4

Nachdem Corriden Wade am Abend das Haus verlassen hatte, ging Hester nach oben, um noch einmal nach Rhys zu sehen, bevor sie ihn für die Nacht fertig machte. Er lag in sich zusammengekrümmt auf dem Bett, das Gesicht ins Kissen gedrückt, die Augen weit aufgerissen. Bei jedem anderen hätte sie versucht, ihn zum Reden zu bringen und zumindest indirekt herauszufinden, was ihn quälte. Aber Rhys hatte noch immer keine andere Möglichkeit, sich mitzuteilen, als ihren Fragen zuzustimmen oder sie zu verneinen. Hester blieb nichts anderes übrig, als zu raten, sich durch die zahllosen Möglichkeiten zu tasten und zu versuchen, ihre Fragen so zu formulieren, daß Rhys mit ja oder nein antworten konnte. Was für ein grobes Instrument, um die Ursache eines so schrecklichen und vielschichtigen Schmerzes zu finden. Es war, als operierte man mit einer Axt an lebendigem Fleisch.

»Rhys…«

Er rührte sich nicht.

»Rhys… Soll ich ein Weilchen hierbleiben, oder möchten Sie lieber allein sein?«

Er drehte sich sehr langsam um und sah sie an; seine Augen waren groß und dunkel.

Sie versuchte, seinen Blick zu deuten, herauszuspüren, welche Gefühle, welche Bedürfnisse er hatte. Was an ihm zerrte, ohne daß er es lange ertragen, ohne daß er sich mit Worten Luft machen konnte. Instinktiv streckte sie die Hand aus und berührte ihn am Arm, oberhalb der Schienen und des Verbands.

Er zuckte mit keiner Miene. Sie lächelte vorsichtig.

Er öffnete den Mund. Sein Hals verkrampfte sich, aber es kam kein Laut. Er atmete schneller, schluckte. Schließlich mußte er laut stöhnen, um nicht zu ersticken, aber es kam immer noch keine Stimme, kein Wort.

Hester hob die Hand an die Lippen. »Es ist gut. Warten Sie ein wenig. Lassen Sie sich Zeit, gesund zu werden. Gibt… gibt es etwas Spezielles, das Sie sagen wollen?«

Nichts. Seine Augen waren erfüllt von Grauen und Elend. Hester wartete und gab sich alle Mühe zu verstehen. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen, und er schüttelte den Kopf.

Sie strich ihm das dunkle Haar aus der Stirn. »Möchten Sie dann jetzt vielleicht schlafen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Soll ich Ihnen etwas zu lesen holen?« Er nickte.

Sie trat an das Bücherregal. Sollte sie versuchen, jegliche Lektüre auszuscheiden, die ihm vielleicht Schmerzen bereiten, ihn an seinen Zustand erinnern oder Erinnerungen wachrufen konnte? Würde sie damit nicht erst recht seinen Argwohn erregen?

Sie griff nach einer Übersetzung der Ilias. Das Buch war voller Schlachten und Tode, aber die Sprache war wunderschön und voller lebendiger Bilder und Licht, voller epischer Liebesgeschichten, Götter und Göttinnen, alten Städten und weindunklen Meeren. Es war eine Welt des Geistes fernab der Gassen von St. Giles.

Hester setzte sich auf den Stuhl neben Rhys’ Bett, und er lag still unter seiner Decke und lauschte ihrer Stimme, ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. Es wurde elf Uhr, Mitternacht, ein Uhr, und endlich schlief er ein. Hester legte ein Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum und in ihr eigenes Zimmer hinüber, wo sie sich aufs Bett legte und voll bekleidet einschlief.

Sie erwachte spät, war aber immer noch müde. Dennoch hatte sie besser geschlafen als in all den Nächten, seit sie in die Ebury Street gekommen war. Sie ging unverzüglich zu Rhys hinüber, der rastlos war, aber noch nicht wach genug, um zu frühstücken.

Unten begegnete sie Sylvestra. Sobald sie Hester sah, kam sie mit ängstlich angespannter Miene durch den Flur.

»Wie geht es ihm? Hat er schon etwas gesagt?« Sie schloß die Augen, als ärgere sie sich über sich selbst. »Es tut mir leid. Ich habe geschworen, daß ich diese Frage nicht stellen würde. Dr. Wade sagt, ich müsse Geduld haben, aber…« Sie hielt inne.

»Natürlich ist das schwierig«, versicherte Hester ihr. »Jeder Tag erscheint einem so lang wie eine ganze Woche. Aber ich habe ihm gestern bis spät in die Nacht vorgelesen, und er scheint gut geschlafen zu haben. Er wirkte jedenfalls sehr viel ruhiger.«

Ein Teil der Anspannung fiel von Sylvestra ab, ihre Schultern senkten sich ein wenig, und sie versuchte zu lächeln.

»Kommen Sie doch bitte mit ins Speisezimmer. Sie haben gewiß noch nicht gefrühstückt. Und ich auch nicht.«

»Vielen Dank.« Hester nahm die Einladung nicht nur deshalb an, weil sie von ihrer Arbeitgeberin kam, sondern weil sie hoffte, daß sie nach und nach mehr über Rhys erfahren würde, so daß sie ihm vielleicht ein wenig mehr Trost spenden konnte. Allerdings war seelischer Trost das einzige, was sie ihm anbieten konnte, abgesehen von praktischen Dingen wie den Mahlzeiten und seinen täglichen Waschungen. Darüber hinaus konnte sie sich nur um seine direkten persönlichen Bedürfnisse kümmern. Bisher hatte Dr. Wade ihr nicht mehr gestattet, als die oberflächlichen Wunden zu verbinden, und Rhys schlimmste Verletzungen rührten von inneren Wunden, die sie nicht erreichen konnte.

Das Speisezimmer war ansprechend möbliert, aber wie der Rest des Hauses zu üppig für Hesters Geschmack. Ein Tisch und das Sidebord waren aus elisabethanischer Eiche, solide und wuchtig, eine gewaltige Masse Holz. Die geschnitzten Stühle zu beiden Enden des Tisches hatten hohe Rückenlehnen und kunstvolle Armlehnen. Es gab keine Spiegel, die vielleicht ein wenig Licht und den Eindruck von Weite vermittelt hätten. Die Vorhänge waren aus weinrotem und rosafarbenem Brokat. An den Wänden hingen ein Dutzend oder mehr Bilder.

Aber der Raum war ausgesprochen behaglich. Die Sitzfläche der Stühle war weich gepolstert, und in dem in einer Nische gelegenen Kamin flackerte ein Feuer, das den ganzen Raum mit seiner Wärme erfüllte.

Sylvestra mochte nichts essen. Sie schob ein Stück Toast auf ihrem Teller hin und her und konnte sich nicht entscheiden, ob sie die Marmelade oder die Aprikosenkonfitüre nehmen wollte. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein und nippte daran, bevor der Tee weit genug abgekühlt war.

Hester fragte sich, was für ein Mann Leighton Duff gewesen sein mochte. Wie hatten sie einander kennengelernt und was hatte sich in ihrer Beziehung im Laufe von vielleicht fünfundzwanzig Jahren ereignet? Welche Freunde hatten Sylvestra geholfen, ihre Trauer zu bewältigen? Sie waren gewiß alle bei der Beerdigung anwesend gewesen, aber die war bereits vorüber. Sie hatte vor Hesters Ankunft stattgefunden, während der wenigen Tage, in denen Rhys im Krankenhaus gelegen hatte. Jetzt waren die offiziellen Trauerbesuche vorbei, und Sylvestra mußte die leeren Tage allein meistern.

Anscheinend zählte Dr. Wades Schwester zu denjenigen, die Sylvestra sobald als möglich besuchen wollten, und er schien ebenfalls mehr zu sein als nur der Arzt der Familie.

»Haben Sie schon immer hier gewohnt?« fragte Hester.

»Ja«, antwortete Sylvestra, die sogleich aufgeblickt hatte, als sei auch sie dankbar für irgendein Gesprächsthema, als hätte sie nur nicht gewußt, wo sie anfangen solle. »Ja, ich lebe seit meiner Hochzeit hier.«

»Das Haus ist ausgesprochen behaglich.«

»Ja.« Sylvestras Antwort hatte etwas Automatisches, als sei das die Erwiderung, die man von ihr erwartete. Es hatte keine Bedeutung mehr für sie. Die Armut und die allgegenwärtigen Gefahren von St. Giles waren weiter von diesem Ort entfernt als die Streitigkeiten und die Götter der Ilias, denn sie lagen jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Sylvestra riß sich zusammen. »Ja, Sie haben recht. Ich habe mich wahrscheinlich so sehr an die Annehmlichkeiten dieses Hauses gewöhnt, daß sie mir gar nicht mehr recht bewußt sind. Sie müssen da ganz andere Erfahrungen gemacht haben, Miss Latterly. Ich bewundere Ihren Mut und Ihr Pflichtgefühl, die Sie auf die Krim geführt haben. Meine Tochter Amalia hätte Sie gewiß gern kennengelernt. Ich glaube, Sie hätten sie ebenfalls gemocht. Sie hat einen überaus wachen Geist und den Mut, ihren Träumen zu folgen.«

»Eine hervorragende Eigenschaft«, lobte Hester aufrichtig.

»Sie haben viele Gründe, sehr stolz auf Ihre Tochter zu sein.« Sylvestra lächelte. »Ja, danke, vielen Dank. Miss Latterly…«

»Ja?«

»Kann Ryhs sich daran erinnern, was ihm zugestoßen ist?«

»Das weiß ich nicht. Gewöhnlich erinnern die Leute sich, aber nicht immer. Ein Freund von mir hatte einmal einen Unfall und bekam einen Schlag auf den Kopf. Er hat nur ganz vage Vorstellungen von seinem Leben vor jenem Tag. Hier und da ein Bild oder ein Geräusch, vielleicht ein Geruch, irgend etwas, das ihn an etwas anderes erinnert, aber stets sind es nur Bruchstücke. Er muß sie, so gut er kann, zusammenfügen und auf den Rest verzichten. Er hat sich ein neues, gutes Leben aufgebaut.« Sie tat nicht länger so, als esse sie. »Aber Rhys hat keinen Schlag auf den Kopf bekommen. Er weiß, daß er zu Hause ist, und er hat Sie wiedererkannt. Es ist nur diese eine Nacht, an die er sich möglicherweise nicht erinnern kann, und vielleicht ist es das beste so. Es gibt Erinnerungen, die wir einfach nicht ertragen können. Das Vergessen ist die Art und Weise, wie die Natur uns hilft, unseren Verstand unversehrt zu erhalten. Es ist die Art und Weise, wie der Geist heilen kann, wo natürliches Vergessen unmöglich wäre.«

Sylvestra starrte auf ihren Teller. »Die Polizei wird versuchen, ihn dazu zu zwingen, sich zu erinnern. Sie werden wissen wollen, wer ihn angegriffen hat, wer meinen Mann ermordet hat.« Sie blickte auf. »Was ist, wenn er es nicht ertragen kann, sich zu erinnern, Miss Latterly? Was, wenn sie ihn dazu zwingen, ihm Beweise zeigen, einen Zeugen herbringen oder sonst etwas in der Art? Wenn sie ihn zwingen, das Ganze noch einmal zu durchleben? Wird es ihn zerbrechen? Können Sie das nicht verhindern? Gibt es denn gar keine Möglichkeit, wie wir ihn schützen können? Es muß eine Möglichkeit geben!«

»Ja, natürlich«, sagte Hester, bevor sie wirklich nachgedacht hatte. Im Geiste sah sie Rhys, wie er verzweifelt versuchte, zu sprechen, sie sah seine vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, seinen schweißüberströmten Körper, während er sich in seinem Alptraum gegen ein unsichtbares Grauen zur Wehr setzte, steif vor Angst, die Kehle verzerrt zu einem lautlosen Schrei, von Schmerzen geschüttelt, während niemand ihn hörte, niemand kam. »Er ist viel zu krank, um solchen Strapazen ausgesetzt zu werden. Ich bin gewiß, daß Dr. Wade den Polizisten die Lage erklären wird. Da Rhys weder sprechen noch schreiben kann, kann er kaum etwas anderes tun, als Ja oder Nein anzudeuten. Die Polizei wird diesen Fall auf anderem Wege lösen müssen.«

»Aber ich wüßte nicht, wie!« Sylvestras Stimme klang verzweifelt. »Ich kann der Polizei nicht helfen. Die einzigen Fragen, die diese Leute mir gestellt haben, waren vollkommen nutzlos. Was Leighton angehabt habe und wann er das Haus verlassen hat. Nichts von alledem wird sie weiterbringen!«

»Was könnte denn helfen?« Hester griff nach der Kanne, wobei sie taktvollerweise zuerst einen fragenden Blick auf Sylvestra warf. Als diese nickte, füllte sie beide Tassen wieder auf.

»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Sylvestra kaum hörbar.

»Ich habe mir das Gehirn zermartert, um herauszufinden, was Leighton an einem solchen Ort getan haben könnte, und meine einzige Erklärung ist die, daß er Rhys nachgegangen ist. Er war … er war sehr wütend, als er das Haus verließ, viel wütender, als ich es diesem jungen Mann von der Polizei erzählt habe. Es erscheint mir so unloyal, mit Fremden über Familienstreitigkeiten zu sprechen.«

Hester wußte, daß sie weniger »Fremde« meinte als Leute aus einer anderen Gesellschaftsschicht, zu der Evan in ihren Augen gewiß rechnete. Sylvestra konnte nicht wissen, daß sein Vater Pfarrer war und daß er die Arbeit bei der Polizei aus einer tiefen Gerechtigkeitsliebe heraus gewählt hatte und nicht, weil sie seinem natürlichen Platz in der Gesellschaft entsprochen hätte.

»Natürlich«, pflichtete sie ihr bei. »Es ist immer schmerzlich, einen Streit einzugestehen, sogar sich selbst gegenüber, der nun nicht mehr wieder gutgemacht werden kann. Man muß diesen Zwischenfall im ganzen Zusammenhang der Beziehung sehen und ihn nur als einen kleinen Teil betrachten, der einzig durch eine unglückliche Fügung zum letzten Teil dieser Beziehung wurde. Wahrscheinlich war das Ganze viel unwichtiger, als es den Anschein hat. Hätte Mr. Duff weitergelebt, hätten Rhys und er ihre Differenzen gewiß beglichen.« Sie gab ihren letzten Worten einen schwachen fragenden Unterton.

Sylvestra nippte an ihrem frischen Tee. »Die beiden waren so verschieden. Rhys ist unser jüngstes Kind. Leighton meinte, ich verwöhne ihn. Vielleicht habe ich das wirklich getan? Ich hatte das Gefühl, ihn so gut verstehen zu können.« Ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihre Züge. »Jetzt sieht es so aus, als hätte ich ihn überhaupt nicht verstanden. Und vielleicht hat mein Unvermögen meinen Mann das Leben gekostet.« Sie umfaßte die Tasse mit so festem Griff, daß Hester fürchtete, sie könne sie zerbrechen.

»Quälen Sie sich nicht mit diesem Gedanken, wenn Sie nicht glauben, daß es die Wahrheit ist!« entgegnete sie mit Nachdruck. »Vielleicht fällt Ihnen noch irgend etwas ein, das der Polizei bei der Frage helfen könnte, warum die beiden nach St. Giles gingen. Es könnte mit irgend etwas anderem zusammenhängen, das sich früher an jenem Abend ereignet hat. St. Giles ist ein schrecklicher Ort. Die beiden müssen einen sehr zwingenden Grund gehabt haben. Könnten sie wegen eines anderen Menschen dort hingegangen sein? Vielleicht wegen eines Freundes, der in Schwierigkeiten war?«

Sylvestra blickte hastig auf. Ihre Augen leuchteten. »Das würde einigermaßen vernünftig klingen, nicht wahr?«

»Ja. Wer sind Rhys’ Freunde? Wer könnte ihm wichtig genug sein, um an einen solchen Ort zu gehen und seine Hilfe anzubieten? Vielleicht hatte der Betreffende Geld geborgt. So etwas kommt vor. Eine Spielschuld, die er seiner Familie nicht einzugestehen wagte, oder ein Mädchen von zweifelhaftem Ruf.«

Sylvestra lächelte, und in diesem Lächeln lag Angst, aber auch eine gewisse Selbstbeherrschung. »Das klingt so, als könne es Rhys selbst passiert sein, fürchte ich. Er hatte die Neigung, respektable junge Damen ziemlich langweilig zu finden. Das war der Hauptgrund für den Streit mit seinem Vater. Er fand es ungerecht, daß Constance und Amalia nach Indien reisen und dort alle möglichen exotischen Erfahrungen machen konnten, während er zu Hause bleiben und studieren mußte, um schließlich eine gute Heirat zu machen und dem Familiengeschäft beizutreten.«

»Worin bestand eigentlich Mr. Duffs Geschäft?« Hester empfand beträchtliches Mitleid mit Rhys. All sein Interesse und seine Leidenschaft, all seine Träume schienen dem Osten zu gelten, und man verlangte von ihm, in London zu bleiben, während seine älteren Schwestern all diese Abenteuer nicht nur in ihrer Phantasie, sondern in der Wirklichkeit erleben durften.

»Er war Jurist«, antwortete Sylvestra.

»Eigentumsübertragungen und Besitztümer. Leighton war der Seniorpartner. Er hatte Büros in Birmingham und Manchester und auch in der City.«

Höchst angesehen, dachte Hester, aber kaum der Stoff, aus dem die Träume sind. Zumindest würde die Familie immer noch über gewisse finanzielle Mittel verfügen. Die Frage des Geldes würde wenigstens nicht weiteren Anlaß zur Sorge geben. Sie vermutete, daß Rhys auf die Universität hatte gehen sollen, um dann in die Fußstapfen seines Vaters in der Kanzlei zu treten, wahrscheinlich für den Anfang als Juniorpartner, um dann sehr bald befördert zu werden. Seine ganze Zukunft lag festgefügt und unumstößlich vor ihm. Natürlich war es erforderlich, daß er dafür eine passende Partie heiratete, besser noch eine sehr gute. Hester konnte das Netz, das sich um ihn herum zusammenzog, spüren, als sei sie selbst darin gefangen. Es war ein Leben, um das ihn Zehntausende beneidet hätten.

Sie versuchte, sich Leighton Duff vorzustellen, seine Hoffnungen für seinen Sohn, seinen Ärger und seine Frustration darüber, daß Rhys undankbar und blind war gegen sein vom Glück begünstigtes Schicksal.

»Er muß ein sehr talentierter Mann gewesen sein«, sagte sie schließlich, um das Schweigen zu überbrücken.

»Das war er«, pflichtete Sylvestra ihr mit einem geistesabwesenden Lächeln bei. »Er genoß äußersten Respekt. Die Anzahl von Leuten, die auf seine Meinung Wert legten, war außergewöhnlich hoch. Er konnte sowohl Chancen als auch Gefahren erkennen, die andere, teilweise sehr fähige und gelehrte Männer, übersahen.«

Das ließ es Hester nur um so unbegreiflicher erscheinen, warum Leighton Duff nach St. Giles gegangen war. Sie wußte nichts über seinen Charakter, abgesehen von seinem Ehrgeiz für seinen Sohn und vielleicht einen Mangel an Klugheit bei dem Bemühen, diesem Ehrgeiz zum Erfolg zu verhelfen. Aber andererseits hatte sie auch Rhys vor dem Überfall nicht gekannt. Vielleicht war er sehr eigensinnig gewesen und hatte seine Zeit vergeudet, wo er eigentlich hätte studieren sollen. Vielleicht hatte er bei der Wahl seiner Freunde, vor allem der weiblichen, eine unglückliche Hand bewiesen. Durchaus möglich, daß er, von seiner Mutter übermäßig verwöhnt, einfach nicht erwachsen werden und die volle Verantwortung für sich übernehmen wollte. Leighton Duff könnte allen Grund gehabt haben, ihm zu zürnen. Es wäre nicht das erste Mal, daß eine Mutter einen Jungen allzusehr behütete und auf diese Weise genau das Gegenteil von dem erreichte, was sie beabsichtigt hatte: Daß sie ihn für jedes dauerhafte Glück untauglich machte, so daß er immer von irgend jemand abhängig sein würde.

Sylvestra hing ihren eigenen Gedanken nach und erinnerte sich an eine freundlichere Vergangenheit.

»Leighton konnte sehr schneidig sein«, sagte sie versonnen.

»Als er jünger war, hat er Hindernisrennen geritten. Er war ein hervorragender Reiter, auch wenn er selbst keine Pferde unterhielt. Aber viele Freunde wünschten, daß er für sie ritt. Er hat oft gewonnen, weil er den notwendigen Mut hatte und das Können. Ich habe ihm schrecklich gern zugesehen, obwohl ich solche Angst hatte, daß er stürzen würde. Bei solchen Geschwindigkeiten kann ein Sturz außerordentlich gefährlich sein.«

Hester versuchte, sich Leighton Duff als wagemutigen Reiter vorzustellen. Dieses Bild paßte so gar nicht zu dem eher gesetzten Mann, den sie bisher in ihm gesehen hatte, dem trockenen Anwalt, der Eigentumsdokumente ausstellte. Wie töricht es doch war, einen Menschen anhand weniger Tatsachen zu beurteilen, wo es doch so viel mehr über ihn zu wissen gab! Vielleicht waren die Büros der Kanzlei ein kleiner Teil seines Wesens, eine praktische Seite, die die Existenzgrundlage seiner Familie sicherte und ihm gleichzeitig vielleicht auch das Geld eintrug, das er für die abenteuerliche Seite seiner selbst benötigte. Vielleicht hatten Constance und Amalia ihren Mut und ihre Träume von ihrem Vater geerbt.

»Wahrscheinlich mußte er das Reiten aufgeben, als er älter wurde«, sagte sie nachdenklich.

Sylvestra lächelte. »Ja, ich fürchte, so war es. Es wurde ihm klar, als ein Freund von uns einen sehr schlimmen Sturz erlitt. Leighton hat sich seinetwegen sehr erregt. Der Mann war nach dem Unfall ein Krüppel, lernte zwar nach sechs Monaten wieder laufen, aber es bereitete ihm ständige Schmerzen, und er konnte seinen Beruf nicht länger ausüben. Er war Chirurg und konnte die Hände nicht mehr ruhig halten. Es war eine große Tragödie. Er war erst dreiundvierzig.«

Sylvestras Miene verdüsterte sich abermals. »Glauben Sie, daß Rhys in diese schreckliche Gegend gegangen sein könnte, um nach einem Freund zu suchen, der sich in Schwierigkeiten befand?« fragte sie.

»Das scheint durchaus möglich zu sein.«

»Ich werde Arthur Kynaston fragen. Vielleicht kann er Rhys einmal besuchen, wenn es ihm ein wenig besser geht. Das wäre sicher sehr nett für Rhys.«

»In ein oder zwei Tagen können wir ihn fragen. Mag Mr. Kynaston Ihren Sohn?«

»O ja. Arthur ist der Sohn von einem der engsten Freunde, die Leighton je hatte, dem Direktor von Rowntrees. Das ist eine exzellente Jungenschule hier in der Nähe.« Ihr Gesicht wurde für einen Augenblick weicher, und ihre Stimme bekam einen fröhlicheren Klang. »Joel Kynaston war ein brillanter Gelehrter und hat sich dafür entschieden, sein Leben der Aufgabe zu widmen, Jungen die Liebe zum Lernen zu vermitteln, vor allem was die Klassiker betrifft. Das ist auch der Ort, an dem Rhys Latein und Griechisch gelernt hat sowie seine Liebe zu Geschichte und alten Kulturen. Ich denke, das ist eines der größten Geschenke, die ein junger Mensch empfangen kann. Und wahrscheinlich nicht nur ein junger Mensch.«

»Natürlich«, gab Hester ihr recht.

»Arthur ist im gleichen Alter wie Rhys«, fuhr sie fort. »Sein älterer Bruder, Marmaduke – er wird Duke genannt –, ist ebenfalls Rhys’ Freund. Er ist ein wenig… wilder, könnte man vielleicht sagen? Intelligente Menschen sind manchmal so, und Duke ist sehr talentiert. Ich weiß, daß Leighton ihn immer für halsstarrig hielt. Er ist in Oxford und studiert klassische Philologie wie sein Vater. Jetzt, über Weihnachten, ist er natürlich zu Hause. Diese Sache muß für beide Jungen schrecklich gewesen sein.«

Hester aß ihren Toast auf und trank den letzten Schluck Tee. Zumindest wußte sie jetzt ein wenig mehr über Rhys. Es erklärte zwar nicht, was ihm zugestoßen war, eröffnete aber doch einige Möglichkeiten.

Nichts von dem, was sie in Erfahrung gebracht hatte, bereitete sie auf den Zwischenfall an jenem Nachmittag vor, als Sylvestra zum dritten Mal an diesem Tag ins Schlafzimmer kam. Rhys hatte ein leichtes Mittagessen zu sich genommen und war dann eingeschlafen. Er hatte Schmerzen. Das lange Liegen in mehr oder weniger derselben Haltung machte ihn sehr steif, und seine Prellungen verheilten nur langsam. Es war unmöglich zu sagen, welche inneren Verletzungen ihm Schmerzen verursachten. Er fühlte sich sichtbar unwohl, und nachdem Hester ihm einen beruhigenden Kräutertrank gegeben hatte, um ihm ein wenig Linderung zu verschaffen, fiel er in einen leichten Schlummer.

Als Sylvestra eintrat, erwachte er.

Rhys’ Mutter ging durch den Raum und setzte sich auf den Stuhl neben Rhys.

»Wie geht es dir, mein Liebling?« fragte sie leise. »Hast du ein wenig geruht?«

Er blickte starr zu ihr auf. Hester stand am Fußende des Bettes und sah den Schmerz und die Dunkelheit in seinen Augen.

Sylvestra streckte die Hand aus und strich sanft über den nackten Arm oberhalb von Schiene und Gipsverband.

»Es wird jeden Tag ein klein wenig besser, Rhys«, sagte sie, und ihre Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war, klang heiser vor Mitgefühl. »Es wird vorübergehen, und du wirst wieder gesund werden.«

Er sah sie ruhig an, dann entblößte er die Zähne, und sein Gesicht verzog sich zu einer Maske kalter und abgrundtiefer Verachtung.

Sylvestra sah ihn an, als hätte er sie geschlagen. Ihre Hand blieb auf seinem Arm liegen, wirkte aber wie festgefroren. Sie war zu erschrocken, um sich zu bewegen.

»Rhys?«

Wilder Haß trat in seine Züge. Als würde er sich am liebsten auf sie stürzen, um sie zu verletzen, zu stoßen, ihr Schmerzen zuzufügen.

»Rhys?« Sie öffnete den Mund, um weiterzusprechen, aber sie hatte keine Worte mehr. Sie zog die Hand zurück, als wäre sie tatsächlich verletzt worden, und drückte sie schützend an sich.

Seine Miene wurde weicher, die Gewalt in seinen Augen verschwand, bis er schließlich wieder schlaff und elend dalag.

Abermals streckte sie die Hand nach ihm aus, um ihm ihr Verzeihen zu zeigen.

Er sah sie an, wog ihre Gefühle ab, wartete. Dann hob er seine andere Hand und schlug nach ihr, daß die Schienen knarrten. Der Schlag mußte seinen gebrochenen Knochen furchtbare Qualen bereitet haben, und er wurde grau vor Schmerz, aber er sah sie an, ohne den Blick abzuwenden.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie stand auf, nunmehr tatsächlich körperlich verletzt, obwohl der Schmerz nichts im Vergleich zu der Verwirrung war, über die Ablehnung, die sie erfahren hatte, und über ihre eigene Hilflosigkeit. Langsam ging sie zur Tür und verließ den Raum.

Rhys zog die Lippen zu einem langsamen, bösartigen, zufriedenen Lächeln zurück, dann drehte er sich abrupt zu Hester um.

Hester fror innerlich, als bestünde sie plötzlich aus Eis.

»Das war abscheulich«, sagte sie klar und deutlich. »Sie haben sich selbst Schande angetan.«

Er starrte sie an, und Verwirrung und Überraschung spiegelten sich in seiner Miene. Was immer er von ihr erwartet hatte, das jedenfalls nicht.

Hester fühlte sich zu angewidert und war sich Sylvestras Kummer zu sehr bewußt, um ihre Zunge im Zaum zu halten. Plötzlich erfüllte sie eine Art von Entsetzen, wie sie es noch nie zuvor gekannt hatte. Es war eine Mischung aus Mitleid und Furcht und dem Gefühl von etwas, so dunkel, daß sie es sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können.

»Was Sie da getan haben, war grausam und sinnlos«, fuhr sie fort. »Ich finde es ekelhaft!«

Zorn flammte in seinen Augen auf, dann kehrte ein Lächeln auf seine noch verzerrten Lippen zurück, als verspotte er sich selbst.

Sie wandte sich ab.

Sie hörte, wie er mit der Hand auf die Decke schlug. Das mußte ihm weh getan haben und würde die gebrochenen Knochen in einen noch schlimmeren Zustand bringen. Andererseits war es seine einzige Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen, wenn er nicht die Glocke von seinem Nachttisch stoßen wollte. Und wenn er das tat, würden andere ihn vielleicht hören, vor allem Sylvestra, sofern sie noch nicht ganz nach unten gegangen war.

Hester wandte sich wieder um.

Er versuchte verzweifelt zu sprechen. Sein Kopf zuckte, seine Lippen bewegten sich, und seine Kehle krampfte sich zusammen, während er darum kämpfte, auch nur einen einzigen Laut von sich geben zu können. Es kam jedoch nichts, nur ein Ächzen nach Luft, während er schluckte und würgte.

Hester ging zu ihm, legte den Arm um ihn und hob ihn ein kleines Stück an, damit er leichter atmen konnte.

»Hören Sie auf damit!« befahl sie. »Aufhören! Das wird Ihnen nicht helfen, etwas zu sagen. Atmen Sie nur langsam ein und aus! Ein… aus…! Ein… aus…! So ist es besser. Und noch mal. Langsam.« Sie stützte ihn, bis sein Atem wieder gleichmäßig und kontrolliert ging, dann ließ sie ihn auf die Kissen zurücksinken. Hester sah ihn leidenschaftslos an, bis sie die Tränen auf seinen Wangen und die Verzweiflung in seinen Augen bemerkte. Er schien nichts zu wissen von seinen Händen, die mit verzogenen Schienen auf der Decke lagen und die Knochen auseinanderdehnten. Es mußte furchtbar weh getan haben, aber seine seelischen Qualen waren so groß, daß er den anderen Schmerz nicht einmal wahrnahm.

Was, in Gottes Namen, war ihm in St. Giles widerfahren? Welche Erinnerungen tobten mit solch unerträglichem Grauen in seinem Inneren?

»Ich werde Ihnen die Hände neu bandagieren«, sagte sie ein wenig sanfter. »So können wir sie nicht lassen. Vielleicht haben sich die Knochen sogar auseinandergezogen.«

Rhys blinzelte, legte aber mit keiner Miene Widerspruch ein.

»Es wird weh tun«, warnte sie ihn.

Er lächelte und schnaubte leise, wobei er scharf den Atem ausstieß.

Hester brauchte fast eine dreiviertel Stunde, um die Verbände von beiden Händen abzunehmen, die gebrochenen Finger und das geschwollene, über den Knöcheln gerissene Fleisch zu untersuchen und die Knochen neu zu richten. Die ganze Zeit über war sie sich der furchtbaren Schmerzen bewußt, die die Prozedur Rhys verursachen mußte. Endlich hatte sie die Schienen wieder angelegt und die Verbände erneuert. Das alles war im Grunde Aufgabe eines Arztes, und vielleicht würde Corriden Wade wütend darüber sein, daß sie es selbst gemacht hatte, statt ihn herbeizurufen. Aber sein Besuch wurde erst für den nächsten Tag erwartet, und sie war durchaus in der Lage, dies selbst zu tun. Sie hatte in der Vergangenheit wahrhaftig genug Knochen gerichtet und konnte Rhys unmöglich in diesem Zustand lassen, während sie einen Boten zu Wade schickte. Außerdem konnte der Arzt zu dieser Stunde des Abends durchaus auswärts speisen oder sogar im Theater sein.

Anschließend war Rhys vollkommen erschöpft. Sein Gesicht war grau vor Schmerz, und seine Kleider waren schweißdurchnäßt.

»Ich werde die Bettwäsche wechseln«, sagte sie sachlich. »So können Sie nicht schlafen. Danach hole ich Ihnen eine schmerzlindernde Arznei, die Ihnen auch helfen wird, ein wenig Ruhe zu finden. Vielleicht denken Sie das nächste Mal erst nach, bevor Sie wieder jemanden schlagen?«

Rhys biß sich auf die Lippen und starrte Hester an. Er sah unglücklich aus, ohne damit jedoch eine Entschuldigung auszudrücken. Das alles war zu kompliziert, um es ohne Worte zu erklären, und wäre es vielleicht auch dann gewesen, wenn Rhys der Sprache mächtig gewesen wäre.

Der Doktor kam am nächsten Morgen vorbei. Es war ein dunkler Tag, der Himmel schwer von Schnee, und um die Dachtraufen pfiff ein eisiger Wind. Corriden Wade kam mit von der Kälte geröteter Haut und rieb sich die Hände, damit das Blut nach der langen Kutschfahrt wieder zirkulieren konnte.

Sylvestra war erleichtert, ihn zu sehen, und kam sofort aus dem Salon, als sie seine Stimme in der Halle hörte. Hester stand auf der Treppe und konnte nicht umhin, das flüchtige Lächeln zu bemerken, mit dem er die Hausherrin bedachte. Sylvestra trat eifrig auf ihn zu, und er nahm ihre beiden Hände in die seinen, während er mit ihr sprach. Die Unterhaltung war kurz, dann kam er direkt auf Hester zu. Er nahm ihren Arm und führte sie vom Treppengeländer weg in die Mitte des Flurs, wo seine Worte von unten nicht mehr zu hören waren.

»Das sind ja keine guten Neuigkeiten«, sagte er sehr leise, als denke er dabei an Sylvestra, die immer noch unter ihnen in der Halle stand. »Sie haben ihm das Pulver verabreicht, das ich Ihnen dagelassen habe?«

»Ja, in der stärksten Dosis, die Sie empfohlen haben. Es hat ihm ein wenig Linderung geschenkt.«

»Gut«, sagte er nickend. Er sah durchgefroren, bekümmert und sehr müde aus, als hätte auch er zu wenig geschlafen. Vielleicht war er die ganze Nacht mit anderen Patienten beschäftigt gewesen. Sie hörten Sylvestras Schritte im Erdgeschoß, als sie sich dem Salon näherte.

»Ich wünschte, ich wüßte, wie ich ihm helfen kann, aber ich gestehe, daß ich mit verbundenen Augen arbeite.« Wade sah Hester mit einem bedauernden Lächeln an. »Das ist etwas ganz anderes als das Orlopdeck, auf dem ich ausgebildet wurde.« Er stieß ein trockenes kleines Lachen aus. »Dort mußte alles schnell gehen. Die Männer wurden hereingetragen und auf das Segeltuch gelegt. Sie wurden der Reihe nach behandelt, der erste, der hereingebracht worden war, wurde als erstes untersucht. Es ging darum, nach Musketenkugeln zu suchen, nach Holzsplittern – Teakholzsplitter sind giftig, wußten Sie das, Miss Latterly?«

»Nein.«

»Natürlich nicht! In der Armee hat man wohl nicht damit zu tun. Aber bei der Marine hatten wir dafür keine Männer, die von Pferden niedergetrampelt oder über den Boden geschleift wurden. Ich nehme an, solche Fälle sind Ihnen des öfteren untergekommen?«

»Ja.«

»Aber wir sind beide an Kanonenfeuer gewöhnt, an Säbelhiebe und Musketenschüsse, an Fieber…« In seinen Augen spiegelten sich all die Qualen, an die er sich erinnerte.

»Mein Gott, diese Fieberkrankheiten! Gelber Jack, Malaria…«

»Cholera, Typhus und Wundbrand«, ergänzte sie, und für einen Augenblick stand die Vergangenheit mit grauenvoller Klarheit wieder vor ihr.

»Wundbrand«, wiederholte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Barmherziger, was ich an Mut gesehen habe! Ich nehme an, Sie können mir genauso viele Fälle tapferer Soldaten nennen, wie ich sie erlebt habe?«

»Ich glaube schon.« Hester wollte nicht wieder diese weißen Gesichter vor sich sehen, die zerstörten Leiber, das Fieber und die Toten, aber es erfüllte sie mit einem gewissen Stolz, der wie ein brennender Schmerz in ihr war, einen Anteil daran gehabt zu haben und ihre Erlebnisse mit diesem Mann teilen zu können, der Dinge begriff, die ein bloßer Außenstehender und Zuhörer niemals hätte begreifen können.

»Was können wir für Rhys tun?« fragte sie.

Wade holte tief Luft und stieß dann einen leisen Seufzer aus.

»Wir können nur dafür sorgen, daß er so viel Ruhe wie möglich bekommt und es einigermaßen bequem hat. Die inneren Schwellungen werden wohl mit der Zeit abklingen, es sei denn, da wären noch Verletzungen, von denen wir nichts wissen.

Seine äußeren Wunden heilen bereits, aber es ist noch sehr früh.« Er sah Hester mit tiefem Ernst an, und seine Stimme, die seine Worte Lügen strafte, wurde noch leiser. »Er ist jung, und er war früher sehr kräftig und gesund. Das Fleisch wird zusammenwachsen, aber es wird Zeit brauchen. Seine Verletzungen müssen ihm immer noch große Schmerzen bereiten. Das war zu erwarten, und da gibt es nichts anderes zu tun, als es auszuhalten. Sie können ihm mit dem Pulver, das ich Ihnen dagelassen habe, bis zu einem gewissen Grad Linderung verschaffen. Ich werde bei jedem Besuch seine Wunden neu verbinden und dafür sorgen, daß sie sich nicht entzünden. Ich habe eine geringfügige Eiterbildung entdeckt, aber bisher keine Anzeichen für Wundbrand. Ich werde äußerst vorsichtig sein.«

»Ich mußte gestern abend seine Hände neu bandagieren. Es tut mir leid.« Es widerstrebte ihr, ihm von dem unerfreulichen Zwischenfall mit Sylvestra zu erzählen.

»Oh?« Wade sah sie wachsam an, und die Sorge in seinen Augen vertiefte sich, aber sie entdeckte in seinem Blick weder Ärger noch Kritik an ihr. »Ich denke, Sie erzählen mir besser, was vorgefallen ist, Miss Latterly. Mir ist bewußt, daß Sie gewiß wünschen, das Vertrauen Ihres Patienten nicht zu brechen, aber ich kenne Rhys schon sehr lange. Einige seiner Charaktereigenschaften sind mir durchaus nicht fremd.«

Kurz und ohne Einzelheiten zu berichten, erzählte sie Wade von dem Vorfall mit Sylvestra.

»Ich verstehe«, sagte er ruhig. Er wandte sich ab, so daß Hester sein Gesicht nicht sehen konnte. »Das ist nicht gerade ermutigend. Bitte machen Sie Mrs. Duff keine Hoffnungen. Miss Latterly, ich gestehe, ich weiß nicht, was ich sagen soll! Man sollte niemals einen Fall verloren geben und immer alles tun, was man kann, ganz gleich, wie die Chancen stehen.« Er zögerte, bevor er weitersprach, als kostete es ihn große Anstrengung, seiner Gefühle Herr zu werden. »Ich habe im Krankenzimmer schon Wunder erlebt. Ich habe auch viele, sehr viele Männer sterben sehen. Vielleicht ist es besser, gar nichts zu sagen, wenn Ihnen das möglich ist, obwohl Sie hier im Haus leben?«

»Ich kann es versuchen. Glauben Sie, daß er seine Sprache wiederfinden wird?«

Er fuhr zu ihr herum, und seine Augen waren schmal und dunkel und unergründlich.

»Ich habe keine Ahnung. Aber Sie müssen verhindern, daß die Polizei ihn schikaniert! Wenn die Beamten das tun, stürzen sie ihn nur abermals in einen hysterischen Anfall, und der könnte sein Tod sein.« Seine Stimme klang brüchig und eindringlich. Hester hörte den Unterton der Angst, der darin mitschwang und Ausdruck derselben Furcht war, die sie auch in seinen Augen sah. »Ich weiß nicht, was geschehen ist oder was er getan hat. Aber ich weiß sehr wohl, daß die Erinnerung für ihn unerträglich ist. Wenn Sie ihm seine geistige Gesundheit bewahren wollen, müssen Sie ihn mit jedem Funken an Mut und Intelligenz, den Sie besitzen, bewachen. Sie müssen ihn vor den Versuchen der Polizei, die ihn das Ganze mit ihren Fragen noch einmal durchleben lassen will, unbedingt schützen. Wenn er einer solchen Befragung ausgesetzt würde, könnte ihn das in einen Abgrund des Wahnsinns stürzen, aus dem er vielleicht nie wieder zurückkehrt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß, wenn irgend jemand dieser Aufgabe gewachsen ist, Sie das sind.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie schlicht. Es war ein Kompliment, das ihr viel bedeutete, denn es kam von einem Mann, der keine leeren Worte machte.

Wade nickte. »Ich werde jetzt zu ihm gehen. Wenn Sie so freundlich sein wollten, dafür zu sorgen, daß man uns nicht stört? Ich muß nicht nur seine Hände untersuchen, sondern auch seine anderen Verletzungen, um mich zu versichern, daß er die frischverheilte Haut nicht wieder aufgerissen hat. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Fürsorge, Miss Latterly.«

Am nächsten Tag empfing Rhys zum ersten Mal seit dem Unglück einen Besucher. Es war früh am Nachmittag. Der Tag war beträchtlich heller als der vorangegangene. Auf den Dächern lag Schnee, der das Licht eines windgepeitschten Himmels und der bleichen Wintersonne zurückwarf.

Hester war gerade oben, als es an der Tür klingelte und Wharmby einer Frau von ungewöhnlichem Aussehen die Tür öffnete. Sie war von durchschnittlicher Größe und hatte einen hellen, wenig bemerkenswerten Teint, aber ihre Gesichtszüge waren kräftig, sehr asymmetrisch und strahlten doch ungewöhnliche Entschlossenheit und Gelassenheit aus. Sie war gewiß nicht schön, aber sie vermittelte eine Herzlichkeit, die beinahe noch attraktiver war als äußerliche Schönheit.

»Guten Tag, Mrs. Kynaston«, sagte Wharmby mit offensichtlicher Freude. Dann sah er den jungen Mann, der ihr gefolgt war. Sein Haar und seine Haut waren genauso hell wie die der Frau, aber seine Züge waren vollkommen andere. Sein Gesicht war mager und insgesamt feiner, adlerartiger. Seine Augen waren von einem klaren, hellen Blau. Es war ein Gesicht, das Humor und Träume verriet und vielleicht eine gewisse Einsamkeit. »Guten Tag, Mr. Arthur.«

»Guten Tag«, erwiderte Mrs. Kynaston. Sie trug, wie es einem Besuch in einem Trauerhaus angemessen war, dunkelbraune und schwarze Stoffe. Ihre Kleider waren gutgeschnitten, obwohl es ihnen irgendwie an individuellem Stil fehlte. Es lag auf der Hand, daß diese Dinge ihr nicht wichtig waren. Sie reichte Wharmby ihren Umhang und ließ sich dann in den Salon führen, wo Sylvestra sie anscheinend bereits erwartete. Arthur folgte ihr.

Wharmby kam die Treppe hinauf.

»Miss Latterly, der junge Mr. Kynaston ist ein guter Freund von Mr. Rhys. Er hat gefragt, ob er ihn vielleicht besuchen dürfe. Was meinen Sie, wäre das möglich?«

»Ich werde Mr. Rhys fragen, ob er ihn sehen möchte«, erwiderte Hester. »Wenn ja, möchte ich gern zuerst mit Mr. Kynaston sprechen. Es ist von größter Wichtigkeit, daß er nichts sagt oder tut, was meinem Patienten Ungemach bereiten könnte. Dr. Wade hat das ausdrücklich betont.«

»Natürlich. Ich verstehe.« Wharmby wartete vor der Tür, während sie ins Zimmer ging, um Rhys zu fragen.

Rhys starrte mit halbgeschlossenen Augen zur Decke empor. Hester blieb in der Tür stehen. »Arthur Kynaston ist hier. Er würde Sie gern besuchen, falls Sie sich dem gewachsen fühlen.

Wenn nicht, brauchen Sie es mich lediglich wissen zu lassen. Ich werde dafür sorgen, daß er nicht gekränkt ist.«

Rhys Augen weiteten sich. Sie glaubte, einen gewissen Eifer in ihnen zu entdecken, dann einen jähen Zweifel, der vielleicht der Verlegenheit entsprang.

Sie wartete ab.

Rhys war unschlüssig. Er war einsam, verängstigt, verletzlich und schämte sich seiner Hilflosigkeit – und vielleicht auch dessen, was er unterlassen hatte, um seinen Vater zu retten.

»Wenn er zu Ihnen hinaufkommt, soll ich Sie dann allein lassen?« fragte sie.

Ein Schatten strich über sein Gesicht.

»Soll ich bleiben und dafür sorgen, daß wir von angenehmen Dingen sprechen, interessanten Dingen?«

Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus. Hester drehte sich um und ging hinaus, um Wharmby zu informieren.

Arthur Kynaston kam langsam die Treppe hinauf, und sein hübsches Gesicht war von Sorge gefurcht.

»Sind Sie die Krankenschwester?« fragte er, als er schließlich vor Hester stand.

»Ja. Mein Name ist Hester Latterly.«

»Darf ich ihn besuchen?«

»Ja. Aber ich muß Sie warnen, Mr. Kynaston. Er ist sehr krank. Ich gehe davon aus, daß man Ihnen bereits mitgeteilt hat, daß er nicht sprechen kann.«

»Aber er wird es doch gewiß wieder lernen… bald? Ich meine, es wird zurückkommen, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht. Für den Augenblick kann er jedenfalls nicht sprechen, aber er kann nicken oder den Kopf schütteln. Und er hat es gern, wenn man mit ihm spricht.«

»Was soll ich sagen?« Arthur wirkte verwirrt, ein wenig ängstlich. Er war sehr jung, vielleicht erst siebzehn.

»Alles, was Sie wollen, nur die Vorfälle in St. Giles oder den Tod seines Vaters dürfen Sie nicht erwähnen.«

»O Gott! Ich meine… er weiß es doch, oder? Irgend jemand hat es ihm doch erzählt?«

»Ja. Und er war dabei. Wir wissen nicht, was geschehen ist, nur daß der Schock dieses Erlebnisses ihm die Sprache geraubt zu haben scheint. Reden Sie über alles andere. Sie müssen doch irgendwelche Interessen haben. Studieren Sie? Was wollen Sie später einmal machen?«

»Die klassischen Sprachen«, erwiderte er, ohne zu zögern.

»Rhys liebt Geschichten der Antike noch mehr als ich. Wir würden beide schrecklich gern einmal nach Griechenland fahren oder in die Türkei.«

Hester lächelte und trat beiseite. Es war nicht notwendig, Arthur zu sagen, daß er seine Frage selbst beantwortet hatte. Er wußte es.

Sobald Rhys Arthur sah, leuchtete sein Gesicht auf, bevor es jäh von Verlegenheit wieder überschattet wurde. Er lag im Bett, hilflos und sogar außerstande, seinen Freund willkommen zu heißen.

Wenn Arthur Kynaston auch nur die geringste Ahnung von den Gefühlen seines Freundes hatte, so verbarg er es jedenfalls hervorragend. Er ging in den Raum, als sei alles genauso wie bei ihren früheren Treffen, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, ohne auf Hester zu achten, und sah Rhys an.

»Ich schätzte, du hast im Augenblick mehr Zeit zum Lesen, als dir lieb ist?« meinte er kläglich. »Ich werde mal sehen, ob ich nicht ein paar neue Bücher für dich finden kann. Ich habe gerade etwas ganz Faszinierendes gelesen. Mal wieder typisch, daß ich erst Jahre nach allen anderen davon erfahre. Aber ich habe da ein Buch über Ägypten gefunden, geschrieben von einem Italiener namens Belzoni. Es wurde vor fast vierzig Jahren verfaßt, 1822, um genau zu sein. Geht um die Entdeckung alter Gräber in Ägypten und Nubien.« Arthur konnte gar nicht verhindern, daß sein Gesicht sich vor Begeisterung verzog. »Es ist einfach sagenhaft! Ich bin davon überzeugt, daß es dort noch viel mehr zu finden gäbe, wenn wir nur wüßten, wo wir suchen müssen!« Er beugte sich vor. »Ich habe Papa noch nichts davon gesagt. Aber obwohl ich immer noch behaupte, ich würde einmal die klassischen Sprachen studieren, glaube ich, daß ich viel lieber Ägyptologe würde. Genaugenommen bin ich mir sogar ziemlich sicher.«

Hester, die in der Tür stand, spürte, wie sie sich langsam entspannte.

Rhys blickte zu Arthur auf, und seine Faszination spiegelte sich in seinen geweiteten Augen.

»Ich muß dir von einigen der Dinge erzählen, die sie dort gefunden haben« fuhr Arthur fort. »Ich wollte mit Duke darüber sprechen, aber du kennst ihn ja! Ihn interessiert die Sache nicht einmal im entferntesten. Keine Phantasie. Er betrachtet die Zeit als eine Ansammlung kleiner Räume, die allesamt ohne Fenster sind. Wenn man heute lebt, ist das alles, was existiert. Ich dagegen sehe die Zeit als ein gewaltiges Ganzes. Jeder Tag ist so wichtig und so real wie alle vorangegangenen. Meinst du nicht auch?«

Rhys lächelte und nickte.

»Darf ich dir davon erzählen?« fragte Arthur. »Hättest du was dagegen? Ich wünsche mir schon lange, es endlich jemanden erzählen zu können. Papa wäre wütend auf mich, weil ich meine Zeit verschwende. Mama würde nur mit halbem Ohr zuhören und es dann vergessen. Duke denkt, ich sei ein Narr. Aber dir bleibt nichts anderes übrig, als dir mein Geplapper anzuhören …« Er lief flammendrot an. »Entschuldige, das war eine abscheuliche Bemerkung! Ich wünschte, ich hätte mir die Zunge abgebissen!«

Ein jähes Strahlen verwandelte Rhys’ Gesicht und verlieh ihm einen ungewöhnlichen Charme. Es war ein Ausdruck der Wärme, die Hester bei ihm zu erleben bisher keine Gelegenheit gehabt hatte.

»Danke«, sagte Arthur mit einem leisen Kopfschütteln. »Was ich meine, ist, daß du mich verstehen wirst.« Und dann machte er sich daran, die Entdeckungen darzulegen, die Belzoni in Ägypten gemacht hatte. Seine Stimme hob sich vor Eifer, und er gestikulierte wild, um seine Erklärungen zu unterstreichen.

Hester schlüpfte leise aus dem Raum. Sie war vollkommen überzeugt, daß Arthur Kynaston Rhys keinen unnötigen Schaden zufügen würde. Wenn er ihn an andere Zeiten erinnerte, an das Leben und die Kraft der Jugend, dann war das unausweichlich; er dachte gewiß ohnehin an solche Dinge. Wenn ihm gelegentlich eine Unbeholfenheit unterlief, dann war auch das nur natürlich. Es war am besten, die beiden allein zu lassen.

Unten teilte das Mädchen, Janet, ihr mit, daß Mrs. Duff sich freuen würde, wenn sie im Salon den Tee mit ihr einnehmen würde.

Es war eine Geste der Höflichkeit, noch dazu eine, die Hester nicht erwartete hatte. Sie war keine Dienstbotin im Haus, rechnete jedoch genausowenig zu den Gästen. Vielleicht wollte Sylvestra sie mit möglichst vielen Freunden der Familie bekannt machen, damit sie Rhys besser helfen konnte. Damit sie den Zorn verstand, der in ihm tobte. Sylvestra mußte furchtbar einsam sein, und Hester war die einzige Brücke zwischen ihr und ihrem Sohn, abgesehen von Corriden Wade, und der war immer nur kurz im Haus.

Hester wurde vorgestellt, und Fidelis Kynaston akzeptierte sie ohne jede Überraschung als Teil des Nachmittagsbesuchs und der Unterhaltung.

»Geht es ihnen…?« begann Sylvestra nervös.

Hester antwortete mit einem Lächeln, in dem sich ihre Freude widergespiegelt haben mußte. »Die beiden amüsieren sich glänzend«, antwortete sie mit Überzeugung. »Mr. Kynaston erzählt Rhys von den Entdeckungen, die ein gewisser Signor Belzoni am Nil gemacht hat, und sie haben beide ihren Spaß daran. Ich gestehe, daß die Sache auch mich sehr interessiert hat. Ich glaube, wenn ich ein wenig Zeit erübrigen kann, werde ich mir das Buch selbst kaufen.«

Sylvestra stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie wandte sich an Fidelis.

»Ich bin dir ja so dankbar, daß du gekommen bist. Es ist nicht immer einfach, Menschen zu besuchen, die krank sind oder in Trauer. Man weiß nie, was man sagen soll.«

»Meine Liebe, was für ein Freund wäre man denn, wenn man in dem Augenblick, in dem man wirklich gebraucht wird, lieber anderswo wäre? Ich habe nie erlebt, daß du selbst dich so verhalten hättest!« versicherte Fidelis ihr, während sie sich vorbeugte.

Sylvestra zuckte die Achseln. »Es gab bisher für mich so wenig Gelegenheit…«

»Nein, nichts Derartiges«, pflichtete Fidelis ihr bei. »Aber es hat allerhand Unannehmlichkeiten gegeben, auch wenn im großen und ganzen nicht darüber geredet wurde, und du hast gespürt, was los war. Und du bist immer dagewesen.«

Sylvestra lächelte bestätigend.

Die Unterhaltung wandte sich allgemeineren Themen zu, nebensächlichen Ereignissen, Familienangelegenheiten. Sylvestra erzählte von den letzten Briefen aus Indien von Amalia, die von den Ereignissen in London natürlich noch nichts wußte. Amalia schrieb von der Armut, die sie dort sah, vor allem von den Krankheiten und dem Mangel an sauberem Wasser, ein Thema, das ihr sehr nahezugehen schien. Hester wurde so weit in das Gespräch mit einbezogen, wie es der gute Ton notwendig machte. Dann fragte Fidelis Hester nach ihren Erfahrungen auf der Krim. Ihr Interesse schien durchaus echt zu sein.

»Es muß ein ganz merkwürdiges Gefühl für Sie sein, nach all den Gefahren und der großen Verantwortung Ihrer Position dort nun wieder in England zu sein«, sagte sie mit gefurchter Stirn.

»Es war schwierig, meine Einstellung zu den Dingen zu ändern«, gab Hester zu. Das war eine gewaltige Untertreibung, da ihr das im Grunde bis auf den heutigen Tag vollkommen unmöglich gewesen war. Sie hatte mit sterbenden Männern, furchtbaren Verletzungen und Entscheidungen über Leben und Tod zu tun gehabt, und einen Monat später schon verlangte man von ihr, sich wie ein gehorsamer und dankbarer Dienstbote zu benehmen, der zu keinen wichtigeren oder umstritteneren Themen als Kleidersäumen oder Pudding eine eigene Meinung zu haben hatte!

Fidelis lächelte, und in ihren Augen blitzte ein Funke der Belustigung auf, als hätte sie eine Ahnung, wie es in Wahrheit aussah.

»Haben Sie schon Dr. Wade kennengelernt? Aber ja, natürlich. Er hat viele Jahre lang in der Marine gedient, wußten Sie das? Ich könnte mir denken, daß Sie einiges mit ihm gemeinsam haben. Er ist ein überaus bemerkenswerter Mann von großer Entschlossenheit und Charakterstärke.«

Hester erinnerte sich an Corriden Wades Gesicht, als er auf dem Treppenabsatz stand und ihr von den Seeleuten erzählte, die er gekannt hatte, den Männern, die unter Nelson gekämpft hatten.

»Ja«, sagte sie mit überraschendem Nachdruck. »Ja, das ist er. Er hat mir ein wenig von seinen Erfahrungen erzählt.«

»Ich weiß, daß mein Gatte ihn sehr bewunderte«, bemerkte Sylvestra. »Er hat ihm zwanzig Jahre sehr nahe gestanden. Am Anfang kannten sie sich natürlich noch nicht so gut. Das war in der Zeit, bevor er endgültig an Land kam.« Einen Augenblick lang nahm ihr Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an, als sei ihr etwas anderes eingefallen, etwas, das sie nicht verstand. Dann war der Eindruck verflogen, und sie wandte sich wieder an Fidelis. »Es ist schon merkwürdig, wie viele Dinge im Leben eines anderen Menschen man nicht mit ihm teilen kann, auch wenn man ihn jeden Tag sieht und über alles Mögliche mit ihm redet und ein Heim und eine Familie gemeinsam hat, ja, sogar ein gemeinsames Schicksal. Und doch ereigneten sich die Dinge, die Leighton in seinem Denken und Fühlen sehr geformt haben, alle an Orten, die man selbst nie gesehen hat. Dinge, die sich von allem unterscheiden, was man selbst je erlebt hat.«

»Ja, da hast du wohl recht«, entgegnete Fidelis langsam, während ihre hellen Augenbrauen sich kaum merklich zusammenzogen. »Man kann so vieles mit ansehen, ohne es jemals zu verstehen. Wir haben scheinbar dieselben Erlebnisse, aber wenn wir später darüber sprechen, sind es zwei vollkommen verschiedene Erinnerungen, und es ist, als sprächen wir gar nicht über denselben Vorfall. Früher habe ich mich immer gefragt, ob es einfach eine Sache des Gedächtnisses sei. Jetzt weiß ich, daß es im Grunde vor allem um unterschiedliche Wahrnehmung geht. Das ist wahrscheinlich ein Teil des Erwachsenwerdens.« Sie lächelte schwach, ein Lächeln, das ihrer eigenen Torheit zu gelten schien. »Es wird einem klar, daß die Menschen nicht zwangsläufig genauso fühlen oder denken, wie man selbst es tut. Manche Dinge lassen sich einfach nicht vermitteln.«

»Wirklich nicht?« fragte Sylvestra herausfordernd. »Aber dafür ist doch die Sprache gegeben worden?«

»Worte sind lediglich Etiketten«, erwiderte Fidelis und sprach damit aus, was Hester dachte. Hester selbst hatte das Gefühl, daß es ihr nicht zukäme, ihre Meinung zu diesem Thema zu äußern. »Worte sind doch nur eine Möglichkeit, einen Gedanken zu beschreiben. Wenn man nicht weiß, worin der Gedanke eigentlich besteht, dann wird einem das Etikett auch nicht weiterhelfen.«

Sylvestra war sichtlich verwirrt.

»Ich erinnere mich daran, wie Joel versuchte, mir irgendwelche griechischen oder arabischen Vorstellungen zu erklären«, versuchte Fidelis ihre Worte zu erläutern. »Ich habe ihn nicht verstanden, weil wir in unserer Kultur kein solches Konzept haben.« Sie lächelte kläglich. »Am Ende konnte er lediglich das Wort aufgreifen, das wir dafür haben. Es hat mir nicht im mindesten weitergeholfen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, worum es ging.« Sie sah Hester an. »Können Sie mir sagen, wie es ist, einen jungen Soldaten in Scutari an Cholera sterben zu sehen? Oder die Wagenladungen verstümmelter Leiber heranziehen zu sehen, die aus Sebastopol oder Balaclara kamen, mit Männern, von denen viele an Hunger und Kälte starben? Ich meine, können Sie mir das so erklären, daß ich fühlen werde, was Sie gefühlt haben?«

»Nein.« Das eine Wort war genug. Hester betrachtete diese Frau mit dem außergewöhnlichen Gesicht noch gründlicher als zuvor. Zuerst hatte sie lediglich den Eindruck einer dieser vornehmen Frauen mit einem erfolgreichen Mann gemacht, die hereingekommen war, um einer trauernden Freundin ihr Beileid auszudrücken. Doch während dieser Unterhaltung, die als triviale Nachmittagskonversation begonnen hatte, war sie auf eines der Mysterien der Einsamkeit und des Mißverständnisses zu sprechen gekommen, die so viele unbefriedigende Beziehungen kennzeichnen. Hester sah in Sylvestras Augen das jähe Aufflackern von Verständnislosigkeit. Vielleicht ging die Kluft zwischen ihr und Rhys tiefer, als sein Verlust der Sprache es rechtfertigte? Vielleicht hätten auch Worte ihr nicht klarmachen können, was ihm wirklich widerfahren war?

Und was war mit Leighton Duff? Wie gut hatte sie ihn wirklich gekannt? Daß dieser Gedanke auch Sylvestra gekommen war, stand deutlich in ihren dunklen Augen geschrieben.

Auch Fidelis beobachtete Sylvestra, und ihr asymmetrisches Gesicht verriet Sorge. Wieviel hatte man ihr erzählt, und wieviel hatte sie sich, was diese Nacht betraf, zusammengereimt? Hatte sie irgendeine Ahnung, warum Leighton Duff nach St. Giles gegangen war?

»Nein«, brach Hester das Schweigen. »Ich glaube, daß es immer Erfahrungen geben wird, die wir nur unvollkommen mit anderen teilen können.«

Fidelis lächelte flüchtig, und wieder war der Schatten unter ihren Augen zu sehen. »Das klügste, meine Liebe, ist, eine gewisse Blindheit zu akzeptieren und weder sich noch anderen allzu große Vorwürfe zu machen. Man muß nach seinen eigenen Maßstäben Erfolg haben, nicht nach den Maßstäben anderer.«

Es war eine merkwürdige Bemerkung, und Hester hatte den flüchtigen Eindruck, daß sie eine tiefere Bedeutung hatte, die nur Sylvestra verstehen konnte. Sie war sich nicht sicher, ob Fidelis’ Worte sich auf Rhys bezogen oder auf Leighton Duff, oder ob es um irgendeinen Teil von Sylvestras Leben ging, der mit deren Unglück zusammenhing. Was es auch war, Fidelis Kynaston hatte den Wunsch, Sylvestra davon zu überzeugen, daß sie sie verstand.

Ihr Tee war kalt, und die winzigen Sandwiches waren bereits verzehrt, als Arthur Kynaston zurückkehrte. Er wirkte leicht erregt, war aber bei weitem weniger angespannt als vor seinem Besuch bei Rhys.

»Wie geht es ihm?« fragte seine Mutter, bevor Sylvestra etwas sagen konnte.

»Er scheint recht guten Mutes zu sein«, erwiderte Arthur hastig. Er war noch zu jung und sein Gesicht zu offen, um gut lügen zu können. Sein Besuch bei Rhys hatte ihn augenscheinlich zutiefst erschüttert, aber er versuchte, diese Tatsache vor Sylvestra zu verbergen. »Ich bin mir sicher, wenn seine Verletzungen verheilt sind, wird er sich wie neugeboren fühlen. Und Belzoni hat ihn wirklich interessiert. Ich habe ihm versprochen, ihm einige Zeichnungen zu bringen, falls nichts dagegen spricht?«

»Aber ja!« sagte Sylvestra schnell. »Ja, tun Sie das!« Sie wirkte erleichtert. Zumindest in dieser Hinsicht kehrte wieder Normalität ein; es war ein Augenblick, in dem die Dinge wieder in vernünftige Bahnen zurückfanden.

Fidelis erhob sich und legte eine Hand auf den Arm ihres Sohnes. »Das wäre wirklich sehr nett von dir. Jetzt sollten wir Mrs. Duff wohl ein wenig Zeit für sich gönnen.« Sie drehte sich um, verabschiedete sich von Hester und sah dann noch einmal Sylvestra an. »Wenn ich irgend etwas tun kann, meine Liebe, brauchst du es mich nur wissen zu lassen. Wenn du reden möchtest, bin ich immer bereit, zuzuhören und dann zu vergessen… selektiv. Ich verfüge über eine ausgeprägte Fähigkeit zu vergessen.«

»Es gibt so viele Dinge, die ich gern vergessen würde«, erwiderte Sylvestra beinahe unhörbar. »Ich kann nicht vergessen, was ich nicht verstehe! Lächerlich, nicht wahr? Man sollte meinen, so wäre es am einfachsten. Warum St. Giles? Das ist eine Frage, die die Polizei immer wieder stellt, und die ich nicht beantworten kann.«

»Das wirst du wahrscheinlich nie können«, sagte Fidelis trocken. »Am besten wäre es für dich wahrscheinlich, wenn du es erst gar nicht versuchen würdest.« Sie küßte Sylvestra sachte auf jede Wange, dann verließ sie den Raum, dicht gefolgt von Arthur.

Hester kam von sich aus nicht auf Sylvestras letzte Bemerkung zu sprechen, und diese schnitt das Thema ebenfalls nicht mehr an. Es war eine Geste der Höflichkeit gewesen, Hester einzuladen, und niemand schuldete ihr irgendwelche vertraulichen Erklärungen. Schließlich gingen beide Frauen nach oben, um festzustellen, ob Rhys immer noch »guten Mutes« sei. Als sie sein Zimmer betraten, döste er vor sich hin und schien sich, soweit seine Schmerzen dies zuließen, einigermaßen wohl zu fühlen.

Am Abend kam Eglantyne Wade zu Besuch. Es war das erste Mal seit der Beerdigung, daß sie das Haus betrat, und da sie zweifellos wußte, wie krank Rhys war, hatte sie offensichtlich nicht stören wollen. Hester war neugierig, was für eine Art Frau Dr. Wades Schwester wohl sein mochte. Sie hoffte, sie würde ihm ähnlich sein, eine Frau, die Mut, Vorstellungskraft und Persönlichkeit besaß und sich vielleicht mit Fidelis Kynaston vergleichen ließ.

Am Ende erwies Eglantyne sich als bei weitem hübscher oder zumindest im Aussehen bei weitem konventioneller als Fidelis, und Hester verspürte einen winzigen Stich der Enttäuschung. Ihre Gefühle waren absolut unvernünftig. Warum hätte Wades Schwester etwas von seiner Intelligenz oder seiner inneren Courage haben sollen? Ihr eigener Bruder Charles hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr. Er war auf seine eigene Art und Weise freundlich, gefällig und unendlich berechenbar.

Hester reagierte höflich, als Sylvestra sie mit Eglantyne bekannt machte, und suchte in Miss Wades Gesicht nach irgendeinem Anzeichen eines inneren Feuers. Sie traf nur auf einen leeren Blick aus blauen Augen, in denen bestenfalls mildes Interesse stand. Selbst Sylvestras Bemerkung über Hesters Dienst auf der Krim stieß bei Miss Wade auf keinerlei Verwunderung, sondern entlockte ihr nur das gewohnte, respektvolle Murmeln, wann immer Scutari oder Sebastopol erwähnt wurden. Es schien, als höre Eglantyne Wade nicht einmal zu.

Sylvestra hatte Hester angeboten, daß sie den Abend freihaben könne. Da Oliver Rathbone Hester gerade angefragt hatte, ob ihre neue Stelle es ihr ermöglichen würde, sich für einen Abend freizumachen, wollte sie die Gelegenheit nutzen und mit Rathbone zu Abend essen. So stand sie um sieben Uhr in der Halle, bekleidet mit ihrem einzigen wirklich guten Kleid, und verspürte das unverkennbare Prickeln der Erregung, als es an der Tür läutete und Wharmby ihr sagte, daß sie erwartet werde.

Es war ein bitterkalter Abend, über den Pflastersteinen lag eine dünne Eisschicht. Die Pferde dampften, und Nebelschwaden umwogten die Laternen. Qualm und Ruß hingen schwer in der Luft über der Stadt und verschlangen das Licht der Sterne, und ein messerscharfer Wind peitschte die Tunnel entlang, die die hohen Häuserwände zu beiden Seiten der Straße formten.

Hester hatte schon einmal bei Rathbone zu Hause gespeist, aber bei der Gelegenheit war auch Monk anwesend gewesen, und sie hatten über einen Fall gesprochen und über die anzuwendende Strategie. Ansonsten hatte Hester mehrmals mit Rathbone im Haus seines Vaters in Primrose Hill diniert, aber seiner heutigen Einladung hatte sie entnommen, daß sie diesmal ein öffentliches Lokal aufsuchen würden, wie es sich geziemte, sofern nicht eine weitere Person zum Abendessen geladen war.

Die von Rathbone geschickte Droschke hielt vor einem einladenden Gasthaus, der Lakai öffnete Hester unverzüglich die Tür und bot ihr seine Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Dann führte man sie in einen kleinen Speisesalon, in dem Rathbone sie bereits erwartete.

Er wandte sich von dem Kaminsims ab, an dem er gestanden hatte. Rathbone hatte sich für Abendgarderobe entschieden, und das Licht des Kronleuchters fing sich in seinem blonden Haar. Lächelnd blickte er ihr entgegen, bis sie mitten im Raum stand und die Tür sich hinter ihr schloß. Dann erst trat er auf sie zu und nahm ihre Hände in seine.

Ihr Kleid war graublau und von strengem Schnitt, aber sie wußte, daß es ihren Augen und ihrem starken, intelligenten Gesicht schmeichelte. Rüschen hatten an ihr immer absurd gewirkt, weil sie so gar nicht zu ihrem Charakter paßten.

»Ich danke Ihnen, daß Sie in solch großer Eile hergekommen sind«, sagte er herzlich. »Es ist eine überaus ungalante Art und Weise, eine Gelegenheit beim Schöpf zu packen, sich einzig zum Vergnügen zu treffen und nicht wegen irgendeines erbärmlichen Falles, sei er nun Ihrer oder meiner. Ich bin glücklich zu sagen, daß alle meine gegenwärtigen Fälle lediglich gewöhnliche Rechtsstreitigkeiten sind und keinerlei Detektivarbeit notwendig machen.«

Hester war sich nicht sicher, ob das eine Anspielung auf Monk war oder einfach die Feststellung, daß sie ausnahmsweise einmal keinen anderen Grund für ihr Beisammensein hatten als die Freude an der Gesellschaft des anderen. Es war eine außergewöhnliche Bemerkung aus seinem Munde. In der Vergangenheit war er immer sehr zurückhaltend gewesen, geradezu verschwiegen, wenn es um persönliche Belange ging.

»Und bei meinem Fall wird es keinen Prozeß geben, der Sie interessieren würde«, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln.

»Ich fürchte sogar, daß es überhaupt keinen Prozeß geben wird!« Sie entzog ihm ihre Hände. Dann trat er auf die Stühle in der Nähe des Feuers zu und lud sie ein, Platz zu nehmen, bevor er sich selbst setzte. Es war ein angenehmer Raum, komfortabel und abgeschieden, ohne durch zu große Intimität gegen den Anstand zu verstoßen. Es konnte jeden Augenblick jemand hereinkommen, und sie konnten das Gemurmel, Gelächter und das leise Klirren von Porzellan aus einem benachbarten Raum hören. Das Feuer brannte lodernd im Kamin, und auf dem polierten Holz eines Beistelltischchens glitzerte der Widerschein der Lichter. Der Haupttisch war mit Leinen, Kristall und Silberbesteck für zwei Personen gedeckt. »Wünschen Sie sich denn einen Prozeß?« erkundigte Rathbone sich belustigt. Seine Augen waren außergewöhnlich dunkel, und er beobachtete Hester aufmerksam.

Sie hatte erwartet, daß sein Blick sie verunsichern würde, was er vielleicht auch tat. Aber es war auch unleugbar ein angenehmes Gefühl, selbst wenn ihre Haut plötzlich etwas wärmer war als zuvor und ihre Konzentration ein wenig ins Wanken geriet. In gewisser Weise war dieser Blick wie eine Berührung.

»Ich würde mir sehr wünschen, daß die Schuldigen gefaßt und bestraft werden«, antwortete sie mit Nachdruck. »Es ist einer der schlimmsten Fälle, die mir je begegnet sind. Oft kann ich einen gewissen Grund für die Dinge entdecken, aber diesmal scheint es einfach ein Fall von bestialischer Gewalttätigkeit zu sein.«

»Was ist denn passiert?«

»Ein junger Mann und sein Vater wurden in St. Giles angegriffen und grauenvoll geprügelt. Der Vater starb, der junge Mann, den ich pflege, ist schwer verletzt und kann nicht sprechen.« Unbeabsichtigt hatte sie die Stimme gesenkt. »Ich habe ihn beobachtet, als er Alpträume hatte und offensichtlich den Angriff noch einmal durchlebte. Er ist dann vor Schmerz wie gelähmt, hysterisch und verzweifelt, und er versucht wieder und wieder zu schreien, aber seine Stimme gehorcht ihm einfach nicht. Er leidet große körperliche Schmerzen, aber die seelischen Qualen sind noch schlimmer.«

»Das tut mir leid«, sagte Rathbone und betrachtete sie ernst.

»Es muß sehr schwer für Sie sein, das mitanzusehen. Können Sie ihm denn überhaupt helfen?«

»Ein wenig… hoffe ich.«

Er lächelte sie an, und die Wärme seiner Augen war ihr Anerkennung genug. Dann legte seine Stirn sich in Falten. »Was haben die beiden in St. Giles gemacht? Wenn diese Leute sich eine private Krankenschwester für den jungen Mann leisten können, dann hört es sich nicht so an, als lebten sie in diesem Viertel oder machten dort auch nur Besuche.«

»Oh, das haben sie auch nicht getan!« warf Hester mit flüchtiger Belustigung ein, die jedoch sofort wieder verebbte.

»Die Familie wohnt in der Ebury Street. Mr. Duff war Seniorpartner einer Kanzlei. Ich habe keine Ahnung, was die beiden in St. Giles getan haben. Das ist eines der Probleme, die die Polizei zu lösen versucht. Den Fall bearbeitet übrigens John Evan. Es ist ein sehr merkwürdiges Gefühl für mich, so zu tun, als würde ich ihn nicht kennen.«

»Aber es ist am besten so, dessen bin ich gewiß«, pflichtete er ihr bei. »Es tut mir leid, daß Ihr gegenwärtiger Fall Ihnen solchen Kummer macht.« Der Diener hatte eine Karaffe mit Wein dagelassen, von dem Rathbone Hester nun ein Glas einschenkte. »Ich vermute, daß viele Ihrer Fälle auf die eine oder andere Weise ermüdend sind?«

In diesem Licht hatte sie ihre Tätigkeit noch nicht betrachtet.

»Ja, ich denke schon. Entweder der Betreffende ist sehr krank, und es ist hart, sein Leiden mitanzusehen, oder er ist es nicht, und dann habe ich das Gefühl, nicht genug gefordert zu werden. Nicht wirklich gebraucht zu werden.« Sie lächelte plötzlich, und diesmal war ihre Heiterkeit echt. »Es ist unmöglich, mich zufriedenzustellen!«

Rathbone betrachtete das Licht, das sich durch den Wein in seinem Glas spiegelte. »Sind Sie sicher, daß Sie weiter Kranke pflegen wollen? Wenn Ihre Situation ideal wäre und Sie nicht für sich selbst zu sorgen brauchten, würden Sie es dann nicht vorziehen, sich für die Reform der Krankenhäuser einzusetzen, wie Sie es ursprünglich vorhatten?«

Hester ertappte sich dabei, daß sie plötzlich stolz aufgerichtet dasaß und sich des knisternden Feuers und der scharfen Kanten des Kristallglases in ihrer Hand mit übergroßer Klarheit bewußt war. Rathbone sah sie nicht an. Vielleicht steckte hinter seinen Worten doch keine tiefere Bedeutung? Nein, natürlich nicht! Ihre Überlegungen waren lächerlich. Die Wärme des Raumes und der Wein benebelten ihre Sinne.

»Ich habe nie darüber nachgedacht«, erwiderte sie und gab sich alle Mühe, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.

»Ich fürchte, die Reform wird sehr, sehr langsam vonstatten gehen, und ich habe nicht den notwendigen Einfluß, um irgend jemanden dazu zu bringen, mir zuzuhören.«

Rathbone blickte auf, und seine Augen wirkten sanft und beinahe schwarz im Kerzenlicht.

Eine Sekunde später schon hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Ihre Worte klangen, als habe sie es auf den größeren Einfluß abgesehen, den er indirekt angedeutet hatte… Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es war das letzte, was sie gemeint hatte. Es war nicht nur unschicklich, es war vor allen Dingen furchtbar unbeholfen! Sie spürte, wie ihr eine heiße Röte in die Wangen stieg.

Hester erhob sich und wandte sich ab. Sie mußte schnell irgend etwas sagen, aber es mußte das Richtige sein! Allzu große Eile konnte die Dinge noch verschlimmern. Es war so leicht, zu viel zu reden.

Er hatte sich mittlerweile ebenfalls erhoben und stand nun direkt hinter ihr, näher als zuvor, solange sie noch saßen. Sie war sich seiner Nähe mit allen Sinnen bewußt.

»Ich besitze diese Art von Talent im Grunde nicht«, sagte sie sehr bedächtig. »Im Gegensatz zu Miss Nightingale. Sie ist eine brillante Verwalterin und Rednerin. Sie kann eine Angelegenheit so ausdrücken, daß die Leute ihr einfach recht geben müssen, und sie gibt niemals auf.«

»Tun Sie das denn?« fragte er mit einem Lächeln in der Stimme. Sie konnte das Lachen hören, sah sich aber nicht um.

»Nein, natürlich nicht.« Rathbone und sie teilten viele Erinnerungen miteinander, als daß eine Antwort wirklich notwendig gewesen wäre. Sie hatten Seite an Seite Schlachten gegen Lügen und Gewalt ausgefochten, gegen Rätsel, Angst und Unwissenheit. Sie hatten allen möglichen Arten der Dunkelheit gegenübergestanden und sich hindurchgekämpft, um zu guter Letzt zumindest Gerechtigkeit, wenn auch nicht unbedingt eine Lösung für die betreffende Tragödie zu finden. Das einzige, was nie in Frage gekommen war, war eine Kapitulation.

Hester drehte sich jäh zu ihm um. Er stand nur einen Meter entfernt, aber sie wüßte jetzt, was sie sagen wollte. Sie konnte nun sogar sein Lächeln erwidern.

»Ich habe einige der Tricks eines guten Soldaten gelernt. Ich wähle gern mein eigenes Schlachtfeld und auch meine eigenen Waffen.«

»Bravo«, sagte er leise, während sein Blick in ihren Zügen forschte.

Hester stand eine Sekunde lang still, dann trat sie an den Tisch, nahm auf einem der Stühle Platz und arrangierte ihre Röcke mit ungewohnter Sorgfalt. Sie fühlte sich elegant, ja sogar feminin, wobei sie gleichzeitig den Eindruck hatte, niemals stärker oder lebendiger gewesen zu sein.

Rathbone zögerte und blickte sekundenlang auf sie herab.

Sie spürte seine Gegenwart, und dennoch fühlte sie sich nicht länger unbehaglich.

Der Diener kam herein und kündigte den ersten Gang der Mahlzeit an. Rathbone gab ihm ein Zeichen, und das Essen wurde serviert.

Hester lächelte ihm quer über den Tisch hinweg zu. Sie spürte ein leises Kribbeln im Magen, aber gleichzeitig fühlte sie sich merkwürdig warm und erregt.

»Was sind denn das für Fälle, mit denen Sie zu tun haben und die keine Detektivarbeit vonnöten machen?« erkundigte sie sich. Eine Sekunde lang kam ihr Monk in den Sinn, und die Tatsache, daß Rathbone Fälle ausgewählt hatte, für die er Monks Hilfe nicht bedurfte. Konnte dahinter eine bestimmte Absicht stecken? Oder war das ein schäbiger Gedanke?

Als hätte auch er Monks Gesicht vor seinem inneren Auge gesehen, senkte Rathbone den Blick auf seinen Teller.

»Eine Vaterschaftsklage in höheren Kreisen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Es gibt da im Grunde nicht viel zu beweisen. Das Ganze ist im wesentlichen eine Angelegenheit von einigen Verhandlungen, um den Skandal in Grenzen zu halten. Es ist eine Übung in Sachen Diplomatie.« Er hob den Blick, und wie zuvor leuchtete aus seinen Augen das Lachen.

»Ich versuche herauszufinden, wieviel Druck ich ausüben kann, bevor es zum Krieg kommt. Wenn ich Erfolg habe, werden Sie nichts davon hören. Es wird lediglich eine große Summe Geld den Besitzer wechseln.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich versage, wird es den größten Skandal geben, seit…« Er holte tief Atem, und sein Gesichtsausdruck spiegelte plötzlich klägliche Selbstironie.

»Seit Prinzessin Gisela«, beendete sie den Satz für ihn.

Sie lachten beide. Eine Fülle von Erinnerungen stieg in ihnen hoch, Erinnerungen, die vor allem dem furchtbaren Risiko galten, das er damals eingegangen war. Aber sie dachten auch an die Angst, die Hester um ihn gehabt hatte, an ihre Bemühungen und schließlich an ihren Erfolg, zumindest die Wahrheit aufzudecken, auch wenn sein Ansehen durch die ganze Angelegenheit Schaden gelitten hatte. Rathbone war entlastet worden, und das war wahrscheinlich das beste, was man in diesem Falle sagen konnte. Die Wahrheit oder zumindest ein guter Teil davon waren offengelegt worden. Aber einer großen Anzahl von Leuten wäre es bei weitem lieber gewesen, nichts davon zu wissen, nicht genötigt zu werden, die Sache zur Kenntnis zu nehmen.

»Und Sie werden gewinnen?« fragte sie ihn.

»Ja«, erwiderte er fest. »Diese Sache werde ich gewinnen.« Er zögerte.

Plötzlich wollte sie nicht mehr, daß er aussprach, was immer ihm auf der Zunge lag.

»Wie geht es Ihrem Vater?« fragte sie unvermittelt.

»Sehr gut«, antwortete er, und seine Stimme wurde ein wenig leiser. »Er ist gerade von einer Reise nach Leipzig zurückgekehrt, wo er eine Reihe interessanter Leute getroffen hat und, wie ich höre, nächtelang mit ihnen über Mathematik und Philosophie geredet hat. Alles sehr deutsch. Ihm hat es ungemein gefallen.«

Hester mußte unwillkürlich lächeln. Sie mochte Henry Rathbone lieber, je öfter sie ihn sah.

»Ich bin froh, daß es ihm gut geht. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal irgendwohin gereist bin.«

»Wohin würden Sie denn gern fahren?«

Sie dachte sofort an Venedig und erinnerte sich dann daran, daß Monk vor noch gar nicht langer Zeit erst dort gewesen war, zusammen mit Evelyn von Seidlitz. Es war der letzte Ort, an den sie jetzt reisen wollte. Hester blickte zu ihm auf und sah das Verständnis in seinen Augen und etwas, das vielleicht ein Aufblitzen von Traurigkeit sein mochte, das Wissen um irgendeinen Verlust oder einen Schmerz.

Es tat ihr weh. Sie wollte es auslöschen.

»Ägypten!« sagte sie mit wiedergefundener Begeisterung.

»Ich habe gerade von Signor Belzonis Entdeckungen dort gehört. Eine Spur verspätet, ich weiß. Aber ich würde schrecklich gern mal den Nil hinauffahren! Sie nicht?« O Gott! Sie hatte es schon wieder getan! Sie war viel zu geradeheraus gewesen und erbärmlich unbeholfen! Diese letzte Bemerkung ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Wieder spürte sie die Flut verlegener Hitze in ihrem Gesicht.

Diesmal lachte Rathbone offen heraus. »Hester, meine Liebe, Sie dürfen sich niemals ändern! Manchmal sind Sie mir so fremd, daß ich unmöglich erraten könnte, was Sie als nächstes sagen oder tun werden. Und dann wieder sind Sie so durchsichtig wie das Frühlingslicht. Verraten Sie mir: Wer ist Signor Belzoni, und was hat er entdeckt?«

Stockend zuerst antwortete sie ihm und gab sich alle Mühe, sich daran zu erinnern, was Arthur Kynaston erzählt hatte. Und dann, während Rathbone ihr weitere Fragen stellte, kam das Gespräch wieder in Fluß, und ihr Unbehagen verschwand.

Es war fast Mitternacht, als sie sich neben seiner Kutsche verabschiedeten. Sie standen in der Ebury Street vor dem Haus der Duffs, der Nebel hatte sich gehoben, und es war eine klare Nacht, trocken und bitterkalt. Rathbone stieg aus, um ihr hinabzuhelfen, bot ihr seine Hand und gab ihr mit der anderen auf den eisüberzogenen Pflastersteinen Halt.

»Vielen Dank«, sagte sie und meinte damit viel mehr. Der Abend war eine Insel der Wärme gewesen, sowohl körperlich als auch seelisch – einige Stunden, in denen sie allen Schmerz und allen Kampf hatte vergessen können. Sie hatten von wunderbaren Dingen gesprochen und Begeisterung, Lachen und Phantasie miteinander geteilt. »Ich danke Ihnen, Oliver.«

Er beugte sich vor, seine Hand spannte sich fester über ihrer, und er zog Hester ein wenig näher an sich heran. Dann küßte er sie ganz sacht auf die Lippen, behutsam, aber ohne das leiseste Zögern. Sie hätte nicht zurückweichen können, selbst wenn sie das gewollt hätte. Es war ein verblüffend süßes und angenehmes Gefühl, und noch als sie die Treppe hinaufging und wußte, daß er auf der Straße stand und ihr nachsah, konnte sie das Glück dieses Augenblicks spüren, wie es sie durchströmte und schließlich ihr ganzes Wesen ausfüllte.