12

Die Verhandlung gegen Rhys Duff hatte begonnen. Der Gerichtssaal war dicht besetzt, und bereits eine Stunde vor Beginn des Prozesses schlössen die Gerichtsdiener die Türen. Die Vorverhandlung war bereits abgeschlossen, die Geschworenen waren gewählt. Der Richter, ein gutaussehender Mann von militärischem Erscheinungsbild, rief den Geschworenen ihre Pflichten ins Gedächtnis. Er war mit einem deutlichen Hinken hereingekommen und nahm etwas unbeholfen in seinem hohen, geschnitzten Stuhl Platz, um sein steifes Bein vor sich ausstrecken zu können.

Vertreter der Anklage war Ebenezer Goode, ein Mann von merkwürdigem Aussehen, den Rathbone gut kannte und respektierte. Es widerstrebte Goode zutiefst, gegen einen so offensichtlich kranken Menschen wie Rhys Duff zu verhandeln, aber er empfand nicht nur vor dem Verbrechen, das dem jungen Mann zur Last gelegt wurde, tiefen Abscheu, sondern auch vor den vorangegangenen Vergewaltigungen, die das Motiv für den Mord bildeten. Goode machte bereitwillig Zugeständnisse an Rhys’ medizinische Bedürfnisse, indem er ihm gestattete, in der Anklagebank zu sitzen, statt zu stehen. Man hatte auf der Anklagebank, einem abgesperrten, erhöhten Podest einen gepolsterten Stuhl aufgestellt, um Rhys’ Schmerzen nach Möglichkeit nicht noch zu verschlimmern. Außerdem hatte Goode keine Einwände erhoben, als Rathbone darum bat, Rhys zu keiner Zeit in Handschellen zu legen, so daß er sich frei bewegen oder jede Position einnehmen konnte, die ihm ein Mindestmaß an Bequemlichkeit ermöglichte.

Corriden Wade war im Gerichtssaal und konnte hinzugezogen werden, falls man ihn benötigte, und Hester war ebenfalls anwesend. Beiden sollte unverzüglich Zutritt zur Anklagebank gewährleistet werden, sobald Rhys in irgendeiner Weise erkennen ließ, daß er ihre Hilfe benötigte.

Trotzdem war Rhys allein, als die Beweisaufnahme begann und er einer zutiefst feindseligen Zuschauermenge, seinen Anklägern und seinen Richtern gegenübersaß. Es gab niemanden, der für ihn eintrat, außer Rathbone, einer einsamen Gestalt in schwarzem Gewand und weißer Perücke, ein dünner Schutzwall gegen eine Flut des Hasses.

Goode rief seine Zeugen einen nach dem anderen auf: die Frau, die die beiden Leichen gefunden hatte, Constable Shotts und John Evan. Er führte Evan vorsichtig Schritt für Schritt durch seine Nachforschungen, ohne bei dem Grauen zu verweilen, dessen ganzes Ausmaß er geschickt durch Evans weißes Gesicht und seine gebrochene, heisere Stimme vermitteln ließ.

Goode rief Dr. Riley in den Zeugenstand, der leise und mit überraschend einfachen Worten Leighton Duffs schreckliche Wunden schilderte und die Art und Weise beschrieb, wie er gestorben sein mußte.

»Und der Angeklagte?« fragte Goode, der mit herabhängenden Armen wie eine riesige Krähe mitten im Saal stand. Sein adlerhaftes Gesicht mit den blassen Augen spiegelte lebhaft das Entsetzen über diese Tragödie wider, das er unverkennbar tief empfand.

»Auch er ist sehr schwer verletzt worden«, antwortete Riley ruhig.

Es war kaum ein Laut im Saal zu hören. Irgendwo raschelte ein Kleid, jemand seufzte. Die Geschworenen konzentrierten sich auf die Verhandlung.

»Ist viel Blut geflossen?« fragte Goode weiter. Riley zögerte.

Niemand bewegte sich.

»Nein«, sagte er schließlich. »Wenn ein Mensch getreten und mit Fäusten geschlagen wird, trägt er furchtbare Prellungen davon, aber die Haut wird dabei nicht unbedingt aufgerissen. Ein wenig Blut haben wir allerdings gefunden, vor allem an den Stellen, an denen die Rippen gebrochen waren. Eine der Rippen hatte die Haut durchstoßen. Und er hatte Blut am Rücken. Dort war das Fleisch aufgerissen worden.«

Ein leises Aufstöhnen ging durch den Raum. Mehrere der Geschworenen sahen sehr blaß aus.

»Aber Sergeant Evan sagte, die Kleidung des Angeklagten sei von Blut durchtränkt gewesen, Dr. Riley«, bemerkte Goode.

»Woher kam dieses Blut, wenn nicht von seinen Verletzungen?«

»Ich nehme an, es stammte von dem Toten«, erwiderte Riley.

»Dessen Wunden waren ernsterer Natur und die Haut an mehreren Stellen aufgeplatzt. Aber es überrascht mich doch, daß er so heftig geblutet hat.«

»Und der Beklagte hatte keine Verletzungen, die eine solche Menge Blut erklären könnten?« hakte Goode nach.

»Nein, solche Verletzungen hatte er nicht.«

»Vielen Dank, Dr. Riley.«

Rathbone erhob sich. Es bestand kaum eine Hoffnung, aber er hatte sonst nichts in der Hand. Er mußte alles versuchen, wie gering die Chancen auch sein mochten. Noch wußte er nicht, was Monk herausgefunden hatte, und schließlich waren da auch noch Arthur und Duke Kynaston.

»Dr. Riley, haben Sie irgendeine Möglichkeit, festzustellen, wessen Blut es war, das man auf Rhys Duffs Kleidung gefunden hat?«

»Nein, Sir«, antwortete Riley ohne eine Spur von Ungehaltenheit. Seine gelassene Miene legte die Vermutung nahe, daß er selbst in dieser Sache keine Meinung hatte, sondern nur eine gewisse Bekümmerung darüber verspürte, daß es überhaupt zu dieser Tragödie gekommen war.

»Das Blut hätte also einer dritten oder sogar vierten Person gehören können, die bisher noch nicht erwähnt wurde?«

»Das wäre möglich, falls es eine solche Person gegeben hat.« Die Geschworenen schienen verwirrt zu sein.

Der Richter sah Rathbone nervös an, griff aber nicht ein.

»Vielen Dank«, sagte Rathbone mit einem Nicken. »Das ist alles, was ich Sie fragen wollte, Sir.«

Goode rief Corriden Wade in den Zeugenstand, der widerstrebend, mit blassem Gesicht und kaum hörbarer Stimme zugab, daß Rhys’ Verletzungen das Blut, das auf seiner Kleidung gefunden worden war, nicht erklären konnten. Nicht ein einziges Mal blickte er zur Anklagebank auf, wo Rhys reglos da saß, das Gesicht zu einem undeutbaren Ausdruck verzerrt, einer Mischung aus hilfloser Verbitterung und flammendem Zorn. Ebensowenig schien Wade zur Galerie zu blicken, wo Sylvestra neben Eglantyne saß, und beide Frauen der Verhandlung folgten. Wade wandte kein einziges Mal den Blick von Goode ab, während er bestätigte, daß die Ereignisse in der Todesnacht von Leighton Duff Rhys jeder Möglichkeit beraubt hätten, sich auszudrücken, sei es mündlich oder schriftlich. Er könne einzig nicken oder den Kopf schütteln. Der Arzt verlieh seiner tiefsten Besorgnis um das Wohlergehen des jungen Mannes Ausdruck und wollte sich nicht festlegen, ob er sich jemals wieder erholen würde.

Goode zögerte, als wolle er ihn nach weiteren Einzelheiten zu Rhys’ Persönlichkeit befragen, aber dann besann er sich plötzlich eines anderen. Er brauchte nichts anderes zu beweisen als die Tatsachen, und jede weitere Erkundung eines Motivs hätte Rathbone nur als Vorwand dienen können, eine Geistesgestörtheit anzudeuten. Also bedankte er sich bei Wade und kehrte zu seinem Platz zurück.

Nun trat Rathbone an seine Stelle. Er wußte, daß Wade der mitfühlendste Zeuge war, den er für seinen Mandanten bekommen konnte, abgesehen von Hester, die in den Zeugenstand zu rufen er jedoch keinen Vorwand finden konnte. Und doch wußte er Wade nichts zu fragen, das Rhys nicht mehr geschadet als genützt hätte. So dringend wie nie zuvor brauchte er irgendeinen Hinweis von Monk, und dabei wußte er nicht einmal, worauf er hätte hoffen sollen. Er stand einfach mitten im Saal und kam sich lächerlich vor. Die Geschworenen warteten darauf, daß er etwas sagte, daß er mit der Verteidigung seines Mandanten begann. Bisher hatte er nichts getan, als nach dem Blut auf Rhys’ Kleidung zu fragen.

Sollte er Wade auf den Verfall von Rhys’ Charakter ansprechen und somit den Boden für ein Plädoyer auf Geistesgestörtheit bereiten. Zumindest auf mildernde Umstände? Wahrscheinlich war es das, was Sylvestra wünschte. Es war das einzige, womit man sich eine solche Tat noch erklären konnte.

Aber vor dem Gesetz war das keine Verteidigung, nicht für Rhys. Er mochte durch und durch schlecht sein und aus vollkommen anderen Anschauungen heraus handeln als irgend jemand sonst in diesem überfüllten Saal, aber er war nicht geistesgestört, nicht in dem Sinne, daß er das Gesetz oder das Wesen seiner Taten nicht begriffen hätte. Es gab nicht das Geringste, was darauf hätte schließen lassen, daß er an Wahnvorstellungen litt.

»Vielen Dank, Dr. Wade«, sagte er mit einer Zuversicht, die er keineswegs empfand. »Ich glaube, Sie kennen Rhys schon fast sein Leben lang, ist das korrekt?«

»Das ist es«, pflichtete Wade ihm bei.

»Und Sie sind sein Arzt gewesen, wenn er ärztlicher Hilfe bedurfte?«

»Ja.«

»Wußten Sie, daß es zwischen ihm und seinem Vater ernsthafte und heftige Meinungsverschiedenheiten gab, und wenn ja, wußten Sie, um welches Thema es ging?«

Dies war eine Frage, die zu bejahen Wade außerordentlich schwerfallen mußte. Wenn er es zugab, würde es so aussehen, als sei er inkompetent, weil er nichts getan hatte, um diese Tragödie zu verhindern. Er mußte dastehen wie einer jener Menschen, die im nachhinein kluge Reden führen, und Sylvestra hätte ein solches Verhalten als Verrat empfunden. Und einige der Geschworenen vielleicht ebenfalls.

»Dr. Wade?« fragte er noch einmal.

Wade hob den Kopf und sah ihn entschlossen an.

»Ich war mir einer gewissen Spannung zwischen den beiden bewußt«, antwortete er, und seine Stimme klang nun kräftiger und voller Bedauern. »Ich hielt es für den normalen Groll eines Sohnes, dem die natürliche Autorität seines Vaters nicht behagt.« Er biß sich auf die Unterlippe und holte tief Atem. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, daß es so enden würde. Ich mache mir große Vorwürfe deswegen. Ich hätte tiefer sehen müssen. Während meines Dienstes in der Marine habe ich weitreichende Erfahrungen mit Männern aller Altersstufen und unter extremem Druck gemacht.« Der Hauch eines Lächelns glitt über seine Züge und war sogleich wieder verschwunden.

»Bei Menschen, die einem näherstehen und für die man eine gewisse Zuneigung empfindet, widerstrebt es einem wohl, solche Dinge zu erkennen.«

Es war eine kluge Antwort, ehrlich und doch ohne sich festzulegen. Sie hatte ihm den Respekt der Geschworenen eingetragen. Rathbone konnte es in den Mienen der Männer lesen. Er wäre besser beraten gewesen, diese Frage nicht zu stellen, aber jetzt war es zu spät.

»Sie haben es nicht vorhergesehen?« wiederholte er.

»Nein«, sagte Wade leise und mit zu Boden gerichtetem Blick. »Ich habe nichts dergleichen geahnt, Gott möge mir vergeben.«

Rathbone zögerte, drauf und dran, den Arzt zu fragen, ob er Rhys für geistesgestört halte, entschied sich dann aber dagegen. Keine Antwort, ganz gleich, wie sie ausfiel, konnte seiner Sache in solchem Maße helfen, daß sie das Risiko lohnte.

»Ich danke Ihnen, Dr. Wade. Das ist alles.«

Goode hatte bereits auf die große Gewalttätigkeit des Kampfes und die Tatsache hingewiesen, daß kein Grund für die Vermutung vorlag, eine dritte oder vierte Person könne dabei gewesen sein. Er rief die Dienstboten aus dem Hause Duff in den Zeugenstand – was diesen zutiefst widerstrebte – und ließ sie über den Streit am Abend vor Leighton Duffs Tod berichten. Die Diener waren es auch, die er nach der genauen Zeit befragte, zu der die beiden Männer das Haus verlassen hatten. Auf diese Weise ersparte er Sylvestra zumindest den Kummer, selbst aussagen zu müssen.

Während der ganzen Verhandlung saß Rhys von Kissen gestützt auf der Anklagebank. Seine Haut war aschfahl, und seine Augen wirkten riesig in seinem ausgezehrten Gesicht. Links und rechts von ihm standen zwei Gefängniswärter, vielleicht eher um ihn zu stützen, als ihn an einer neuerlichen Gewalttat zu hindern. Er sah nicht so aus, als sei er in der Lage, Widerstand zu leisten, geschweige denn einen Fluchtversuch zu wagen.

Rathbone zwang sich, alle Gedanken an seinen jungen Mandanten zu unterdrücken. In diesem Falle mußte er eher seinen Verstand als sein Gefühl benutzen. Mochten alle anderen Mitleid mit Rhys haben, so sehr sie nur konnten, er brauchte einen klaren Kopf.

Es schien keine Möglichkeit zu geben, auch nur den leisesten Zweifel auf Rhys’ Schuld zu werfen, sei dieser Zweifel vernünftiger oder unvernünftiger Natur, und Rathbone rang ohne den Schimmer einer Hoffnung mit der Frage, wie er mildernde Umstände für seinen Mandanten erwirken könnte.

Wo war Monk?

Während des Nachmittags und des ganzen folgenden Tages rief Goode eine Schar von Zeugen auf, die Rhys im Laufe einiger Monate immer wieder in St. Giles gesehen hatten. Nicht einer dieser Zeugen ließ sich irgendwie in Zweifel ziehen. Rathbone konnte nur daneben stehen und zusehen. Es gab keine Argumente, die er hätte vorbringen können.

Das Gericht vertagte sich schon sehr früh. Es schien, als bliebe kaum mehr zu tun, als das Resümee des Falles zu ziehen. Goode hatte jede einzelne seiner Behauptungen bewiesen. Es gab keine andere Möglichkeit als die, daß Rhys in St. Giles Prostituierte aufgesucht und daß sein Vater ihn deswegen zur Rede gestellt hatte. Anschließend waren die beiden in einen Streit geraten, und Rhys hatte ihn getötet. Goode hatte es bisher vermieden, die Vergewaltigungen zu erwähnen, aber wenn Rathbone ihm vorwarf, das Motiv für den Mord sei zu geringfügig, um glaubwürdig zu sein, dann würde der Staatsanwalt zweifellos die mißhandelten Frauen mit ihren immer noch sichtbaren Wunden in den Zeugenstand rufen. Er hatte gesagt, daß er es tun würde. Einzig Rhys’ jämmerliche Verfassung hatte ihn davon abgehalten. Das Schicksal hatte den jungen Mann bereits grausam gestraft, und eine Verurteilung wegen Mordes würde genügen, um ihn hängen zu lassen. Mehr war nicht notwendig.

Rathbone verließ den Gerichtssaal mit dem Gefühl, besiegt worden zu sein, ohne auch nur im geringsten gekämpft zu haben. Er hatte nichts für Rhys getan, hatte das Vertrauen, das Hester und Sylvestra ihm entgegenbrachten, durch nichts gerechtfertigt. Er war beschämt und wußte doch nichts zu sagen, womit er Rhys auch nur den leisesten Dienst erwiesen hätte.

Natürlich konnte er Zeugen in die Enge treiben, Einwände gegen Goodes Fragen erheben, seine Taktik, seine Logik und alles andere in Zweifel ziehen, aber all das hatte keinem anderen Zweck gedient, als den Anschein einer Verteidigung zu erwecken. Es wäre reine Heuchelei gewesen. Er wußte es, und Hester würde es ebenfalls wissen. Würde es Rhys in irgendeiner Weise Trost schenken? Oder würde es ihn nur zu falscher Hoffnung verleiten?

Zumindest sollte er den Mut aufbringen, jetzt zu Rhys zu gehen, statt vor der Situation zu fliehen, was ihm soviel lieber gewesen wäre.

Als Rathbone neben Rhys trat, war Hester bereits dort. Als sie Rathbones Schritt hörte, drehte sie sich um, und in ihren Augen stand ein verzweifelter Ausdruck, als flehe sie um ein wenig Hoffnung, irgendeine Hoffnung.

Sie saßen zusammen in der grauen Zelle unter dem Old Bailey. Rhys hatte starke Schmerzen, seine Muskeln waren verkrampft, und seine gebrochenen Hände zitterten. Er sah zutiefst niedergeschlagen aus. Hester, die neben ihm saß, hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt.

Rathbone war am Ende seiner Weisheit.

»Rhys!« sagte er angespannt. »Sie müssen uns erzählen, was passiert ist! Ich möchte Sie verteidigen, aber ich habe nichts, was ich zu Ihrer Verteidigung vorbringen könnte!« Auch seine eigenen Muskeln waren verkrampft, seine Hände in hilflosem Zorn zu Fäusten geballt. »Ich habe keine Waffen! Haben Sie ihn getötet?«

Rhys schüttelte den Kopf, vielleicht einen Zoll weit in jede Richtung, aber das Nein war offenkundig.

»Es war jemand anderes?«

Wieder nur eine winzige Bewegung, aber eindeutig ein Nicken.

»Wissen Sie, wer?«

Ein Nicken, ein bitteres Lächeln mit zitternden Lippen.

»Hat es etwas mit Ihrer Mutter zu tun?«

Ein kaum merkliches Schulterzucken, dann ein Kopfschütteln. Nein.

»Ein Feind Ihres Vaters?«

Rhys wandte sich ruckartig ab und begann, sich mit den Händen auf die Schenkel zu schlagen, so daß die Schienen verrutschten.

Hester hielt ihn an den Handgelenken fest. »Hören Sie auf damit!« sagte sie laut. »Sie müssen es uns erzählen, Rhys. Verstehen Sie nicht? Man wird Sie für schuldig befinden, wenn wir nicht beweisen können, daß es jemand anderes war oder zumindest hätte gewesen sein können!«

Rhys nickte langsam, sah sie aber immer noch nicht an.

Es blieb ihnen nichts anderes mehr als die Brutalität der Wahrheit.

»Man wird Sie hängen«, sagte Rathbone bedächtig.

Rhys’ Kehle zuckte, als wolle er etwas sagen, dann wandte er sich abermals von ihnen ab und weigerte sich, sie anzusehen.

Hester blickte mit Tränen in den Augen zu Rathbone auf.

Er stand eine Weile reglos da. Es gab nichts, was er sagen oder tun konnte. Schließlich seufzte er leise und verließ die Zelle. Im Korridor begegnete er Corriden Wade, der auf dem Weg zu Rhys war. Zumindest würde er ihm ein wenig Linderung für seine körperlichen Schmerzen verschaffen oder ihm einen Heiltrank geben können, der ihm ein paar Stunden Schlaf schenkte.

Kurz darauf erblickte Rathbone Sylvestra, die am Rande des Zusammenbruchs zu stehen schien. Wenigstens war Fidelis Kynaston an ihrer Seite.

Rathbone verbrachte den Abend allein in seiner Wohnung, außerstande, zu essen oder sich auch nur vor seinen Kamin zu setzen. Er ging im Raum auf und ab und klopfte in Gedanken eine nutzlose Tatsache nach der anderen ab, bis sein Butler hereinkam, um zu melden, daß Monk in der Halle war.

»Monk!« Rathbone klammerte sich schon an den Namen des Ermittlers, als sei er ein rettendes Floß für einen Ertrinkenden.

»Monk! Bringen Sie ihn herein, sofort!«

Monk sah müde und blaß aus. Aus seinem Haar tropfte es, und sein Gesicht leuchtete vor Nässe.

»Nun?« fragte Rathbone, der unwillkürlich nach Luft schnappte. Seine Hände waren steif, und ein unangenehmes Prickeln durchlief ihn. »Was haben Sie für mich?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Monk tonlos. »Ich habe keine Ahnung, ob meine Ergebnisse die Sache besser oder nicht sogar noch schlimmer machen. Leighton Duff war einer der Vergewaltiger in Seven Dials und später auch in St. Giles.«

Rathbone stand wie vom Donner gerührt. »Was?« fragte er mit ungläubiger Stimme. Es war ungeheuerlich, vollkommen absurd. Er mußte sich verhört haben. »Was haben Sie gesagt?«

»Leighton Duff war einer der Vergewaltiger in den beiden Bezirken«, wiederholte Monk. »Ich habe mehrere Leute gefunden, die ihn identifizieren werden, insbesondere einen Droschkenkutscher, der ihn am Abend vor Weihnachten mit Blut im Gesicht und an den Händen in St. Giles gesehen hat, direkt nach einer der schlimmsten Vergewaltigungen. Und Rhys hat zur gleichen Zeit am Lowndes Square mit Mrs. Kynaston, Arthur Kynaston, Lady Sandon und ihrem Sohn einen ruhigen Abend verlebt.«

Monks Worte trafen Rathbone mit solcher Wucht, daß der Raum um ihn herum zu schwanken schien.

»Sind Sie sich sicher?« fragte er und wußte im selben Augenblick, in dem die Worte ihm über die Lippen kamen, wie unsinnig sie waren. Er brauchte Monk nur ins Gesicht zu sehen. Außerdem wäre Monk nicht mit derartigen Neuigkeiten zu ihm gekommen, wenn er auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt hätte.

Monk machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Er nahm ungebeten Platz dicht neben dem Feuer. Er zitterte immer noch, und er sah vollkommen erschöpft aus.

»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, fuhr er fort und blickte an Rathbone vorbei zu dem leeren Stuhl ihm gegenüber, schien aber in Gedanken bei einem Bild zu sein, das nur er selbst sehen konnte. »Vielleicht hatte Rhys mit dieser Vergewaltigung nichts zu tun, war aber an einigen oder allen anderen Vergewaltigungen beteiligt«, sagte er. »Vielleicht auch nicht. Fest steht jedoch, daß Leighton Duff seinem Sohn nicht aus Entsetzen darüber gefolgt ist, was dieser getan hatte. Und gewiß hat er ihn auch nicht mit einem Gefühl gerechter Empörung deswegen zur Rede gestellt.« Er drehte sich zu Rathbone um, der immer noch an derselben Stelle stand. »Es tut mir leid*. Im Grunde bedeutet meine Entdeckung nicht mehr, als daß wir das Motiv mißverstanden haben. Sonst beweist diese Sache gar nichts. Ich habe keine Ahnung, was Sie daraus machen werden. Wie läuft denn die Verhandlung im Augenblick?«

»Katastrophal«, erwiderte Rathbone, der nun endlich zu dem anderen Stuhl ging und sich steif darauf niederließ. »Ich habe nichts, womit ich kämpfen könnte. Wahrscheinlich wird Ihre Entdeckung mir zumindest die Munition in die Hand geben, mit der ich die Frage, was eigentlich vorgefallen ist, noch einmal aufrollen kann. Es wird Zweifel wecken. Es wird mit Sicherheit die Verhandlung in die Länge ziehen.« Er lächelte bitter. »Es wird Ebenezer Goode erschüttern!« Ein Gefühl des Grauens wallte in ihm auf. »Und es wird Mrs. Duffs Verderben sein.«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Monk sehr leise. »Aber es ist die Wahrheit, und wenn Sie zulassen, daß Rhys für etwas gehängt wird, an dem er keine Schuld trägt, dann wird keiner von uns das wieder ungeschehen machen oder ihn vom Galgen und aus dem Grab zurückholen können. Die Wahrheit birgt, ganz egal, wie sie aussieht, immer auch eine Art von Freiheit. Zumindest sind Ihre Entscheidungen dann in der Wirklichkeit verwurzelt. Sie können lernen, mit ihnen zu leben.« Rathbone sah Monk prüfend an. In seinem Gesicht spiegelten sich gleichzeitig Schmerz und das Heraufdämmern einer Art von Frieden, die Rathbone dort noch nicht erlebt hatte. In Monks Müdigkeit lag ein ernster Hoffnungsschimmer, irgendwann doch Ruhe zu finden.

»Ja«, pflichtete er ihm bei. »Vielen Dank, Monk. Sie geben mir dann besser die Namen dieser Leute und alle Einzelheiten und natürlich Ihre Rechnung. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht.« Aus gutem Grund verbannte er den Gedanken, Hester sagen zu müssen, was er jetzt wußte. Er hatte in der vor ihm liegenden Nacht schon genug zu tun, wenn er sich eine Strategie zu Rhys’ Verteidigung zurechtlegte.

Rathbone arbeitete bis sechs Uhr morgens, und nach zwei Stunden Schlaf, einem heißen Bad und einem Frühstück fand er sich abermals im Gerichtssaal ein. Die Stimmung dort war ohne jede Erwartung. Auf der Zuschauergalerie gab es sogar einige leere Plätze. Die Verhandlung war von einem mitreißenden Drama zu einer schlichten Tragödie herabgesunken. Es gab nichts Interessantes mehr zu erfahren.

Rathbone hatte die ganze Nacht lang Boten hin und her geschickt. Monk war ebenfalls im Gericht.

Rhys auf der Anklagebank sah blaß und krank aus. Er litt offensichtlich an körperlichen Schmerzen ebenso wie an dem Aufruhr seiner Gefühle. Er zeigte eine solche Verzweiflung, daß Rathbone glaubte, er habe jede Hoffnung verloren bis auf die, daß sein Martyrium irgendwann ein Ende nehmen würde.

Sylvestra saß da wie eine Frau, die in einem Alptraum gefangen war, außerstande, sich zu bewegen oder zu sprechen. Rechts und links von ihr saßen Fidelis Kynaston und Eglantyne Wade. Rathbone war froh darüber, daß Sylvestra nicht allein sein würde, obwohl es möglicherweise noch schlimmer war, daß sie solche Dinge in der Gesellschaft von Freunden würde hören müssen.

Aber es würden ohnehin alle davon erfahren. Sie konnte es nicht vertuschen, wie man solche Familiengeheimnisse vertuschen konnte. Vielleicht war es auch besser, wenn die Leute es im Gerichtssaal hörten, die nackten Tatsachen und nicht Gerüchte, die im Flüsterton erzählt und immer mehr verzerrt wurden. Aber wie auch immer, Rathbone hatte in der Angelegenheit keine Wahl. Er hatte Sylvestra nicht mitgeteilt, was er heute zu enthüllen erwartete. Nicht sie war seine Klientin, sondern Rhys. Außerdem hatte er keine Zeit und auch keine Möglichkeiten gehabt, ihr zu erklären, was er nun wußte. Er konnte auch nicht vorhersehen, was seine Zeugen aussagen würden. Was Rhys betraf, so hatte er nichts mehr zu verlieren.

»Sir Oliver?« bemerkte der Richter fragend.

»Euer Ehren«, antwortete Rathbone. »Die Verteidigung ruft Mrs. Vida Hopgood in den Zeugenstand.«

Der Richter schien überrascht zu sein, machte aber keine Bemerkung. Ein schwaches Murmeln lief durch die Zuschauermenge.

Vida trat nervös in den Zeugenstand, das Kinn hoch erhoben, die Schultern gestrafft, das prachtvolle Haar halb unter einem Hut verborgen.

Rathbone begann ohne Umschweife. Er wußte erschreckend wenig darüber, was sie sagen würde, aber er hatte keine Zeit gehabt, sich auf diese Befragung vorzubereiten. Er kämpfte um das Überleben seines Mandanten, und etwas anderes hatte er nicht in der Hand.

»Mrs. Hopgood, welcher Beschäftigung geht Ihr Ehemann nach?«

»Er hat eine Fabrik«, antwortete sie bedächtig. »Da werden Hemden und solche Sachen gemacht.«

»Und er beschäftigt Frauen, die diese Hemden… und solche Sachen nähen?« fragte Rathbone.

Auf der Galerie kicherte jemand. Es war ein nervöses Kichern. Die Leute konnten kaum angespannter sein, als er selbst es war.

»Ja«, pflichtete Vida ihm bei. Ebenezer Goode erhob sich.

»Ja, Mr. Goode«, kam ihm der Richter zuvor. »Sir Oliver, hat Mr. Hopgoods Beruf irgend etwas mit Mr. Duffs Schuld oder Unschuld in diesem Fall zu tun?«

»Jawohl, Euer Ehren«, erwiderte Rathbone ohne jedes Zögern. »Die Frauen, die er beschäftigt, haben unmittelbar mit der Sache zu tun, genaugenommen sind sie die wahren Opfer in dieser Tragödie.«

Ein Raunen der Verblüffung ging durch den Raum. Mehrere der Geschworenen blickten verwirrt und verärgert auf.

Auf der Anklagebank veränderte Rhys seine Haltung ein wenig, und ein jäher Schmerz verzerrte seine Züge. Der Richter schien nicht recht glücklich über Rathbones Bemerkung zu sein.

»Wenn Sie dem Gericht beweisen, daß diese Frauen in irgendwelcher Weise mißbraucht wurden, Sir Oliver, wird das der Sache Ihres Klienten nicht helfen. Die Tatsache, daß Sie ihre Peiniger identifizieren können, wird den Frauen zusätzliche Qual bereiten, während Sie und Ihr Mandant nichts davon haben würden. Tatsächlich würden Sie Ihren Mandanten nur in einem noch schlechteren Licht erscheinen lassen. Wenn Sie die Absicht haben, auf Geistesgestörtheit zu plädieren, dann brauchen Sie Beweise. Beweise von einer ganz bestimmten Art, was Sie jedoch sicher selbst nur allzu gut wissen. Sie haben auf ›nicht schuldig‹ plädiert. Wollen Sie daran jetzt etwas ändern?«

»Nein, Euer Ehren.« Rathbone fragte sich, ob er vielleicht einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Was mußte Rhys nur von ihm denken? »Nein, Euer Ehren, ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß mein Mandant nicht über einen gesunden Geist verfügt.«

»Dann setzen Sie die Befragung von Mrs. Hopgood fort«, erklärte der Richter. »Aber kommen Sie so schnell wie möglich zur Sache. Ich werde Ihnen nicht gestatten, die Zeit und die Geduld des Gerichts mit Verzögerungstaktiken zu vergeuden.«

Rathbone wußte, wie nahe dieser Vorwurf der Wahrheit kam.

»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte er betont freundlich, bevor er sich wieder Vida zuwandte. »Mrs. Hopgood, hatten Sie in letzter Zeit einen Mangel an Arbeiterinnen zu beklagen?«

»Ja. Haben sich viele krank gemeldet«, erwiderte sie. Sie wußte, was er von ihr wollte. Sie war eine intelligente Frau und auf ihre Art und Weise durchaus beredt. »Das heißt, es waren wohl weniger Krankheiten als Verletzungen. Ich mußte ganz schön auf sie einreden, aber zum Schluß habe ich doch rausgekriegt, was passiert war.« Sie sah Rathbone fragend an und als sie seine Miene sah, fuhr sie mit Inbrunst zu sprechen fort. »Sie verdienen sich nebenbei ein bißchen was dazu, mit Prostitution. Ich meine, sie nehmen hier und da einen Herrn von der Straße mit, wenn ihre Kinder Hunger haben oder so was.«

»Wir verstehen«, versicherte Rathbone und wandte sich dann erklärend an die Geschworenen. »Sie meint, die Frauen betätigen sich bisweilen als Gelegenheitsprostituierte, wenn die Zeiten besonders schwer sind.«

»Das habe ich doch gesagt, oder? Ja. Man kann es ihnen nicht übelnehmen, den armen Dingern. Wer sieht schon zu, wie seine Kinder verhungern, ohne etwas dagegen zu unternehmen? Das wäre unmenschlich.« Vida holte Atem. »Also, wie ich schon sagte, einige von denen haben sich ein bißchen was nebenbei verdient. Na ja, zuerst ging es nur darum, daß sie um ihren Lohn betrogen wurden. Sie haben ja keine Zuhälter, die sich um sie kümmern, verstehen Sie?« Ihr hübsches Gesicht verdüsterte sich vor Wut. »Dann wurde es immer schlimmer. Diese Kerle haben sie nicht nur betrogen, sie fingen schließlich auch an, sie zu schlagen, mit den Fäusten zu bearbeiten und mehr. Am Anfang nur ein bißchen, dann wurde es schlimmer.« In ihrer Miene waren der Zorn und der Schmerz nicht mehr zu übersehen.

»Einige von ihnen haben ziemlich was abbekommen, gebrochene Knochen, ausgeschlagene Zähne, Nasenbrüche. Manche sind selbst noch halbe Kinder. Also habe ich etwas Geld zusammengekratzt und mir jemanden genommen, der rausfinden sollte, wer dahintersteckt.« Sie hielt abrupt inne und sah fragend zu Rathbone hinüber. »Soll ich sagen, wen ich angeheuert habe und was er herausgefunden hat?«

»Nein, vielen Dank, Mrs. Hopgood«, erwiderte Rathbone.

»Sie haben uns eine hervorragende Vorlage geliefert, um von diesen armen Frauen selbst zu hören, was geschehen ist. Da wäre nur noch eins…«

»Ja?«

»Von wie vielen Frauen wissen Sie, die auf diese Art und Weise überfallen wurden?«

»In Seven Dials? Über zwanzig, soweit ich weiß. Die Kerle sind dann nach St. Giles weiter…«

»Vielen Dank, Mrs. Hopgood«, unterbrach Rathbone sie.

»Bitte erzählen Sie uns nur Dinge, die Sie aus eigener Erfahrung wissen.«

Goode erhob sich abermals. »Alles, was wir bisher gehört haben, sind Gerüchte, Euer Ehren, Hörensagen. Mrs. Hopgood war nicht selbst das Opfer dieser Verbrechen, und sie hat mit keinem Wort Mr. Rhys Duff erwähnt. Ich war außerordentlich geduldig, ebenso wie Euer Ehren. All das ist tragisch und grauenerregend, aber doch absolut ohne Bezug zu unserem Fall.«

»Es hat sehr wohl einen Bezug zu unserem Fall, Euer Ehren«, wandte Rathbone ein. »Die Staatsanwaltschaft vertritt die Meinung, daß Rhys Duff in den Bezirk von St. Giles ging, um dort Prostituierte aufzusuchen, und daß sein Vater ihm folgte, ihn wegen seines Benehmens tadelte und Rhys seinen Vater während des daraus resultierenden Streits getötet hat und selbst schwer verletzt wurde. Daher ist das, was diesen Frauen angetan wurde, von fundamentaler Bedeutung für den Fall.«

»Ich habe nicht behauptet, daß diese unglücklichen Frauen vergewaltigt wurden, Euer Ehren«, widersprach Goode ihm.

»Aber wenn es so war, dann ist das nur ein zusätzlicher Beweis für die Brutalität des Angeklagten und den schwerwiegenden Charakter des Motivs. Kein Wunder, daß sein Vater ihm diese abscheuliche Sünde zum Vorwurf gemacht hat und ihn gewiß hart bestraft und ihm möglicherweise sogar damit gedroht hätte, ihn dem Gesetz zu überantworten.«

Rathbone fuhr mit einer jähen Bewegung zu Goode herum.

»Sie haben nur bewiesen, daß Rhys in St. Giles eine Prostituierte aufgesucht hat. Sie haben keinerlei Gewalttaten gegen irgendeine Frau bewiesen, weder in St. Giles noch in Seven Dials!«

»Gentlemen«, sagte der Richter scharf. »Sir Oliver, wenn Sie entschlossen sind, diese Behauptung zu beweisen, dann sollten Sie sich absolut sicher sein, daß Sie Ihrem Mandanten damit helfen und ihn nicht weiter in Mißkredit bringen. Aber wenn Sie wissen, was Sie tun, dann beweisen Sie Ihre Behauptungen. Fahren Sie möglichst zügig fort.«

»Vielen Dank, Euer Ehren.« Rathbone entließ Vida Hopgood aus dem Zeugenstand und rief nacheinander ein halbes Dutzend der Frauen aus St. Giles auf, die Monk gefunden hatte. Er begann mit der Frau, deren Vergewaltigung am längsten zurück lag und deren Verletzungen die geringfügigsten waren. Das Gericht saß in unbehaglichem Schweigen da und lauschte den mitleidserregenden Geschichten von Armut, Krankheit und Verzweiflung, die die Frauen schließlich auf die Straße hinausgetrieben hatte, wo sie für ein paar Pennys ihre Körper verkauften.

Es war Rathbone zutiefst verhaßt, diese Befragungen vornehmen zu müssen. Die Frauen waren allesamt grau im Gesicht und vor Angst und teilweise auch vor Scham beinahe außerstande, zusammenhängende Sätze hervorzubringen. Sie verachteten sich für das, was sie getan hatten, aber ihre Not hatte ihnen keine andere Wahl gelassen. Es war eine Qual für sie, in diesem hübschen Gerichtssaal zu sein, dem Richter in seiner scharlachroten Robe gegenüberstehen zu müssen und von ihrem Elend, ihrer Demütigung und ihrem Schmerz zu sprechen.

Rathbone betrachtete die Geschworenen und las gänzlich anders geartete Gefühle in deren Gesichtern. Er beobachtete, wie weit sie den Berichten dieser Frauen zu folgen vermochten, wie vieles sie erahnten. Wie viele dieser Männer mochten selbst solche Frauen aufgesucht haben? Was empfanden sie jetzt? Scham, Wut, Mitleid oder Abscheu? Mehr als die Hälfte von ihnen blickte zur Anklagebank hinauf, zu Rhys, dessen Gesicht von Gefühlen verzerrt war, auch wenn es sich unmöglich sagen ließ, was seinen Zorn erregte, was den Abscheu weckte, der so deutlich sichtbar in seinen Zügen stand.

Rathbone warf auch einen Blick auf Sylvestra Duff und sah ihre entsetzte Miene, während sich eine Welt vor ihr auftat, die ihre Vorstellung bei weitem überstieg. Diese Frauen führten ein Leben, das sich von dem ihren so vollkommen unterschied, daß sie zu einer anderen Spezies hätten gehören können. Und doch lebten sie nur wenige Meilen entfernt in derselben Stadt.

Fidelis Kynaston, die neben ihr saß, sah bleich, aber weniger schockiert aus. Sie wußte bereits um den Schmerz und die dunklere Seite der Welt. Dies war nur eine Wiederholung von Dingen, die ihr bereits bekannt waren.

Eglantyne Wade regte sich nicht, während eine Welle des Elends nach der anderen an ihr vorüberwogte und mit übelkeitserregender Genauigkeit Dinge zur Sprache gebracht wurden, die sie sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können.

Nach und nach wurden die Berichte immer brutaler. Die Zeuginnen trugen immer noch Zeichen der Gewalt, die ihnen angetan worden war; ihre Gesichter waren verfärbt und angeschwollen, und beim Sprechen wurden ihre frischen Zahnlücken sichtbar.

Ebenezer Goode zögerte, bevor er eine jede von ihnen befragte. Keine der Frauen hatte die Angreifer erkannt. Jede weitere Brutalität konnte seinen Fall nur stärken. Warum sollte er irgendeine Aussäge hinterfragen? Zu beweisen, daß die Frauen Prostituierte waren, war unnötig. Kein Mann und keine Frau im Saal war diesbezüglich im Zweifel, und jeder der Anwesenden hatte seine eigenen Ansichten zu ihrem Gewerbe und dessen Platz in der Gesellschaft oder in seinem eigenen Privatleben.

Besonders hoch schlugen die Wogen des Ekels und des Zorns, als die dreizehnjährige Lily Barker, die immer noch ihre ausgerenkte Schulter schonen mußte, ihre Aussage machte. Stockend erzählte sie Rathbone, wie man sowohl sie als auch ihre Schwester getreten und geschlagen hatte. Sie wiederholte die gegrunzten Schimpfworte, die sie gehört hatte, und sprach davon, wie sie versucht hatte, davonzukriechen und sich in der Dunkelheit zu verstecken.

Fidelis Kynaston sah so aschfahl aus, daß Rathbone glaubte, die Aussage des Mädchens bereitete ihr noch größere Qual als Sylvestra selbst.

Der Richter beugte sich vor, das Gesicht ebenfalls angespannt und bekümmert.

»Haben Sie immer noch nicht alles, was Sie brauchen, Sir Oliver? Sie können unmöglich noch mehr wollen. Wir haben es hier mit einer grauenvollen Angelegenheit von wachsender Gewalt und Brutalität zu tun. Was müssen Sie uns denn noch beweisen? Kommen Sie endlich zur Sache!«

»Ich habe noch ein weiteres Vergewaltigungsopfer, Euer Ehren. Diese Vergewaltigung hat sich in St. Giles zugetragen.«

»Na schön. Ich verstehe Ihren Wunsch, zu beweisen, daß die Angreifer sich in das für unseren Fall wesentliche Gebiet begeben haben. Aber fassen Sie sich kurz.«

»Euer Ehren.« Rathbone rief die Frau auf, die am Abend vor Weihnachten vergewaltigt und geschlagen worden war. Ihr Gesicht war noch immer purpurn verfärbt und angeschwollen, und sie hatte Mühe, mit ihren abgebrochenen Zähnen zu sprechen. Langsam und mit geschlossenen Augen, um nicht die anderen Menschen im Gerichtssaal ansehen zu müssen, durchlebte sie noch einmal ihre furchtbare Angst, ihren Schmerz und ihre Demütigung.

Rhys saß mit grauer Haut auf der Anklagebank, seine Augen so hohl, daß man sich beinahe den Schädel unter dem Fleisch vorstellen konnte. Er beugte sich zitternd über das Gitter, seine gebrochenen Hände steif zwischen den Schienen.

Die Frau beschrieb, wie die Männer sie verhöhnt und beschimpft hatten. Einer von ihnen habe sie getreten, ihr gesagt, sie sei Abschaum, dessen man sich entledigen, von dem man die menschliche Rasse säubern müsse.

Rhys begann, mit den Händen auf das Geländer zu schlagen. Einer der Wärter versuchte ihn davon abzuhalten, aber die Muskeln seines Körpers waren so verkrampft, daß der Mann nichts ausrichten konnte. Rhys’ Gesicht war eine Maske des Schmerzes.

Niemand außer ihm rührte sich.

Die Frau im Zeugenstand sprach weiter, langsam, als müsse sie jedes einzelne Wort mit Gewalt zwischen den Lippen hervorpressen.

Sie hielt inne, die Augen vor Entsetzen geweitet, als Rhys sich losriß und den Mund öffnete. Seine Kehle rang sichtbar mit dem Laut, den sie nicht hervorstoßen konnte, als schrie er innerlich, wieder und wieder.

Der Wärter sprang auf ihn zu und hielt ihn am Arm fest. Rhys schlug nach ihm, und sein Gesichtsausdruck war der Inbegriff von Grauen und Abscheu. Nun versuchte auch der andere Wärter, ihn festzuhalten, ebenfalls vergeblich. Rhys verlor hysterisch vor Angst das Gleichgewicht, schwankte einen Augenblick lang auf dem hohen Podest, kippte zur Seite weg und fiel über das Geländer.

Die Geschworenen sprangen auf.

Sylvestra schrie seinen Namen, und Fidelis schlang beide Arme um Rhys’ Mutter.

Rhys landete mit einem furchtbaren Krachen auf dem Boden und blieb bewegungslos liegen.

Hester war die erste, die sich rührte. Sie sprang von ihrem Platz im hinteren Teil der Galerie, am Rand einer der Sitzreihen, so daß sie im Notfall aufstehen konnte, lief durch den Saal und ließ sich neben Rhys auf die Knie nieder.

Dann herrschte plötzlich Aufruhr. Die Leute schrien und rempelten einander an. Zeitungsreporter versuchten rücksichtslos, aus dem Saal herauszukommen, um die Neuigkeiten weiterzugeben. Ein Gerichtsdiener versuchte hilflos, ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen. Der Richter bearbeitete mit seinem Hammer sein Pult. Jemand rief nach einem Arzt für eine Frau, der eine umgestürzte Bank das Bein gebrochen hatte.

Rathbone fuhr herum, um sich zu Rhys durchzukämpfen. Wo war Corriden Wade? Hatte man ihn weggerufen, damit er sich um die verletzte Frau kümmerte? Rathbone wußte nicht einmal, ob Rhys noch lebte oder nicht. Bei der Höhe, aus der er gestürzt war, konnte er durchaus tot sein. Es schoß ihm durch den Sinn, daß das vielleicht eine barmherzige Möglichkeit war, einem furchtbareren Ende zu entrinnen.

War es vielleicht sogar Selbstmord, nachdem das Opfer ihm das grauenvolle Ausmaß seiner Tat vor Augen geführt hatte, nachdem er die Scham, die Demütigung, die Hilflosigkeit und den Schmerz der Frau mit ansehen mußte? War das das Äußerste, was er tun konnte, um eine Art Wiedergutmachung zu leisten?

War dies der Gipfelpunkt von Rathbones Scheitern oder vielleicht das einzige, was er wirklich für Rhys getan hatte?

Nur daß Rhys diese Frau gar nicht vergewaltigt hatte! Er hatte mit Lady Sandon Karten gespielt, es war Leighton Duff, der sie vergewaltigt und dann geschlagen hatte. Leighton Duff… und wer noch?

Der Aufruhr im Gerichtssaal war ungeheuerlich. Überall riefen die Leute durcheinander und versuchten, den Weg für eine Bahre frei zu machen. Irgend jemand schrie, immer wieder, furchtlos, hysterisch. Überall drängelten die Leute, um in die eine oder andere Richtung voranzukommen.

Hester, die sich über Rhys beugte, hatte einen verzweifelten Augenblick lang denselben Gedanken wie Rathbone. War das Rhys’ Flucht vor dem Schmerz des Körpers, der ihn quälte, und vor der größeren Pein des Geistes, die ihn noch im Schlaf verfolgte? War das der einzige Frieden, den er in einer Welt, die zu einem einzigen langen Alptraum geworden war, hatte finden können?

Dann berührte sie ihn und wußte, daß er noch lebte. Sie ließ eine Hand unter seinen Kopf gleiten und tastete das dichte Haar ab. Vorsichtig und suchend ließ sie die Finger über den Schädel gleiten. Sie konnte keinen Bruch fühlen. Und es war kein Blut an ihrer Hand. Seine Beine waren verdreht, aber sein Rückgrat nicht. Soweit sie sehen konnte, hatte er eine Gehirnerschütterung erlitten, war aber nicht lebensgefährlich verletzt.

Wo war Corriden Wade? Sie sah sich suchend um, entdeckte aber niemand, den sie kannte. Andererseits herrschte dort, wo die Bank umgekippt war und jemand auf dem Boden lag, ziemliches Gedränge. Nicht einmal Rathbone hatte es geschafft, zu ihnen durchzukommen.

Dann sah sie Monk und verspürte eine Woge der Erleichterung. Er kämpfte sich mit den Ellbogen durch die Menge, wütend und mit weißem Gesicht.

Endlich hatte Monk sich durch die Umstehenden hindurchgezwängt und kniete neben Hester nieder.

»Lebt er noch?« fragte er.

»Ja. Aber wir müssen ihn von hier wegbringen«, antwortete sie mit einer Stimme, die schrill vor Furcht war.

Monk blickte zu Rhys hinab, der noch immer nicht das Bewußtsein wiedererlangt hatte. »Gott sei gedankt, daß er im Augenblick nichts fühlen kann«, sagte er leise. »Ich habe dem Wärter Anweisung gegeben, uns eine dieser langen Bänke zu holen. Darauf können wir ihn wegtragen.«

»Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen«, sagte Hester verzweifelt. »Er kann unmöglich in der Zelle bleiben! Ich weiß nicht, wie schwer seine Verletzungen sind!«

Monk öffnete den Mund, als wolle er etwas darauf antworten, änderte dann aber seine Meinung. Einer der Wärter war von der Anklagebank heruntergestiegen und schob die Leute beiseite, um zu Rhys durchzukommen.

»Armer Teufel«, sagte er lakonisch. »Es war das Beste für ihn, wenn er sich umgebracht hätte, aber da er nun mal nicht tot ist, werden wir für ihn tun, was wir können. Hier, Miss, gehen Sie mal ein Stück zur Seite, damit ich ihn auf die Bank heben kann, die Tom holen geht.«

»Wir bringen ihn in das nächste Krankenhaus«, erklärte Hester, während sie zitternd aufstand und um ein Haar über ihre eigenen Röcke gestolpert wäre.

»Tut mir leid, Miss, aber wir müssen ihn in seine Zelle zurückbringen. Er ist ein Gefangener.«

»Er wird wohl kaum fliehen!« versetzte sie zornig, und für einen Augenblick wallten all ihre Hilflosigkeit und ihr Schmerz in nutzlosem Ärger auf. »Er ist bewußtlos, Sie Narr! Sehen Sie ihn sich doch an!«

»Ja, Miss«, sagte der Wärter ungerührt. »Aber Gesetz ist Gesetz. Wir bringen ihn in seine Zelle zurück, und Sie können bei ihm bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit ihm eingesperrt zu werden. Man wird zweifellos nach einem Arzt schicken, sobald man einen kriegen kann.«

»Natürlich bleibe ich bei ihm!« stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Und holen Sie Dr. Wade, sofort!«

»Wir werden es versuchen, Miss. Wollen Sie sonst noch was für ihn haben? Wasser zum Beispiel oder etwas Brandy? Ich könnte bestimmt etwas Brandy für Sie auf treiben.«

Sie beherrschte sich mit Mühe. Der Mann tat sein Bestes.

»Vielen Dank. Ja, bringen Sie mir bitte sowohl Wasser als auch Brandy.«

Der andere Wärter erschien mit zwei weiteren Männern, die eine Holzbank trugen. Mit überraschender Sanftheit hoben sie Rhys hoch und legten ihn auf die Bank. Dann trugen sie ihn aus dem Gerichtssaal, zwängten sich an den Zuschauern vorbei und gingen durch die Türen und den Flur hinunter zu den Zellen.

Hester folgte den Männern, wobei sie die Menschen um sich herum kaum wahrnahm, die neugierigen Blicke, das Gemurmel und die Zurufe. Sie konnte nur daran denken, wie schwer Rhys verletzt sein mochte und warum er sich über das Geländer geworfen hatte. War es ein Unfall, als er versuchte, den Wärtern zu entkommen und sie sich bemüht hatten, ihn festzuhalten?

Oder hatte er die Absicht gehabt, sich umzubringen? Hatte er auch noch den letzten Rest Hoffnung verloren?

Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, der so abwegig und so grauenvoll war, daß sie stolperte und beinahe gestürzt wäre. Ihr war kalt und übel, und ihre Gedanken überschlugen sich, wie sie herausfinden konnte, ob ihre Vermutung wahr sein konnte. Und wie sie sich beweisen ließ. Jetzt wußte sie auch, warum Rhys nicht sprechen konnte, warum er es, selbst wenn er könnte, nicht getan hätte.

Hester hastete die zwei Stufen hinunter, um die anderen einzuholen. Sobald sie bei den Zellen waren, wandte sie sich an die Wärter.

»Ich danke Ihnen. Bringen Sie mir den Brandy und das Wasser und lassen Sie uns dann allein. Ich werde alles in meiner Kraft Stehende für ihn tun.« Es war ein Rennen gegen die Zeit. Es konnte nicht lange dauern, bis Dr. Wade oder irgendein anderer Arzt kam. Wenn sie recht hatte, durfte nicht Corriden Wade diese Untersuchung vornehmen. Sie mußte es wissen.

Der Wärter verschwand und ließ die Tür offen. Sein Kollege wartete dahinter. Wie sollte sie es anfangen, wie Zeit gewinnen?

»Alles in Ordnung, Miss?«

»Ja, natürlich, vielen Dank. Ich bin Krankenschwester. Ich habe schon viele verletzte Männer behandelt. Ich werde ihn nur untersuchen, um festzustellen, wo seine schwersten Verletzungen liegen. Es wird dem Arzt helfen, wenn er kommt. Wo ist der Brandy? Und das Wasser? Ich brauche nur wenig, aber beeilen Sie sich!« Ihre Hände zitterten, ihr Mund war trocken. Sie konnte ihr Herz spüren, das ihr gegen die Brust hämmerte.

Rhys war immer noch bewußtlos. Sobald er wieder zu sich kam, würde sie nichts mehr tun können.

Hester öffnete Rhys’ Kragen und nahm ihm die Krawatte ab. Dann knöpfte sie sein Hemd auf, bevor sie sachte begann, den oberen Teil seines Körpers zu untersuchen. Dort waren keine Verbände, denn gegen Prellungen ließ sich nicht viel tun, man konnte lediglich Salbe aufstreichen, wie Arnika zum Beispiel. Die schlimmsten Prellungen hatten zu heilen begonnen. Die gebrochenen Rippen waren gut zusammengewachsen, obwohl Hester wußte, daß sie Rhys immer noch schmerzten, vor allem wenn er hustete, nieste oder eine zu schnelle Bewegung machte.

Wo war der Wärter mit dem Brandy und dem Wasser? Es schien ihr eine Ewigkeit verstrichen zu sein, seit er gegangen war!

Vorsichtig öffnete sie den Hosenbund. Das war der Bereich, in dem seine schlimmsten Verletzungen lagen, die Verletzungen, die Dr. Wade behandelt und die zu sehen er ihr nicht gestattet hatte. Hester zog den Hosenbund einige Zoll weit hinunter und sah die bläulichpurpurnen Verfärbungen, die mittlerweile verblaßten. Die Abschürfungen dort, wo er getreten worden war, waren immer noch zu sehen, wurden aber zum Rand hin bereits blasser und waren eher gelblich als blau. Sie konnte keine Verbände ertasten.

»Miss!«

Sie erstarrte. »Ja?«

»Das Wasser, Miss«, sagte der Wärter. »Und ein Tropfen Brandy. Ist er schlimm verletzt?«

»Das kann ich noch nicht sicher feststellen. Ich danke Ihnen.« Sie richtete sich auf und nahm ihm erst das Wasser, dann den Brandy ab. Beide Gefäße stellte sie auf den kleinen Tisch.

»Vielen Dank. Sie können mich jetzt einschließen. Ich werde keine Schwierigkeiten haben. Kommen Sie wieder, wenn der Arzt eintrifft. Und wenn Sie so freundlich sein wollen, klopfen Sie vorher an. Ich mache ihn dann fertig.«

»Jawohl, Miss. Sind Sie sicher, daß Sie zurechtkommen werden? Sie sehen furchtbar blaß aus. Vielleicht sollten Sie selbst einen Schluck von diesem Brandy nehmen?«

Sie versuchte zu lächeln und spürte, wie ihr Gesicht sich zu einer Grimasse verzog. »Vielleicht. Vielen Dank.«

»Keine Ursache, Miss. Sie brauchen bloß zu klopfen, wenn Sie raus wollen.«

»Das mache ich. Jetzt sollte ich erst einmal feststellen, was ich für ihn tun kann. Vielen Dank!«

Endlich ging er und ließ sie allein. Sie machte sich unverzüglich an die Arbeit, denn sie hatte keine Zeit zu verlieren. Die Wärter konnten jederzeit mit einem Arzt zurückkehren. Wenn sie sich irrte, gab es keine Möglichkeit auf Erden, wie sie hätte erklären können, was sie tat. Ihr Verhalten würde sie wahrscheinlich ruinieren, selbst wenn sie recht hätte, es aber nicht beweisen konnte!

Hester öffnete Rhys’ Hose und seine Unterwäsche, um seinen Körper bis zu den Schenkeln zu entblößen. Er hatte keinerlei Verbände am Unterleib, keine Pflaster. Das einzige waren furchtbare Prellungen, als hätte man ihn wiederholt getreten. Mit einem Gefühl der Übelkeit rollte sie Rhys auf den Bauch und begann die Untersuchung, die ihr verraten würde, was sie wissen mußte, obwohl das träge Blutrinnsal und das purpurne, aufgerissene Fleisch bereits alles sagten.

Hester brauchte nur Sekunden. Dann zog sie Rhys mit zitternden Händen und steifen, unbeholfenen Fingern die Kleider wieder an und rollte ihn auf den Rücken zurück, wobei er beinahe von der schmalen Bank gerutscht wäre. Sie versuchte, seine Hose zu schließen, bekam sie aber nicht richtig zu fassen. Sie hatte gerade noch Zeit, ihm seine Jacke umzuwerfen, als er mit flatternden Lidern die Augen öffnete.

»Rhys!« Sie erstickte beinahe an dem einen Wort, und die ganze Qual ihrer Gefühle schwang in ihrer Stimme mit.

Rhys keuchte und sog scharf den Atem ein. Er wehrte sich gegen sie, versuchte, nach ihr zu schlagen, sie wegzuschieben.

»Rhys!« Hester hielt seine Arme oberhalb der Schienen fest, und ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. »Rhys, ich weiß, was Ihnen passiert ist! Es ist nicht Ihre Schuld! Sie sind nicht der einzige! Ich habe Soldaten gekannt, denen es passiert ist, tapfere Männer, Männer, die auf dem Schlachtfeld ihren Mut tausendfach bewiesen haben.«

Er begann so heftig zu zittern, daß sie ihn nicht mehr festhalten konnte. Die Wildheit seines Zorns erschütterte sie. Er schluchzte; es war ein verzweifeltes, heftiges Weinen, und Hester wiegte ihn in den Armen und strich ihm über den Kopf.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihr klar wurde, daß sie ihn hören konnte. Sein Weinen hatte eine Stimme bekommen. Irgend etwas hatte ihm seine Sprache zurückgegeben, seine Verzweiflung vielleicht, der Sturz oder das Bewußtsein, daß sie, Hester, Bescheid wußte.

»Was war es?« fragte sie drängend. »Sie müssen es mir sagen!« Obwohl sie sich selbst mit einem Gefühl quälender Kälte sicher war, daß sie es wußte. Es gab nur eine einzige Erklärung dafür, warum bisher niemand davon erfahren hatte, warum Corriden Wade es niemandem erzählt hatte, nicht ihr, nicht Rathbone. Es erklärte so vieles, Rhys’ Angst, seine Grausamkeit und die Zurückweisung seiner Mutter, sein Schweigen. Hester erinnerte sich mit einem Gefühl der Übelkeit an die Glocke, die von seinem Nachttisch auf die Kommode gestellt worden war, wo er sie nicht erreichen konnte.

»Ich werde Sie beschützen!« sagte sie grimmig. »Ich werde dafür sorgen, daß zu jeder Zeit entweder die Wärter oder ich bei Ihnen sein werden, das schwöre ich. Und jetzt sagen Sie es mir!«

Langsam, mit gequälten, stockenden Worten und flüsternd, als könne er es nicht ertragen, sich selbst sprechen zu hören, erzählte er ihr von der Nacht, in der sein Vater starb.

Die Tür wurde aufgerissen, und Corriden Wade stürzte herein. Er hatte seine Tasche in der Hand, sein Gesicht wirkte eingefallen, und seine Augen waren dunkel und voller Zorn. Die beiden Wärter kamen direkt hinter ihm und blieben unbeholfen und verlegen in der Tür stehen.

»Was machen Sie da, Miss Latterly?« fragte Wade scharf und ohne den Blick von Rhys’ weißem, angespannten Gesicht mit den wilden Augen abzuwenden. »Lassen Sie mich bitte mit meinem Patienten allein. Er ist offensichtlich zutiefst verstört.« Wade wandte sich an die Wärter. »Ich werde sauberes Wasser benötigen, mehrere Schalen und dazu Verbände. Vielleicht kann Miss Latterly diese Dinge holen. Sie wird wissen, was ich brauche…«

»Ich glaube nicht«, fiel Hester ihm abrupt ins Wort. Sie machte einige Schritte, so daß sie zwischen Rhys und Wade stand. Dann sah sie den Wärter an. »Würden Sie bitte Sir Oliver Rathbone holen, sofort. Mr. Duff möchte eine Aussage machen. Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß Sie dies mit größtmöglicher Schnelligkeit erledigen.«

»Mr. Duff kann nicht sprechen«, entgegnete Wade voller Verachtung. »Diese Tragödie hat Ihre Nerven offensichtlich in Mitleidenschaft gezogen, Miss Latterly, was nicht weiter überraschend ist. Vielleicht führen Sie die Dame jetzt besser hinaus und sehen, ob Sie ihr…«

»Holen Sie Sir Oliver!« wiederholte Hester laut. Sie sah den Wärter eindringlich an. »Gehen Sie!«

Der Mann zögerte. Die Autorität des Arztes akzeptierte er. Er hätte immer den Befehl eines Mannes vor dem einer Frau befolgt.

»Holen Sie meinen Anwalt«, sagte Rhys heiser. »Ich möchte eine Aussage machen, bevor ich sterbe!«

Alles Blut wich aus Wades Gesicht.

Der Wärter hielt den Atem an. »Geh ihn holen, Joe«, sagte er schnell. »Ich werde hier warten.«

Der zweite Wärter machte auf dem Absatz kehrt und gehorchte.

Hester stand reglos da.

»Das ist ungeheuerlich!« begann Wade und wollte sich an Hester vorbeidrängen, aber der Wärter hielt ihn an der Schulter fest. Von Medizin verstand er nichts, aber von Aussagen auf dem Totenbett sehr wohl.

»Lassen Sie mich los!« befahl Wade wütend.

»Es tut mir leid, Sir«, entgegnete der Wärter scharf. »Aber wir werden auf den Anwalt warten, bevor wir den Gefangenen irgendwie medizinisch behandeln. Im Augenblick geht es ihm einigermaßen gut. Die Krankenschwester hier hat sich um ihn gekümmert. Sie werden einfach geduldig abwarten müssen, und sobald der Anwalt seine Arbeit getan hat, können Sie sich um Ihren Patienten kümmern, wie es Ihnen gefällt.«

Wade öffnete den Mund, als wolle er Einwände erheben, erkannte dann aber, daß es nutzlos gewesen wäre. Er stand da wie ein Tier in der Falle, ohne Hoffnung auf ein Entkommen.

Rhys sah Hester an.

Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, dann drehte sie sich um und wandte sich wieder Wade und dem Wärter zu. Ihr war übel, so sehr schmerzte die Desillusionierung über diesen Mann.

Die Minuten verrannen.

Rathbone kam mit geweiteten Augen und gerötetem Gesicht in die Zelle geeilt.

»Ich will…«, begann Rhys und holte dann bebend Atem.

»Ich will Ihnen sagen, was passiert ist.«

Schweigend wandte Corriden Wade sich um und verließ den Raum.

Das Gericht trat am Vormittag wieder zusammen. Rhys war nicht anwesend, da man ihn wieder ins Krankenhaus gebracht und der Obhut Dr. Rileys unterstellt hatte, auch wenn er weiter von einem Polizisten bewacht wurde. Er war nach wie vor eines schrecklichen Verbrechens angeklagt.

Die Galerie war überraschend leer. In jeder Reihe gab es freie Sitzplätze. Die Leute waren davon ausgegangen, daß Rhys’ Sturz über das Geländer ein Selbstmordversuch gewesen sein müsse und daher ein stillschweigendes Eingeständnis seiner Schuld. Es war alles vorbei, bis auf das Urteil. Die drei Frauen, Sylvestra Duff, Eglantyne Wade und Fidelis Kynaston, saßen nebeneinander und waren von unten deutlich zu erkennen. Sie sahen einander nicht an, aber es herrschte eine Nähe zwischen ihnen, eine Art wortloser Kameradschaft, die jedem offenbar wurde, der sie nur sorgfältig genug betrachtete.

Der Richter erinnerte die Geschworenen an ihre Pflichten und gab Rathbone Anweisung, mit der Verteidigung fortzufahren. Die Geschworenen sahen grimmig, aber resigniert drein, als sei ihre Anwesenheit bei der Verhandlung nur noch eine Formsache und vollkommen sinnlos.

»Vielen Dank, Euer Ehren«, antwortete Rathbone. »Ich rufe Mrs. Fidelis Kynaston in den Zeugenstand.«

Ein Raunen der Überraschung ging durch den Saal, als Fidelis mit bleichem Gesicht die Stufen zum Zeugenstand hinaufstieg. Sie legte den Eid ab und sah Rathbone mit hoch erhobenem Kopf an, aber ihre auf dem Geländer ruhenden Hände waren zu Fäusten geballt, als brauche sie jeden Halt, den sie finden konnte.

»Mrs. Kynaston«, begann Rathbone sanft. »Haben Sie am Abend vor Weihnachten in Ihrem Haus eine Gesellschaft gegeben?«

Sie hatte gewußt, was er fragen würde. Mit heiserer Stimme antwortete sie: »Ja.«

»Wer war an dem betreffenden Abend anwesend?«

»Meine beiden Söhne, Rhys Duff, Lady Sandon, Rufus Sandon und ich.«

»Um wieviel Uhr hatte Rhys Duff Ihr Haus verlassen?«

»Etwa gegen zwei Uhr morgens.«

Von der Galerie kam plötzlich ein Geräusch, das wie das Rascheln von Stoff klang. Einer der Geschworenen beugte sich ruckartig nach vorn. »Sind Sie sich sicher, was die Uhrzeit betrifft, Mrs. Kynaston?« hakte Rathbone nach.

»Ich bin mir absolut sicher«, erwiderte sie. Sie sah ihm direkt in die Augen. »Wenn Sie Lady Sandon oder irgendeinen meiner Bediensteten fragen, werden sie Ihnen dasselbe sagen.«

»Also kann Rhys Duff unmöglich einer der Männer gewesen sein, die um Mitternacht die unglückliche Frau in St. Giles vergewaltigt haben?«

»Nein.« Sie schluckte krampfhaft. »Das ist unmöglich.«

»Vielen Dank, Mrs. Kynaston, das ist alles, was ich Sie fragen wollte.«

Goode dachte ein oder zwei Sekunden lang nach und verzichtete dann darauf, die Zeugin zu befragen.

Rathbone rief den Droschkenkutscher Joseph Roscoe auf. Roscoe beschrieb den Mann, den er am Abend vor Weihnachten gesehen hatte, als der mit Blut an den Händen und im Gesicht St. Giles verließ. Rathbone legte ihm ein Porträt von Leighton Duff vor.

»Ist das der Mann, den Sie gesehen haben?« Roscoe zögerte nicht. »Ja, Sir, das ist er.«

»Euer Ehren, das ist ein Porträt von Leighton Duff, den Mr. Roscoe soeben identifiziert hat.«

Weiter kam er nicht. Der Lärm im Gericht klang wie die Brandung des Meeres. Sylvestra saß wie erstarrt da, ihr Gesicht eine Maske blanken, ungläubigen Entsetzens. Eglantyne Wade stützte sie. Fidelis starrte stocksteif immer noch den Droschkenfahrer an. Die Geschworenen blickten fassungslos von dem Zeugen zu Rathbone und wieder zurück.

Der Richter war ernst und zutiefst beunruhigt. »Sind Sie sich in dieser Sache absolut sicher, Sir Oliver? Wollen Sie behaupten, daß Leighton Duff und nicht Rhys Duff all diese furchtbaren Vergewaltigungen begangen hat?«

»Jawohl, Euer Ehren«, sagte Rathbone mit Überzeugung.

»Leighton Duff war einer von drei Männern. Rhys Duff hatte nichts mit ihnen zu tun. Er ist tatsächlich nach St. Giles gegangen und hat dort eine Prostituierte aufgesucht. Aber er hat den geforderten Preis gezahlt und sich nicht die geringste Gewalttätigkeit zuschulden kommen lassen. Wir alle mögen, was solches Verhalten betrifft, unser moralisches Urteil haben, aber es ist kein Verbrechen, und es ist gewiß weder eine Vergewaltigung noch ein Mord.«

»Aber wer hat dann Leighton Duff ermordet, Sir Oliver? Er hat nicht Selbstmord begangen. Es scheint offensichtlich zu sein, daß er und Rhys miteinander gerungen haben, und Rhys hat überlebt, während sein Vater starb.«

»Mit Eurer Erlaubnis, Euer Ehren, werde ich es dem Gericht erklären.«

»Sie müssen mehr tun, als es nur zu erklären, Sir Oliver. Sie müssen es diesem Gericht und diesen Geschworenen beweisen, ohne jeden Zweifel.«

»Genau das habe ich vor, Euer Ehren. Zu diesem Zweck rufe ich Miss Latterly in den Zeugenstand.«

Seine Worte weckten erneut großes Interesse im Saal. Die Leute reckten die Hälse, während Hester durch den Raum ging, die Stufen hinaufstieg und den Eid ablegte.

»Welcher Beschäftigung gehen Sie nach, Miss Latterly?« begann Rathbone beinahe im Plauderton.

»Ich bin Krankenschwester.«

»Haben Sie zur Zeit einen Patienten?«

»Ja. Ich bin mit der Pflege von Rhys Duff betraut gewesen, seit er nach dem Zwischenfall in der Water Lane aus dem Krankenhaus entlassen wurde.«

»Hat sich auch ein Arzt um ihn gekümmert?«

»Dr. Corriden Wade. Er war, wie man mir erzählt hat, seit vielen Jahren der Arzt der Familie.«

Der Richter beugte sich vor. »Bitte beschränken Sie sich auf die Dinge, die Sie wissen, Miss Latterly.«

»Es tut mir leid, Euer Ehren.«

»Haben Sie in der Armee Erfahrung mit Männern gesammelt; die auf dieselbe Weise und genauso schwer verletzt waren wie Rhys Duff, Miss Latterly?«

»Ja. Ich habe in Scutari viele verletzte Soldaten gepflegt.«

Ein Raunen der Bewunderung ging durch die Galerie. Zwei der Geschworenen nickten.

»Haben Sie seine Verletzungen selbst behandelt oder ihn nur gepflegt, ihn saubergehalten, ihm beim Essen geholfen und sich darum gekümmert, daß seine Wünsche berücksichtigt wurden?« Rathbone mußte aufpassen, wie er seine Fragen formulierte. Bisher schien niemand sonst auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was er zu beweisen versuchte. Er durfte Hester nicht beeinflussen, und er mußte dafür sorgen, daß die Geschworenen, sobald er ihnen die Wahrheit bewiesen hatte, nicht mehr den leisesten Zweifel hatten.

Goode hörte gespannt zu.

»Ich habe die Wunden oberhalb der Taille behandelt«, erwiderte Hester. »Es handelte sich dabei um Prellungen von sehr ernster Natur. Außerdem habe ich die gebrochenen Knochen in seinen Händen und zwei gebrochene Rippen versorgt. Dr. Wade sagte mir, daß er die Verletzungen unterhalb der Taille selbst verbinden wollte. Auf diese Weise wollte er Mr. Duff jede Peinlichkeit ersparen.«

»Ich verstehe. Sie haben diese Verletzungen also nie selbst gesehen?«

»Das ist korrekt.«

»Also was die Natur und das Ausmaß dieser Verletzungen betraf, haben Sie sich auf Dr. Wades Wort verlassen. Er hat Ihnen auch gesagt, daß die Wunden heilten, so gut man es erwarten konnte?«

»Jawohl.«

Der Richter beugte sich abermals vor. »Sir Oliver, haben die Natur oder die Lage von Mr. Duffs Wunden irgendeinen Zusammenhang mit der Frage, ob er für den Tod seines Vaters verantwortlich war? Ich gestehe, daß mir das nicht einleuchten will!«

»Doch, Euer Ehren, der Gedankengang, den ich verfolge, ist von größter Wichtigkeit.« Rathbone wandte sich wieder Hester zu. »Miss Latterly, hat Mr. Duff während der Zeit, in der Sie ihn pflegten, irgendwann in ungewöhnlichem Maß einen Aufruhr der Gefühle erkennen lassen?«

Goode erhob sich. »Euer Ehren, Miss Latterly hat Mr. Duff vor der Tragödie nicht gekannt. Sie kann unmöglich wissen, ob seine Erregung ungewöhnlich war oder nicht.«

Der Richter sah Rathbone an. »Sir Oliver? Mr. Goodes Einwendung scheint mir gerechtfertigt zu sein.«

»Euer Ehren, ich wollte wissen, ob Rhys Duff für einen Mann in seinem Zustand irgendwelche außergewöhnlichen Gefühle an den Tag gelegt hat. Miss Latterly hat viele schwerverletzte Männer gepflegt. Ich glaube, sie weiß besser als die meisten anderen Menschen, was sie in solchen Fällen zu erwarten hat.«

»Ich stimme Ihnen zu.« Der Richter nickte. »Sie dürfen antworten, Miss Latterly.«

»Jawohl, Euer Ehren. Rhys hatte furchtbare Alpträume, in denen er versuchte aufzuschreien. Er schlug mit den Armen um sich, obwohl seine Hände gebrochen waren und das ihm schlimme Schmerzen verursacht haben muß. Aber wenn er wach war, weigerte er sich kategorisch, auf Fragen bezüglich des Unfalls zu antworten, und er geriet in einen Zustand äußerster Erregung, bis hin zu gewalttätigen Reaktionen gegen andere, vor allem gegen seine Mutter. Dieses Verhalten konnte ich beobachten, sobald er irgendwie unter Druck gesetzt wurde.«

»Und welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?« fragte Rathbone.

»Ich habe gar keine Schlüsse gezogen. Ich war verwirrt. Ich … ich habe befürchtet, daß er vielleicht tatsächlich seinen Vater getötet hatte und daß die Erinnerung daran ihm unerträglich war.«

»Sind Sie immer noch dieser Meinung?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Hester holte tief Atem und stieß die Luft langsam wieder aus. Im Gerichtssaal herrschte völlige Stille. Goode runzelte die Stirn, hörte aber weiter aufmerksam zu.

»Weil ich mich, als ich ihn heute morgen stürzen sah«, antwortete sie, »für einen Augenblick an etwas erinnerte, was ich in der Armee erfahren hatte. Es schien zu grauenvoll, um wahr zu sein, aber dann war ich in seiner Zelle einige Minuten lang mit ihm alleine, bevor Dr. Wade kam. Ich habe eine sehr kurze Untersuchung seiner Verletzungen vorgenommen – der Verletzungen unterhalb der Taille.« Sie hielt inne. Ihr Gesicht spiegelte ihren Schmerz wider.

Rathbone wünschte, er hätte sie nicht zwingen müssen, dies auszusprechen, aber er hatte keine andere Wahl.

Sie las es in seinen Augen und zauderte nicht eine Sekunde lang.

»Er war vergewaltigt worden«, sagte sie sehr leise, aber sehr deutlich. »Rhys war das letzte Opfer der Vergewaltiger.«

Es folgte ein allgemeines Aufstöhnen, dann eine absolute Stille, die nur von Sylvestras Keuchen gebrochen wurde. Die Qualen, die sie im Augenblick empfand, waren unerträglich.

»Rhys und sein Vater haben sich gestritten, weil Rhys ein wenig von dem, was vor sich ging, wußte. Sein Vater hatte ihn kritisiert, weil er zu Prostituierten ging, und die Scheinheiligkeit dieses Verhaltens erzürnte ihn. Aber um seiner Mutter willen konnte er nicht offen darüber sprechen. Er stürzte aus dem Haus und ging nach St. Giles. Zufällig tat sein Vater dasselbe.«

Hester holte Atem, und ihre Stimme wurde heiserer.

»Die drei Männer haben ihn in der Water Lane überfallen«, fuhr sie fort, und obwohl das nur Hörensagen sein konnte, unterbrach Goode sie nicht. Sein außergewöhnliches Gesicht war von Entsetzen verzerrt. »Sie haben ihn niedergeschlagen und vergewaltigt«, fuhr sie fort, »wie sie zuvor die Frauen vergewaltigt hatten und vielleicht andere junge Männer. Möglich, daß wir das nie erfahren werden. Dann, als er sich wehrte und aufschrie, hat einer von ihnen innegehalten, weil ihm klar wurde, wer sein Opfer war. Leighton Duff hatte soeben seinen eigenen Sohn vergewaltigt und geschlagen.« Ihre Stimme war heiser. »Er versuchte, ihn vor weiterer Gewalt zu schützen, aber seine Gefährten waren zu weit gegangen, um sich noch zurückziehen zu können. Wenn sie Rhys am Leben ließen, würde er Anklage gegen sie erheben. Sie waren es, die Leighton Duff getötet haben. Sie glaubten, sie hätten auch Rhys getötet.«

Eglantyne Wade saß hilflos auf ihrem Platz. Fidelis hielt Sylvestra in den Armen und wiegte sie sachte hin und her, ohne die Menschen um sich herum wahrzunehmen, deren Mitleid geradezu fühlbar war.

»Wie ist es möglich, daß Sie das wissen, Miss Latterly?« fragte Rathbone.

»Weil Rhys nach dem Unfall heute morgen die Sprache wiedergefunden hat«, antwortete sie. »Er hat es mir erzählt.«

»Und kannte er auch die Namen der beiden anderen Angreifer?«

»Ja. Es waren Joel Kynaston, sein ehemaliger Schuldirektor, und Corriden Wade, sein Arzt. Das war einer der Gründe, warum er nicht einmal versuchen konnte, irgend jemandem begreiflich zu machen, was ihm zugestoßen war. Andere Gründe für sein Schweigen waren seine tiefe Beschämung und Demütigung.«

Eglantyne hob ruckartig den Kopf; ihre Augen waren geweitet, ihre Haut war aschfahl. Sie schien um Atem zu ringen. Fidelis war keinerlei Veränderung anzumerken, als habe sie das Gehörte tief innerlich nicht wirklich überrascht.

»Vielen Dank, Miss Latterly.« Rathbone wandte sich dem Richter zu, um eine Bitte zu äußern, hielt dann aber inne. In die Züge des Richters hatten sich Entsetzen und ein so tiefes Mitleid eingegraben, daß allein der Anblick des Mannes ihn erschreckte.

Rathbone sah die Geschworenen an und las dieselben Gefühle in ihren Augen. Nur vier der Männer weigerten sich offensichtlich, etwas Derartiges zu glauben. Frauen waren es, die vergewaltigt wurden, unmoralische Frauen, die so etwas geradezu herausforderten. Solche Dinge widerfuhren einem Mann einfach nicht. Keinem Mann! Männer waren unverletzlich … zumindest, was die Intimität ihrer Körper betraf. Das Entsetzen und die Verständnislosigkeit machten sie benommen. Sie starrten blind vor sich hin und nahmen den Raum um sich herum und die merkwürdige Stille in der Galerie kaum wahr.

Rathbone sah Sylvestra Duff an. Sie war so bleich, daß man den Eindruck hatte, sie sei kaum mehr lebendig. Eglantyne Wade hatte den Kopf gesenkt und die Hände vors Gesicht geschlagen. Nur Fidelis Kynaston bewegte sich. Sie hielt immer noch Sylvestra umfangen und schwankte ganz leicht hin und her. Sie schien etwas zu ihr zu sagen, beugte sich dichter über sie. Ihre Miene war voller zärtlicher Zuneigung, als könne sie zumindest diese letzte Qual mit ihr zusammen tragen, einen Teil ihrer Last auf die eigenen Schultern nehmen.

»Haben Sie sonst noch etwas hinzuzufügen, Sir Oliver?« brach der Richter das Schweigen.

»Nein, Euer Ehren«, antwortete Rathbone. »Wenn irgend jemand Zweifel hat, werde ich medizinische Beweise beibringen lassen, aber es wäre mir bei weitem lieber, Mr. Duff weiteren Schmerz zu ersparen. Er hat eine beeidigte Aussage darüber gemacht, was sich in der Todesnacht seines Vaters in der Water Lane ereignet hat. Es wird zweifellos weitere Verhandlungen geben, bei denen seine Zeugenaussage erforderlich sein wird. Diese Dinge werden schon Martyrium genug für ihn sein, falls er bis dahin sowohl körperlich als auch geistig hinreichend genesen sein sollte. In der Zwischenzeit bin ich bereit, mich mit Miss Latterlys Wort zu begnügen.«

Der Richter wandte sich zu Ebenezer Goode um.

Goode erhob sich mit erster Miene. »Ich bin im Bilde, was Miss Latterlys Erfahrungen in der Krankenpflege betrifft, Euer Ehren. Wenn sie dem Gericht unter Eid bestätigt, worauf sich ihr Urteil begründet – abgesehen von Mr. Duffs Wort –, wird mir das ebenfalls genügen.«

Der Richter sah Hester an.

Mit einem Minimum an Worten und sehr leiser Stimme schilderte sie dem schweigenden Gericht die Schwellungen und Risse, die sie gesehen hatte, und verglich sie mit ähnlichen Verletzungen, die sie auf der Krim behandelt hatte. Sie wiederholte, was die Soldaten selbst ihr damals erzählt hatten.

Der Richter dankte ihr und entließ sie. Als Hester an ihren Platz zurückkehrte, war sie zu benommen, um sich des Gedränges um sie herum wirklich bewußt zu sein. Sie reagierte nicht einmal sofort, als sie die Nähe eines Mannes und einen Arm um ihre Schultern spürte.

»Sie haben richtig gehandelt«, sagte Monk sanft, während er sie mit überraschender Kraft umfing, als wolle er sie stützen.

»Sie konnten die Wahrheit nicht verändern, wenn Sie sie verschwiegen hätten.«

»Manche Wahrheiten bleiben besser unausgesprochen«, flüsterte sie.

»Ich glaube das nicht, nicht im Falle von Wahrheiten wie dieser.«

»Was ist mit Sylvestra? Wie wird sie damit fertig werden?«

»Stück um Stück, immer einen Tag nach dem anderen und mit dem Wissen, das, was immer sie auf dieser Wahrheit aufbaut, von Dauer sein wird, weil es auf der Realität und nicht auf Lügen fußt. Sie können ihr keine Tapferkeit geben, das ist etwas, das niemand für einen anderen Menschen tun kann.« Er hielt inne, ohne sie loszulassen.

»Aber warum?« sagte sie beinahe zu sich selbst. »Warum haben sie alles riskiert, um etwas so… so Sinnloses zu tun?« Und noch während sie sprach, erinnerte sie sich an einige Bemerkungen Wades, die jetzt eine vollkommen andere Bedeutung bekamen. Bemerkungen über die Natur, die die Rasse verfeinerte, indem sie die Untauglichen, die moralisch Unterlegenen herausfilterte. Und sie erinnerte sich an Sylvestras Erzählungen über Leighton Duffs Liebe zur Gefahr in seinen Tagen als Hindernisreiter, seine Erregung im Angesicht eines Risikos, den Jubel, wenn er alles auf eine Karte gesetzt und gegen die Quoten gewonnen hatte. »Was ist mit Kynaston?« fragte sie Monk im Flüsterton.

»Macht!« erwiderte er. »Die Macht, andere in Angst zu versetzen und zu demütigen. Vielleicht war das Bild des rechtschaffenen Mannes, das er für die Eltern seiner Schüler erschaffen hatte, mehr, als er ertragen konnte. Wir werden es vermutlich niemals erfahren. Ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Mich kümmern vielmehr die Familien, die sie zurücklassen… Sylvestra und Rhys.«

»Ich denke, Fidelis Kynaston wird ihnen helfen«, erwiderte Hester. »Sie werden einander helfen. Und vielleicht auch Miss Wade. Sie alle müssen sich einer furchtbaren Wahrheit stellen. Vielleicht werden sie nach Indien gehen?« dachte sie laut. »Alle zusammen, wenn es Rhys besser geht. Hier können sie nicht bleiben.«

»Vielleicht«, pflichtete er ihr bei. »Obwohl es erstaunlich ist, was man aushaken kann, wenn es sein muß.« Er wollte ihr später von Runcorn erzählen, bei einer anderen Gelegenheit, wenn sie allein waren.

»Es würde ihnen in Indien gefallen«, beharrte sie. »Da draußen werden dringend Menschen gebraucht, die ein wenig von Krankenpflege verstehen, vor allem Frauen. Das habe ich in Amalias Briefen gelesen.«

»Verstehen sie denn etwas von Krankenpflege?« fragte Monk mit einem Lächeln.

»Sie könnten es lernen!«

Sein Lächeln wurde breiter, aber Hester sah es nicht.

Die Geschworenen verzichteten darauf, sich zur Beratung zurückzuziehen. Sie befanden einstimmig auf »nicht schuldig«.

Hester ließ ihre Hand in Monks gleiten und rückte noch ein Stück näher zu ihm heran.