. Auf dem Dach saßen dicht an dicht rotschimmernde, gelb umrandete Punkte.
»Siehst du sie?«, hörte sie Sams Stimme dicht an ihrem Ohr. »Das sind die Tauben. Und dann weiter rechts … Schau ganz genau hin.«
Pippa folgte seinen Anweisungen und hielt den Atem an, als ihr klarwurde, was sie da sah.
»Paws Halsband!«, schrie Pippa aufgeregt. »Ich sehe Paws Halsband glitzern! Es liegt in einer Einflugsluke! Paw muss oben im Taubenhaus sein! Eingesperrt! Deshalb sitzen die Tauben auf dem Dach!«
»Kluge Tiere!«, sagte Freddy. »Ich würde auch nicht freiwillig ins geöffnete Maul eines ewig hungrigen Vogelkillers spazieren.«
»Was ist los?«, ertönte eine Stimme vom Fuß des Turms. »Habt ihr ihn?«
Pippa lief auf die andere Seite der Plattform und beugte sich weit über die Mauer: »Er ist im Taubenhaus! Im obersten Stock!«
John Napier schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie soll das denn gehen? Die Luke ist immer geschlossen, und es gibt keine Leiter …« Er verstummte, als ihm ein Licht aufging. »Oh, jemand hat ihn …«
Während die Neuigkeiten am Fuße des Turms aufgeregt diskutiert wurden, fiel Pippa oben Sam Wilson um den Hals. »Das war eine großartige Idee, Sam. Danke! Jetzt wollen wir nur hoffen, dass es ihm gutgeht.«
»Natürlich geht es ihm gut«, versicherte Sam im Brustton der Überzeugung, »die zitternden Tauben sind der Beweis.«
Pippa und Debbie drückten ihm gleichzeitig von rechts und links einen Kuss auf die Wange. Sam errötete tief und war heilfroh, dass dies in der Dunkelheit niemand sehen konnte.
»Jetzt hast du die Prinzessinnen doch gerettet«, sagte Pippa gerührt, und Debbie fügte hinzu: »Wie ein echter Held – zur rechten Zeit am rechten Ort!«
»Katzenfinder müsste man sein«, brummte Freddy eifersüchtig, als er sah, dass Sam den Arm um Debbies Taille legte.
»Unsere große Stunde kommt noch, Kollege«, sagte Rebecca Davis tröstend. »Denn wir finden heraus, wer der Katzenverstecker war …«
Querfeldein ging es zurück Richtung Hideaway. Debbie flitzte voraus, um Phoebe und Barbara-Ellen die frohe Botschaft zu überbringen. Als der Tross Cosy Cottage passierte, standen die drei Frauen schon bereit, um sich ihnen anzuschließen.
Wieder konnte John Napier wichtig mit seinen Schlüsseln rasseln. Als er die Tür geöffnet hatte, strömte alles ins Haus. Sam kletterte sofort über die Leiter in den ersten Stock, dicht gefolgt von Freddy, Rebecca und Duncan. Pippa und Debbie sahen sich an und nickten sich in wortlosem Einverständnis zu, bevor sie ebenfalls die Leiter erstiegen.
»Der arme Kleine. So ganz allein im Taubenhaus. Vielleicht ist er verletzt«, flüsterte Pippa nervös.
»Bestimmt nicht«, sagte Debbie. »Der Dickmops hätte zwar nicht durch eine Einflugsluke gepasst, aber er hätte seinen Kopf durchstecken und schreien können, wenn er gewollt hätte, dass man ihn rettet. Ich wette, er hat sein Halsband verloren, als er versucht hat, sich eine Taube zu schnappen, die dumm genug war, sich direkt davor niederzulassen.«
Sie gingen zu den anderen, die bereits unter der Öffnung zum zweiten Stock standen.
»Seht ihr?«, sagte Sam Wilson und zeigte auf die massive Holzklappe über ihren Köpfen. »Fest verschlossen. Da hat jemand nachgeholfen.«
Freddy zog mit Duncans Hilfe die Klappe herunter, ließ die Leiter heruntergleiten und kletterte dann hinauf.
»Siehst du ihn, Freddy? Ist Peter Paw am Leben?«, fragte Pippa ängstlich, als ihr Bruder seinen Kopf durch die Öffnung steckte.
Statt einer Antwort lachte dieser laut auf, und ein langgezogenes Miauen ertönte.
»Er lebt!«, schrie Pippa überglücklich. »Paw lebt!«
»Das müsst ihr euch ansehen!«, rief Freddy. »Das glaubt ihr nicht!«
Nacheinander drängelten sich alle nach oben – aber niemand war auf das Bild vorbereitet, das sich ihnen bot.
Peter Paw lag zufrieden schnurrend auf einem großzügigen Wandvorsprung unterhalb der Einflugsluken für die Tauben. Wegen der vielen Federn um ihn herum sah es auf den ersten Blick aus, als wäre unter seinem Gewicht ein daunengefülltes Kopfkissen geplatzt. Wie ein wohlgenährter Pascha auf seinem Diwan schaute der rote Kater ihnen schläfrig entgegen, und sein ohnehin beeindruckender Bauch wölbte sich deutlich runder als drei Tage zuvor. An Paws Kopf klebten zwei blutige Daunenfedern. Wie zur Bestätigung für seine allumfassende Zufriedenheit riss er sein Maul weit auf und zeigte beim Gähnen die beeindruckenden Werkzeuge, die der einen oder anderen unvorsichtigen Taube zum Verhängnis geworden waren.
»Du liebe Güte«, keuchte Sam, »hoffentlich lebt Speedy noch!«
»Wer ist denn jetzt Speedy?«, fragte Rebecca Davis und seufzte. »Bitte nicht noch eine Leiche – weder tierisch noch menschlich.«
»Speedy ist die Wettflugtaube der Familie Bloom – sie hat bisher noch jedes Rennen gewonnen«, erklärte Sam. »Ein Wunder, dass Amanda sie nicht im Wohnzimmer hält – aber sie will das Vieh abhärten. Sie träumt davon, Speedy beim Million Dollar Pigeon Race in Südafrika starten zu lassen und zweihunderttausend Dollar abzuräumen. Sie spart seit Jahren für die tausend Dollar Antrittsgeld.« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf.
»Darum kümmern wir uns, wenn es hell ist«, entschied Rebecca kategorisch.
Da Duncan der Größte unter ihnen war, hob er Paw vom Sims herunter. Taubendreck und Staub rieselten auf ihn herab. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er das Gewicht des Katers spürte. Peter Paw hing gemütlich auf Duncans Arm und ließ träge den Schwanz baumeln. Pippa streckte die Arme aus, um den Kater in Empfang zu nehmen, aber Duncan schüttelte den Kopf.
»Wie willst du mit diesem Gewicht auf dem Arm die Leiter herunterkommen? Wir bilden eine Menschenkette und reichen ihn von einem zum nächsten. Geh du nur ganz nach unten.«
Pippa kletterte hinunter in den ersten Stock und rief durch die Öffnung: »Wir haben ihn, und es geht ihm gut!«
Die wartenden Menschen im Erdgeschoss brachen in Jubel aus und schlugen sich gegenseitig auf die Schulter. Die Dorfbewohner klatschten, und Tom Barrel griff sich seine Cecily und machte mit ihr ein paar Polkaschritte.
»Von wegen Gescharre der Vögel«, sagte Anita. »Hätten wir richtig hingehört, hätte Peter Paw mit uns Geburtstag feiern können.«
Als Pippa ins Erdgeschoss hinunterstieg, nahm sie strahlend die begeisterten Glückwünsche der Wartenden entgegen.
»Wir müssen ihn sofort füttern«, sagte Barbara-Ellen und wischte sich ein paar Freudentränen von der Wange.
»Äääh … ich denke, das wird nicht nötig sein.«
Pippa wandte sich wieder der Leiter zu, denn Rebecca, die auf halber Höhe stand, bekam von Freddy gerade den Kater heruntergereicht. Die Constables stützen ihre Vorgesetzte diskret, als sie rückwärts und freihändig die letzten Sprossen überwand. Dann legte sie Peter Paw in Pippas Arme. Der Kater kuschelte sich an Pippa und verstärkte sein Schnurren zu einem Geräusch, das wie der blubbernde Motor einer Harley Davidson im Leerlauf klang.
Dr. Mickleton warf nur einen flüchtigen Blick auf Paw, bevor er konstatierte: »Kerngesund – bis auf das Übergewicht.«
»Aber er muss fürchterlichen Durst haben«, gab Pippa zu bedenken.
Der Tierarzt schüttelte den Kopf. »Einen besseren Durstlöscher als Taubenblut kann ich mir in seiner Lage nicht vorstellen.«
»Taubenblut?« Amanda Bloom drängte sich durch die Menge, um besser sehen und hören zu können. »Und was klebt denn da an seinem Kopf?«
Chris reagierte sofort: Er pflückte die blutigen Daunen ab und ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden.
»Das habe ich gesehen, Chris Cross!« Amanda Bloom stemmte empört die Hände in die Seiten. »Hat dieser Kater etwa Tauben gefressen? Wenn Speedy etwas passiert ist, dann …«
»Wenn Speedy so dumm war, sich von Paw fressen zu lassen, wäre sie für das Rennen in Sun City eh nicht clever genug gewesen«, sagte John Napier.
Bei diesen Worten lachte Hendrik Rossevelt laut auf. »Sie wollen am Million Dollar Pigeon Race teilnehmen?«
Amanda fuhr zu ihm herum. »Was dagegen?«
»Nichts für ungut, meine Liebe«, schoss Hendrik zurück, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine kleine Dorftaube dort auch nur den Hauch einer Chance hat.«
Rebecca Davis hörte dem kleinen Disput der beiden aufmerksam zu, aber ehe die wütende Amanda Bloom noch etwas sagen konnte, kehrten Sam und Duncan wieder ins Erdgeschoss zurück.
»Das ist der Mann, der Peter Paw gefunden hat!«, rief Debbie und präsentierte Sam der applaudierenden Menge.
Sam verbeugte sich stolz in alle Richtungen. Peter Paw, der satt und zufrieden auf Pippas Armen eingeschlafen war, öffnete bei dem Lärm ein Auge und starrte die fröhliche Menge indigniert an. Anita Unterweger flog in Duncans Arme, ohne sich im Mindesten an dem Dreck zu stören, mit dem er bedeckt war. Die beiden küssten sich innig, während Klatschen und Jubel der Umstehenden anschwollen.
»So ein Theater um einen fetten Kater«, murmelte Alain. »Diesen Briten bleibt ja auch nichts anderes übrig als zu spinnen. Wir Franzosen hatten nicht nur einen König, sondern einen Kaiser und obendrein eine ordentliche Revolution. Französisches Essen ist Weltkulturerbe, und vor unserer Fremdenlegion zittern Diktatoren – aber die Briten haben nichts als ihre sprichwörtliche Skurrilität …«
Johannes Berkel legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Lass sie doch ihren Spaß haben und sei nicht sauer«, sagte er leise, »das hast du nicht mehr nötig.«
»Hier scheint ja jedes Töpfchen sein Deckelchen zu finden«, spöttelte Hendrik, als er die beiden Männer so eng beieinander stehen sah, »vielleicht sollte ich mich mal um die frisch verwitwete Frau von Kestring kümmern … oder komme ich dir dann in die Quere, Berkel? Fährst du zweigleisig?«
Johannes Berkel vergewisserte sich rasch, dass Barbara-Ellen mit Peter Paw beschäftigt war und Hendriks Beleidigung nicht gehört hatte. Dann sagte er ruhig: »Siehst du, darin unterscheiden wir uns: Ich suche in jedem nur das Beste und du nur deinen Vorteil.«
Hendrik verzog seinen Mund zu einem bösen Lächeln. »Ist das nicht das Gleiche?«
Sie erstarrten, als hinter ihnen unerwartet Rebeccas schneidende Stimme erklang. »Aus der Sicht des Mörders ganz sicher, meine Herren.«
»Ich weiß nicht, wie ich mich bei dir bedanken soll«, sagte Pippa zur Kommissarin. »All dieser Aufwand … und du hast selber nichts davon.«
Rebecca warf einen beredten Blick in die Runde, der wie zufällig an einigen Mitgliedern des Ensembles hängenblieb. »Das sehe ich anders. Die letzten Stunden waren für meine Kollegen und mich höchst aufschlussreich. Wir haben keine Minute vergeudet.«
Pippa wollte nachfragen, als Chris auftauchte, um ihr Paws Halsband zu geben.
»Ich war noch mal oben und habe es aus der Luke geholt. Allerdings fehlt das Medaillon, aber jetzt ist es zu dunkel, um danach zu suchen.«
»Nicht so schlimm. Trotzdem lieb von dir, daran zu denken. Steck es mir in die Jackentasche«, bat Pippa. »Ich habe im Moment die Hände voll Kater.«
Chris ließ das Halsband in die Tasche ihrer Jacke gleiten. »Und jetzt auf ins Pub. Kommst du mit, Pippa?«
»Danke, aber ich will Paw heimbringen. Trink einen für mich mit«, sagte sie und wandte sich wieder an Rebecca. »Also: Gibt es etwas, mit dem ich mich revanchieren könnte?«
»Gibt es«, antwortete Rebecca, »ich beginne morgen mit den Verhören, aber es sind noch einige Tankstellen übrig, bei denen ich nach Carlos Kwiatkowski fragen wollte. Ich wäre dir und deinem Bruder wirklich dankbar, wenn ihr das übernehmen könntet.«
»Machen wir«, versprach Pippa und drehte sich um, da sie Freddy informieren wollte. Sie blickte direkt in Barbara-Ellens interessiertes Gesicht.
Nach und nach leerte sich das Erdgeschoss des Taubenhauses, weil alle, Freddy und Sam an der Spitze des Triumphzugs, ins Pub zogen. Rebecca verabschiedete sich und ging mit Nicola und Dr. Mickleton zu Nickys Laden, um den Katzenfindling untersuchen zu lassen und dann mit nach Hause zu nehmen.
Barbara-Ellen begleitete Pippa, um Peter Paw für den Rest der Nacht nicht mehr aus den Augen zu lassen.
»Ich bin so froh, dass es Paw gutgeht«, sagte sie, als Pippa den Kater im heimischen Wohnzimmer aufs Sofa setzte.
Paw streckte sich gähnend, rollte sich zu einer Fellkugel zusammen, schloss die Augen und begann umgehend zu schnarchen.
»Ohne dein Halsband hätten wir ihn wohl noch bis zum Sankt Nimmerleinstag gesucht. Oma Will wird überglücklich sein. Ich rufe sie heute Nacht noch an.« Pippa schlüpfte aus der Jacke, hielt inne und zog sie seufzend wieder an. »Bei der ganzen Aufregung habe ich Bastard und seinen Harem komplett vergessen! Ich muss noch mal raus …«
Barbara-Ellen setzte sich neben den Kater aufs Sofa. »Dann geh und füttere das Federvieh, und ich passe auf unseren Überlebenskünstler auf.«
Im Pub floss der Cider in Strömen. Da längst Sperrstunde war, hatte Tom Barrel die fröhliche Runde zur geschlossenen Gesellschaft erklärt.
Als Freddy, Chris und John Napier sich nach einem Sitzplatz umsahen, blieb ihnen nur ein Tisch, an dem Hendrik Rossevelt saß und schweigend über seinem Bier brütete.
»Dürfen wir?«, fragte Chris, aber Hendrik sah nicht einmal auf, sondern zuckte nur mit den Schultern. Die Männer setzten sich.
»Sag mal, Junge, bist du nicht der Enkel von Hetty Wilcox?«, fragte John Napier.
Freddy nickte und stierte begehrlich auf Napiers Pommes, da seine eigene Portion bereits den Weg in seinen unergründlichen Magen gefunden hatte.
»Greif zu, Junge«, forderte Napier ihn auf und fügte hinzu: »Wann kommt sie denn zurück?«
»Oma Will?« Freddy stopfte sich Pommes in den Mund und spülte mit reichlich Cider nach. »Die fühlt sich in Berlin sauwohl. Kein Wunder, Berlin ist ja auch klasse. Ich wünschte, noch mehr von euren Damen würden das so sehen.« Sein Blick flog zu Nicola, die mit Anita und Duncan am Tresen stand. Das frischgebackene Pärchen hielt sich eng umschlungen. »Und wenn die Liebe zuschlägt … nein, ich glaube nicht, dass Oma so schnell nach Hideaway zurückkommen wird.«
John Napier erstarrte. »Die Liebe? Wieso Liebe?«, fragte er alarmiert.
Freddy, der nichts von der Veränderung in Napiers Miene mitbekommen hatte, sagte unbekümmert: »Viktor Hauser, der Vater von Pippas bester Freundin Karin. Oma ist total hingerissen. Ist ständig mit ihm unterwegs oder bei ihm auf der Insel.« Freddy stürzte sich in eine ausschweifende Beschreibung von Viktor Hausers Domizil auf der idyllischen Garteninsel Schreberwerder. »Ich wette, Pippa ist das nur recht«, schloss er seinen Monolog ab, »je verliebter Oma ist, desto länger kann Pippa hierbleiben.«
Mit einer heftigen Bewegung schob Napier seinen Teller endgültig über den Tisch zu Freddy.
»Hetty ist eine wunderbare Frau«, sagte Chris. »Niemand, der sie kennenlernt, mag sie wieder gehen lassen.«
»Aber dem einen gelingt es, sie zu halten, und dem anderen nicht«, philosophierte Napier wehmütig. »Ich wünschte, ich würde das Geheimnis kennen, wie eine Frau wie Hetty …«
»… oder Debbie …«, warf Chris sehnsüchtig ein.
»… oder Nicola zu erobern ist«, sagte Freddy, griff ungestüm nach seinem Cider und stieß dabei Hendriks Bierglas um.
Das Bier schwappte über dessen Unterarm und floss über den Tisch. Während Freddy sich mit einer Serviette bemühte, die Flüssigkeit vom Tisch aufzunehmen, wischte Chris ungeschickt an Rossevelts Armen herum und schob dabei dessen durchnässte Ärmel bis zum Ellenbogen hoch. Erstaunt starrten die Männer am Tisch auf die langen, blutig verschorften Kratzer, die Hendriks Unterarme verunzierten. Mit einer brüsken Bewegung zog Hendrik Rossevelt die Ärmel wieder bis zu seinen Handgelenken herunter und verließ wortlos den Tisch.
Der Weg zum Hühnerstall war dunkel. Pippa verfluchte sich, dass sie vergessen hatte, die Vorhänge am Küchenfester zu öffnen, um wenigstens etwas Licht in den Garten zu lassen. Sie nahm sich vor, Freddy darum zu bitten, das defekte Licht über der Hintertür zu reparieren. Aus dem benachbarten Garten drang ein Geräusch, und Pippa blieb erschrocken stehen.
»Phoebe, bist du das?«
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, antwortete Phoebes Stimme über ihr. »Ich will nur mein Schlafzimmer lüften, bevor ich mich hinlege.«
Pippa sah hoch und entdeckte Phoebes schemenhaften Umriss vor dem schwachen Licht aus deren Schlafzimmerfenster.
»Sag mal«, Phoebe dämpfte die Stimme und lehnte sich aus dem Fenster, »kannst du versuchen, Hettys Patentochter in Belgien zu erreichen?«
»Janne? Wieso das?«
»Ich bekomme Lysander einfach nicht an die Strippe. Janne könnte für uns in dieser Kulturabteilung der EU nachfragen, wann er dort erwartet wird. Es wäre schön, wenn sie die Nachricht hinterlässt, dass er sich umgehend bei uns melden soll.«
»Das macht sie bestimmt«, sagte Pippa, »ich rufe sie morgen früh an.«
Langsam gewöhnten sich Pippas Augen an die Dunkelheit. Durch die geöffnete Tür drang nur wenig Licht in den Hühnerstall, aber Pippa erkannte Umrisse. Die Hühner und Bastard hockten als dunkle Flecken auf ihrer Schlafstange. Obwohl sie keine Anstalten machten, ihre Plätze zu verlassen, beschloss Pippa, Körner in die Hühnertröge zu füllen. Mit leisem, schläfrigem Gackern reagierten die Tiere auf die Störung zu so ungewohnter Stunde. Um sie nicht zu beunruhigen, sprach Pippa leise mit ihnen.
»Alles ist gut, ich bin es nur. Habt ihr auch schön Eier gel …?«
Pippa hielt inne. Sie war sich überdeutlich der Anwesenheit einer anderen Person bewusst. Sie griff sich rasch eine Handvoll Körner, drehte sich blitzschnell um und warf sie laut um Hilfe schreiend auf die dunkle Gestalt, die in der offenen Tür stand.
Die Gestalt wich fluchend zurück, und Pippa erkannte erleichtert die Stimme.
»Sir Michael! Hab ich mich erschreckt.«
»Dann wird es dich trösten, dass es mir nicht viel besser geht«, sagte Sir Michael.
»Was tust du denn hier im Dunklen?«
»Ich wollte zu Phoebe«, sagte er zögernd.
»Dann habe ich eine Neuigkeit. Dies ist das falsche Haus.«
»Ich weiß.« Sir Michael machte eine Pause. »Mich hat plötzlich der Mut verlassen. Ich … ich brauche deine Hilfe, Pippa.«
»Mitten in der Nacht?«
Selbst in der Dunkelheit erkannte Pippa, das Sir Michael vehement nickte. »Ich kann nicht mehr warten, ich brauche Gewissheit. Ich möchte dich bitten, Hetty anzurufen und etwas zu fragen.«
»Ich tu das wirklich gern für dich, aber warum machst du es nicht selbst? Oma freut sich bestimmt, mit dir zu sprechen.«
Zunächst schwieg Sir Michael, dann brach es aus ihm hervor: »Seit ich diesen fürchterlichen Streit mit Lysander hatte … o Pippa, ich will ihn nicht belasten müssen! Ich fürchte, er hat von Kestring umgebracht!«
Wie bitte?, dachte Pippa. Ihre Gedanken wirbelten unkontrolliert durch ihren Kopf.
»Michael«, sagte sie behutsam, »das kannst du unmöglich ernst meinen. Aus welchem Grund sollte Lysander das getan haben? Und wie kann Oma Hetty dir da helfen?«
»Sie soll mir sagen, ob Lysander wirklich mein Sohn ist.«
Bevor Pippa diese Information verdauen konnte, betrat Phoebe den Hühnerstall. Ihre klare Stimme durchschnitt das Schweigen. »Das kann nur ich dir beantworten, Michael.«