1

John Evan stand frierend im Januarwind, der die schmale Gasse hinunterpeitschte. P. C. Shotts hielt seine Blendlaterne so hoch, daß die Männer beide Leichen gleichzeitig sehen konnten. Die Toten lagen zusammengekrümmt und blutverschmiert gut zwei Meter voneinander entfernt auf dem eisigen Pflaster.

»Weiß irgend jemand, was passiert ist?« fragte Evan mit klappernden Zähnen.

»Nein, Sir«, erwiderte Shotts düster. »Eine Frau hat sie gefunden, und der alte Briggs hat mir Bescheid gegeben.«

Evan war überrascht. »In diesem Bezirk?« Er warf einen Blick auf die schmutzigen Mauern, den offenen Rinnstein, die wenigen, dreckgeschwärzten Fenster und schmalen, vom Ruß und der Feuchtigkeit vieler Jahre fleckig gewordenen Türen. Die einzige Laterne befand sich zwanzig Meter entfernt, wo sie einem verirrten Mond gleich boshaft funkelte. Evan war sich unangenehm der Bewegungen direkt außerhalb des Lichtkreises bewußt, der gebeugten Gestalten, die mit wachsamen Augen das Geschehen verfolgten und abwarteten, der zahllosen Bettler, Diebe und armen Seelen, die in diesem Elendsviertel von St. Giles nur einen Steinwurf von der Regent Street im Herzen Londons entfernt lebten.

Evan beugte sich über den Körper, der ihm am nächsten lag. Shotts senkte die Laterne ein wenig, so daß sie den Kopf und Oberkörper der Leiche beleuchtete. Es handelte sich Evans Schätzung nach um einen Mann von Mitte Fünfzig. Sein Haar war grau und voll, seine Haut glatt. Evan berührte den Toten kurz – er war kalt und steif. Seine Augen standen immer noch offen. Der Mann war so übel zugerichtet worden, daß Evan nur einen sehr allgemeinen Eindruck von seinen Zügen gewinnen konnte. Zu Lebzeiten mochte er durchaus gutaussehend gewesen sein. Seine Kleider waren jetzt zwar zerrissen und schmutzig, aber ansonsten von hervorragender Qualität. Soweit Evan das beurteilen konnte, war der Mann von durchschnittlicher Größe und kräftigem Körperbau gewesen. So etwas ließ sich nicht leicht sagen, wenn ein Mensch zusammengekrümmt dalag, die Beine gespreizt und halb unter dem eigenen Körper begraben.

»Wer hat ihm das angetan, um Gottes Willen?« fragte er kaum hörbar.

»Keine Ahnung, Sir«, antwortete Shotts zittrig. »So was Schlimmes habe ich noch nie gesehen, nicht mal hier. Muß ein Irrer gewesen sein, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Ist er bestohlen worden? Muß wohl.«

Evan beugte sich über die Leiche, um in die Manteltasche des Mannes zu greifen. In der äußeren Tasche war nichts. In der inneren fand er ein Taschentuch, sauberes, zuammengefaltetes Leinen von erstklassiger Qualität. Er tastete die Hosentaschen ab und entdeckte einige Kupfermünzen.

»Das Knopfloch ist ausgerissen«, bemerkte Shotts mit Blick auf die Weste. »Sieht so aus, als hätten sie ihm die Uhr mitsamt Kette abgerissen. Was der wohl hier zu suchen hatte? Bißchen rauhes Viertel für so einen feinen Herrn. Nur eine Meile weiter westlich gibt’s jede Menge Flittchen und andere willige Frauenzimmer. In Haymarket wimmelt’s nur so davon, und das ohne jede Gefahr. Man braucht bloß zuzugreifen. Weshalb also hierherkommen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Evan. »Wenn wir den Grund dafür herausfinden können, wissen wir vielleicht, was ihm zugestoßen ist.« Er stand auf und trat an die andere Leiche. Es handelte sich um einen jüngeren Mann, vielleicht noch keine zwanzig, doch auch sein Gesicht war so furchtbar zugerichtet, daß nur die klare Linie seines Kiefers und die feine Beschaffenheit seiner Haut irgendwelche Rückschlüsse auf sein Alter zuließen. Mitleid und ein schrecklicher, blinder Zorn durchfluteten Evan, als er sah, daß die Kleidung am Unterkörper blutdurchnäßt war; das Blut sickerte immer noch auf die Pflastersteine.

»Gott im Himmel«, sagte er heiser. »Was ist hier passiert, Shotts? Was ist das für ein Geschöpf, das so etwas tut?« Er rief den Namen Gottes nicht grundlos an. Schließlich war er der Sohn eines Landpfarrers und in einer kleinen, ländlichen Gemeinde aufgewachsen, in der jeder den anderen kannte, in Freud und Leid, und wo der Klang der Kirchenglocken über dem Herrenhaus ebenso erscholl wie über den Hütten der Knechte und dem Wirtshaus. Er kannte Glück und Leid, Güte und all die gewöhnlichen Sünden von Habgier bis Neid.

Shotts, der in der Nähe dieses häßlichen, dunklen Londoner Elendsviertels groß geworden war, hatte wenig Mühe, das Vorgefallene zu begreifen, aber auch er blickte mit einem Schauder des Mitleids und des Grauens auf den jüngeren Mann herab.

»Keine Ahnung, Sir, aber ich hoffe, wir kriegen den Bastard, und dann wird man ihn hängen, da bin ich mir sicher. Jedenfalls, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe. Nicht daß es leicht sein wird, ihn zu kriegen. Bisher scheint’s gar keine Spuren zu geben, und von den Leuten hier herum können wir nicht viel Hilfe erwarten.«

Evan kniete neben dem jüngeren Mann nieder und tastete dessen Taschen ab, um festzustellen, ob man ihm irgendwas gelassen hatte, anhand dessen sich zumindest seine Identität feststellen ließ. Er strich mit den Fingern über den Hals des Mannes. Mit stockendem Atem und einem Gefühl, das an Entsetzen grenzte, hielt er inne. Die Haut war warm! War es vorstellbar, daß der Mann noch lebte?

Wenn er tot war, dann gewiß noch nicht so lange wie der ältere Mann. Möglicherweise hatte er stundenlang blutend in dieser eiskalten Gasse gelegen!

»Was ist los?« fragte Shotts, der Evan mit weit aufgerissenen Augen ansah.

Evan hielt eine Hand vor die Nase und die Lippen des Mannes. Er spürte nichts, nicht den Hauch von warmem Atem.

Shotts beugte sich vor und hielt die Laterne tiefer.

Evan nahm seine Taschenuhr heraus, wischte die Oberfläche mit der Innenseite seines Ärmels sauber und hielt sie dann dem Mann vor die Lippen.

»Was ist denn?« wiederholte Shotts, dessen Stimme schrill und scharf klang.

»Ich glaube, er lebt noch!« wisperte Evan. Er zog die Uhr weg und betrachtete sie im Schein des Lichtes. Sie war beschlagen, wenn auch nur ganz schwach. »Er lebt!« sagte er voller Freude.

»Sehen Sie!«

Shotts war Realist. Er mochte Evan, aber er wußte, daß der andere ein Pfarrerssohn war, und er machte gewisse Zugeständnisse.

»Vielleicht ist er bloß später gestorben als der andere«, sagte er begütigend. »Er ist ziemlich übel zugerichtet.«

»Er ist noch warm! Und er atmet!« beharrte Evan, der sich noch tiefer über den Mann beugte. »Haben Sie einen Arzt gerufen? Holen Sie eine Kutsche!«

Shotts schüttelte den Kopf. »Sie können ihn nicht retten, Mr. Evan. Dafür ist’s schon zu spät. Wäre gütiger, ihn jetzt hinübergehen zu lassen, ohne daß er irgendwas merkt. Ich glaube sowieso nicht, daß er weiß, wer es gewesen ist.«

Evan blickte nicht auf. »Ich habe nicht daran gedacht, daß er uns etwas sagen könnte«, erwiderte er, und es war die Wahrheit.

»Wenn er lebt, müssen wir tun, was wir können. Das ist selbstverständlich. Suchen Sie jemanden, der einen Arzt und eine Kutsche holt. Gehen Sie!«

Shotts zögerte und sah sich in der Gasse um.

»Ich komme schon klar«, sagte Evan kurz angebunden, obwohl er sich dessen keineswegs sicher war. Er fand es nicht gerade erstrebenswert, allein an diesem Ort zurückzubleiben. Er gehörte hier nicht her. Er war nicht einer von diesen Leuten, wie Shotts es war. Evan fragte sich, ob seine Angst in seiner Stimme durchklang.

Shotts gehorchte widerstrebend, nahm die Blendlaterne jedoch nicht mit. Evan sah, wie seine kräftige Gestalt an der nächsten Straßenecke verschwand, und spürte einen Augenblick lang Panik in sich aufsteigen. Er hatte nichts bei sich, womit er sich hätte verteidigen können, falls derjenige, der diese Morde begangen hatte, zurückkam.

Aber warum sollte er? Dieser Gedanke war absolut unlogisch. Evan wußte es besser. Er war lange genug bei der Polizei, genaugenommen über fünf Jahre, seit 1855, als der Krimkrieg halb vorbei gewesen war. Evan erinnerte sich an seinen ersten Mordfall. Bei dieser Gelegenheit hatte er William Monk kennengelernt. Monk war nicht nur der beste Polizist, der ihm je begegnet war, er war auch der Verwegenste und Mutigste, ein Mann, der mit seinem instinktiven Scharfsinn alle anderen in den Schatten stellte. Evan hatte jedoch als einziger begriffen, wie ungemein verletzlich Monk überdies war. Er hatte bei einem Kutschenunfall sein Gedächtnis vollkommen verloren, wagte es aber nur selten, jemanden in sein Geheimnis einzuweihen. Monk hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war, worin seine Fähigkeiten und seine Schwierigkeiten bestanden. Er kannte weder seine Feinde noch seine Freunde. Er lebte von einer Bedrohung zur nächsten, während sich ihm ein Fingerzeig nach dem anderen bot, der ihm am Ende wenig oder gar nichts sagte, sondern nur eines von vielen Bruchstücken war.

Monk hätte keine Angst gehabt, allein in dieser Gasse zurückzubleiben. Selbst die Armen, die Hungernden und Gewalttätigen in diesem jämmerlichen Viertel hätten es sich zweimal überlegt, bevor sie ihn angriffen. Sein Gesicht mit den glatten Wangenknochen, der breiten Adlernase und den leuchtenden Augen strahlte etwas Gefährliches aus. Evans bei weitem sanftere Züge, die voller Humor und Phantasie waren, stellten für niemanden eine Bedrohung dar.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken, aber es war nur eine Ratte, die durch die Gosse lief. In einem Häusereingang schlurfte etwas über den Boden, aber er sah nichts. Das Rumpeln von Kutschenrädern fünfzig Meter entfernt klang, als käme es aus einer anderen Welt, einer Welt, in der es Leben gab und Raum, einer Welt, der das heranbrechende Tageslicht ein wenig Farbe schenkte.

Evan fror so sehr, daß er zitterte. Eigentlich hätte er den Mantel ausziehen und ihn über den Jungen legen sollen, der noch lebte. Genaugenommen hätte er das sofort tun sollen. Er tat es erst jetzt und spürte, während er den Stoff sachte unter den Körper des jungen Mannes schob, wie die Kälte sich bis auf die Knochen in sein eigenes Fleisch fraß.

Es schien endlos zu dauern, bis Shotts zurückkehrte, aber er brachte einen Arzt mit, einen hageren Mann mit knochigen Händen und einem dünnen, geduldigen Gesicht. Sein Zylinder war zu groß für ihn und rutschte ihm über die Ohren.

»Riley«, stellte er sich kurz vor. Dann beugte er sich über den jungen Mann. Während er mit sachkundiger Hand seine Untersuchung vornahm, standen Evan und Shotts wartend und mit gesenktem Blick da. Es war jetzt heller Tag, obwohl es zwischen den hohen, schmuddeligen Mauern in der Gasse immer noch dämmrig war.

»Sie haben recht«, sagte Riley nach wenigen Sekunden; seine Stimme klang angespannt, und seine Augen waren dunkel. »Er lebt noch… gerade eben.« Er erhob sich wieder und wandte sich der Krankentransportkutsche zu, die große Ähnlichkeit mit einer Leichenkutsche hatte. Der Kutscher wendete die Pferde, um sein Gefährt zum Ende der Gasse zu bringen. »Helfen Sie mir, ihn hochzuheben«, bat er, während eine Gestalt vom Kutschkasten sprang und die Türen an der Hinterseite des Krankentransportes öffnete.

Evan und Shotts beeilten sich zu gehorchen und hoben die Gestalt so sacht an, wie sie nur konnten. Riley überwachte ihre Bemühungen, bis der Junge in Decken eingehüllt auf dem Boden der Kutsche lag. Evan bekam nun auch seinen Mantel zurück, blutbefleckt, schmutzig und feucht von den nassen Pflastersteinen.

Riley sah Evan an und schürzte die Lippen. »Sie sollten zusehen, daß Sie trockene Kleider und einen steifen Whisky bekommen. Und dann eine Schale heißen Haferschleim«, meinte er kopfschüttelnd. »Sonst holen Sie sich noch selber eine Lungenentzündung, und das wahrscheinlich für rein gar nichts. Ich bezweifle, daß wir den armen Teufel retten können.« Das Mitleid verwandelte sein Gesicht im Laternenschein und ließ ihn ausgezehrt und verletzlich erscheinen. »Für den anderen kann ich nichts mehr tun. Der fällt in den Aufgabenbereich des Bestatters – und in Ihren natürlich. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie werden es brauchen, hier in der Gegend. Gott weiß, was da passiert ist – oder vielleicht wäre es passender zu sagen, der Teufel weiß es.« Und mit diesen Worten stieg er hinter seinem Patienten auf den Wagen. »Für den anderen können Sie den Wagen vom Leichenschauhaus rufen«, fügte er hinzu, als sei ihm dieser Gedanke erst nachträglich gekommen. »Den Jungen bringe ich jetzt nach St. Thomas. Sie können sich dort nach ihm erkundigen. Sie haben wohl keine Ahnung, wer er ist?«

»Noch nicht«, antwortete Evan, obwohl er wußte, daß sie es vielleicht nie herausfinden würden.

Riley schloß die Tür und klopfte an die Kutschwand, um dem Fuhrmann zu bedeuten, daß er seine Pferde in Trab setzen sollte, und der Krankentransport rollte davon.

Der Leichenwagen nahm seine Stelle ein, und die Leiche wurde abtransportiert, so daß Evan und Shotts schließlich allein in der Gasse zurückblieben.

»Es ist hell genug, um zu suchen«, sagte Evan grimmig.

»Vielleicht finden wir ja doch etwas. Und dann müssen wir versuchen, Zeugen aufzutreiben. Was ist aus der Frau geworden, die Alarm geschlagen hat?«

»Daisy Mott. Ich weiß, wo wir sie finden. Tagsüber in der Streichholzfabrik, nachts in diesem Wohnblock da drüben, Nummer sechzehn«, sagte er und deutete mit dem linken Arm auf eines der Gebäude. »Die kann uns bestimmt nicht viel erzählen. Wenn der Mörder dagewesen wäre, als sie vorbeikam, hätte er sie zweifellos auch umgebracht.«

»Ja, das denke ich auch«, pflichtete Evan ihm widerstrebend bei. »Da sie geschrien hat, hätte er sie zumindest zum Schweigen gebracht. Was ist mit dem alten Briggs, der Sie geholt hat?«

»Der weiß von nichts. Ich habe ihn gefragt.«

Evans begann seine Suche und entfernte sich immer weiter von der Stelle, an der die beiden Leichen gelegen hatten. Er ging ganz langsam, den Blick auf den Boden geheftet. Er wußte nicht, wonach er suchte, nach irgend etwas vielleicht, das jemand fallen gelassen hatte, einem Abdruck, einem weiteren Blutfleck. Es mußte noch mehr Blutflecken geben!

»Es hat nicht geregnet«, meinte Shotts mit unterdrückter Wut.

»Die beiden Männer haben um ihr Leben gekämpft wie Tiger. Es muß noch mehr Blut geben. Nicht daß ich wüßte, was uns weiterhelfen sollte! Nur daß noch jemand verletzt sein muß, das kann ich mir auch so zusammenreimen.«

»Hier ist Blut«, entgegnete Evan, dem ein dunkler Fleck auf dem Pflaster in der Nähe des Rinnsteins in der Straßenmitte aufgefallen war. Er mußte es mit dem Finger berühren, um sicherzugehen, daß es rot war und nicht braun wie andere Körperexkremente. »Und hier auch. Das muß die Stelle sein, an der zumindest ein Teil des Kampfes stattgefunden hat.«

»Ich habe hier auch etwas gefunden«, fügte Shotts hinzu. »Ich wüßte gerne, wie viele es waren.«

»Mehr als zwei«, erwiderte Evan leise. »Wenn es ein auch nur annähernd fairer Kampf gewesen wäre, hätten wir vier Leichen hier gehabt. Wer auch immer sonst noch an dem Kampf beteiligt war, muß noch in der Verfassung gewesen sein, sich zu entfernen. Es sei denn natürlich, jemand anders hätte ihn weggebracht. Aber das ist unwahrscheinlich. Nein, ich glaube, wir suchen nach mindestens zwei oder drei Männern.«

»Bewaffnet?« Shotts sah ihn an.

»Das weiß ich nicht. Der Arzt wird uns sagen, wie er gestorben ist. Ich habe keine Messerwunden gesehen und auch keine Wunden von einem Stock oder einem Knüppel. Und erdrosselt worden ist er ganz gewiß nicht.« Er schauderte, als er dies sagte. St. Giles genoß einen besonderen Ruf für die plötzlichen und schauerlichen Morde, die mit Hilfe eines Stückchens um die Kehle geschlungenen Drahts begangen wurden. Jeder schmutzige und heruntergekommene Vagabund war da schon einmal verdächtigt worden. Bei einer denkwürdigen Gelegenheit hatten zwei solcher Männer einander verdächtigt, und das Ganze hätte beinahe mit gegenseitigem Mord geendet.

»Das ist aber seltsam.« Shotts stand reglos da und zog unbewußt seinen Mantel in der Kälte fester um sich. »Wer in so einer Gegend auf Raubzug geht, hat für gewöhnlich ein Messer oder ein Stück Draht dabei. Er ist nicht auf Streit aus, er will einen hübschen Gewinn und eine schnelle Flucht, ohne sich dabei zu verletzen.«

»Genau«, pflichtete Evan ihm bei. »Ein Stück Draht um den Hals oder ein Messer in die Seite. Lautlos wirksam. Ohne Gefahr. Man nimmt das Geld und verschwindet in die Nacht.

Also, was ist hier passiert, Shotts?«

»Keine Ahnung, Sir. Je länger ich die Sache betrachte, um so weniger verstehe ich sie. Es war jedenfalls keine Waffe im Spiel. Und wenn doch, haben sie sie mitgenommen. Und mehr noch, ich sehe nirgendwo eine Blutspur. Wenn die Täter also verletzt wurden, dann waren ihre Verletzungen lange nicht so schlimm wie die der beiden armen Seelen, die der Doc und der Leichenwagen weggebracht haben. Ich weiß, die beiden waren tot, oder so gut wie, das tut im Augenblick nichts zur Sache. Was ich meine, ist…«

»Ich weiß, was Sie meinen«, gab Evan ihm recht. »Es war eine sehr einseitige Angelegenheit.«

»Man muß einen Menschen schon sehr hassen, um ihn totzuschlagen«, sagte Evan, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Es sei denn, man wäre wahnsinnig.«

»Die kamen nicht hier aus der Gegend«, meinte Shotts kopfschüttelnd. »Sie waren sauber… oberflächlich betrachtet jedenfalls, gut genährt und mit ordentlichen Kleidern. Sie kamen beide aus einem anderen Viertel, irgendwo weiter westlich, soviel steht fest. Oder auch vom Land.«

»Aus der Stadt«, verbesserte Evan ihn. »Stadtstiefel. Stadthaut. Männer vom Land wären nicht so blaß gewesen.«

»Dann kommen sie von weiter westlich in der Stadt. Hier aus der Gegend waren sie jedenfalls nicht, das steht absolut fest. Also, welcher von den Leuten hier könnte sie gut genug kennen, um sie so sehr zu hassen?«

Evan schob die Hände tief in die Taschen. Mittlerweile kamen mehr Leute am Ende der Gasse vorbei, Männer, die zur Arbeit in Fabriken und Lagerhäusern gingen, Frauen, die in Spinnereien für einen Hungerlohn arbeiteten. Die unbekannten Heerscharen, die in den Straßen selbst arbeiteten, kamen ebenfalls langsam hervor, Hausierer, Straßenhändler, Lumpensammler und solche, die Informationen aller Art feilboten, daneben gemeine Diebe und Kuppler.

»Weshalb kommt ein Mann hierher?« Evan sprach mit sich selbst. »Wegen etwas, das er in seinem eigenen Stadtteil nicht kaufen kann.«

»Aus reiner Neugier«, sagte Shotts lakonisch. »Billige Frauen, Geldverleiher, Kartenhaie. Oder um Diebesgut zu verkaufen oder etwas fälschen zu lassen.«

»Genau«, pflichtete Evan ihm bei. »Wir sollten herausfinden, welches dieser Motive die beiden hierhergeführt hat – und zu wem.«

Shotts zuckte die Achseln und lachte hohl. Was ihre Erfolgschancen betraf, konnte er sich jeden Kommentar sparen.

»Diese Frau, Daisy Mott«, sagte Evan und setzte sich Richtung Straße in Bewegung. Ihm war so kalt, daß er seine Füße kaum noch spürte. Der Geruch der Gasse ließ Übelkeit in ihm aufsteigen, und er zog die Schultern noch ein Stück höher. Er hatte binnen weniger Stunden zuviel Gewalt und Schmerz gesehen.

»Der Arzt hatte recht«, bemerkte Shotts, als er Evan eingeholt hatte. »Eine heiße Tasse Tee mit einem Tröpfchen Gin würde Ihnen nicht schaden und mir auch nicht.«

»Einverstanden.« Evan erhob keine Einwände. »Und dazu ein Stück Pastete oder eine Scheibe Brot. Und dann suchen wir die Frau.«

Aber als sie sie fanden, wollte sie ihnen nichts sagen. Sie war klein und blond und sehr dünn. Sie hätte ebensogut achtzehn wie fünfunddreißig sein können, das ließ sich unmöglich sagen. Sie war müde und verängstigt und sprach überhaupt nur deswegen mit ihnen, weil sie nicht wußte, wie sie es hätte verhindern können.

In der Streichholzfabrik herrschte bereits geschäftiges Treiben, und das Dröhnen der Maschinen untermalte jedes andere Geräusch. Hinzu kam der Geruch von Sägespänen, Öl und Phosphor, der schwer in der Luft lag. Die Arbeiter waren ausnahmslos bleich. Evan sah mehrere Frauen mit dicken, eiternden Geschwüren oder mit Gesichtern, in denen die als »Phosphorkiefer« bekannte Knochennekrose auch die Haut verzehrt hatte. Sie sahen ihn mit nur geringer Neugier an.

»Was haben Sie bemerkt?« fragte Evan sanft. »Erzählen Sie mir genau, was passiert ist.«

Sie holte tief Atem, sagte jedoch nichts.

»Es will niemand wissen, woher Sie kamen«, warf Shotts hilfreich ein. »Oder wohin Sie wollten.«

Evan zwang sich, die Frau anzulächeln.

»Ich bin in die Gasse gekommen«, sagte sie zaghaft. »Es war noch fast dunkel. Ich war schon ganz nah dran, als ich ihn gesehen habe. Erst dachte ich, er wäre bloß betrunken und eingeschlafen. Passiert oft hier herum.«

»Natürlich!« Evan nickte. Er war sich der vielen anderen Augenpaare bewußt, die ihn anstarrten, und auch das grimmige Gesicht des Vorarbeiters, der zehn Meter von ihnen entfernt stand, war ihm nicht entgangen. »Was hat Sie darauf gebracht, daß der Mann tot war?«

»Blut!« sagte sie voller Verachtung, aber ihre Stimme klang heiser. »All dieses Blut. Ich hatte eine Laterne, und ich habe seine Augen gesehen, die mich angestarrt haben. Und da habe ich dann geschrien. Konnte einfach nicht dagegen an.«

»Natürlich. Da hätte jeder geschrien. Was ist als nächstes passiert?«

»Weiß nicht. Mein Herz hämmerte wie die Hufe der Gäule auf dem Pflaster, und mir war schlecht. Ich glaube, ich habe bloß dagestanden und geschrien.«

»Wer hat Sie gehört?«

»Was?«

»Wer hat Sie gehört?« wiederholte er laut. »Es muß doch jemand gekommen sein.«

Sie zögerte und wirkte nun wieder sehr ängstlich. Sie wagte es nicht, jemand anders in die Sache hineinzuziehen, das konnte er in ihren Augen lesen.

»Wer ist gekommen?« fragte er schärfer. »Wollen Sie, daß ich an jede Tür klopfe, die Leute heraushole und befrage? Wäre es Ihnen lieber, man würde Sie festnehmen, weil Sie die Polizei belogen haben? Sie würden angezeigt. Machten sich einen schlechten Namen.« Er deutete an, daß es die Leute auf den Gedanken bringen würde, sie sei ein Polizeispitzel, und das begriff sie auch.

»Jimmy Eiders«, sagt sie und sah ihn voller Abscheu an.

»Und seine Frau. Sie sind beide gekommen. Er wohnt ungefähr in der Mitte der Gasse, hinter der Holztür mit dem Schloß dran. Aber er weiß genausowenig, was passiert ist, wie ich. Und dann der alte Briggs. Er hat die Bullen geholt.«

»Vielen Dank.« Er wußte, daß es reine Zeitverschwendung war, aber er mußte es wenigstens versuchen. »Haben Sie einen der beiden Männer jemals gesehen, als sie noch lebten?«

»Nein.« Sie antwortete, ohne auch nur nachzudenken. Ihre Worte bestätigten, was er erwartet hatte. Er sah sich kurz um und stellte fest, daß der Vorarbeiter ein wenig näher gekommen war. Es war ein großer, schwarzhaariger Mann mit mürrischem Gesicht. Evan hoffte, man würde Daisy Mott nicht die Zeit, die er für seine Fragen gebraucht hatte, vom Lohn abziehen, aber diese Hoffnung war gewiß vergeblich. Er durfte nicht noch mehr von ihrer Zeit verschwenden.

»Vielen Dank. Auf Wiedersehen.«

Sie antwortete nichts, sondern kehrte schweigend zu ihrer Arbeit zurück.

Evan und Shotts kehrten in die Gasse zurück und sprachen mit Jimmy Eiders und dessen Frau. Aber auch die beiden hatten nichts zu bieten und bestätigten nur, was Daisy Mott ihnen bereits erzählt hatte. Eiders bestritt, jemals einen der beiden Männer zu deren Lebzeiten gesehen zu haben oder zu wissen, was sie vielleicht hier getan haben mochten. Das anzügliche Grinsen in seinem Gesicht ließ das Offensichtliche vermuten, aber er versagte es sich, seine Gedanken in Worte zu fassen. Bei Briggs war es dasselbe.

Sie verbrachten den ganzen Tag in der Gasse, die den Namen Water Lane trug, oder in deren unmittelbarer Nähe. Sie stiegen schmale, verfallene Treppen hinauf und wieder hinab, kamen in Zimmer, in denen manchmal eine ganze Familie lebte, und in andere, in denen bleichgesichtige junge Prostituierte ihrem Geschäft nachgingen, wenn es draußen zu kalt oder zu naß war. Sie stiegen in Keller hinab, in denen Frauen aller Altersklassen bei Kerzenlicht stickten, während zwei oder drei Jahre alte Kinder im Stroh spielten und kleine Lumpenfetzchen zu Püppchen banden. Ältere Kinder trennten gebrauchte Kleidung auf, um aus dem Stoff neue zu nähen.

Niemand gab zu, etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört zu haben. Niemand wußte etwas über zwei Fremde im Viertel. Hier herrschte schließlich ein ständiges Kommen und Gehen. In diesem Bezirk gab es Pfandhäuser, Hehler für gestohlene Waren, Dokumentenfälscher, Absteigen aller Art, Ginfabriken und wohlverborgene Räume, in denen sich ein polizeilich gesuchter Mann für eine Weile versteckt halten konnte. Die beiden Opfer hätten in jedem dieser Häuser zu tun haben können oder in keinem davon. Vielleicht hatten sie sich einfach damit amüsiert, sich einen Lebensstil anzusehen, der sich von ihrem eigenen unterschied. Sie konnten sogar irregeleitete Prediger gewesen sein, die gekommen waren, um Sünder vor sich selbst zu bewahren, und die man für ihre Anmaßung und ihre Einmischung bestraft hatte.

Wenn überhaupt irgend jemand etwas wußte, dann hatte der Betreffende vor den Eindringlingen oder ihresgleichen mehr Angst als vor der Polizei, zumindest sofern sie sich in Gestalt von Evan oder P. C. Shotts präsentierte.

Um vier Uhr, als es bereits wieder dunkel wurde und bitterkalt, sagte Shotts, er wolle noch die eine oder andere Erkundigung in der Wirtsstube einholen, wo er einige Bekannte hatte. Evan wollte inzwischen ins Krankenhaus fahren, um festzustellen, was Dr. Riley zu sagen hatte. Er hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet, denn er wollte nicht noch einmal an den jüngeren Mann denken müssen, denjenigen, der lebend an diesem schrecklichen Ort gelegen hatte. Bei der Erinnerung daran wurde Evan flau im Magen, und er fror. Er war zu müde, um gegen diese Gefühle ankämpfen zu können.

Im Krankenhaus von St. Thomas lenkte er seine Schritte direkt zur Leichenhalle. Er wollte sich den Toten noch einmal ansehen und soviel wie möglich in Erfahrung bringen, bevor er Riley bat, ihm alles zu erklären, was es sonst noch über diesen Fall zu wissen gab. Evan haßte Leichenhallen, andererseits kannte er niemanden, der diesbezüglich etwas anderes empfunden hätte. Irgendwie schienen seine Kleider anschließend immer nach Essig und Lauge zu riechen, und er hatte das Gefühl, als würde die Feuchtigkeit nie wieder aus ihnen weichen wollen.

»Ja, Sir«, sagte der Leichenwärter pflichtschuldig, nachdem Evan sich ausgewiesen hatte. »Doc Riley meinte, Sie würden irgendwann vorbeikommen, wahrscheinlich heute noch. Ich habe aber bloß eine Leiche für Sie. Der andere ist noch nicht tot. Der Doc sagt, der kommt vielleicht doch noch durch. Kann man nie wissen. Armer Teufel. Wie auch immer, Sie werden jetzt wohl den sehen wollen, den ich da habe.« Es war keine Frage. Er war lange genug hier, um die Antwort zu kennen. Junge Polizisten wie Evan kamen niemals aus einem anderen Grund.

»Vielen Dank«, erwiderte Evan, der eine jähe Woge der Erleichterung verspürte, weil der junge Mann noch lebte. Jetzt erst wurde ihm bewußt, wie sehr er diese Mitteilung erhofft hatte. Und doch bedeutete dies gleichzeitig, daß dem Jungen noch sehr viele Schmerzen bevorstanden und ein langer, mühsamer Kampf um seine Genesung. Evan dachte mit Schaudern an die Zukunft und an die Tatsache, daß er selbst eine gewisse Rolle darin spielen würde.

Er folgte dem Angestellten an in Reih und Glied aufgestellten Tischen vorbei, die mit Laken abgedeckt waren, unter denen sich zum Teil die Umrisse von Leichen erkennen ließen. Seine Schritte hallten durch die Stille des Raumes. Das Licht war grell und wurde von den kahlen Wänden reflektiert. Nirgendwo waren Zugeständnisse an die Lebenden zu entdecken. Sie waren Eindringlinge hier.

Der Angestellte blieb vor einem der Tische stehen und zog langsam das Laken herunter, um den Leichnam eines leicht untersetzten Mannes von durchschnittlicher Größe und in mittleren Jahren zu enthüllen. Riley hatte ihn kaum gesäubert, vielleicht damit Evan seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen konnte. Ohne die Bekleidung konnte man nun das ganze furchtbare Ausmaß seiner Verletzungen sehen. Der ganze Leib war mit Prellungen übersät, die an den Stellen, an denen er innerlich geblutet hatte, schwarz und von einem stumpfen Purpur waren. An manchen Stellen war die Haut aufgerissen. Mehrere der Rippen waren offensichtlich gebrochen.

»Armer Teufel«, wiederholte der Angestellte mit zusammengebissenen Zähnen. »Hat wie ein Wilder gekämpft, bevor sie ihn geschafft haben.«

Evan blickte auf die Hand herab, die direkt vor ihm lag. Die Knöchel waren aufgeplatzt, und mindestens zwei der Finger waren ausgerenkt. Bis auf einen einzigen waren alle Nägel abgerissen.

»Die andere Hand sieht genauso aus«, meinte der Angestellte. Evan beugte sich vor und nahm die Hand sachte auf. Der Angestellte hatte recht. Die rechte Hand war womöglich in noch schlimmerem Zustand als die linke.

»Wollen Sie auch seine Kleidung sehen?« fragte der Angestellte nach einigen Sekunden.

»Ja, bitte.« Vielleicht würde die Kleidung ihm irgendwie weiterhelfen, womöglich in ganz unerwarteter Weise. Vor allem wollte er den Namen des Mannes wissen. Er mußte Familie gehabt haben, vielleicht eine Ehefrau, die sich im Augenblick fragte, was ihm zugestoßen sein mochte. Ob irgend jemand in seiner Familie eine Ahnung hatte, wo er hingegangen war oder warum? Wahrscheinlich nicht. Evan würde die elende Pflicht zufallen, die Hinterbliebenen des Mannes nicht nur über dessen Tod zu informieren und über die furchtbare Art seines Sterbens, sondern auch darüber, wo er sich zu jener Zeit befunden hatte.

»Da sind die Sachen, Sir.« Der Angestellte drehte sich um und ging auf eine Bank am anderen Ende des Raumes zu.

»Haben wir alles für Sie aufbewahrt, aber ansonsten sind die Sachen noch genau in dem Zustand, in dem wir sie ihm ausgezogen haben. Gute Qualität, soviel steht fest. Aber das werden Sie selber sehen.« Er griff nach Unterwäsche und Socken, dann nach einem Hemd, das ursprünglich einmal weiß gewesen war, jetzt aber durch und durch mit Blut, Schlamm und Abwässern aus dem Rinnstein in der Gasse besudelt war. Der Geruch machte sich selbst hier bemerkbar. Jacke und Hose befanden sich in noch schlimmerem Zustand.

Evan legte die Kleidungsstücke vor sich auf die Bank. Dann begann er, sie langsam und gründlich zu durchsuchen. Er tastete Taschen, Falten, Säume, Manschetten ab. Der Anzug war aus Wolle, nicht die beste Qualität, aber eine, die er mit Freuden selbst getragen hätte. Es war ein warmer Stoff, ziemlich locker gewebt und von nichtssagendem Braun, genau die Art Kleidung, die ein Gentleman wohl für einen Ausflug in ein durchaus nicht vornehmes Viertel der Stadt gewählt hätte – vielleicht nicht gerade eines, das so gefährlich war wie St. Giles. Für seine normalen Geschäfte trug er zweifellos etwas Besseres. Das Leinen seines Hemdes legte die Vermutung nahe, daß sowohl sein Geschmack als auch sein Portemonnaie größeren Luxus zuließen.

All das sagte Evan, daß der Mann genau das war, wofür er ihn gehalten hatte, daß er aus einem anderen Bezirk kam und in einem der schlimmsten Elendsviertel Londons entweder sein Vergnügen gesucht hatte oder unehrlichen Geschäften nachgegangen war.

Der Anzug war an den Knien beschädigt worden, wahrscheinlich bei einem Sturz während des Kampfes. Ein Knie war aufgerissen, das Gewebe aufgescheuert; das andere war nur ausgeheult, und einige wenige Fasern waren gerissen. Auch am Gesäß entdeckte Evan eine stark zerschlissene Stelle, die noch feucht vom Rinnstein und stark verschmutzt war. Die Jacke sah noch übler aus. Beide Ellbogen waren aufgerissen, einer hatte sich beinahe ganz abgelöst. In der linken Seite war ein Riß, und eine der Taschen war mehr oder weniger zerfetzt. Allerdings förderte auch die gründlichste Suche, Zentimeter um Zentimeter, keinen Schaden zutage, der von einem Messer oder einer Kugel hätte herrühren können. Es gab jede Menge Blut, viel mehr als die Verletzungen des Toten es rechtfertigten. Es schien ohnehin von einem anderen zu stammen, da es auf der äußeren Seite der Kleidungsstücke dunkler und feuchter war und den Stoff anscheinend kaum durchdrungen hatte. Zumindest einer seiner Angreifer mußte ziemlich schwer verletzt sein.

»Wissen Sie, was da passiert ist?« fragte der Angestellte.

»Nein«, sagte Evan kläglich. »Bisher haben wir keine Ahnung.«

Der Angestellte brummte etwas Unverständliches und sagte dann: »Den hat man von St. Giles hergebracht, nicht wahr? Dann werden Sie es wohl nie rausfinden. Keiner von denen da macht den Mund auf, wenn’s um die eigenen Leute geht. Armer Teufel. Ich habe ein paar hier gehabt, die sind erdrosselt worden.

Der da muß sich böse mit jemand angelegt haben, daß man ihn so zugerichtet hat. Bloß um ihn auszurauben wäre das hier nicht nötig gewesen. Vielleicht ist er ein Spieler.«

»Vielleicht.« Auf der Innenseite der Jacke stand der Name des Schneiders. Evan notierte ihn genauso wie die Adresse. Vielleicht konnten sie den Toten auf diese Weise identifizieren.

»Wo ist Dr. Riley?«

»Oben auf der Station, denke ich. Falls er nicht wieder rausgerufen wurde. Ihr haltet den ganz schön in Trab, Ihr Jungen.«

»Nicht freiwillig, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Evan müde. »Mir war’s viel lieber, wir würden ihn nicht brauchen.«

Der Angestellte seufzte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er sagte nichts.

Evan ging die Treppe hinauf und durch die Korridore, fragte sich durch, bis er Riley fand, der eben ohne Jackett und mit aufgerollten Hemdsärmeln, die Arme mit Blut bespritzt, aus einem der Operationssäle kam.

»Ich habe gerade eine Kugel entfernt«, sagte er fröhlich.

»Ausgesprochen dämlicher Unfall. Wirklich wunderbar, dieses neue Narkosemittel. So was hat’s zu meiner Zeit nicht gegeben. Das Beste, was in der Medizin passiert ist, seit… ich weiß es nicht! Vielleicht einfach das Beste überhaupt – schlicht und ergreifend. Sie sind wahrscheinlich wegen Ihrer Leiche aus St. Giles gekommen?«

Riley schob die Hände in seine Taschen. Er sah nun müde aus. Ein Gewirr feiner Linien durchzog sein Gesicht, und er hatte etwas Blut auf der Stirn und auf der Wange, die er sich gerade rieb, ohne es selbst zu merken.

Evan nickte.

Ein Medizinstudent ging an ihnen vorbei; der junge Mann pfiff leise vor sich hin, bis er Riley erkannte, woraufhin er stehenblieb und sich straffte.

»Totgeschlagen«, sagte Riley und schürzte die Lippen.

»Keine Wunde, die von irgendeiner Waffe herrührt. Es sei denn, Sie betrachten Fäuste und Stiefel als Waffen. Kein Messer, keine Schußwaffe, kein Knüppel, soweit ich das beurteilen kann. Der Kopf hat nichts abbekommen außer einer Gehirnerschütterung, und die stammt von einem Sturz auf das Pflaster. Der Sturz hätte ihn jedoch nicht getötet, wahrscheinlich nicht mal bewußtlos gemacht. Er wäre vielleicht etwas benommen gewesen und ein wenig schwindlig. Gestorben ist er an inneren Blutungen. Gerissene Organe. Tut mir leid.«

»Hätte ein Mann allein ihn so zurichten können?«

Riley dachte ziemlich lange nach, bevor er antwortete. Er stand mitten im Korridor und bemerkte gar nicht, daß er anderen den Weg versperrte.

»Schwer zu sagen. Ich würde mich da nicht gern festlegen. Wenn ich diese Leiche für sich nehme und alle anderen Umstände außer Betracht lasse, würde ich auf mehr als einen Angreifer tippen. Wenn es nur ein einziger Mann gewesen ist, muß er wahnsinnig gewesen sein, um einem anderen Menschen etwas Derartiges anzutun. Er muß durchgedreht sein.«

»Und wenn Sie die Umstände doch in Betracht ziehen?« hakte Evan nach, während er zur Seite trat, damit eine mit einem Bündel Wäsche beladene Krankenschwester vorbeigehen konnte.

»Nun, der Junge lebt noch, und wenn er die heutige Nacht übersteht, wird er es vielleicht schaffen«, antwortete Riley. »Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Aber um es mit beiden Männern aufzunehmen und solchen Schaden anzurichten, würde ich sagen, waren zwei Angreifer vonnöten. Zwei Männer, die sowohl groß als auch durchaus vertraut mit Gewalttätigkeiten waren. Vielleicht sogar drei. Oder aber zwei Irre.«

»Könnten die beiden miteinander gekämpft haben?«

Riley sah ihn überrascht an. »Und einander dann mehr tot als lebendig auf der Straße liegengelassen haben? Nicht sehr wahrscheinlich.«

»Aber möglich?« Evan ließ nicht locker.

Riley schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß die Lösung dieses Rätsels so einfach ist, Sergeant. Der jüngere Mann ist größer. Der ältere war ein bißchen zu dick, aber sehr muskulös und ziemlich stark. Die Angreifer müssen schon ziemlich heftig zugeschlagen haben, wenn man bedenkt, daß der Mann um sein Leben gekämpft hat. Und es war keine Waffe im Spiel, mit der jemand sich einen Vorteil hätte verschaffen können.«

»Können Sie sagen, ob der Tote sich seine Verletzungen beim Angriff oder bei der Verteidigung zugezogen hat?«

»Soweit ich das beurteilen kann, überwiegend bei der Verteidigung, aber das kann ich lediglich aus der Lage dieser Verletzungen schließen: auf den Unterarmen, als hätte er die Arme gehoben, um seinen Kopf zu schützen. Begonnen hat er die Auseinandersetzung sicherlich mit heftigen Angriffen. Jedenfalls hat er einige Schläge ausgeteilt, wenn man sich seine Knöchel ansieht. Irgend jemand muß da ziemlich böse blaue Flecken davongetragen haben, ob diese nun an Stellen liegen, an denen man sie sieht, oder nicht.«

»Auf der Außenseite seiner Kleidung war Blut«, erklärte Evan. »Das Blut eines anderen.« Er beobachtete Riley genau.

Riley zuckte die Achseln. »Könnte von dem Jungen stammen, könnte von einem Unbekannten stammen. Ich habe keine Möglichkeit, das herauszufinden.«

»In welchem Zustand befindet er sich jetzt, der jüngere Mann? Was für Verletzungen hat er sich zugezogen?«

Riley war bekümmert. Sein Wissen schien ihn zu bedrücken, als handelte es sich um etwas, das er gern beiseite geschoben hätte.

»Es sieht sehr schlimm aus«, sagte er fast unhörbar. »Er ist immer noch bewußtlos, aber er lebt, soviel steht fest. Wenn er heute nacht durchhält, wird er sehr sorgfältige Pflege brauchen, viele Wochen, vielleicht Monate. Er hat schlimme innere Verletzungen, aber es läßt sich schwer sagen, welche genau. Ich kann nicht in einen Körper hineinsehen, ohne ihn aufzuschneiden. Soweit ich es abtasten konnte, sind die wesentlichen Organe böse gequetscht, aber nicht gerissen. Wenn es so wäre, wäre er mittlerweile tot. Er hat mehr Glück gehabt als der andere Mann, soweit es die Plazierung der Schläge betrifft. Seine beiden Hände sind gebrochen, aber das spielt im Vergleich zu den anderen Dingen kaum eine Rolle.«

»In seinen Kleidungsstücken war wohl nichts, was uns Aufschlüsse über seine Identität geben könnte?« fragte Evan ohne große Hoffnung.

»Doch«, sagte Riley hastig und mit einem Ausdruck des Staunens in den Augen. »Er hat offensichtlich eine Quittung für Socken bekommen, und darauf steht der Name ›R. Duff‹. Es ist sicher seine. Ich kann mir nicht vorstellen, warum man die Quittung für die Socken eines anderen Mannes mit sich herumtragen sollte! Und er hat denselben Schneider wie der Tote. Die Kopfform weist eine geringfügige körperliche Ähnlichkeit auf, die Art, wie das Haar wächst, und besonders die Ohren. Achten Sie auf die Ohren eines Menschen, Sergeant Evan? Die meisten Leute tun das nicht. Sie würden staunen, wie viele es nicht tun. Ohren sind sehr charakteristisch, geradezu unverwechselbar. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie bei Ihren Ermittlungen darauf stoßen, daß unsere beiden Männer miteinander verwandt sind.«

»Duff?« Evan konnte sein Glück kaum fassen. »R. Duff?«

»Genau. Keine Ahnung, wofür das ›R‹ steht, aber das kann er uns vielleicht bald selber sagen. Aber wie auch immer, Sie können es morgen früh auf jeden Fall bei dem Schneider versuchen. Ein Mann erkennt seine eigene Arbeit häufig wieder.«

»Ja – ja! Ich werde irgend etwas mitnehmen, um es ihm zu zeigen. Kann ich mir die Sachen des Jungen ansehen?«

»Die liegen drüben, auf der Station nebenan, an seinem Bett. Ich bringe Sie hin.« Riley wandte sich um und ging durch den breiten, kahlen Korridor voran in eine Station, in der sich Bett an Bett reihte. Am anderen Ende des Raumes verströmte ein Kanonenofen Wärme, und noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, eilte eine Krankenschwester mit einem Eimer voller frischer Kohlen an ihnen vorbei, um den Ofen neu zu füllen.

Evan fühlte sich heftig an Hester Latterly erinnert, die junge Frau, die er kurz nach seiner ersten Begegnung mit Monk kennengelernt hatte. Sie war auf die Krim gegangen und hatte dort mit Florence Nightingale Kranke und Verwundete versorgt. Nicht in seinen kühnsten Träumen konnte er sich vorstellen, wieviel Courage vonnöten sein mußte, um das zu tun, um sich dem Wüten der Krankheiten zu stellen, dem Blutbad des Schlachtfeldes, dem ständigen Schmerz und Tod. Er hatte keine Vorstellung, wieviel innere Stärke ein Mensch besitzen mußte, um immer weiter zu kämpfen, immer wieder den Sieg über das Leiden zu erzwingen, Hilfe anzubieten und denen, deren Qualen man nicht lindern und die man schon gar nicht retten kann, doch noch eine Art von Trost zu schenken.

Kein Wunder, daß immer noch ein solcher Zorn in ihr aufwallte, wann immer sie mit der Untauglichkeit der medizinischen Verwaltung konfrontiert wurde! Wie sie und Monk gestritten hatten! Allein der Gedanke daran entlockte Evan ein Lächeln. Monk betrachtete ihre scharfe Zunge gleichzeitig mit Abscheu und mit Bewunderung. Sie dagegen verachtete die Härte, die sie in ihm zu sehen glaubte, die Arroganz und Gleichgültigkeit anderen gegenüber. Doch als er sich der schlimmsten Krise seines Lebens gegenüber gesehen hatte, war sie diejenige gewesen, die zu ihm gestanden hatte, sie, die nicht zugelassen hatte, daß er aufgab, die für ihn gekämpft hatte, als es so aussah, als könne er nicht gewinnen und – was das schlimmste von allem war – als verdiente er es gar nicht, zu gewinnen.

Wie sie sich dagegen aufgelehnt hatte, Verbände aufzurollen, Fußböden zu wischen und Kohlen zu tragen, wo sie doch soviel mehr konnte und in den Zelten der Feldchirurgen auch getan hatte, wenn sämtliche Ärzte bis an ihre Grenzen beschäftigt waren. Sie hatte so vieles reformieren wollen, und dieser Eifer hatte ihr den Weg verstellt.

Die beiden Männer waren mittlerweile am Ende der Station angelangt, und Riley blieb an einem Bett stehen, auf dem ein junger Mann lag, reglos und mit bleichem Gesicht. Nur der Dunst seines Atems auf einem Glas hätte anzeigen können, ob er noch lebte. Dem Auge enthüllte sich nichts dergleichen.

Evan erkannte ihn sofort. Es waren die Züge, dieselbe Wölbung des Augenlids, das fast schwarze Haar, die relativ lange Nase, der empfindsame Mund des Jungen aus der Water Lane. Evan wünschte von ganzem Herzen, daß der junge Mann weiterleben würde, er spürte geradezu schmerzhaft die Anspannung seines eigenen Leibes, als könne er allein durch die Kraft seiner Gefühle seinen Wunsch Wirklichkeit werden lassen, während ihm gleichzeitig vor dem Schmerz des Erwachens graute, wenn der Fremde seinen geschundenen Körper spürte und seine Erinnerung zurückkehrte.

Wer war dieser Mann – R. Duff? War er mit dem älteren Mann verwandt? Und was war in dieser Gasse geschehen? Warum waren die beiden dort gewesen? Welche Gier hatte sie an einem Januarabend an einen solchen Ort geführt?

»Geben Sie mir die Hosen«, flüsterte Evan, bevor ihn abermals eine Woge des Grauens und des Abscheus überflutete.

»Ich gehe damit zum Schneider.«

»Nehmen Sie besser den Mantel«, entgegnete Riley. »Da ist das Etikett eingenäht, und der ist nicht so blutig.«

»Nicht so blutig? Der Mantel des anderen Mannes war durchtränkt von Blut!«

»Ich weiß.« Riley zog die dünnen Schultern hoch. »Bei dem hier sind es die Hosen. Vielleicht sind sie allesamt in einem Handgemenge gestürzt. Aber wenn Sie wollen, daß der Schneider zu irgendeiner Aussage in der Lage ist, nehmen Sie den Mantel. Überflüssig, dem armen Mann den Schock seines Lebens zu versetzen.«

Evan nahm den Mantel entgegen, nachdem er die anderen Kleidungsstücke genau untersucht hatte. Wie bei dem Toten waren sie an mehreren Stellen zerrissen und besudelt mit Dreck und Abwässern aus dem Rinnstein. Auf den Ärmeln und Schößen des Mantels waren Blutflecke zu sehen, während die Hose vollkommen durchweicht war.

Als Evan das Krankenhaus verließ, war er zutiefst betroffen und an Leib und Seele erschöpft. Außerdem fror er jetzt so sehr, daß er nicht mehr aufhören konnte zu zittern. Er nahm sich einen Hansom, um heim in sein Quartier zu fahren. Er wollte mit diesem schrecklichen Mantel nicht in einen Omnibus steigen, und er verspürte nicht den Wunsch, neben anderen Menschen zu sitzen, anständigen Menschen, die ihr Tagewerk vollendet hatten und nichts wußten von dem, was er gesehen und empfunden hatte, die nichts von dem jungen Mann wußten, der in St. Thomas lag und vielleicht nie wieder erwachen würde.

Um neun Uhr hatte er den Schneider gefunden. Er sprach persönlich mit Mr. Jiggs von Jiggs und Muldrew, einem rundlichen Mann, der seine ganze Kunstfertigkeit benötigte, um seinen üppigen Bauch und seine ziemlich kurz geratenen Beine zu kaschieren.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er mit einer gewissen Mißbilligung, als er das Paket unter Evans Arm sah. Gentlemen, die Kleider auf diese Art zusammenrollten, schätzte er gar nicht.

So behandelte man nicht das Ergebnis hochqualifizierter Handwerkskunst.

Evan hatte weder Zeit noch Lust, auf das Feingefühl anderer Rücksicht zu nehmen.

»Haben Sie einen Klienten mit Namen R. Duff, Mr. Jiggs?« fragte er rundheraus.

»Meine Klientenliste ist eine vertrauliche Angelegenheit, Sir.«

»Es handelt sich um einen Mordfall«, fuhr Evan den Mann an.

»Der Besitzer dieses Anzugs liegt auf Tod und Leben im St. Thomas. Ein anderer Mann, der ebenfalls einen Anzug mit Ihrem Etikett trug, befindet sich im Leichenschauhaus. Ich weiß nicht, wer sie sind, das hier ist das einzige, was ich habe.« Er ignorierte Jiggs’ kreidebleiches Gesicht und die weit aufgerissenen Augen. »Wenn Sie mir Auskunft geben können, dann verlange ich, daß Sie das tun.« Er warf den Mantel auf den Schneidertisch.

Jiggs prallte zurück, als handele es sich um ein lebendiges und gefährliches Wesen.

»Wenn Sie bitte einen Blick darauf werfen wollen«, befahl Evan.

»O mein Gott!« Mr. Jiggs preßte sich eine schweißnasse Hand auf die Stirn. »Was ist denn bloß passiert?«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Evan eine Spur freundlicher. »Würden Sie sich bitte diesen Mantel ansehen und mir sagen, ob Sie wissen, für wen Sie ihn angefertigt haben?«

»Ja. Ja, natürlich. Ich kenne meine Gentlemen, Sir.« Mit spitzen Fingern schlug Mr. Jiggs den Mantel gerade so weit auseinander, daß er sein eigenes Etikett sehen konnte. Er warf einen kurzen Blick darauf, strich mit dem Zeigefinger über den Stoff und sah dann zu Evan auf. »Diesen Anzug habe ich für den jungen Mr. Rhys Duff gemacht. Aus der Ebury Street, Sir.« Er sah extrem blaß aus. »Es tut mir wirklich sehr leid, daß ihn ein Verhängnis ereilt zu haben scheint. Es bekümmert mich zutiefst, Sir.«

Evan biß sich auf die Unterlippe. »Natürlich. Haben Sie auch einen Anzug aus brauner Wolle für einen anderen Gentleman angefertigt, der möglicherweise mit ihm verwandt ist? Dieser Mann müßte Mitte Fünfzig gewesen sein, von durchschnittlicher Größe und recht kräftigem Körperbau. Er hatte graues Haar, deutlich heller als das von Rhys Duff, würde ich sagen.«

»Ja, Sir.« Jiggs holte bebend Atem. »Ich habe mehrere Anzüge für Mr. Leighton Duff gemacht, das ist Master Rhys’ Vater. Ich fürchte, er könnte derjenige sein, den Sie beschreiben. Wurde er ebenfalls verletzt?«

»Es tut mir leid, das zu sagen, aber er ist tot, Mr. Jiggs. Könnten Sie mir die Hausnummer der Duffs in der Ebury Street nennen? Ich habe die Pflicht, seine Familie zu informieren.«

»O aber natürlich. Wie furchtbar! Furchtbar! Ich wünschte, ich könnte in irgendeiner Weise behilflich sein.« Jiggs trat einen Schritt zurück, als er dies sagte, aber sein Gesicht spiegelte so ehrliche Bestürzung wider, daß Evan geneigt war, ihm zumindest teilweise zu glauben.

»Die Hausnummer in der Ebury Street?« wiederholte er.

»Ja… ja. Ich glaube, es ist Nummer vierunddreißig, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, aber ich werde in meine Bücher schauen. Ja, das mache ich sofort.«

Evan ging dann jedoch nicht gleich in die Ebury Street. Statt dessen kehrte er zunächst einmal ins St. Thomas zurück. Er hatte das Gefühl, daß es der Familie gegenüber gütiger wäre, wenn er sagen konnte, daß zumindest Rhys Duff noch lebte und vielleicht bei Bewußtsein war. Und wenn Rhys sprechen konnte, konnte er vielleicht erzählen, was vorgefallen war, und Evan würde weniger Fragen stellen müssen.

Außerdem war ein Teil von ihm einfach noch nicht bereit, irgendeiner Frau zu sagen, daß ihr Mann tot war, daß ihr Sohn vielleicht überleben würde, vielleicht aber auch nicht, und daß im Augenblick noch niemand sagen konnte, welche Ausmaße seine Verletzungen hatten, welche Schmerzen oder Behinderungen sie ihm bescheren mochten.

Er fand Riley sofort. Der Arzt sah so aus, als sei er die ganze Nacht im Dienst gewesen. Auf jeden Fall schien er dieselbe Kleidung zu tragen wie am Vortag, mit genau denselben Knittern und Blutflecken.

»Er lebt noch«, sagte er, sobald er Evan sah und noch bevor Evan fragen konnte. »Vor etwa einer Stunde hat er sich bewegt. Lassen Sie uns rübergehen und sehen, ob er das Bewußtsein wiedererlangt hat.« Und schon machte er sich mit langen Schritten auf den Weg, als brenne auch er darauf, die Antwort darauf zu erfahren.

Auf der Station herrschte große Betriebsamkeit. Zwei junge Ärzte wechselten Verbände und untersuchten Wunden. Eine Krankenschwester, die nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre zu sein schien, trug Eimer mit Unrat, und ihre Schultern zogen sich vor Anstrengung hinab, während sie sich nach Kräften bemühte, die Eimer nicht über den Boden schleifen zu lassen. Eine ältere Frau kämpfte mit einem Eimer voller Kohlen. Eine weitere Krankenschwester sammelte schmutzige Wäsche ein und eilte mit abgewandtem Gesicht an ihnen vorbei. Riley schien kaum etwas zu bemerken, seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Patienten.

Evan folgte dem Arzt ans Ende der Station, wo er mit einer Woge der Erleichterung, an deren Stelle augenblicklich große Besorgnis trat, sah, daß Rhys Duff reglos auf dem Rücken lag. Aber seine Augen waren offen – große, dunkle Augen, die zur Decke hinaufstarrten und nur Grauen zu sehen schienen, Riley blieb vor dem Bett stehen und blickte mit einiger Sorge auf den jungen Mann herab.

»Guten Morgen, Mr. Duff«, sagte er sanft. »Sie befinden sich im St. Thomas Hospital. Mein Name ist Riley. Wie fühlen Sie sich?« Rhys Duff rollte den Kopf eine Spur zur Seite, bis er den Blick auf Riley heften konnte.

»Wie fühlen Sie sich, Mr. Duff?« wiederholte Riley.

Rhys öffnete den Mund, seine Lippen bewegten sich, aber es kam nicht das leiseste Geräusch aus seinem Mund.

»Tut Ihnen der Hals weh?« fragte Riley stirnrunzelnd. Dies war offensichtlich eine Situation, mit der er nicht gerechnet hatte.

Rhys starrte ihn an.

»Tut Ihnen der Hals weh?« fragte Riley noch einmal. »Nicken Sie, wenn es so ist.«

Ganz langsam schüttelte Rhys den Kopf. Er wirkte leicht überrascht.

Riley berührte Rhys schmales Handgelenk über den Verbänden seiner gebrochenen Finger. Die andere, ähnlich geschiente und verbundene Hand lag auf der Decke.

»Können Sie sprechen, Mr. Duff?« fragte Riley sehr leise. Rhys öffnete abermals den Mund, und wie zuvor kam auch diesmal kein Laut über seine Lippen.

Riley wartete.

Rhys Augen waren erfüllt von schrecklichen Erinnerungen, Angst und Schmerz hielten ihn in ihrem Bann. Sekundenlang bewegte sein Kopf sich von einer Seite zur anderen, um die Frage zu verneinen. Er konnte nicht sprechen.

Riley wandte sich an Evan. »Es tut mir leid, zur Zeit werden Sie nichts von ihm erfahren. Morgen wird es ihm vielleicht gut genug gehen, um mit ›ja‹ und ›nein‹ zu antworten, vielleicht aber auch nicht. Im Augenblick steht er noch so sehr unter Schock, daß er sich überhaupt nicht mit Ihnen beschäftigen kann. Fest steht, daß er nicht mit Ihnen reden oder irgend jemanden beschreiben kann. Und es wird Wochen dauern, bevor er eine Feder halten kann – wenn seine Hände überhaupt je wieder ausreichend verheilen.«

Evan zögerte. Er mußte unbedingt wissen, was geschehen war, andererseits zerriß ihm das Mitleid mit diesem unerträglich verletzten Jungen schier das Herz. Er wünschte sich den Glauben seines Vaters, um besser verstehen zu können, warum solche Dinge geschehen durften. Warum gab es nicht irgendeine Gerechtigkeit, die so etwas verhinderte? Evan verfügte nicht über die blinde Gläubigkeit, mit deren Hilfe er über seinen Zorn oder sein Mitleid hätte hinwegkommen können.

Und er verfügte auch nicht über Hesters Fähigkeit, die praktische Hilfe zu leisten, die das qualvolle Gefühl der Hilflosigkeit gelindert hätte, das an ihm nagte.

Vielleicht war das Beste, was er erstreben konnte, Monks absolute Hingabe bei der Verfolgung der Wahrheit.

»Wissen Sie, wer Ihnen das angetan hat, Mr. Duff?« fragte er, ohne auf Riley zu achten.

Rhys schloß die Augen und schüttelte abermals den Kopf. Wenn er sich überhaupt an irgend etwas erinnern konnte, zog er es vor, diese Erinnerungen auszublenden, da sie zu monströs waren, um erträglich zu sein.

»Ich denke, wir sollten jetzt gehen, Sergeant«, sagte Riley mit leicht gereiztem Unterton. »Er kann Ihnen nichts sagen.«

Evan wußte, daß der Arzt recht hatte, und wandte sich mit einem letzten Blick auf das aschfahle Gesicht des jungen Mannes zum Gehen, um sich der einzigen Pflicht zu stellen, die er noch mehr fürchtete als dies.

Die Ebury Street lag still und elegant in der kalten Morgenluft. Die Gehsteige waren mit einer dünnen Eisschicht überzogen, und die Hausmädchen zeigten keine Neigung zu trödeln, um zu klatschen. Die zwei oder drei Personen, die Evan sah, verloren keine Zeit, schüttelten Staubtücher oder Mops in ihren Fenstern aus und zogen sich so schnell als möglich wieder ins Zimmer zurück. Ein Botenjunge sprang eine Treppe hinauf und drückte mit vor Kälte unbeholfenen Fingern auf einen Klingelknopf.

Evan fand das Haus Nr. vierunddreißig und ging direkt zur Vordertür. Neuigkeiten, wie er sie zu überbringen hatte, sollten nicht zuerst den Weg durch die Küche nehmen.

Auf sein Läuten erschien ein Hausmädchen in einer hübschen Uniform. Das gestärkte Leinen und die Spitze ihres Gewandes ließen unverzüglich auf einen Haushalt schließen, der finanziell noch besser gestellt war, als die Kleider des getöteten Mannes hätten vermuten lassen.

»Ja, Sir?«

»Guten Morgen. Ich bin Polizeisergeant Evan. Wohnt hier ein Mr. Leighton Duff?«

»Ja, Sir. Aber er ist im Augenblick nicht zu Hause.«

In ihrer Antwort schwang eine gewisse Besorgnis mit. Dies war eine Information, die sie normalerweise keinem Besucher preisgegeben hätte. Sie sah Evan ins Gesicht und las vielleicht die Müdigkeit und den Kummer darin. »Ist alles in Ordnung, Sir?«

»Nein, ich fürchte, das ist es nicht. Gibt es eine Mrs. Duff?« Das Mädchen preßte sich hastig eine Hand auf den Mund, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck, aber sie schrie nicht auf.

»Sie sollten besser ihre Kammerzofe vorwarnen und vielleicht auch den Butler. Ich fürchte, ich bringe sehr schlimme Neuigkeiten.«

Schweigend öffnete sie die Tür weiter und ließ Evan ein.

Aus dem hinteren Teil des Korridors kam ein stirnrunzelnder Butler mit dünnem, ergrauendem Haar.

»Wer ist dieser Gentleman, Janet?« Er wandte sich an Evan.

»Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich fürchte, Mr. Duff hält sich gegenwärtig nicht zu Hause auf, und Mrs. Duff empfängt keine Besucher.« Er war weniger empfänglich für Evans Gesichtsausdruck als das Mädchen.

»Ich komme von der Polizei«, erwiderte Evan. »Ich muß Mrs. Duff überaus schlimme Neuigkeiten überbringen. Es tut mir sehr leid. Vielleicht sollten Sie bei dem Gespräch zugegen sein, für den Fall, daß Mrs. Duff irgendwelche Hilfe benötigt. Möglicherweise sollten Sie auch durch einen Boten nach dem Arzt der Familie schicken.«

»Was… was ist passiert?« Jetzt schien der Butler durch und durch alarmiert zu sein.

»Ich fürchte, Mr. Leighton Duff und Mr. Rhys Duff sind Opfer einer Gewalttat geworden. Mr. Rhys liegt im St. Thomas Hospital, und sein Zustand ist sehr ernst.«

Der Butler schluckte. »Und… und Mr.… Mr. Leighton Duff?«

»Mr. Leighton Duff ist tot.«

»Ach herrjeh… ich…« Mitten in der großartigen Eingangshalle mit der elegant geschwungenen Treppe, den Aspidistren in Steinvasen und dem Schirmständer aus Messing mit den silberbeschlagenen Gehstöcken taumelte der Butler.

»Sie sollten sich besser einen Augenblick setzen, Mr. Wharmby«, bemerkte Janet mitleidig.

Wharmby richtete sich auf, aber sein Gesicht war sehr bleich.

»Gewiß nicht! Was denn noch alles? Es ist meine Pflicht, mich in jeder nur denkbaren Weise um die arme Mrs. Duff zu kümmern, genauso wie es Ihre Pflicht ist. Sagen Sie Alfred Bescheid, er soll Dr. Wade holen. Ich werde Madam informieren, daß man sie zu sprechen wünscht. Sie könnten dann mit einer Karaffe Branntwein zurückkommen. Nur für den Fall, daß ein Stärkungsmittel benötigt werden sollte.«

Aber dieser Fall trat nicht ein. Sylvestra Duff saß reglos in einem ausladenden Sessel im Empfangssalon, und ihr Gesicht war völlig blutleer unter dunklem Haar. Sie war nicht direkt schön zu nennen, ihr Gesicht war zu lang, zu adlerhaft, ihre Nasenflügel jedoch waren anmutig geformt, ihre Augen beinahe schwarz. Sie besaß eine würdevolle Ausstrahlung, die deutlicher wurde, je länger man sich in ihrer Gesellschaft befand. Ihre Stimme war leise und sehr melodisch. Unter anderen Umständen wäre sie reizvoll erschienen. Jetzt hatten Entsetzen und Kummer Sylvestra zu sehr aufgewühlt, als daß sie mehr als abgehackte Halbsätze hätte über die Lippen bringen können.

»Wie…«, setzte sie an. »Wo? Wo, sagten Sie, ist es passiert?«

»In einer der Seitenstraßen eines Viertels namens St. Giles«, antwortete Evan sachte, indem er die Wahrheit ein wenig abmilderte. Er wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, ihr die ganzen Umstände des Geschehens vorzuenthalten.

»St. Giles?« Der Name schien ihr kaum etwas zu sagen. Evan betrachtete ihr Gesicht, die glatte Haut, die hohen Wangenknochen und die gewölbte Stirn. Er glaubte, eine leise Anspannung wahrzunehmen, aber möglicherweise war es nicht mehr als eine Veränderung der Lichtverhältnisse, als sie sich zu ihm umwandte.

»Es ist einige hundert Meter von der Regent Street entfernt, Richtung Aldgate.«

»Aldgate?« wiederholte sie stirnrunzelnd.

»Was hat er denn gesagt, wo er hingehen wollte, Mrs. Duff?« fragte er.

»Er hat gar nichts gesagt.«

»Vielleicht hätten Sie die Freundlichkeit, mir alles zu erzählen, was Ihnen vom gestrigen Tag im Gedächtnis geblieben ist.«

Sie schüttelte ganz langsam den Kopf. »Nein… nein, das kann warten. Zuerst muß ich zu meinem Sohn. Ich muß bei ihm sein. Sie sagten, er sei sehr schwer verletzt?«

»Ich fürchte, ja. Aber er ist in den besten nur denkbaren Händen.« Evan beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Im Augenblick können Sie nichts für ihn tun«, sagte er eindringlich.

»Es ist das Beste für ihn, wenn er sich ausruht. Die meiste Zeit ist er nicht voll bei Bewußtsein. Zweifellos wird der Arzt ihm Kräuter und Beruhigungsmittel geben, um den Schmerz zu lindern und ihm zu helfen, wieder gesund zu werden.«

»Versuchen Sie, meine Gefühle zu schonen, Sergeant? Ich versichere Ihnen, das ist nicht nötig. Ich muß da sein, wo ich am dringendsten gebraucht werde, das ist das einzige, was mir auch nur ein wenig Trost geben kann.« Sylvestra sah ihn sehr direkt an. Sie hatte erstaunliche Augen; ihre dunkle Farbe verbarg beinahe jegliche Gefühle und machte sie zu einer merkwürdig undurchschaubaren Frau. Evan stellte sich vor, daß die großen spanischen Aristokraten eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr gehabt haben mußten: stolze, verschwiegene Menschen, die ihre eigene Verletzlichkeit verbargen.

»Nein, Mrs. Duff«, widersprach er ihr. »Ich möchte versuchen, soviel als möglich von Ihnen über die gestrigen Ereignisse zu erfahren, solange sie Ihnen noch frisch im Gedächtnis sind, bevor Sie sich zur Gänze Ihrem Sohn widmen. Im Augenblick ist es Dr. Rileys Hilfe, die er braucht. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Sie sind sehr offen, Sergeant.«

Evan wußte nicht, ob dies eine Kritik war oder lediglich eine Feststellung. Ihre Stimme war ohne jeden Ausdruck. Die Realität dessen, was er ihr mitgeteilt hatte, hatte sie in einen so tiefen Schock gestürzt, daß sie noch nicht wieder klar denken konnte. Sie saß ganz aufrecht da, den Rücken durchgedrückt, die Schultern steif, die Hände völlig reglos auf dem Schoß. Wenn er ihre Hände berührte, so ging es ihm durch den Kopf, würde er wahrscheinlich feststellen, daß sie sich völlig verkrampft hatten und kaum mehr voneinander lösen ließen.

»Es tut mir leid. Es scheint nicht der rechte Zeitpunkt für Höflichkeiten zu sein. Dazu ist die Sache viel zu wichtig. Haben Ihr Mann und Ihr Sohn das Haus gemeinsam verlassen?«

»Nein. Nein, Rhys ging als erster. Ich habe ihn nicht weggehen sehen.«

»Und Ihr Mann?«

»Ja, den habe ich gesehen, als er das Haus verließ. Natürlich.«

»Hat er gesagt, wo er hinwollte?«

»Nein. Nein, er ging ziemlich häufig abends aus. In seinen Club. Das ist durchaus üblich unter Gentlemen. Das Geschäft hängt, ebenso wie das Vergnügen, von gesellschaftlichen Kontakten ab. Er hat nichts gesagt… nichts Besonderes.«

Even war sich nicht sicher, warum, aber er glaubte ihr nicht ganz. Wußte sie womöglicherweise, daß ihr Mann gewisse zweifelhafte Orte aufsuchte, vielleicht sogar, daß er zu Prostituierten ging? Solches Verhalten wurde von vielen Menschen stillschweigend akzeptiert, obwohl sie zutiefst schockiert gewesen wären, wenn irgend jemand so vulgär und roh gewesen wäre, davon zu sprechen. Jedermann war sich der körperlichen Funktionen bewußt, doch niemand brachte die Rede darauf; das war sowohl unschicklich wie auch überflüssig.

»Wie war er gekleidet, Ma’am?«

Ihre gewölbten Augenbrauen stiegen in die Höhe. »Gekleidet? Doch wahrscheinlich so, wie Sie ihn gefunden haben, Sergeant. Wie meinen Sie das?«

»Hatte er eine Uhr bei sich, Mrs. Duff?«

»Eine Uhr? Ja. Oh, ich verstehe. Er wurde beraubt? Ja, er hatte eine sehr schöne goldene Uhr. Sie wurde nicht bei ihm gefunden?«

»Nein. Hatte er die Gewohnheit, viel Geld bei sich zu tragen?«

»Das weiß ich nicht. Ich kann Bridlaw fragen, seinen Kammerdiener. Er könnte Ihnen wahrscheinlich nähere Auskunft geben. Ist das wichtig?«

»Möglicherweise.« Evan war verwirrt. »Wissen Sie, ob er seine goldene Uhr bei sich hatte, als er gestern das Haus verließ?« Es schien merkwürdig und einigermaßen verrückt, einen so augenfällig teuren Gegenstand wie eine goldene Uhr bei sich zu tragen, etwas so weithin Sichtbares, wenn man nach St. Giles ging, aus welchem Grund auch immer. Man forderte auf diese Weise einen Diebstahl geradezu heraus. Hatte er sich verirrt? Wurde er gegen seinen Willen dorthin gebracht? »Hat er davon gesprochen, daß er sich mit irgend jemandem treffen wolle?«

»Nein.« Ihre Antwort klang sehr bestimmt.

»Und die Uhr?« hakte er nach.

»Ja. Ich glaube, er hatte sie bei sich.« Sie sah ihn durchdringend an. »Er hatte sie fast immer bei sich. Er mochte sie sehr. Ich glaube, es wäre mir aufgefallen, wenn er ohne seine Uhr ausgegangen wäre. Jetzt erinnere ich mich auch wieder, daß er einen braunen Anzug trug. Keineswegs seinen besten, im Grunde sogar eher einen seiner bescheideneren Anzüge. Er hat ihn eigens für private Zwecke anfertigen lassen, fürs Wochenende und so weiter.«

»Und doch war es ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, an dem er mit diesem Anzug ausging«, rief Evan ihr ins Gedächtnis.

»Dann muß er einen ganz privaten Abend geplant haben«, erwiderte sie schroff. »Warum stellen Sie diese Fragen, Sergeant? Welche Rolle spielt das jetzt noch? Er wurde doch nicht wegen seiner Kleidung ermordet!«

»Ich habe versucht, auf diese Weise herauszufinden, wohin er zu gehen beabsichtigte, Mrs. Duff. St. Giles ist kein Viertel, in dem wir einen Gentleman von Mr. Duffs finanzieller und gesellschaftlicher Position zu finden erwarten würden. Wenn ich wüßte, warum er dort war oder mit wem, wäre ich der Antwort auf die Frage, was dort vorgefallen sein mag, ein beträchtliches Stück nähergekommen.«

»Ich verstehe. Es war wohl sehr töricht von mir, daß ich das nicht gleich begriffen habe.« Sie wandte den Blick ab. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war behaglich und sehr harmonisch eingerichtet. Der einzige Laut kam vom Knistern der Flammen im Kamin und dem leisen, rhythmischen Ticken der Uhr auf dem Sims. Alles hier war anmutig und heiter und unterschied sich in jeder nur denkbaren Weise von der Gasse, in der der Besitzer dieses Hauses ums Leben gekommen war. St. Giles und das Leben dort entzogen sich höchstwahrscheinlich den Kenntnissen, ja sogar der Phantasie seiner Witwe.

»Ihr Mann ist kurz nach Ihrem Sohn aufgebrochen, Mrs. Duff?« Evan beugte sich beim Sprechen ein klein wenig vor, als wolle er ihre Aufmerksamkeit erringen.

Langsam drehte sie sich zu ihm um. »Ich nehme an, Sie wollen noch wissen, wie mein Sohn bekleidet war?«

»Ja, bitte.«

»Ich erinnere mich nicht. Es war etwas ganz Gewöhnliches, grau oder marineblau, denke ich. Nein… ein schwarzer Mantel und graue Hosen.«

Das waren die Kleidungsstücke, in denen man ihn gefunden hatte. Evan sagte nichts.

»Er meinte, er wolle ausgehen, um sich zu amüsieren«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich leiser und gepreßter. »Er war… wütend.«

»Auf wen?« Evan versuchte, sich die Szene vorzustellen. Rhys Duff war wahrscheinlich nicht älter als achtzehn oder neunzehn, noch immer unreif und rebellisch.

Sie hob kaum merklich die Schultern. Es war eine Geste des Leugnens, als könne es keine Antwort auf diese Frage geben.

»Ist es zu einem Streit gekommen, Ma’am, zu einer Meinungsverschiedenheit?«

Sie schwieg so lange, daß er bereits fürchtete, sie werde gar nichts erwidern. Natürlich war es zutiefst schmerzlich für sie. Die Tatsache, daß sie den Streit nicht augenblicklich leugnete, war Antwort genug.

»Es ging um eine Nichtigkeit«, sagte sie endlich. »Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Mein Mann hegte gewisse Zweifel an der Gesellschaft, mit der Rhys Umgang pflegte. Oh, niemand, der ihm etwas antun würde, Sergeant. Ich spreche von weiblicher Gesellschaft. Mein Mann wünschte, daß Rhys Bekanntschaft mit einigen achtbaren jungen Damen machte. Er war in der Position, seinem Sohn eine Apanage auszusetzen, falls dieser sich zu einer Heirat entschloß. Eine glückliche Situation, in der sich nicht viele junge Männer befinden.«

»Nein, wahrhaftig nicht«, pflichtete Evan ihr von Herzen bei.

»Vielleicht war er… zu jung. Möglicherweise wäre er bereitwillig auf diesen Vorschlag eingegangen… wenn es nicht der Wunsch seines Vaters gewesen wäre. Junge Menschen sind manchmal so… so… halsstarrig. Auch wenn es gegen ihre eigenen Interessen verstößt.« Sylvestra schien des Kummers, der in ihr aufwallte, kaum Herr zu werden. Evan hätte am liebsten überhaupt keine Fragen mehr gestellt, aber er wußte, daß dies der günstigste Zeitpunkt war, um die unbeschönigte Wahrheit zu erfahren. Morgen war Sylvestra vielleicht vorsichtiger, wachsamer, nichts preiszugeben, was Schaden oder unbequeme Enthüllungen nach sich ziehen mochte.

»Er hat nicht gesagt, wo er vielleicht hingehen wollte?« begann er von neuem. »Gab es irgendwelche Lokale, die er häufiger aufsuchte?«

»Er ist… im Zorn… gegangen«, erwiderte sie. Sie schien sich wieder gefaßt zu haben. »Ich glaube, sein Vater hatte eine Ahnung, welche Orte er aufsuchte. Vielleicht wissen Männer im allgemeinen darüber besser Bescheid? Es gibt… Häuser. Aber es war nur ein Eindruck. Ich kann Ihnen nicht helfen, Sergeant.«

»Aber beide Männer waren aufgebracht, als sie das Haus verließen?«

»Ja.«

»Wieviel Zeit lag zwischen dem Aufbruch von Vater und Sohn?«

»Ich bin mir nicht sicher, weil Rhys das Zimmer verließ, und ungefähr eine halbe Stunde verstrich, bis uns klarwurde, daß er auch das Haus verlassen hatte. Daraufhin ist mein Mann ebenfalls sofort aufgebrochen.«

»Verstehe.«

»Man hat sie zusammen gefunden?« Wieder schwankte ihre Stimme, und es kostete sie sichtbar Anstrengung, nicht die Fassung zu verlieren.

»Ja. Es sieht so aus, als hätte Ihr Mann Ihren Sohn vielleicht eingeholt, und einige Zeit später wurden sie dann gemeinsam überfallen.«

»Vielleicht hatten sie sich verirrt?« fragte sie ängstlich.

»Durchaus möglich«, pflichtete er ihr bei und hoffte, daß es der Wahrheit entsprach. Von allen Erklärungen war dies die freundlichste, diejenige, die Sylvestra am leichtesten würde ertragen können. »Es ist gewiß nicht schwer, sich in einem solchen Labyrinth von Gassen und Straßen zu verirren. Nur ein paar Meter in die falsche Richtung…« Den Rest ließ er ungesagt. Er wünschte sich beinahe ebensosehr wie sie, an diese Erklärung glauben zu können, denn er wußte soviel mehr über die Alternativen.

Es klopfte an der Tür, was ein ungewöhnliches Verhalten für einen Dienstboten war. Normalerweise trat ein Butler einfach ein und wartete dann einen passenden Augenblick ab, entweder um zu servieren, was verlangt worden war, oder um eine Nachricht zu überbringen.

»Herein!« sagte Sylvestra mit einer Spur von Überraschung in der Stimme. Der Mann, der eintrat, war hager, dunkelhaarig und von gutem Aussehen. Er hatte tiefliegende Augen, und seine Nase war vielleicht ein wenig zu klein geraten. Jetzt spiegelte seine Miene echte Sorge und Bekümmerung wider. Beinahe ohne Evan eines Blickes zu würdigen, ging er direkt auf Sylvestra zu, und sein ganzes Gehabe verriet berufliche wie auch persönliche Anteilnahme. Wahrscheinlich war dies der Arzt, nach dem Wharmby geschickt hatte.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie tief mich diese Nachricht getroffen hat, meine Liebe. Natürlich brauchen Sie nur zu sagen, was ich für Sie tun kann. Ich werde bei Ihnen bleiben, solange Sie es wünschen. Gewiß kann ich Ihnen auch etwas verschreiben, damit Sie schlafen können, und um Sie während dieser ersten schrecklichen Tage ein wenig zu beruhigen und zu kräftigen. Eglantyne läßt ausrichten, daß wir, falls Sie von hier fortgehen und für eine Weile bei uns bleiben möchten, dafür sorgen werden, daß Sie all den Frieden und die Ungestörtheit vorfinden, nach denen es Sie verlangt. Unser Haus ist Ihr Haus.«

»Vielen Dank… Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich…« Sie schauderte kaum merklich. »Ich weiß nicht einmal, was ich im Augenblick will, was getan werden muß.« Sie erhob sich, taumelte kurz und griff nach seinem Arm, den er ihr unverzüglich anbot. »Zuerst muß ich ins St. Thomas Hospital fahren und nach Rhys sehen.«

»Halten Sie das für klug?« gab der Arzt zu bedenken. »Sie befinden sich in einem Zustand äußersten Schocks, meine Liebe. Erlauben Sie mir, an Ihrer Stelle hinzufahren. Ich kann zumindest dafür sorgen, daß ihm die allerbeste ärztliche Hilfe und Fürsorge zuteil wird. Ich werde dafür sorgen, daß er nach Hause kommt, sobald dies aus medizinischer Hinsicht ratsam ist. In der Zwischenzeit werde ich mich selbst um ihn kümmern, das verspreche ich Ihnen.« Sie zögerte, hin und hergerissen zwischen Liebe und Vernunft.

»Lassen Sie mich ihn zumindest besuchen!« bat sie. »Nehmen Sie mich mit. Ich verspreche, ich werde Ihnen nicht zur Last fallen. Ich bin ganz gefaßt!«

Er zögerte nur eine Sekunde lang. »Natürlich. Trinken Sie einen Schluck Branntwein, nur damit Sie sich etwas stärken, dann werde ich Sie begleiten.« Er warf einen Blick auf Evan.

»Ich bin mir sicher, daß Sie hier fertig sind, Sergeant. Alles, was Sie sonst noch wissen müssen, kann auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden.«

Das war eine Entlassung, und Evan nahm sie mit einer Art Erleichterung an. Im Augenblick gab es hier tatsächlich kaum noch etwas für ihn zu erfahren. Vielleicht würde er später mit den Kammerdienern und anderen Bediensteten sprechen. Der Kutscher wußte möglicherweise, wohin sein Herr für gewöhnlich gefahren war. In der Zwischenzeit gab es einige Leute in St. Giles, Spitzel, Männer und Frauen, auf die man Druck ausüben konnte, denen man wohlerwogene Fragen stellen und von denen man vielleicht etwas erfahren konnte.