5

Evan fand den Fall Duff zunehmend verwirrend. Er hatte sich von einem Zeichner ein Porträt von Leighton und Rhys Duff anfertigen lassen, und er und Shotts waren mit dem Bild durch St. Giles gezogen, um festzustellen, ob irgend jemand die beiden wiedererkannte. Gewiß mußten zwei Männer, die im Alter eine Generation auseinanderlagen, an diesem Ort eine gewisse Aufmerksamkeit erregen. Sie hatten es bei Pfandleihern, in Bordellen und Freudenhäusern versucht, in Gaststuben und Pensionen, in Spielhöllen, Kneipen und sogar in den Dachböden hoch oben unter den Oberlichtern der Häuser, wo die Falschmünzer ihrer Arbeit nachgingen. Sie hatten auch die gewaltigen Kellergewölbe abgesucht, in denen Hehler ihre Ware lagerten. Niemand verriet auch nur mit einem Wimpernschlag, daß er die beiden Männer kannte. Nicht einmal eine in Aussicht gestellte Belohnung konnte irgend etwas Nützliches zutage fördern.

»Vielleicht waren sie das erste Mal hier?« meinte Shotts düster und zog sich den Kragen hoch, um sich gegen den fallenden Schnee zu wappnen. Es war fast dunkel. Sie gingen mit gegen den Wind gesenkten Köpfen durch die Straßen, ließen St. Giles hinter sich und bogen nach Norden in die Regent Street ein, wo sie von dichtem Verkehr und Lichtern empfangen wurden. »Ich wüßte nicht, wen wir sonst noch fragen könnten.«

»Glauben Sie, die Leute lügen?« fragte Evan nachdenklich.

»Das wäre durchaus nachvollziehbar, da Duff schließlich ermordet wurde. Mit Mord will niemand etwas zu schaffen haben.«

»Nein.« Shotts wich vorsichtig einer Pfütze aus. »Ich wüßte es, wenn zumindest einer von diesen krummen Hunden lügen würde. Vielleicht sind die Duffs nur zufällig hiergewesen. Haben sich verirrt!«

Evan machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Die Überlegungen, die der andere anstellte, waren es nicht wert.

»Vielleicht haben sie sie auch deshalb nicht wiedererkannt, weil wir die falschen Fragen gestellt haben«, überlegte Evan, der halb mit sich selbst sprach.

»Ach ja?« Shotts hielt mühelos mit ihm Schritt. »Und was wären die richtigen Fragen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht war Rhys mit Freunden seines eigenen Alters dort. Schließlich geht man für gewöhnlich nicht mit seinem Vater zu einer Hure! Vielleicht ist es das, was die Leute verwirrt, der ältere Mann.«

»Vielleicht«, erwiderte Shotts zweifelnd. »Soll ich das mal versuchen?«

»Ja. Es sei denn, es fällt Ihnen etwas Besseres ein. Ich gehe aufs Revier. Es wird Zeit, Mr. Runcorn Bericht zu erstatten.«

Shotts grinste. »Besser Sie als ich, Sir. Er wird nicht gerade glücklich sein. Ich besorge mir was zu essen, dann versuch ich’s noch mal.«

Runcorn war ein großer, gutgebauter Mann mit magerem Gesicht und sehr ruhigen, blauen Augen. Seine Nase war lang, und seine Wangen waren ein wenig hohl, aber in seiner Jugend mußte er ein gutaussehender Bursche gewesen sein, und auch jetzt noch machte er einen imposanten Eindruck. Dieser Eindruck wäre noch stärker gewesen, hätte er über das Selbstbewußtsein verfügt, sich mit größerer Gelassenheit zu benehmen. Er saß in seinem Büro hinter seinem großen Lederschreibtisch und sah Even argwöhnisch an.

»Nun?«

»Es geht um den Fall Leighton Duff, Sir«, erwiderte Evan, der immer noch stand. »Ich fürchte, wir machen keinerlei Fortschritte. Wir können niemanden in St. Giles finden, der einen der beiden Männer je zuvor gesehen hat.«

»Oder das zugeben will«, ergänzte Runcorn.

»Shotts glaubt den Leuten«, verteidigte Evan sich, da er sehr wohl wußte, daß Runcorn ihn für zu weich hielt.

»So, glaubt er das?« sagte Runcorn grimmig. »Dann nehmen Sie sich besser die Familie noch einmal vor. Die Witwe und den Sohn, der dabei war und nicht sprechen kann, habe ich recht?«

»Jawohl, Sir.«

»Wie ist sie denn so, die Witwe?« Runcorns Augen weiteten sich. »Könnte es sich um eine Art Verschwörung handeln? Der Sohn ist vielleicht dazwischengekommen? Hätte nicht dabeisein sollen und mußte zum Schweigen gebracht werden?«

»Eine Verschwörung?« Evan war erstaunt. »Wer sollte daran beteiligt sein?«

»Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe!« versetzte Runcorn gereizt. »Benutzen Sie Ihre Phantasie! Ist sie attraktiv?«

»Ja, sehr. Auf eine ungewöhnliche Art und Weise.«

»Was meinen Sie mit ungewöhnlich? Was stimmt nicht mit ihr? Wie alt ist sie? Wie alt war er?«

Evan spürte, daß ihm die Andeutungen des anderen Mannes mißfielen.

»Sie ist ein sehr dunkler Typ, wirkt ein wenig wie eine Spanierin. Es gibt nichts an ihr auszusetzen, es ist nur… ungewöhnlich.«

»Wie alt?« wiederholte Runcorn.

»Um die vierzig, würde ich sagen.« Bevor Runcorn darauf zu sprechen kam, war ihm der Gedanke überhaupt nicht gekommen, und das war ein Fehler. Jetzt, da diese Möglichkeit angedeutet wurde, lag es auf der Hand. Das ganze Verbrechen hatte möglicherweise nichts mit St. Giles zu tun, das möglicherweise nicht mehr als ein zweckmäßiger Ort gewesen war. Genausogut hätte der Mord in irgendeinem anderen Elendsviertel geschehen können, in einer Gasse oder auf einem Hof, in einem Dutzend solcher Gebiete. Vielleicht hatte der Täter lediglich einen Platz gebraucht, wo er die Leiche liegenlassen konnte und man davon ausgehen würde, daß es sich um den Überfall irgendwelcher Schurken gehandelt hatte. Es war ekelerregend. Natürlich hätte Rhys nicht dort sein sollen. Seine Anwesenheit war ein Mißgeschick. Leighton Duff war ihm gefolgt, und jemand hatte ihn dort eingeholt. Aber das mußte nicht der Wahrheit entsprechen. Dafür hatte Evan nur Sylvestras Wort. Die beiden Männer hätten jederzeit das Haus verlassen können, getrennt oder zusammen, und aus allen möglichen Gründen. Er mußte dieser Möglichkeit unvoreingenommen nachgehen, bevor er sie als Wahrheit akzeptierte. Jetzt war er wütend auf sich selbst. Monk hätte niemals einen solchen elementaren Fehler gemacht!

Runcorn stieß einen Seufzer aus. »Daran hätten Sie denken müssen, Evan«, sagte er tadelnd. »Sie glauben, jeder, der ein ordentliches Englisch spricht, gehöre in Ihr ländliches Pfarrhaus!«

Evan öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wieder. Runcorns Bemerkung war ungerecht, sie entsprang nicht irgendwelchen Tatsachen, sondern Runcorns eigenen vielschichtigen Gefühlen, was Gentlemen im allgemeinen und Evan im besonderen betraf. Und zumindest ein Teil der Ursache war in Runcorns langer Bekanntschaft mit Monk zu suchen, in der Rivalität zwischen den beiden Männern, den Jahren der Unsicherheit, der vielen kleinen Kränkungen, an die Monk sich nicht erinnern und die Runcorn niemals vergessen konnte. Evan kannte die Wurzeln all dessen nicht, aber er hatte in seiner ersten Zeit bei der Polizei, nach Monks Unfall, die Konfrontation der Ideale und Charaktere dieser beiden Männer miterlebt. Und er war dabeigewesen, als der letzte, flammende Streit das Band durchschnitten und Monk sich außerhalb der Polizeitruppe wiedergefunden hatte. Wie jeder andere Mann auf dem Revier war Evan sich der Gefühle der Beteiligten bewußt gewesen. Er war Monks Freund, und daher konnte Runcorn ihm niemals vollends vertrauen oder ihn rückhaltlos schützen.

»Also, was haben Sie denn überhaupt?« fragte Runcorn abrupt. Evans Schweigen ärgerte ihn. Er wußte nicht, was der andere dachte.

»Sehr wenig«, antwortete Evans mutlos. »Leighton Duff muß nach Aussage Dr. Rileys etwa gegen drei Uhr morgens gestorben sein. Möglicherweise war es etwas früher oder später. Er wurde durch Schläge und Tritte getötet, Waffen waren keine im Spiel, abgesehen von Fäusten und Stiefeln. Der junge Rhys Duff wurde beinahe genauso schwer verprügelt, aber er hat überlebt.«

»Das weiß ich! Beweise, Mann!« sagte Runcorn ungeduldig und ballte eine Hand zur Faust. »Welche Beweise haben Sie? Fakten, Beweisstücke, Aussagen, Zeugen, denen zu glauben ist!«

»Es gibt keine Zeugen für irgend etwas, außer für die Entdeckung der Leichen«, erwiderte Evan steif. Es gab Augenblicke, in denen er sich Monks geistesgegenwärtige Schlagfertigkeit wünschte, aber er wollte nicht, daß der einfache Mann, der seine Abteilung leitete, ihn fürchtete. Er wünschte sich nur dessen Respekt. »Niemand gibt zu, einen der beiden Männer in St. Giles gesehen zu haben, weder einzeln noch gemeinsam.«

»Die Droschkenfahrer!« meinte Runcorn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Die beiden sind nicht zu Fuß dorthin gegangen.«

»Wir haben es versucht. Bisher ist nichts dabei herausgekommen.«

»Viel haben Sie tatsächlich nicht in der Hand!« In Runcorns Gesicht spiegelte sich unverhohlene Verachtung. »Sie versuchen es besser noch mal bei der Familie. Sehen Sie sich die Witwe an. Lassen Sie sich nicht von Eleganz blenden. Vielleicht kennt der Sohn den Charakter seiner Mutter, und das ist der Grund, warum sein Entsetzen so tief geht, daß er nicht mehr sprechen kann!«

Even dachte an Rhys’ Gesichtsausdruck, als er Sylvestra angesehen hatte, dachte daran, wie Rhys vor seiner Mutter zurückgezuckt war, als sie ihn berühren wollte. Es war ein grauenhafter Gedanke.

»Das werde ich tun«, sagte er widerstrebend. »Ich werde mir auch seine Freunde und Bekannten näher ansehen. Vielleicht hat er sich in diesem Bezirk mit einer Frau getroffen. Vielleicht war sie verheiratet, und ihre männlichen Verwandten haben Anstoß daran genommen, wie er sie behandelte.«

Runcorn stieß einen Seufzer aus. »Möglich«, erwiderte er.

»Was ist mit dem Vater? Warum wurde der angegriffen?«

»Natürlich weil er Zeuge der Szene geworden war«, antwortete Evan mit einer Spur von Befriedigung.

Runcorn sah ihn scharf an.

»Da wäre noch etwas«, fuhr Evan fort, »Monk ist engagiert worden, einer Reihe sehr gewalttätiger Vergewaltigungen in Seven Dials nachzugehen.«

Runcorns blaue Augen wurden schmal. »Dann ist er ein noch größerer Narr, als ich gedacht hätte! Wenn es jemals ein aussichtsloses Unterfangen gegeben hat, dann dürfte es das sein!«

»Liegen uns irgendwelche Berichte vor, die da helfen könnten?«

»Monk helfen?« fragte Runcorn ungläubig.

»Bei der Aufklärung des Verbrechens helfen, Sir«, antwortete Evan mit einem Anflug von Sarkasmus.

»Das Verbrechen kann ich im Handumdrehen für Sie lösen!«

Runcorn stand auf. Er war mindestens drei Zoll größer als Evan und beträchtlich stämmiger. »Wie viele solcher Vorfälle hat es gegeben? Ein halbes Dutzend?« Er zählte an den Fingern ab, was er dazu zu sagen hatte. »Einer war ein betrunkener Ehemann. Einer war ein Zuhälter, der sich wegen einer kleinen Freiheit bei der Abrechnung gerächt hat. Mindestens zwei waren unzufriedene und wahrscheinlich zu betrunkene Kunden. In einem Falle hatten wir’s mit einer Frau zu tun, die die Sache nicht berufsmäßig betreibt und die, als es zu spät dafür war, plötzlich mehr Geld verlangte. Und eine war wahrscheinlich selber betrunken, so daß sie gestürzt ist und sich nicht mehr daran erinnern kann, was ihr zugestoßen ist.«

»Da bin ich anderer Meinung, Sir«, bemerkte Evan kalt. »Ich glaube, Monk kennt den Unterschied zwischen einer Frau, die vergewaltigt und geschlagen wurde, und einer, die hingefallen ist, weil sie betrunken war.«

Runcorn funkelte ihn wütend an. Er stand neben dem Regal, auf dem sich etliche in Saffianleder gebundene Bücher über tiefschürfende Themen, einschließlich Philosophie, stapelten.

Evan hatte mit voller Absicht Monks Namen erwähnt und an dessen Fähigkeiten erinnert, die denen Runcorns überlegen waren. Er war wütend, und dies war die einfachste Waffe. Aber noch während er sprach, beschäftigte ihn die Frage, was wohl die Feindseligkeit zwischen diesen beiden Männern begründet hatte. War es wirklich nicht mehr gewesen als die Differenzen in ihrem Charakter und ihren Anschauungen?

»Wenn Monk glaubt, er könne die Vergewaltigung von einem halben Dutzend Freizeitprostituierten in Seven Dials nachweisen, dann hat er den Verstand, den er früher besaß, mittlerweile verloren«, sagte Runcorn mit einem Aufblitzen von Befriedigung unter seinem Zorn. »Ich wußte, daß er es nach seinem Weggang von der Polizei nicht mehr zu viel bringen würde! Privater Ermittler, daß ich nicht lache! Er taugt zu nichts anderem als zum Polizisten, und jetzt taugt er nicht einmal mehr dazu.« Seine Augen leuchteten vor Genugtuung, und um seine Lippen spielte ein schiefes Lächeln. »Er muß ganz schön runtergekommen sein, unser guter Monk, wenn ihm schon nichts anderes mehr übrig bleibt, als Prostituierten in Seven Dials nachzujagen! Wer soll ihn da bezahlen?«

Evan spürte, wie sich ein furchtbar harter Knoten des Zorns in ihm bildete.

»Wahrscheinlich jemand, dem arme Frauen genauso am Herzen liegen wie reiche!« sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Jemand, der nicht glaubt, daß es diesen Frauen irgend etwas nützen würde, wenn sie sich an die Polizei wendeten.«

»Also jemand, der mehr Geld als Verstand hat, Sergeant Evan«, entgegnete Runcorn, dem der Ärger die Röte ins Gesicht getrieben hatte. »Und wenn Monk ein ehrlicher Mann wäre und nicht verzweifelt darauf bedacht, sich egal auf welche Weise, seinen Lebensunterhalt zu ergattern, dann hätte er seinem Auftraggeber erklärt, daß er da nichts tun kann!« Runcorn machte eine ruckartige, abschätzende Handbewegung. »Er wird den Schuldigen niemals finden, wenn es überhaupt ein Verbrechen gegeben hat. Und wenn er ihn findet, wer sollte dann beweisen, daß es wirklich Vergewaltigung war und keine freiwillige Sache, die dann ein wenig außer Kontrolle geriet? Und selbst wenn ihm all das gelingen würde, welches Gericht sollte das Urteil sprechen? Wann wäre ein Mann je gehängt oder ins Gefängnis geworfen worden, weil er eine Frau genommen hat, die ohnehin ihren Körper verkauft? Und zu guter Letzt: Welchen Unterschied würde es für Seven Dials machen?«

»Welchen Unterschied macht ein Toter mehr oder weniger für London?« wollte Evan wissen. Er beugte sich zu dem anderen Mann vor, und seine Stimme klang belegt. »Ein Toter mehr oder weniger bedeutet nicht viel. Es sei denn, man ist es selber. Dann macht es den größten Unterschied auf der Welt!«

»Halten Sie sich an die Sachen, bei denen Sie etwas ausrichten können, Sergeant«, sagte Runcorn. »Lassen Sie Monk sich den Kopf über Vergewaltigung in Seven Dials zerbrechen, wenn er das möchte. Vielleicht hat er nichts anderes zu tun, der arme Teufel. Sie haben etwas zu tun. Sie sind Polizist und haben eine Pflicht zu erfüllen. Finden Sie heraus, wer Leighton Duff ermordet hat und warum. Dann bringen Sie mir Beweise. Das ist eine Beschäftigung, die Sinn macht!«

»Ja, Sir.« Evan antwortete mit solcher Schärfe, daß seine Erwiderung beinahe wie ein einziges Wort klang. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ zornesrot den Raum.

Als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Ebury Street machte, kreisten seine Gedanken immer noch um seine Unterredung mit Runcorn. Natürlich hatte Runcorn recht gehabt, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß Sylvestra hinter dem Ganzen steckte. Sie war eine Frau, die mehr als nur Schönheit besaß. Ein tiefer Ernst umgab sie, sie hatte etwas Rätselhaftes, Unenthülltes, eine Ausstrahlung, die bei weitem faszinierender war als bloße Vollkommenheit von Gesicht und Gestalt. Es war etwas, das einen anderen Menschen vielleicht sein Leben lang zu fesseln vermochte, das überdauerte, auch wenn die Jahre dem äußerlichen Liebreiz ihren Stempel aufgedrückt hatten.

Evan hätte selbst darauf kommen müssen.

Er legte einen Teil des Weges zu Fuß zurück. Es war kein unangenehmer Morgen, und sein Verstand arbeitete besser, wenn er ein wenig Bewegung hatte. Er schritt in der frischen, vom Frost geschärften Luft über die Gehsteige. Dort, wo der Schnee liegengeblieben war, hatten die Dächer weiße Ränder, und aus den Schornsteinen quoll der Rauch beinahe schnurgerade zum Himmel hinauf. Die Bäume am Rand des Hydeparks zeichneten sich schwarz gegen die weißen Wolken ab, das fahle Winterlicht schien fast ohne Schatten zu sein.

Er mußte noch eine Menge mehr über Leighton Duff in Erfahrung bringen: Was für ein Mann war er gewesen? Konnte es sich doch um ein Verbrechen aus Leidenschaft oder Eifersucht handeln, und steckte vielleicht überhaupt kein willkürlicher Raub hinter dem Ganzen? War Rhys’ Anwesenheit in St. Giles einfach ein zeitlicher Zufall gewesen?

Und wieviel von dem, was Sylvestra sagte, entsprach der Wahrheit? Galten ihre Trauer und ihre Verwirrung ihrem Sohn und gar nicht ihrem Ehemann? Evan mußte noch viel mehr über ihr Leben wissen und über ihre Freunde, vor allem über jene, die Männer waren und die jetzt vielleicht einer faszinierenden und recht wohlsituierten Witwe den Hof machten. Dr. Wade war der erste und offensichtlichste Kandidat für derartige Nachforschungen.

Es war ein abstoßender Gedanke, und Evan schauderte, als er die Buckingham Palace Road überquerte. Er legte die letzten Meter im Laufschritt zurück, um einer Kutsche auszuweichen. Der Wagen fuhr mit klirrendem Geschirr haarscharf an ihm vorbei, und die Hufe der Pferde, deren Atem in der eiskalten Luft zu weißem Dampf gefror, hallten auf dem Pflaster wider.

Endlich erreichte Evan die Ebury Street und klopfte an die Tür von Nummer vierunddreißig. Das Dienstmädchen Janet öffnete und lächelte ihm ein wenig unsicher zu, als möge sie ihn recht gern, obwohl sie wußte, daß sein Erscheinen hier nur Schmerz bringen konnte. Sie führte ihn in den Empfangssalon und bat ihn, dort zu warten, während sie in Erfahrung brachte, ob Mrs. Duff ihn empfangen wollte.

Als die Tür sich jedoch wieder öffnete, war es Hester, die hastig eintrat und die Tür hinter sich schloß. Sie trug ein blaues Kleid und hatte sich das Haar eine Spur weniger streng frisiert als gewöhnlich. Sie sah erhitzt aus, aber der Grund dafür war eher ihre Vitalität als ein Fieber oder gar so etwas wie Verlegenheit. Evan hatte sie immer gemocht, aber jetzt fand er, daß sie hübscher war, als es ihm je zuvor aufgefallen war.

Weicher und femininer. Da war noch etwas, das ihn bei Monk immer wieder in Erstaunen setzte. Warum geriet er mit dieser Frau immer wieder in Streit? Er wäre der letzte Mann auf Erden gewesen, der es zugegeben hätte, aber vielleicht war genau das der Grund: Er konnte es sich nicht leisten und wagte es daher nicht, sie so zu sehen, wie sie wirklich war!

»Guten Morgen, Hester«, sagte er zwanglos, und sein Gruß spiegelte mehr seine Gedanken wider als seine gewohnten Manieren.

»Guten Morgen, John«, antwortete sie mit einem Lächeln, in dem neben dem Bewußtsein der Freundschaft, die sie verband, auch ein Hauch von Belustigung lag.

»Wie geht es Mr. Duff?«

Das Lachen verschwand aus ihren Augen, und selbst das Licht in ihren Zügen schien zu erlöschen.

»Sein Zustand ist immer noch sehr schlecht. Er leidet an den furchtbaren Alpträumen. Gestern nacht erst hatte er wieder einen solchen Alptraum. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich ihm helfen kann.«

»Es steht außer Frage, daß er mitangesehen hat, was seinem Vater zugestoßen ist«, sagte Evan voller Mitgefühl. »Wenn er es uns doch nur erzählen könnte!«

»Genau das kann er nicht!« entgegnete sie unverzüglich.

»Ich weiß, daß er nicht sprechen kann, aber…«

»Nein! Sie können ihn nicht fragen«, unterbrach sie ihn.

»Tatsächlich wäre es besser, wenn Sie ihn überhaupt nicht aufsuchen würden. Wirklich – ich will Ihnen keine Hindernisse in den Weg legen. Ich würde selbst gern wissen, wer Leighton Duff ermordet hat und wer Rhys das angetan hat. Aber meine Hauptsorge muß seiner Genesung gelten.« Sie sah Evan mit großem Ernst an. »Es muß sein, John, ungeachtet aller anderen Dinge. Ich könnte niemals ein Verbrechen geheimhalten oder Ihnen wissentlich Lügen auftischen, aber ich kann Ihnen auch nicht gestatten, Rhys einen Schaden zuzufügen. Und das würden Sie tun, wenn Sie in irgendeiner Weise versuchten, ihm das, was er sah und empfunden hat, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Wenn Sie die Alpträume mitangesehen hätten, die ich bei ihm erlebt habe, würden Sie nicht mit mir streiten.« Ihre Augen verdunkelten sich vor Kummer, und ihr Gesicht wurde spitz, so sehr bedrückte sie die ganze Situation. Evan kannte Hester gut genug, um in ihrer Miene weit mehr zu lesen, als ihre Worte sagten.

»Außerdem hat Dr. Wade es verboten«, fügte sie hinzu. »Er hat Rhys’ Verletzungen gesehen und weiß um den Schaden, den neuerliche Anfälle anrichten könnten. Rhys’ Wunden könnten allzu leicht wieder aufreißen, wenn er sich herumwälzen oder sehr plötzlich und heftig bewegen würde.«

»Ich verstehe«, räumte Evan ein, während er gleichzeitig versuchte, sich das Entsetzen und den Schmerz des jungen Mannes nicht allzu lebhaft vorzustellen. Dennoch erschienen ihm Rhys’ Qualen grausam real. »Ich bin hauptsächlich gekommen, um Mrs. Duff Bericht zu erstatten.«

Hesters Augen weiteten sich. »Haben Sie irgend etwas herausgefunden?« Die merkwürdige Steifheit ihrer Haltung erweckte für einen Augenblick den Eindruck, als hätte sie Angst vor der Antwort.

»Nein.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte ihn nicht direkt danach gefragt, aber wäre er ehrlich gewesen und hätte er auch auf ihre unausgesprochenen Fragen geantwortet, so hätte er gesagt, daß neue Verdachtsmomente gegen Sylvestra auf den Tisch gekommen waren. Er war nicht wegen einer Entdeckung hierher zurückgekehrt, sondern wegen einer Erkenntnis. »Ich wünschte, es gäbe neue Tatsachen«, fuhr er fort. »Im Augenblick geht es mir nur darum, die alten Tatsachen vielleicht ein wenig besser zu verstehen.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte Hester leise. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mir wünsche, daß Sie die Wahrheit entdecken. Ich habe keine Ahnung, worum es bei dieser Sache wirklich geht, ich weiß nur, daß Rhys es nicht ertragen kann.«

Dann öffnete sich die Tür, und Sylvestra kam herein. Sie sah Hester mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.

»Miss Latterly sagt, daß es Mr. Duff nicht gut genug gehe, um einer Befragung ausgesetzt zu werden«, erklärte Evan. »Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, daß es ihm ein wenig besser gehen würde, um seinetwillen ebenso sehr wie um der Wahrheit willen.«

»Nein, es geht ihm noch nicht besser«, sagte Sylvestra hastig, und Erleichterung malte sich in ihrem Gesicht ab. Ihre Dankbarkeit Hester gegenüber war unverkennbar. »Ich fürchte, er kann Ihnen nach wie vor nicht von Nutzen sein.«

»Aber vielleicht können Sie mir helfen, Mrs. Duff.« Evan war nicht bereit, sich so ohne weiteres abfertigen zu lassen. »Da ich nicht mit Mr. Duff sprechen kann, werde ich mit seinen Freunden sprechen müssen. Einige von ihnen wissen vielleicht etwas, das uns verraten kann, warum er nach St. Giles gegangen ist und wen er dort kannte.«

Hester ging lautlos aus dem Raum.

»Das bezweifle ich«, sagte Sylvestra, bevor Evan weitersprechen konnte. Dann schien sie ihre Voreiligkeit zu bedauern, nicht weil sie etwas Unwahres gesagt hätte, sondern weil es ein taktischer Fehler gewesen war. »Ich meine, zumindest glaube ich das nicht. Wenn seine Freunde etwas wüßten, dann hätten sie sich doch mittlerweile gewiß gemeldet? Arthur Kynaston war gestern hier. Wenn er oder sein Bruder irgend etwas gewußt hätten, hätten sie es uns gewiß erzählt.«

»Falls ihnen die Bedeutung dessen, was sie wissen, bewußt ist«, erwiderte Evan überzeugend, als hätte er ihr Ausweichmanöver nicht durchschaut. »Wo kann ich diese Freunde finden?«

»Oh, die Kynastons wohnen am Lowndes Square, Nummer siebzehn.«

»Vielen Dank. Ich nehme an, die Kynastons können mir auch andere Freunde nennen, deren Gesellschaft Rhys von Zeit zu Zeit suchte.« Er gab seinen nächsten Worten mit Be-. dacht einen beiläufigen Klang. »Wer könnte mit Ihrem Mann seine Mußestunden verbracht haben, Mrs. Duff? Ich meine, wer hat möglicherweise dieselben Clubs aufgesucht oder hatte dieselben Hobbys und Interessen wie er?«

Sylvestra sagte nichts, sondern sah ihn nur mit großen, schwarzen Augen an. Evan mußte noch sehr viel über Leighton Duff wissen, darüber, was für ein Mann er gewesen war. Kühn oder feige, freundlich oder grausam, ehrlich oder betrügerisch, liebevoll oder kalt? Hatte er über Witz, Charme, Güte und Phantasie verfügt? Hatte sie ihn geliebt, oder war es eine Vernunftehe gewesen, eine Ehe, die funktionierte, aber ohne Leidenschaft war? Hatte es so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen gegeben oder Vertrauen?

»Mrs. Duff?«

»Ich nehme an, Sie könnten sich prinzipiell an Dr. Wade und Mr. Kynaston wenden«, antwortete sie. »Es gibt natürlich noch viele andere. Ich glaube, Leighton hatte gemeinsame Interessen mit Mr. Hodge. Er hat auch ein oder zweimal von einem James Wellingham gesprochen, und er schrieb ziemlich regelmäßig an einen Mr. Phillips.«

»Ich werde mit den Betreffenden reden. Vielleicht könnte ich die Briefe einmal sehen?« Evan hatte keine Ahnung, wozu sie ihm nutzen konnten, aber er mußte alles versuchen.

»Natürlich.« Dieses Ansinnen schien Sylvestra keineswegs zu erschrecken. Wenn Runcorn recht hatte, war jedenfalls keiner dieser Männer ihr Liebhaber. Evan konnte sich nicht helfen, aber seine Gedanken wanderten abermals zu Corriden Wade.

Er verbrachte einen erfolglosen Morgen mit der Lektüre liebenswürdiger, aber im Grunde langweiliger Korrespondenz von Mr. Phillips, wobei es überwiegend um das Thema Bogenschießen ging. Er verabschiedete sich und ging in die Kanzlei von Cullingford, Duff und Partnern, wo er erfuhr, daß Leighton Duff ein brillanter Vertreter seines Faches gewesen war und die treibende Kraft hinter dem Erfolg der Kanzlei. Sein Aufstieg vom Juniorpartner zum tüchtigen Leiter des Geschäfts war fast ohne Hindernisse verlaufen. Jeder wußte nur Gutes über seine Tüchtigkeit zu berichten und machte sich Sorgen, jetzt, da Mr. Duff nicht länger bei ihnen war.

Wenn es in irgendeinem Fall Neid oder persönliche Bosheit gegeben hatte, konnte Evan sie nicht finden. Vielleicht ließ er sich aber auch zu leicht überzeugen. Möglicherweise besaß er einfach nicht Monks schärferen, härteren Verstand, aber er entdeckte in den Antworten von Leighton Duffs Kollegen nichts Finstereres als Respekt für den Verstorbenen, eine den Geboten des Anstands folgende Neigung, einem Toten nichts Schlechtes nachzusagen, und eine lebhafte Furcht um ihren eigenen zukünftigen Wohlstand. Anscheinend hatten sie gesellschaftlich nicht miteinander verkehrt, und keiner der Männer schien mit der Witwe bekannt zu sein. Evan konnte sie bei keinerlei Ausflüchten ertappen und erst recht nicht bei einer Unwahrheit.

Er verließ die Kanzlei mit dem Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben. Alles, was er in Erfahrung gebracht hatte, hatte nur sein früheres Bild von Leighton Duff bestätigt – er war ein kluger, hart arbeitender und beinahe langweilig anständiger Mann gewesen. Die Seite seines Charakters, die ihn, aus welchen Gründen auch immer, nach St. Giles geführt hatte, war seinen Geschäftspartnern jedenfalls gründlich verborgen geblieben. Wenn sie irgendeinen Verdacht hegten, ließen sie sich Evan gegenüber nichts davon anmerken.

Andererseits – wenn ein Gentleman sich gelegentlich ein Ventil für seine natürlichen, fleischlichen Gelüste suchte, war das gewiß keine Angelegenheit, die man mit vulgären und neugierigen Leuten besprach, und Evan wußte sehr wohl, daß die Polizei für Duffs Kollegen in diese beiden Kategorien fiel.

Es war schon nach vier Uhr, und dämmerte bereits. Evan erreichte das Haus von Joel Kynaston, einem Freund Leighton Duffs und dem Direktor der exzellenten Schule, der Rhys seine Erziehung zu verdanken hatte. Kynaston lebte nicht auf dem Schulgelände, sondern in einem schönen georgianischen Haus etwa eine Viertelmeile davon entfernt.

Die Tür wurde von einem eher kleinen Butler geöffnet, der eine stockgerade Haltung hatte, um jeden Zoll seiner Größe zur Schau zu stellen.

»Ja, Sir?« Er mußte daran gewöhnt sein, daß Eltern von Schülern zu unerwarteter Stunde vorsprachen, und verriet keinerlei Überraschung, wenn doch, so galt sie höchstenfalls der Tatsache, daß Evan sich als vergleichsweise jung entpuppte, als er ins Licht trat.

»Guten Tag. Mein Name ist John Evan. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich unter vier Augen mit Mr. Kynaston sprechen könnte. Es geht um den tragischen Tod von Mr. Leighton Duff.« Er nannte weder seinen Rang noch seinen Beruf.

»In der Tat, Sir«, sagte der Butler, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich werde nachhören, ob Mr. Kynaston zu Hause ist. Wenn Sie so freundlich sein würden zu warten.«

Es war die übliche, höfliche Geschichte. Kynaston mußte damit gerechnet haben, daß jemand ihn aufsuchen würde. Das war unvermeidlich. Er war in Gedanken gewiß darauf vorbereitet. Wenn er jedoch etwas von Bedeutung zu sagen hatte und bereit war, darüber zu reden, hätte er Evan aus eigenem Antrieb aufgesucht.

Der Mann, der durch die doppelten Eichentüren des Salons trat, war nicht älter als zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig.

Er war gutaussehend, wenn auch das Kinn ein wenig vorstand, und hatte blondes, recht einnehmend gewelltes Haar und kühne, direkt blickende blaue Augen.

»Ich bin Duke Kynaston, Mr. Evan«, sagte er kühl. »Mein Vater ist noch nicht zu Hause. Ich weiß auch nicht genau, wann er erwartet wird. Natürlich wollen wir der Polizei in jeder erdenklichen Weise behilflich sein, aber ich fürchte, wir können in dieser Angelegenheit nicht viel tun. Wäre es nicht besser, wenn Sie Ihre Untersuchungen in St. Giles fortsetzten? Dort ist es doch geschehen, oder?«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Evan, während er versuchte, den jungen Mann einzuschätzen und sich ein Bild über seinen Charakter zu machen. Er fragte sich, wie nah er Rhys Duff gestanden haben mochte. Aus seinem Gesicht sprach Arroganz, und der Mund schien einen Hauch von Zügellosigkeit anzudeuten. Der machte es leicht vorstellbar, daß, wenn Rhys in St. Giles eine Hure besucht hatte, Duke Kynaston vielleicht sein Gefährte gewesen sein mochte. War er in jener Nacht dort gewesen? In einem dunklen Winkel seiner Gedanken lauerte das Wissen um Monks Fall, etwas, das er am liebsten nicht in sein Bewußtsein eindringen lassen wollte. Das Wissen um jene von Armut geschlagenen Frauen, die sich nach Feierabend als Prostituierte verdingten. Aber das war in Seven Dials gewesen, noch hinter Oldwich. War es vielleicht doch denkbar, daß Rhys und seine Gefährten für diese Übergriffe verantwortlich waren und daß sie diesmal nicht auf ein wehrloses Opfer gestoßen waren, sondern auf eine Frau, die einen Bruder oder Ehemann hatte, der nicht so betrunken war, wie sie es vermutet hatten? Vielleicht war es sogar eine ganze Gruppe von Männern gewesen, die die Frau im Auge behalten hatte? Das würde die Gewalttätigkeit des Angriffes erklären. Und Leighton Duff hatte etwas Derartiges befürchtet und war seinem Sohn gefolgt, so daß er plötzlich den vollen Preis gezahlt hatte. Daß er gestorben war, um das Leben seines Sohnes zu retten?

Kein Wunder, daß Rhys Alpträume hatte und nicht sprechen konnte! Das war eine Erinnerung, mit der kein Mann würde leben können.

Evan betrachtete das recht oberflächlich wirkende Gesicht des jungen Duke Kynaston, in dem sich das Bewußtsein von Jugend, Kraft und Geld so deutlich abzeichnete. Aber er sah keine Verletzungen in diesem Gesicht, weder verheilte noch langsam verblassende, keine Schnitte oder Kratzer, bis auf eine schwache Narbe an der Wange. Die mochte durchaus auf einen Ausrutscher der Rasierklinge zurückzuführen sein, wie er jedem jungen Mann einmal unterlaufen konnte.

»Also, was können wir Ihnen Ihrer Meinung nach erzählen?« fragte Duke mit einer Spur von Ungeduld.

»St. Giles ist ein großer Bezirk…«, begann Evan.

»So groß nun auch wieder nicht«, widersprach Duke. »Eine Meile im Quadrat oder so.«

»Sie kennen es also?« sagte Evan mit einem Lächeln.

Duke errötete. »Ich habe davon gehört, Mr. Evan. Das ist nicht dasselbe.« Aber sein Ärger verriet ihm, er wußte sehr wohl, daß er sich verraten hatte.

»Dann ist Ihnen gewiß klar, daß dieser Bezirk nicht bevölkert ist«, fuhr Evan fort, »mit Menschen, bei denen es höchst unwahrscheinlich ist, daß sie uns irgendwie behilflich sein wollen. Es gibt dort sehr viel Armut, und Verbrechen sind an der Tagesordnung. Es ist ungewöhnlich, daß ein Gentleman dort hingeht. Der Bezirk ist übervölkert, schmutzig und gefährlich.«

»Das habe ich gehört.«

»Sie selbst sind nie dort gewesen?«

»Nie. Wie Sie sagten, es ist kein Ort, an dem sich ein Gentleman aufhalten möchte.« Dukes Lächeln wurde breiter.

»Wenn ich auf der Suche nach billiger Unterhaltung wäre, würde ich nach Haymarket gehen. Ich hätte gedacht, daß Rhys es ebenso halten würde, aber da habe ich mich vielleicht geirrt.«

»Er ist nie mit Ihnen zusammen in Haymarket gewesen?« fragte Evan freundlich. Zum ersten Mal zögerte Duke.

»Ich kann mir kaum vorstellen, daß meine Vergnügungen Sie etwas angehen, Mr. Evan. Aber nein, ich bin mindestens ein Jahr lang nicht mit Rhys in Haymarket gewesen und auch sonst nirgendwo. Ich habe keine Ahnung, was er in St. Giles zu suchen hatte.«

Duke begegnete Evans Blick mit ruhigen, trotzigen Augen. Evan hätte seine Worte gern angezweifelt, aber er hatte das Gefühl, daß sie im wesentlichen der Wahrheit entsprachen, auch wenn irgendwo unausgesprochen eine Lüge liegen mochte. Es war sinnlos, diesbezüglich weiter in ihn zu dringen. Duke war offensichtlich nicht bereit, irgend etwas dazu zu sagen, und Evan hatte keine Handhabe, um ihm irgend etwas gegen seinen Willen zu entlocken. Seine einzige Taktik bestand darin, Zeit zu gewinnen und sich den Anschein zu geben, als sei er damit zufrieden.

»Schade«, sagte Evan ausdruckslos. »Es hätte uns die Arbeit erleichtert. Aber wir werden zweifellos andere finden, die sich gelegentlich in seiner Gesellschaft aufhielten. Es wird mehr Arbeit erfordern, und ich fürchte auch weitere Nachforschungen, was die Privatsphäre anderer Personen betrifft, aber das läßt sich nicht ändern.«

Duke sah ihn mit schmalen Augen an. Evan war sich nicht sicher, aber er glaubte plötzlich ein leichtes Unbehagen bei dem jungen Mann zu spüren.

»Wenn Sie im Empfangssalon warten wollen, finden Sie dort vielleicht eine Zeitung oder etwas Derartiges«, sagte Duke abrupt. »Dort entlang.« Er zeigte auf die Tür zu seiner Linken.

»Ich nehme an, Papa wird Sie empfangen, wenn er nach Hause kommt. Nicht daß ich glaube, er könnte Ihnen irgend etwas sagen.«

»Können Sie sich vorstellen, daß Rhys ihn ins Vertrauen gezogen hat?«

Der Blick, den Duke ihm zuwarf, spiegelte eine solch unglaubliche Verachtung, daß eine Antwort überflüssig war.

Evan begab sich in den kalten und sehr ungemütlichen Empfangssalon. Das Feuer war schon lange erloschen, und Evan fror zu sehr, um sich hinzusetzen. Er ging auf und ab und betrachtete flüchtig die Bilder auf dem Regal. Eine Reihe klassischer Titel fiel ihm ins Auge: Tacitus, Sallust, Juvenal, Caesar, Cicero und Plinius im lateinischen Original, Übersetzungen von Terenz und Platus, die Gedichte von Catull, und in dem Regal darüber die Reihen von Herodot sowie Thykydides Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Kaum die Lektüre, die ein wartender Gast wählen würde.

Die Fragen, die er Kynaston stellen wollte, betrafen Sylvestra Duff. Er wollte wissen, ob sie einen Liebhaber hatte, ob sie die Art Frau war, die ihre eigenen Wünsche selbst auf Kosten eines Lebens eines anderen verfolgen würde. Besaß sie die Willenskraft, den Mut und die blinde, leidenschaftliche Selbstsucht dazu? Aber wie fragte man jemanden nach solchen Dingen? Wie entlockte man einem anderen solche Antworten gegen seinen Willen?

Evan trat an den Kamin und zog den Klingelzug. Als das Mädchen kam, fragte er, ob er mit Mrs. Kynaston sprechen könne. Das Dienstmädchen versprach, sich zu erkundigen.

Evan hatte sich zuvor kein Bild von dieser Frau gemacht, aber trotzdem war Fidelis Kynaston eine Überraschung für ihn. Auf den ersten Blick hätte er gesagt, daß sie eine reizlose Erscheinung war. Sie hatte die Vierzig gewiß überschritten und war den Fünfundvierzig nahe. Er fühlte sich unverzüglich zu ihr hingezogen. Sie hatte Haltung und innere Gewißheit, die von Integrität zeugte.

»Guten Abend, Mr. Evan.« Fidelis kam herein und schloß die Tür. Sie hatte blondes, an den Schläfen ein wenig dünner werdendes Haar und trug ein dunkelgraues Kleid von einfachem Schnitt. Ihr einziger Schmuck war eine sehr schöne Kameenbrosche, die durch das Fehlen weiterer Schmuckstücke um so mehr zur Geltung kam. Die äußere Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war offenkundig, und doch unterschied ihre Persönlichkeit sich so ganz und gar von der seinen, daß dieser Eindruck sogleich wieder verflog. Es war keine Feindseligkeit in ihren Augen, keine Verachtung, nur Belustigung und Geduld.

»Guten Abend, Mrs. Kynaston«, antwortete Evan schnell. »Es tut mir leid, Sie zu stören, aber ich brauche Ihre Hilfe, falls Sie dazu in der Lage sind. Ich versuche herauszufinden, was Rhys Duff und seinem Vater zugestoßen ist. Rhys selbst kann ich nicht befragen. Wie Sie vielleicht wissen, kann er nicht sprechen, und er ist zu krank, als daß man das Thema ihm gegenüber auch nur anschneiden dürfte. Es mißfällt mir, mehr als unbedingt notwendig mit Mrs. Duff darüber zu reden, und ich glaube, sie steht gegenwärtig noch zu sehr unter Schock, um sich an viele Dinge erinnern zu können.«

»Ich bin mir nicht sicher, was ich weiß, Mr. Evan«, antwortete Fidelis stirnrunzelnd. »Die Phantasie antwortet auf die Frage, warum Rhys eine solche Gegend aufgesucht haben könnte. Junge Männer tun solche Dinge. Ihre Neugier und ihr Appetit ist oft größer als ihre Vernunft oder ihr guter Geschmack.«

Ihre Freimütigkeit überraschte Evan, und diese Regung schien sich in seiner Miene widergespiegelt zu haben.

Fidelis lächelte, ein Mienenspiel, das auf Grund der Besonderheit ihres Gesichtsschnittes ein wenig schief wirkte.

»Ich habe Söhne, und ich hatte Brüder, Mr. Evan. Außerdem ist mein Ehemann Rektor einer Jungenschule. Ich müßte schon mit geschlossenen Augen durchs Leben gehen, wenn ich keine Kenntnis von solchen Dingen hätte.«

»Und es fällt Ihnen nicht schwer zu glauben, daß Rhys dort hingegangen sein könnte?«

»Nein. Er war ein durchschnittlicher junger Mann mit dem üblichen Begehren, der Konvention zu trotzen und genau das zu tun, was alle jungen Männer immer getan haben.«

»Auch sein Vater vor ihm?« fragte Evan.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wahrscheinlich. Wenn Sie mich fragen, ob ich es weiß, dann ist die Antwort ein Nein. Es gibt viele Dinge, die eine kluge Frau nicht zu wissen vorzieht, es sei denn, man zwingt ihr dieses Wissen auf. Und die meisten Männer tun nichts dergleichen.«

Er zögerte. Spielte sie auf Prostituierte an oder noch auf etwas anderes? Er bemerkte einen Schatten in ihren Augen und eine gewisse Dunkelheit in ihrer Stimme. Sie hatte sich die Welt offensichtlich genau angesehen und viel Unschönes darin gefunden. Evan war sich ziemlich sicher, daß sie Schmerz erfahren und ihn als unvermeidlich hingenommen hatte, ihren eigenen Schmerz nicht weniger als den anderer. Konnte das mit ihrem Sohn Duke zusammenhängen? Konnte es sein, daß er eine ganze Menge mit dem Benehmen des jüngeren und leicht zu beeindruckenden Rhys zu tun hatte? Duke war genau der Typ von jungem Mann, der andere beeindruckte und zur Nachahmung herausforderte.

»Aber Sie können es vielleicht erraten?« fragte er leise.

»Das ist nicht dasselbe, Mr. Evan. Dinge, die man nur erraten kann, kann man vor sich selbst immer noch leugnen. Das Element der Unsicherheit genügt. Aber bevor Sie fragen – nein, ich weiß nicht, was Rhys oder seinem Vater zugestoßen ist. Ich kann nur vermuten, daß Rhys in schlechte Gesellschaft geraten ist und daß der arme Leighton sich solche Sorgen um ihn machte, daß er ihm an jenem Abend folgte. Vielleicht hat er versucht, Rhys zu einer Heimkehr zu überreden, und in dem darauffolgenden Kampf wurde Leighton getötet und Rhys verletzt. Es ist eine Tragödie. Mit etwas mehr Rücksichtnahme, weniger Stolz und Sturheit hätte es nicht zu passieren brauchen.«

»Gründet sich Ihre Vermutung auf Ihrer Kenntnis von Mr. Duffs Charakter?«

Fidelis hatte sich die ganze Zeit nicht gesetzt, vielleicht war es auch ihr zu kalt dazu.

»Ja.«

»Sie kannten ihn recht gut?«

»So ist es. Ich kenne Mrs. Duff schon seit Jahren. Mr. Duff und mein Mann waren enge Freunde. Sein Tod bereitet meinem Mann tiefen Kummer. Selbst seine Gesundheit hat darunter gelitten. Er hat sich eine schwere Erkältung zugezogen, und ich bin mir sicher, daß der Kummer seiner Genesung bisher im Wege stand.«

»Das tut mir leid«, sagte Evan automatisch. »Aber erzählen Sie mir doch bitte etwas über Mr. Duff. Vielleicht hilft es mir, der Wahrheit auf den Grund zu kommen.«

Fidelis besaß die Fähigkeit, an einem Platz stehenzubleiben, ohne unbeholfen zu wirken oder unnötigerweise die Hände zu bewegen. Sie war von bemerkenswerter Anmut.

»Leighton Duff war ein ausgesprochen ernsthafter Mann und mit einem gesunden Verstand gesegnet«, antwortete sie nachdenklich. »Er nahm sich seine Verantwortung stets zu Herzen. Er wußte, daß viele Menschen von seinem Talent und seiner harten Arbeit abhängig waren.« Sie machte eine knappe Handbewegung. »Nicht nur seine Familie, sondern auch all jene, deren Zukunft vom Gedeihen seiner Firma abhing. Sie wissen sicher, daß er beinahe täglich mit wertvollem Besitz und großen Geldsummen zu tun hatte.« Sie hob plötzlich den Kopf, und ihre Augen leuchteten auf, als sei ihr soeben ein neuer Gedanke gekommen. »Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Joel, mein Mann, es so leicht fiel, sich mit ihm zu unterhalten. Sie wußten beide um die Last der Verantwortung für andere, wußten, was es bedeutet, wenn andere Menschen einem fraglos vertrauen. Es ist etwas ganz Außerordentliches, Mr. Evan, wenn andere Menschen ihr Vertrauen in Sie setzen, nicht nur in Ihre Fähigkeiten, sondern auch in Ihre Ehre, wenn sie es für selbstverständlich halten, daß Sie alles für sie tun, was notwendig ist.«

»Ja…«, erwiderte er langsam, während es ihm durch den Kopf ging, daß man auch ihm bisweilen mit jener Art von blindem Vertrauen begegnete. Es war ein bemerkenswertes Kompliment, aber gleichzeitig auch eine Last, wenn man sich der Möglichkeiten eines Mißerfolges bewußt war.

Sie war immer noch in Gedanken verloren. »Mein Mann ist in so vielen Fällen der letzte Richter«, fuhr sie fort, ohne Evan anzusehen. Sie schien ganz von eigenen Erinnerungen in Anspruch genommen zu sein. »Die Entscheidung bezüglich der akademischen Ausbildung eines Jungen und vielleicht noch darüber hinaus, die Entscheidung über seine moralische Bildung, können den Rest seines Lebens beeinflussen. Und wenn man an die Jungen denkt, die eines Tages die Geschicke unserer Nation leiten werden, die Politiker, die Erfinder, die Schriftsteller und Künstler der Zukunft, dann können diese Dinge uns alle betreffen. Kein Wunder, daß solche Entscheidungen mit großer Sorgfalt getroffen werden müssen, daß man sein eigenes Gewissen durchforsten und mit absoluter Selbstlosigkeit urteilen muß. Es darf keine Ausflüchte geben. Der Preis für einen Irrtum kann vielleicht nie mehr beglichen werden.«

»Hatte er Sinn für Humor?« Die Worte waren ausgesprochen, bevor Evan aufging, wie unziemlich sie waren.

»Pardon?«

Es war zu spät, die Frage zurückzunehmen. »Hatte Mr. Duff Sinn für Humor?« Er spürte, wie die Röte ihm ins Gesicht stieg.

»Nein!« Sie erwiderte seinen Blick, und einen Moment lang schien ein gegenseitiges Verständnis zwischen ihnen aufzukeimen, zu zerbrechlich für Worte. Dann war der Eindruck verflogen.

Evan hatte noch immer kein Bild von diesem Mann, gewiß nichts, was erklärt hätte, weshalb er sich in St. Giles aufgehalten hätte – abgesehen von der Vorstellung, daß er einem launischen und enttäuschenden Sohn gefolgt war, dessen Vergnügungen er nicht verstand und dessen Gelüste ihn vielleicht erschreckten, da er um die Gefahr wußte, die solchen Dingen innewohnte. Wobei Krankheiten gewiß nicht die geringste dieser Gefahr darstellten. Evan wollte Mrs. Kynaston jedoch nicht die Fragen stellen, auf die er Antworten benötigte. Aber er würde sie Joel Kynaston stellen. Er mußte es tun.

Es verging eine weitere halbe Stunde überwiegend bedeutungsloser, angenehmer Konversation, bevor der Butler wieder erschien, um zu melden, daß Mr. Kynaston nach Hause gekommen sei und Evan in seinem Arbeitszimmer empfangen werde. Evan bedankte sich bei Fidelis und folgte dem Butler.

Das Arbeitszimmer war offensichtlich ein vielgenutzter Raum. Das Feuer in dem großen Kamin warf seinen flackernden Schein über eine Kohlenzange und eine Schaufel aus geschmiedetem Messing und funkelte auf dem Kamingitter. Evan zitterte vor Kälte, und die Wärme umhüllte ihn wie eine willkommene Decke. An den Wänden standen verglaste Bücherregale, und dazwischen hingen Bilder von ländlicher Idylle. Der Eichenschreibtisch war massiv, und es lagen drei Bücherstapel und Papiere darauf.

Joel Kynaston saß hinter seinem Schreibtisch und sah Evan neugierig an. Seine Größe ließ sich unmöglich bestimmen, aber er machte den Eindruck eines eher schmächtigen Menschen. Sein Gesicht war scharfgeschnitten, die Nase eine Spur zu spitz, der Mund ausgesprochen eigenwillig. Dies war kein Gesicht, das man vergessen oder leicht übersehen konnte. Seine Intelligenz war offenkundig, genauso wie das Wissen um seine eigene Autorität.

»Treten Sie ein, Mr. Evan«, sagte er mit einem leichten Nicken. Er stand nicht auf und legte damit sofort ihr Verhältnis zueinander fest. »Wie kann ich Ihnen von Diensten sein? Wenn ich etwas über den Tod des armen Leighton Duff wüßte, hätte ich es Ihnen natürlich bereits mitgeteilt. Obwohl ich die letzten Tage mit Fieber im Bett lag. Aber heute geht es mir besser, und ich kann nicht länger zu Hause bleiben.«

»Es tut mir leid, daß Sie krank waren, Sir«, antwortete Evan.

»Vielen Dank.« Kynaston deutete auf den Stuhl gegenüber.

»Setzen Sie sich doch bitte. Und jetzt erzählen Sie mir, in welcher Weise ich Ihnen Ihrer Meinung nach behilflich sein kann.«

»Ich glaube, Sie haben Rhys Duff seit seiner Jugend gekannt, Sir«, begann er. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Kynaston runzelte kaum merklich die Stirn. »Ja?«

»Überrascht es Sie eigentlich, daß er sich in einer Gegend wie St. Giles aufgehalten hat?«

Kynaston holte tief Atem und stieß die Luft dann langsam wieder aus. »Nein. Ich bedaure sagen zu müssen, daß es mich nicht überrascht. Er war immer ungebärdig, und in letzter Zeit hat die Wahl seines Umgangs seinem Vater einige Sorge bereitet.«

»Warum? Ich meine, was genau war der Grund dafür?« Kynaston sah ihn durchdringend an. Die verschiedensten Regungen huschten über sein Gesicht. Er hatte ausgesprochen ausdrucksvolle Züge, fetzt spiegelten sie Erstaunen wider, Unwillen, Traurigkeit und etwas anderes, das sich nicht so leicht deuten ließ, etwas Dunkleres, ein Gefühl von Tragödie, vielleicht sogar des Bösen.

»Was genau meinen Sie damit, Mr. Evan?«

»War es die Unmoral seines Tuns?« erläuterte Evan seine Frage. »Die Furcht vor einer Krankheit, vor einem Skandal oder der Schande? Die Furcht, die Gunst einer angesehenen jungen Dame zu verlieren? Oder war es das Wissen, daß sein Sohn sich damit ganz konkret in Gefahr begab?«

Kynaston zögerte so lange, daß Evan schon glaubte, er werde nicht antworten. Als er endlich doch etwas sagte, war seine Stimme leise, sehr bedächtig, sehr präzise, und er hatte seine kräftigen, knochigen Hände vor der Brust ineinander verkrampft.

»Etwas in all diesen Dingen, könnte ich mir denken, Mr. Evan. Ein Mann ist auf einzigartige Weise verantwortlich für den Charakter seines Sohnes. Die menschliche Existenz kann nicht viele qualvollere Erfahrungen bereithalten als mit anzusehen, wie ihr eigenes Kind, der Träger ihres Namens, ihr Erbe, ihre Unsterblichkeit immer weiter dem Weg in die Niederungen von Schwäche und geistiger sowie körperlicher Verderbnis folgt.« Kynaston bemerkte Evans Überraschung. Seine Augenbrauen hoben sich leicht. »Nicht daß ich damit andeuten will, daß Rhys verdorben wäre. Er hatte eine sehr schwache Veranlagung, die vielleicht eine größere Disziplin erfordert hätte, als ihm zuteil wurde. Das ist alles. Und es ist bei jungen Menschen keineswegs ungewöhnlich, erst recht bei einem einzigen Jungen in einer Familie. Leighton Duff machte sich Sorgen. Tragischerweise hatte er, wie es jetzt aussieht, ernste Veranlassung dazu.«

»Sie glauben, daß Mr. Duff Rhys nach St. Giles gefolgt ist und daß der Angriff auf die beiden in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Anwesenheit dort stand?«

»Sind Sie anderer Meinung? Mir scheint dies eine geradezu tragisch offensichtliche Erklärung zu sein.«

»Sie glauben nicht, daß Mr. Duff unter anderen Umständen allein dort hingegangen wäre? Sie kannten ihn gut, glaube ich?«

»Sehr gut!« sagte Kynaston mit Nachdruck. »Und ich bin mir absolut sicher, daß er nichts dergleichen getan hätte. Warum, in Gottes Namen, hätte er dort hingehen sollen? Er hatte alles zu verlieren und nichts, was irgendwie erstrebenswert gewesen wäre, zu gewinnen.« Kynaston lächelte flüchtig, es war nur die Andeutung einer bitteren Erheiterung, die unverzüglich in der Realität seiner Trauer um Leighton Duff unterging. »Ich hoffe, Sie finden den Schuldigen, Sir, aber ich fürchte, das ist eine unvernünftige Hoffnung. Wenn Rhys eine Liaison – oder Schlimmeres – mit einer Frau aus dieser Gegend hatte«, sein Mund verzog sich kaum merklich vor Abscheu, »dann möchte ich bezweifeln, daß Sie der Sache auf den Grund kommen werden. Die Betroffenen werden sich kaum freiwillig zu Wort melden, und ich könnte mir vorstellen, daß die Bewohner jener Welt ihresgleichen schützen werden, statt sich mit den Kräften des Gesetzes zu verbünden.«

Was er sagte, entsprach der Wahrheit. Evan mußte es zugeben. Er dankte ihm und erhob sich, um sich zu verabschieden. Er wollte auch noch mit Dr. Corriden Wade sprechen, erwartete aber nicht, irgendwelche wesentlichen Dinge von ihm zu erfahren.

Wade war nach einem langen und anstrengenden Tag bereits sehr müde, als er Evan in seine Bibliothek bat. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und als er vor Evan durch den Raum ging, sah es so aus, als täten ihm Rücken und Beine weh.

»Natürlich werde ich Ihnen alles sagen, was ich kann, Sergeant«, erklärte er, während er sich in einem der behaglichen Sessel in der Nähe des brennenden Feuers niederließ und Evan bedeutete, es ihm gleichzutun. »Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nichts erzählen, was Sie nicht bereits wüßten. Und ich kann Ihnen nicht erlauben, Rhys Duff zu befragen. Er befindet sich bei sehr schlechter Gesundheit, und jede Aufregung, die ein Gespräch mit Ihnen gewiß verursachen würde, könnte eine Krise auslösen. Ich kann nicht einmal genau sagen, welche inneren Verletzungen er durch das Unglück davongetragen hat.«

»Ich verstehe«, erwiderte Evan hastig. »Ich hatte nicht die Absicht, um einen Besuch bei ihm zu bitten. Ich habe gehofft, Sie könnten mir etwas mehr über Rhys und seinen Vater erzählen. Es würde mir vielleicht helfen, den Dingen auf den Grund zu kommen.«

Wade seufzte. »Wahrscheinlich wurden die beiden von Dieben angegriffen, ausgeraubt und geschlagen«, antwortete er unglücklich. Kummer und Ernst hielten sich in seinem Gesicht die Waage. »Spielt es jetzt noch eine Rolle, warum sie nach St. Giles gegangen sind? Haben Sie denn auch nur die geringste Hoffnung, den Schuldigen zu fassen oder irgend etwas zu beweisen? Ich habe speziell mit St. Giles nur wenig Erfahrung, aber ich habe mehrere Jahre bei der Marine zugebracht. Mir sind dabei einige rauhe Stadtviertel untergekommen, Orte, an denen verzweifelte Armut herrschte, wo Krankheiten und Tod an der Tagesordnung waren und ein Kind von Glück sagen konnte, seinen sechsten Geburtstag zu erreichen oder gar heranzuwachsen. Nur wenige dort gehen einem ehrlichen Gewerbe nach, das ihnen genug einträgt, um davon leben zu können. Noch weniger Leute können lesen oder schreiben. Es ist eine bestimmte Lebensart. Gewalt ist das Nächstliegende, das erste, woran man denkt, nicht das letzte.«

»Ich weiß das, Sir«, erwiderte Evan. »Und ich hätte gedacht, daß ein Mann von Mr. Duffs Intelligenz und Weltgewandtheit es ebenfalls wußte.«

»Ich denke, daß er über diese Dinge genauso Bescheid wußte wie wir«, antwortete Wade trostlos. »Er muß Rhys gefolgt sein. Sie haben Rhys nur in seinem jetzigen Zustand erlebt, Mr. Evan, als Opfer einer Gewalttat. Als einen Mann, der von Verwirrung, Angst und Schmerz gequält wird.« Er schob die Unterlippe vor.

»Er war nicht immer so. Vor diesem… Zwischenfall… war er ein junger Mann von beträchtlicher Großspurigkeit und vielen Begierden, der wie so viele junge Menschen an seine eigene Überlegenheit und Unverletzlichkeit glaubte und sich oft den Gefühlen anderer gegenüber recht unempfänglich zeigte. Er besaß durchaus die Fähigkeit, grausam zu sein und eine gewisse Macht auszukosten.« Wades Lippen strafften sich. »Ich fälle keine Urteile, und Gott allein weiß, ich würde Rhys von alledem heilen, wenn ich nur könnte. Aber es ist nicht unmöglich, daß er eine Beziehung zu einer Frau aus diesem Viertel unterhielt und gewisse Begierden gestillt hat, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, welche Konsequenzen sein Tun für andere haben mochte. Sie war vielleicht die Frau eines anderen. Vielleicht war er rauher, als es gemeinhin akzeptabel erschien. Möglicherweise hatte sie eine Familie, die…« Er machte sich nicht die Mühe, seinen Gedanken zu Ende zu führen, es war unnötig.

Evan runzelte die Stirn und versuchte, sich einen Weg durch die verschiedenen Möglichkeiten zu ertasten.

»Dr. Wade, wollen Sie damit sagen, daß Sie bei Rhys Duff vor diesem Zwischenfall einen Hang zur Grausamkeit oder Gewalttätigkeit beobachtet haben?«

Wade zögerte. »Nein, Sergeant, das will ich nicht sagen«, erwiderte er schließlich. »Ich will sagen, daß ich Leighton Duff annähernd zwanzig Jahre kannte, und ich kann mir keinen einzigen Grund vorstellen, warum er in ein Viertel wie St. Giles gehen sollte. Es sei denn, um mit seinem Sohn zu reden und ihn davon abzuhalten, eine Torheit zu begehen. Sich in eine Situation zu bringen, aus der er sich allein nicht mehr befreien konnte. Im Lichte dessen, was geschehen ist, kann ich nur mutmaßen, daß er recht hatte.«

»Hat er mit Ihnen über solche Befürchtungen gesprochen, Dr. Wade?«

»Sie müssen doch wissen, Sergeant, daß ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann.« Wades Stimme klang ernst, aber nicht verärgert. »Mir ist klar, daß es Ihre Pflicht ist, solche Fragen zu stellen. Aber Sie müssen verstehen, daß es meine Pflicht ist, eine Antwort darauf abzulehnen.«

»Ja«, gab Evan ihm mit einem Seufzen recht. »Ja, natürlich weiß ich das. Ich glaube nicht, daß ich Sie noch weiter belästigen muß, zumindest heute abend nicht mehr. Ich danke Ihnen, daß Sie mich empfangen haben.«

»Keine Ursache, Sergeant.«

Evan stand auf und ging zur Tür.

»Sergeant!«

Er drehte sich um. »Ja, Sir?«

»Ich denke, daß Ihr Fall sich möglicherweise als unlösbar entpuppen wird. Bitte versuchen Sie, soweit als möglich auf Mrs. Duffs Gefühle Rücksicht zu nehmen. Bringen Sie keine tragischen oder schmutzigen Einzelheiten im Leben ihres Sohnes zur Sprache, die der Sache nicht dienlich sein können und die seine Mutter zusätzlich zu ihrer Trauer würde ertragen müssen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Rhys sich wieder erholen wird. Möglicherweise wird er nicht wieder gesund.«

»Reden Sie von seiner Fähigkeit zu sprechen oder von seinem Leben?«

»Sowohl als auch.«

»Ich verstehe. Ich bedanke mich noch einmal für Ihre Freundlichkeit. Gute Nacht, Dr. Wade.«

»Gute Nacht, Sergeant.«

Am nächsten Morgen traf Evan sich wieder mit Shotts in der Gasse in St. Giles, und gemeinsam machten sie sich von neuem auf die Suche nach Zeugen, Beweisen, irgend etwas, das sie zur Wahrheit führen würde. Evan konnte die Möglichkeit, daß Sylvestra Duff irgendwie mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte, nicht vollkommen ausschließen. Es war ein häßlicher Gedanke, aber jetzt, da er einmal aufgekommen war, sah Evan einige Dinge, die dafür sprachen. Zumindest hinreichend, um Nachforschungen zu rechtfertigen.

War es dieses Wissen, daß Rhys so sehr entsetzte, daß er nicht sprechen konnte? War das der Grund für seine scheinbare Kühle seiner Mutter gegenüber? War das die Last, die ihn quälte und zum Schweigen verurteilte?

Wer war der Mann? War er ein Komplize oder lediglich das ahnungslose Motiv? War es Corriden Wade, und wußte Rhys darüber Bescheid?

Oder war es, wie der Doktor angedeutet hatte, Rhys’ eigene Schwäche, die ihn nach St. Giles geführt hatte, und war sein Vater ihm aus einer verzweifelten Sorge heraus gefolgt und nachdem er seinen Sohn zur Rede gestellt hatte, dafür getötet worden?

Was zu einer weiteren furchtbaren Frage führte: Welche Rolle hatte Rhys beim Tod seines Vaters gespielt? War er Zeuge gewesen – oder mehr?

»Haben Sie diese Bilder?« fragte er Shotts.

»Was? O ja!« Shotts nahm die zwei Zeichnungen aus der Tasche, die von Rhys, so gut der Maler sein Aussehen einzuschätzen vermocht hatte, wenn man seine gegenwärtigen Verletzungen außer acht ließ; die andere von Leighton Duff, die zwangsläufig schlechter und ungenauer war, da sie nach einem Porträt in der Halle angefertigt worden war. Aber diese Zeichnungen genügten, um einen lebhaften Eindruck der beiden Männer wachzurufen, wie sie ausgesehen haben mußten.

»Haben Sie immer noch nichts in Erfahrung gebracht?« hakte Evan nach. »Hausierer, Straßenhändler oder Droschkenkutscher? Irgend jemand muß sie doch gesehen haben!«

Shotts biß sich auf die Unterlippe. »Niemand gibt zu, sie gesehen zu haben«, erwiderte er offen.

»Was ist mit den Frauen?« fuhr Evan fort. »Wenn sie wegen einer Frau hier waren, muß irgend jemand sie doch gekannt haben!«

»Nicht unbedingt«, wandte Shotts ein. »Eine schnelle Nummer in einer Gasse oder einem Hauseingang. Wer schert sich um Gesichter?«

»Man sollte denken, die Frauen wären heutzutage vorsichtiger, was Vertraulichkeiten auf der Straße betrifft. Wie ich höre, sind in letzter Zeit mehrere Frauenzimmer und Freizeitprostituierte böse vergewaltigt worden«, bemerkte er.

»Ja«, sagte Shotts mit einem Stirnrunzeln. »Das habe ich auch gehört. Aber diese Dinge sind drüben in Seven Dials passiert, nicht hier.«

»Von wem haben Sie denn davon erfahren?« wollte Evan wissen.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

»Was?«

»Von wem haben Sie davon erfahren?« wiederholte Evan.

»Oh, von einem Straßensänger«, antwortete Shotts beiläufig.

»Es war eine von seinen Geschichten. Ich weiß natürlich, daß die Hälfte davon Unsinn ist. Aber ich nehme an, ein Körnchen Wahrheit wird schon daran sein.«

»Ja…«, pflichtete Evan ihm bei. »Traurigerweise ist es so. Ist das alles, was Sie herausgefunden haben?«

»Ja. Zumindest was den Vater betrifft. Bei dem Sohn liegen die Dinge ein wenig anders. Einige Frauen glauben, sie hätten ihn gesehen. Aber ganz sicher war sich keine. Die meisten Leute achten nicht weiter auf Gesichter. Was glauben Sie, wie viele Männer es gibt, die groß, eher dünn und dunkelhaarig sind?«

»Nicht allzu viele, die aus der Ebury Street kommen und in St. Giles ihrem Vergnügen nachjagen«, antwortete Evan trocken.

Shotts sagte nichts mehr. Seite an Seite trotteten sie wieder von einem erbärmlichen Bordell zum nächsten, zeigten ihre Bilder vor, stellten Fragen, hakten nach, schmeichelten oder drohten. Am Ende war Evans Respekt für Shotts Fähigkeiten beträchtlich gewachsen. Er schien instinktiv zu wissen, wie er jeden einzelnen behandeln mußte, um ihn gesprächig zu machen. Shotts kannte überraschend viele Leute, und zu einigen von ihnen hatte er ein recht herzlich wirkendes Verhältnis. Sie machten Witze, und er fragte nach den Kindern, die er sogar beim Namen kannte. Die Antworten, die er bekam, verrieten, daß die Leute seine Anteilnahme für echt hielten.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie diesen Bezirk so gut kennen«, bemerkte Evan, als sie stehenblieben und einem Händler an der Ecke einer Hauptdurchgangsstraße Pasteten abkauften. Die Pasteten waren heiß und rochen stark nach Zwiebeln. Solange er nicht allzu genau darüber nachdachte, was sie wohl enthalten mochten, waren sie ausgesprochen köstlich. Außerdem wärmten sie ihn von innen, was höchst willkommen war, da die Temperaturen weiter gesunken waren und der feine Nieselregen sich in Eisnadeln verwandelt hatte.

»Das ist meine Aufgabe«, erwiderte Shotts, während er in das Teigstück biß. Er sah Evan nicht an. »Ich könnte meine Arbeit nicht richtig tun, wenn ich die Straßen und die Leute hier nicht kennen würde.«

Es schien ihm zu widerstreben, weiter darüber zu reden. Wahrscheinlich war er nicht an Lob gewöhnt und von bescheidenem Wesen, so daß Evans Worte ihm peinlich waren. Der Sergeant ging der Sache nicht weiter nach.

Sie setzten ihre fruchtlose Unternehmung fort. Alle Antworten waren entweder negativ oder ungewiß. Niemand erkannte Leighton Duff, darauf beharrten die Leute, aber ein halbes Dutzend von ihnen hielt es für möglich, daß sie Rhys gesehen hatten – aber vielleicht auch nicht. Niemand erwähnte die Gewalttaten in Seven Dials. Die beiden Bezirke hätten in verschiedenen Welten liegen können.

Schließlich versuchten sie es auch bei den Straßenhändlern aus der Gegend, bei den Bettlern, einigen Pfandleihern und Schankwirten. Zwei Bettler hatten wohl ein halbes Dutzend Mal jemanden gesehen, auf den Rhys’ Beschreibung paßte. Sie glaubten es, jedenfalls vielleicht.

Es war ein fahrender Straßensänger, ein dünner, schmächtiger Mann mit verfilzten! schwarzem Haar und großen blauen Augen, der die Antwort gab, die Evan am meisten überraschte und bestürzte. Als sie ihm die Bilder gezeigt hatten, war er sich ganz sicher, Leighton Duff schon einmal gesehen zu haben, und zwar ganz am Rand von St. Giles. Er sei allein gewesen und habe offensichtlich nach jemandem gesucht, ihn selbst aber nicht angesprochen. Er hatte gesehen, wie der Mann mit einer Frau redete, die als Prostituierte bekannt war. Der Mann, den er für Leighton Duff hielt, hatte sie anscheinend etwas gefragt, und als sie abgelehnt hatte, war er weitergegangen und hatte sie stehenlassen. Der Straßensänger war sich ganz sicher. Er antwortete, ohne einen Augenblick zu zögern, und er rechnete nicht mit einer Belohnung. Außerdem war er davon überzeugt, auch Rhys mehrmals gesehen zu haben.

»Woher wissen Sie, daß es sich um diesen Mann handelt?« fragte Evan zweifelnd, während er gleichzeitig versuchte, sich des Gefühles zu erwehren, einen Sieg errungen zu haben. Nicht daß es ein besonders beeindruckender Sieg gewesen wäre. Es war ein Fingerzeig und kein Beweis für irgend etwas und davon abgesehen nichts anderes als das, was er bereits vermutet hatte.

»In einem Bezirk wie diesem treiben sich bei Dunkelheit gewiß viele junge Männer herum.«

»Ich habe ihn unter den Laternen gesehen«, entgegnete der Straßensänger. »Ich mache mein Geld mit Gesichtern, zumindest einen Teil davon. Vor allem an seine Augen kann ich mich erinnern. Ganz anders als bei den meisten Leuten. Groß und fast schwarz. Er sah ziemlich verloren aus.«

»Verloren?«

»Ja, als wüßte er nicht recht, was er will und in welche Richtung er sich wenden soll. Man hatte den Eindruck, daß er irgendwie unglücklich war.«

»Das kann in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches sein.«

»Er gehörte aber nicht hierher. Ich kenne die meisten von denen, die hierhergehören. Stimmt’s nicht, Mr. Shotts?«

Shotts sah erschrocken aus. »Ja… ja, wahrscheinlich.«

»Aber Sie gehen doch auch nach Seven Dials hinüber.« Evan fiel wieder ein, was Shotts über den Straßensänger gesagt hatte, der ihm von Monks Fall erzählte. »Haben Sie ihn da auch mal gesehen?« Es war ein Schuß ins Blaue, aber zumindest versuchen mußte man es.

»Ich?« Der Straßensänger schien überrascht zu sein und sah Evan mit großen blauen Augen an. »Ich gehe nicht nach Seven Dials. Das hier ist mein Gebiet.«

»Aber Sie wissen, was da drüben passiert?« Er wollte nicht allzu leicht aufgeben, und irgend etwas nagte an ihm.

»Tut mir leid, Chef, keine Ahnung. Da müssen Sie einen von denen fragen, die da drüben arbeiten. Versuchen Sie es mal bei Jimmy Morrison. Der kennt sich in Seven Dials aus.«

»Sie wissen nichts über Gewalttaten in Seven Dials? Verbrechen gegen Frauen?«

Der Straßensänger stieß ein scharfes, höhnisches Lachen aus.

»Was, Sie meinen andere Sachen als die normalen?«

»Ja!«

»Keine Ahnung. Worum geht’s da?«

»Um Fabrikarbeiterinnen, die vergewaltigt und geprügelt wurden.«

Das Gesicht des Straßensängers verzog sich vor Abscheu. Evan konnte nicht glauben, daß er nicht bereits von diesen Dingen gewußt hatte.

An diesem Abend traf er sich mit Monk. Monk hatte im Polizeirevier eine Notiz für ihn hinterlegt, und er war nur allzu froh, eine oder zwei Stunden bei einem guten Essen in einem Gasthaus zu verbringen und ein wenig zu plaudern.

Monk war schlechter Laune. Mit seinem Fall stand es nicht zum besten, aber er zeigte Hilfsbereitschaft für Evan.

»Sie glauben, es könnte die Witwe gewesen sein?« fragte er, und sein Blick war offen und neugierig. Der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen brachte sein Verständnis dafür zum Ausdruck, daß es Evan widerstrebte, etwas Derartiges anzunehmen. Monk kannte Evan nur allzu gut, und trotz seiner Zuneigung für ihn konnte er nicht umhin, dessen Glauben an den guten Kern des Menschen mit Belustigung und einer Spur Verachtung zu betrachten.

»Ich denke, es war wahrscheinlich genau das, wonach es aussah«, erwiderte Evan düster. »Rhys war ein junger Mann, den seine Mutter verwöhnt hatte und in den sein Vater große Hoffnungen setzte. Hoffnungen, denen er vielleicht nicht gerecht werden konnte oder wollte. Er ließ einem egoistischen und möglicherweise grausamen Zug in seinem Wesen freien Lauf. Sein Vater folgte ihm, um ihn aufzuhalten, vielleicht, um ihn vor den Gefahren seines Tuns zu warnen. Irgendwie sind sie in einen Streit mit anderen verstrickt worden. Der Vater ist gestorben. Der Sohn hat ernste Verletzungen davongetragen und ist so entsetzt über das, was er erlebt hat, daß er nicht einmal mehr sprechen kann.«

Monk versenkte sein Messer in der dicken Fettkruste seiner Nierenpastete.

»Die Frage ist«, sagte er mit vollem Mund, »wurden die beiden von Leuten aus St. Giles angegriffen, oder hat Rhys seinen Vater im Streit selbst getötet?«

»Oder hatte Sylvestra Duff einen Liebhaber, und entweder der Mann hat die Sache selbst in die Hand genommen oder einen anderen damit beauftragt?« fragte Evan.

»Wer soll das sein? Samson?« Monk zog die Augenbrauen hoch.

»Was?«

»Er hat es mit zwei Männern gleichzeitig aufgenommen, den einen getötet, den anderen besinnungslos liegengelassen und ist dann davongegangen?« erklärte Monk.

»Dann muß es mehr als einen gegeben haben«, wandte Evan ein. »Er hat jemanden für die Sache angeheuert, zwei Leute, und es war Zufall, daß Rhys sich dort aufhielt. Der Mörder ist Leighton Duff gefolgt und hat ihn gerade in dem Augenblick eingeholt, als der Rhys gefunden hatte.«

»Oder aber Rhys steckte mit seiner Mutter unter einer Decke.« Monk schluckte und führte sein Bierglas an die Lippen.

»Haben Sie irgendeine Möglichkeit, der Sache nachzugehen?«. Er ignorierte Evans unübersehbaren Widerwillen.

»Hester ist dort. Sie pflegt Rhys«, antwortete Evan. Er sah ein Zucken in Monks Gesicht, eine flüchtige Regung nur. Evan ahnte, was Monk für Hester empfand, auch wenn er die Gründe für die Vielschichtigkeit seiner Gefühle nicht verstand. Aber er hatte gesehen, wieviel Vertrauen zwischen diesen beiden Menschen bestand. Hester hatte für Monk gekämpft, als kein anderer es tun wollte. Und sie hatte sich mit ihm gestritten, wenn es, zumindest Evans Meinung nach, überhaupt keinen Sinn gehabt hatte. Aber Evan wußte auch, daß die dunklen Winkel in Monks Herzen ihn daran hinderten, sich einem anderen Menschen anzuschließen, wie Evan es getan hätte. Ängste und verschwommene Erinnerungen an Dinge, die er nicht mehr greifen konnte, machten ihm etwas Derartiges unmöglich. Evan wußte jedoch nicht, ob Monk aus Angst um Hester so handelte, ob er ihr Schmerz ersparen wollte oder ob er lediglich aus Angst für sich selbst handelte. Fürchtete er vielleicht, zu verletzlich zu sein, wenn er ihr gestattete, ihn wirklich kennenzulernen?

Nichts in Monks Benehmen verriet Evan, wie die Antwort auf diese Fragen lauten mußte. Wahrscheinlich wußte auch Hester es nicht.

Monk hatte inzwischen einen Gutteil seiner Mahlzeit verzehrt.

»Sie wird Ihnen nichts sagen«, erklärte er, ohne den Blick von seinem Teller zu heben.

»Das weiß ich«, erwiderte Evan. »Ich werde sie auch nicht in Verlegenheit bringen, indem ich frage.«

Monk sah hastig zu ihm auf, dann schaute er wieder auf seine Pastete hinunter.

»Und Sie? Sind Sie mit Ihrem Fall irgendwie weitergekommen?« fragte Evan.

Monks Miene verdüsterte sich, und die Haut über seinen Wangen straffte sich. Sein Ärger war unverkennbar.

»Zwei oder drei Männer sind ziemlich regelmäßig nach Seven Dials gekommen, gewöhnlich an einem Dienstag oder Donnerstag, und immer zwischen zehn Uhr abends und zwei oder drei Uhr morgens. Soweit ich das in Erfahrung bringen konnte, waren sie nicht betrunken und sind auch weder in Schankstuben noch Bordelle gegangen. Niemand scheint ihre Gesichter deutlich gesehen zu haben. Einer war überdurchschnittlich groß, die beiden anderen ganz gewöhnlich, der eine eine Spur schwerer als der andere. Ich habe Kutschen gefunden, die sie anschließend zum Portman Square gefahren haben oder zum Eaton Square.«

»Aber da liegen Meilen dazwischen!« entfuhr es Evan. »Nun, jedenfalls eine ganz hübsche Strecke.«

»Ich weiß«, fuhr Monk fort. »Sie haben sich auch zum Cardigan Place fahren lassen, zum Belgrave Square und in die Wimpole Steet. Ich bin mir vollauf im klaren darüber, daß sie in drei verschiedenen Bezirken leben könnten, wahrscheinlich aber ganz einfach die Droschken gewechselt haben. Ich brauche niemanden, der mich auf das Offensichtliche hinweist. Was ich brauche, ist eine Polizei, die sich darum kümmert, daß mehr als ein Dutzend Frauen verprügelt wurden, daß einige von ihnen schwer verletzt wurden und, soweit es diese Tiere scherte, hätten tot sein können! Was ich brauche, ist ein klein wenig Engagement für die Armen, ebenso wie für die Bewohner der Ebury Street. Ein klein wenig blinde Gerechtigkeit, statt einer Gerechtigkeit, die so verdammt aufmerksam nach der Form und Größe der Taschen schielt, nach dem Schnitt eines Gehrocks, bevor sie die Entscheidung trifft, ob sie sich für jemanden interessiert oder nicht!«

»Das ist unfair«, entgegnete Evan und erwiderte den Blick des anderen mit ebenso großem Ärger. »Wir verfügen auch nur über begrenzte Zeit, über eine begrenzte Zahl von Männern, und das wissen Sie genausogut wie ich. Und selbst wenn wir die Schuldigen finden, was würde es nutzen? Wer wird sie anklagen? Die Sache würde nie vor Gericht kommen, und auch das wissen Sie!« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Was erhoffen Sie sich, Monk? Private Rache? Dann sollten Sie verdammt sicher sein, daß Sie mit Ihren Anschuldigungen richtig liegen!«

»Ich werde mir sicher sein!« stieß Monk mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich werde Beweise haben, bevor ich handle.«

»Und was dann? Mord?« wollte Evan wissen. »Sie haben kein Recht, das Gesetz in Ihre eigenen Hände zu nehmen oder es in die Hände von Menschen zu legen, die sich dann ihrerseits zu Richtern aufschwingen. Das Gesetz gehört uns allen, sonst ist keiner von uns mehr sicher!«

»Sicher!« explodierte Monk. »Sagen Sie das mal den Frauen in Seven Dials! Was Sie da reden, ist reine Theorie. Ich habe es mit Tatsachen zu tun!«

Evan gab nicht nach. »Wenn Sie diese Männer finden und Ihren Arbeitgebern sagen, wer sie sind, und diese Leute dann einen Mord begehen, dann ist das auch eine Tatsache.«

»Und? Welche Alternative haben Sie zu bieten?« fragte Monk.

»Keine«, gab Evan zu. »Ich weiß keine.«