9

Evan wußte, daß Monk nach St. Giles hinübergegangen war.

»Was will er da drüben?« fragte Shotts argwöhnisch, als sie zum Revier zurückkehrten.

»Er will wissen, wer die Frauen in Seven Dials vergewaltigt hat«, erwiderte Evan. »Das ist ein Problem, bei dem wir nicht helfen können.«

Shotts stieß ein verächtliches Schnauben aus, in dem ein Unterton von etwas anderem lag, Furcht vielleicht. »Wenn er die Bastarde kriegt, wette ich, die werden sich wünschen, sie wären nie geboren. Ich möchte Monk nicht auf meinen Fersen haben, nicht mal dann, wenn ich nichts Unrechtes getan hätte!«

Evan sah ihn neugierig an. »Wenn Sie nichts Unrechtes getan hätten, wäre er Ihnen dann auf den Fersen?«

Shotts erwiderte seinen Blick, zögerte einen Moment lang, als wolle er seinem Vorgesetzten etwas anvertrauen, änderte dann aber seine Meinung.

»Natürlich nicht«, murmelte er.

Bei seiner Rückkehr auf das Polizeirevier wartete eine Nachricht von Monk auf Evan. Er wolle ihn sprechen, hieß es, und habe Informationen im Falle Leigthon Duff, die den ersten Teil der Nachforschungen zum Abschluß bringen würden. Das war eine sehr starke Ausdrucksweise für Monk, der niemals übertrieb, und Evan ging sofort wieder los, nahm einen Hanson in die Fitzroy Street und klopfte kurze Zeit später an Monks Tür.

Seit seinem letzten Besuch dort war einige Zeit verstrichen, und es überraschte ihn, wie behaglich, ja sogar einladend Monks Wohnung war. Der Grund für sein Hiersein beschäftigte ihn zu sehr, um seiner Umgebung mehr als flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken, aber er war sich dennoch der persönlichen Atmosphäre des Raums bewußt. Alles um ihn herum war zu ruhig, zu behaglich, als daß er es jemals mit Monk in Verbindung gebracht hätte. Die Stuhllehnen waren mit Schonbezügen bespannt, und in einem großen Messingtopf stand eine kleine Palme. Das Feuer verströmte angenehme Wärme, als hätte es schon eine ganze Weile gebrannt. Evan stellte fest, daß er sich unwillkürlich entspannt hatte.

»Was gibt es denn?« fragte er, sobald er seinen Mantel ausgezogen hatte und noch bevor er auf dem Stuhl Monk gegenüber Platz nahm. »Was haben Sie herausgefunden? Haben Sie Beweise?«

»Ich habe Zeugen«, erwiderte Monk, während er sich, ohne Evan aus den Augen zu lassen, bequem zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. »Ich habe mehrere Leute, die Rhys Duff in der Zeit vor dem Mord in St. Giles gesehen haben, einschließlich einer Prostituierten, die er bei mehreren Gelegenheiten aufgesucht hat. Es steht ohne Zweifel fest, daß er es war. Sie hat ihn anhand des Bildes, das Sie mir gegeben haben, identifiziert, und sie kannte ihn beim Namen. Ihn und auch Arthur und Duke Kynaston. Ich habe sogar das letzte Opfer dieser Vergewaltigungen gefunden, eine Frau, die direkt vor dem Mord und nur wenige Meter von der Water Lane überfallen wurde.«

»Sie hat Rhys Duff identifiziert?« fragte Evan ungläubig. Das war beinahe zu gut, um wahr zu sein! Wie hatten er und Shotts das nur übersehen können? War Monk ihnen wirklich so überlegen? Waren sein Talent und seine Skrupellosigkeit so viel größer? Evan sah zu Monk hinüber. Der Feuerschein leuchtete rot auf seine mageren Wangen und warf Schatten über seine Augen. Es war ein starkes, kluges Gesicht, nicht unempfindsam, nicht ohne Phantasie oder die Fähigkeit, Mitleid zu zeigen. Jetzt lag eine gewisse Düsternis in diesen Zügen, als habe sein letzter Sieg nicht nur Möglichkeiten geschaffen, sondern auch zerstört.

Sein Gegenüber hatte viele Eigenschaften, die Evan nicht verstand, aber das hinderte ihn nicht daran, den anderen Mann zu mögen. Und er hatte niemals Angst gehabt, sich zu seiner Freundschaft zu bekennen.

»Nein«, antwortete Monk. »Sie hat mir drei Männer beschrieben, einen großen und ziemlich schlanken, einen kleineren von hagerem Körperbau und einen dritten von durchschnittlicher Größe und eher schmächtiger Gestalt. An die Gesichter konnte sie sich nicht erinnern.«

»Es könnten Rhys Duff und Duke und Arthur Kynaston gewesen sein, aber das ist kein Beweis«, wandte Evan ein. »Ein geschickter Verteidigungsanwalt würde die Sache in Stücke reißen.«

Monk legte die Fingerspitzen aneinander und sah Evan eindringlich an. »Dieser Verteidiger, den Sie im Sinn haben, wird fragen, warum um alles in der Welt Rhys Duff seinen Vater ermorden wollte«, sagte er. »Er war ein anständiger, guterzogener junger Mann, der, wie jeder andere Mann seines Alters und seiner Klasse sich gelegentlich mit einer Prostituierten vergnügte. Nur weil sein Vater in diesen Dingen ein wenig prüde und vielleicht auch ein wenig selbstherrlich war, ist das noch kein Grund für mehr als einen Streit oder eine Verringerung seines Taschengeldes. Aber die Antwort lautet anders: Leighton Duff hat seinen Sohn und dessen Freunde dabei überrascht, wie sie eine junge Frau schlugen und vergewaltigten. Er war entsetzt und angewidert. Ein solches Verhalten hätte er niemals dem natürlichen Appetit eines jungen Mannes zuschreiben können. Daher mußte er zum Schweigen gebracht werden.«

Evan hatte keine Mühe, dieser Argumentation zu folgen. Ein mögliches Motiv hatte ihnen bisher gefehlt. Ein Streit war ohne weiteres zu verstehen, selbst einige Handgreiflichkeiten im Laufe einer solchen Auseinandersetzung. Aber ein Kampf auf Leben und Tod, nur weil ein junger Mann zu einer Prostituierten gegangen war, eine solche Vorstellung war absurd. Etwas ganz anderes dagegen war es, wenn es um eine Reihe von zunehmend gewalttätigen Überfällen auf Frauen gegangen war, Verbrechen, die die drei jungen Männer zusammen begangen hatten und bei denen sie auf frischer Tat ertappt worden waren. Eine Vergewaltigung war abscheulich, und sie war ein Verbrechen. Außerdem ließ sich unschwer ahnen, daß diese Vergewaltigungen früher oder später in einen Mord münden würden. Die Vorstellung von drei jungen Männern, die gerade einen gewalttätigen Sieg über ein verängstigtes Opfer errungen hatten und die nun den Mann totschlugen, der mit ihrer Bloßstellung drohte, war schrecklich, aber keineswegs unglaubhaft.

»Ja, ich verstehe«, pflichtete er Monk mit plötzlicher Bekümmerung bei. Es waren grauenhafte Verbrechen gewesen, so häßlich, daß er eigentlich von Ekel und Zorn erfüllt sein müßte, wenn er an die beiden jungen Männer dachte, die diese Dinge getan hatten. Dennoch sah er immer wieder das Bild von Rhys vor sich, wie er auf den Pflastersteinen gelegen hatte, über und über voller Blut, wie tot und doch noch lebendig, auch wenn sein Leben am seidenen Faden gehangen hatte.

Und dann hatte er jäh wieder das Bild des jungen Mannes in dem Krankenhausbett vor sich, das Gesicht angeschwollen und bläulich verfärbt, wie er die Augen öffnete und verzweifelt zu sprechen versuchte, wie er voller Entsetzen gewürgt und gekeucht hatte und in einem Meer aus Schmerzen zu ertrinken schien.

Evan hatte keine Freude an diesem Sieg. Er verspürte nicht einmal das gewohnte Nachlassen der Anspannung, das normalerweise mit dem Abschluß eines Falles einherging. Was Monk ihm erzählt hatte, erschütterte ihn zutiefst. »Es wird das beste sein, Sie bringen mich zu diesen Zeugen«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Ich nehme an, sie werden mir dasselbe erzählen? Glauben Sie, daß diese Leute ihre Aussage vor Gericht beschwören werden?« Er wußte nicht, was für eine Antwort er sich auf diese Frage erhoffte. Selbst wenn die Zeugen nicht bereit waren, einen Eid abzulegen, nichts konnte die Wahrheit ändern.

»Sie können sie dazu zwingen«, antwortete Monk mit unüberhörbarer Ungeduld. »Die Macht des Gesetzes wird sie dazu bringen. Sobald sie im Zeugenstand stehen, haben sie keinen Grund mehr zu lügen. Außerdem ist das ohnehin Ihre Entscheidung.«

Er hatte recht. Es gab nichts mehr zu bereden.

»Dann gehe ich damit zu Runcorn«, fuhr Evan fort. Er lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Der wird nicht begeistert sein, daß Sie den Fall gelöst haben.«

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Monks Züge, eine Mischung aus Ironie und etwas anderem, das Bedauern oder vielleicht sogar eine Form von Schuldbewußtsein sein konnte. Evan spürte die Unsicherheit des anderen Mannes, ein gewisses Zögern, als sei da noch etwas, worüber er reden wollte und wisse nicht, wie er es anfangen sollte. Monk machte keine Anstalten, sich aus seinem bequemen Sessel zu erheben.

»Ich weiß, er hat sich geweigert, den Vergewaltigungen nachzugehen«, begann Evan. »Aber mit diesen Informationen liegen die Dinge anders. Niemand wird sich die Mühe machen, deswegen Anklage zu erheben, außer wenn es einen Mordfall zu sühnen gilt. Und Mord ist die Anklage, die wir gegen sie erheben werden. Wir werden die Vergewaltigungen nur deshalb beweisen, um das Motiv darzulegen. Die Vergewaltigungen in Seven Dials werden einfach als Vorgeschichte dieses Verbrechens dargestellt.«

»Ich weiß.«

Evan war verwirrt. Warum ging Monks Verachtung für Runcorn so tief? Runcorn war bisweilen selbstherrlich und arrogant, aber das war seine Art, sich gegen die Dinge zur Wehr zu setzen, die ihm das Leben schwermachten. Er war ein Mann, der kaum etwas zu kennen schien als seine Arbeit und den Wert, den sie ihm verlieh. Evan war klar, daß er nicht das Geringste über den Menschen Runcorn wußte, sobald dieser das Polizeirevier verließ. Er wußte nur, daß sein Vorgesetzter niemals von Verwandten oder Freunden sprach, davon, wie er seine freie Zeit verbrachte. Hatte Monk jemals über solche Dinge nachgedacht?

»Sind Sie immer noch der Meinung, er hätte den Vergewaltigungen auch ohne weitere Handhabe nachgehen sollen?« fragte er und hörte selbst den Tadel, der in seiner Stimme mitschwang.

Monk zuckte die Achseln. »Nein.« Seine Antwort kam nur widerstrebend. »Er hatte recht. Eine Anklage in diesem Fall hätte für die Opfer ein schlimmeres Martyrium bedeutet als für die Täter. Vorausgesetzt, sie hätten überhaupt ausgesagt, was sie wahrscheinlich nicht getan hätten. Das würde ich von keiner Frau verlangen, an der mir etwas liegt. Wenn wir der Sache nachgegangen wären, dann wohl eher aus persönlicher Rachsucht, als daß wir um das Wohlergehen der Frauen oder gar um Gerechtigkeit besorgt gewesen wären. Die Frauen hätten gelitten, und die Männer wären nicht bestraft worden. Schlimmer noch, wir hätten sie kein zweites Mal vor Gericht stellen können, selbst wenn wir zu guter Letzt doch noch Beweise gefunden hätten, denn dem Gesetz wäre dann bereits Genüge getan worden.« In seinem Gesicht spiegelte sich Zorn wider, aber dieser Zorn galt der Situation, nicht Runcorn. Monk runzelte die Stirn. »Wollen Sie, daß ich Sie zu diesen Zeugen führe?«

Evan erhob sich gleichfalls. »Ja, bitte.«

Monk holte seinen Überzieher, und auch Evan schlüpfte wieder in seinen Mantel. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg durch den dunklen, kalten Abend, um in der Tottenham Court Road einen Hansom anzuhalten.

In der Kutsche, die auf St. Giles zuratterte, begann Monk von neuem zu sprechen. Seine Stimme klang unsicher, als ringe er um Worte, als mache er sich die vorübergehende Blindheit der Nacht zunutze, um einen Gedanken auszusprechen, der ihn bedrückte.

»Spricht Runcorn eigentlich jemals mit Ihnen über die Vergangenheit… über mich?«

Evan hörte die Anspannung in der Stimme seines Begleiters und wußte, daß Monk nach etwas suchte, vor dem er sich gleichzeitig fürchtete.

»Ab und zu, aber nur sehr wenig«, antwortete er.

»Wir haben früher zusammen in St. Giles gearbeitet«, fuhr Monk schließlich fort. »Das war damals, bevor man angefangen hat, da irgend etwas wieder aufzubauen. Als die Gegend noch unter dem Namen »Heiliges Land« bekannt war.«

»Es muß ziemlich gefährlich gewesen sein.« Evan sprach nur, um das Schweigen zu überbrücken.

»Ja. Wir sind damals immer mit mindestens zwei Mann hingegangen, meistens hatten wir noch mehr Polizisten dabei.«

»Davon hat er noch nie gesprochen.«

»Nein. Das hätte ich auch nicht anders von ihm erwartet.« Monks Stimme wurde zum Ende des Satzes hin leiser und verriet ein Gefühl der Trauer. Was ihn so sehr bekümmerte, war nicht die verlorene Freundschaft zu Runcorn, sondern das, was sie zerstört hatte – was immer das gewesen sein mochte. Evan verstand ihn, aber das Thema war zu heikel, als daß sie darüber hätten reden können. Monk wollte wissen, was damals vorgefallen war, aber er wollte sich Schritt für Schritt vortasten, um sich, wenn die Sache zu brenzlig wurde, wieder zurückziehen zu können. Es war seine eigene Seele, die er erforschte, das einzige Gebiet, von dem es kein Zurück gab, der einzige Herausforderer, dem man sich früher oder später stellen mußte.

»Er spricht niemals von einer Familie«, sagte Evan laut. »Er hat auch nicht geheiratet.«

»Hatte er nicht…« Monks Tonfall war geistesabwesend, als sei die Bemerkung bedeutungslos, aber die Anspannung seines Körpers strafte seine Gleichgültigkeit Lügen.

»Ich denke, er bedauert es«, fügte Evan hinzu und dachte an beiläufige Bemerkungen Runcorns, an den flüchtigen Kummer in seinem Gesicht. Als der Sergeant seinen Hochzeitstag feierte, hatten sie ihm alle Glück gewünscht und von ihren eigenen Familien erzählt. Eine Sekunde lang hatte Evan den Schmerz in Runcorns Augen gesehen, das Wissen um die eigene Einsamkeit und Isolation. Er war nicht der Mann, der durch sein Wesen oder seinen Charakter befähigt gewesen wäre, seine eigene Leere zu füllen. Er wäre glücklicher gewesen, wenn er einen anderen Menschen gehabt hätte, jemanden, der ihm Mut machte, wenn er scheiterte, der ihn bewunderte und ihm für seine Hilfe dankbar war. Jemanden, mit dem er seine Erfolge hätte teilen können.

Hatte Monk mit seiner größeren inneren Stärke, seinem natürlichen Mut Runcorn dieser Dinge bewußt oder unbewußt beraubt? Monk fürchtete, daß er Runcorns beruflichem Fortkommen im Weg gestanden und vielleicht den Lorbeer für einen Triumph geerntet hatte, der in Wirklichkeit Runcorns Sieg gewesen war. Konnte ein Mensch dem anderen das wirklich stehlen? Oder konnte er ihm lediglich seine Hilfe versagen? Monk konnte das Schweigen nicht länger ertragen. »Wollte er denn heiraten? Ich meine, war da irgend jemand? Wissen Sie es?«

Evan erinnerte sich an einen Gesprächsfetzen, an einen Namen.

»Ja, ich denke schon. Aber die Sache liegt lange zurück, fünfzehn oder sechzehn Jahre, vielleicht noch länger. Ich glaube, ihr Name war Ellen.«

»Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Droschke bog in den Oxford Circle ein. In wenigen Sekunden würden sie am Ziel sein. Danach ging es zu Fuß weiter, durch Gassen und Hinterhöfe, treppauf, treppab, in eiskalte Zimmer, in denen Monk seine Fragen wiederholen und Evan sich Notizen für die Beweisführung machen würde. Für eine Fortsetzung ihres Gespräches blieb keine Zeit mehr.

Monk atmete tief ein und stieß die Luft mit einem leisen Seufzen wieder aus.

Am nächsten Nachmittag hatte Evan alles, was er brauchte. Die Beweise waren erdrückend. Evan schickte eine Nachricht nach oben, daß er Runcorn zu sprechen wünsche, und um fünf nach drei klopfte er an dessen Bürotür.

»Ja?« Runcorn blickte von den Papieren, in denen er gelesen hatte, auf. »Ich hoffe, diese Neuigkeiten beruhen auf Tatsachen? Ich möchte keine Gefühle mehr. Manchmal sind Sie weicher, als es Ihnen selbst guttut, Evan. Wenn Sie sich als Geistlicher betätigen wollen, hätten Sie zu Hause bleiben sollen.«

»Wenn ich hätte Pfarrer werden wollen, Sir, hätte ich es getan!« erwiderte Evan und sah Runcorn herausfordernd an. Er entdeckte bei sich selbst die gleiche Gereiztheit, die er von Monk kannte, das gleiche Verlangen zu siegen, die Versuchung zu streiten, nur um des Streites willen. Runcorn forderte bei ihm genauso wie bei Monk die unschönsten Eigenschaften heraus.

»Kommen Sie zur Sache«, sagte Runcorn mit geschürzten Lippen. »Was haben Sie herausgefunden? Ich nehme an, wir reden über den Mord an Leighton Duff? Sie kämpfen doch wohl keinen Kreuzzug für Monk?« Sein Blick war hart, als hätte er zumindest teilweise den Wunsch, Evan bei einem solchen Vergehen zu ertappen. Er hätte Evan gern gemocht, und instinktiv tat er es auch. Nur die Tatsache, daß Evan und Monk einander so nahestanden, trübte seine Sympathie.

»Ja, Sir.« Evan stand stramm, zumindest, soweit es einem Mann von seiner natürlichen Unbefangenheit möglich war. »Ich habe Zeugen dafür, daß Rhys Duff und seine beiden Freunde in St. Giles Prostituierte aufgesucht haben. Eine der Frauen hat sein Bild erkannt. Ich habe ihre Aussage. Sie kennt sogar seinen Namen. Rhys ist kein häufiger Vorname, Sir.«

Runcorn beugte sich vor und schob die anderen Papiere beiseite.

»Sprechen Sie weiter.«

»Ich habe ebenfalls die Aussage der letzten Frau, die vergewaltigt wurde, Sir. In der Mordnacht. Ihre Beschreibung der drei Täter paßt genau auf Rhys Duff und seine beiden Freunde, Arthur und Marmaduke Kynaston.« Runcorn stieß langsam den Atem aus, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände über seinem Bauch.

»Irgendwelche Beweise dafür, daß die Brüder Kynaston in den Mord verwickelt waren? Ich meine Beweise, keine nachvollziehbaren Mutmaßungen. Wir müssen absolut sicher sein.«

»Das weiß ich, Sir. Und was Ihre Frage betrifft – nein, wir haben keine Beweise. Wenn wir Rhys Duff verurteilen können, würden die anderen möglicherweise folgen.« Es machte ihn wütend, daß die beiden anderen Männer bis dahin in Freiheit sein würden. Wer auch immer Leighton Duff tatsächlich getötet hatte, die beiden anderen waren einer Reihe von Verbrechen schuldig, die dem Mord vorangegangen waren. Wenn sie im letzten Augenblick weggelaufen waren, war dies ein Akt der Feigheit gewesen und nicht des Mitleids oder der Aufrichtigkeit. Jeder anständige Mensch wäre eingeschritten und hätte den Gipfelpunkt der Tragödie verhindert.

»Können Sie beweisen, daß diese Männer dort waren?« fragte Runcorn scharf.

»Ich kann beweisen, daß sie zusammen mit Rhys in St. Giles Huren aufgesucht haben, aber nicht, daß sie in jener Nacht dort waren. Rhys war mit zwei anderen Männern in St. Giles, auf die die Beschreibung der Brüder Kynaston passen würde. Das ist alles bisher. Das schlimmste ist, daß keiner der beiden verletzt zu sein scheint, was darauf hindeuten würde, daß sie mit dem letzten Kampf mit Leighton Duff nichts zu tun hatten.«

»Nun, wir klagen sie nicht wegen Vergewaltigung an!« sagte Runcorn entschieden. »Da Duff ohnehin nicht in Frage kommt, brauchen Sie diese Möglichkeit nicht weiter zu verfolgen. Was wir haben, sind Beweise, daß drei junge Männer, von denen einer Rhys Duff war, in St. Giles Frauen geschlagen und vergewaltigt haben, vor allem in der Nacht, in der Leighton Duff ermordet wurde. Sind Rhys und sein Vater zusammen oder getrennt dorthin gefahren, wissen Sie das?« fragte er.

»Getrennt, Sir. Dafür haben wir die Aussagen der Droschkenfahrer.«

»Gut. Bei dieser Gelegenheit ist Leighton Duff seinem Sohn anscheinend also gefolgt. Wahrscheinlich hatte er Grund zu argwöhnen, was Rhys tat. Es wäre wünschenswert, wenn Sie in Erfahrung bringen könnten, was das war. Möglicherweise weiß die Ehefrau etwas, aber ich denke, daß einige Geschicklichkeit dazu gehören dürfte, ihr diese Dinge zu entlocken.« Runcorns Miene war nicht anzusehen, ob er sich auch nur im leisesten vorstellen konnte, wieviel Leid diese Entwicklung für Sylvestra Duff mit sich bringen würde. Evan selbst wagte kaum daran zu denken, was es für sie bedeuten würde. Er hoffte aus ganzem Herzen, daß ihre Beziehung zu Dr. Wade ein wenig mehr als oberflächliche Freundschaft enthielt. Sie würde jetzt seine ganze Unterstützung brauchen.

»Aber Sie sollten es wenigstens versuchen«, fuhr Runcorn fort. »Seien Sie sehr vorsichtig, wenn Sie sie befragen, Evan. Wenn es zur Verhandlung kommt, wird sie eine wichtige Zeugin sein. Natürlich werden Sie das Haus durchsuchen. Vielleicht finden Sie ja Kleider mit Blutflecken von seinen früheren Überfällen. Sie müssen überdies schlüssig beweisen, daß er bei jeder Gelegenheit, die Sie ins Feld führen wollen, außer Haus war. Lassen Sie sich nicht von Einzelheiten zu Fall bringen! Wenn er die Tat nicht gesteht und es zu einem größeren Prozeß kommt, wird seine Mutter wahrscheinlich den besten Anwalt nehmen, den sie für seine Verteidigung finden kann.« Runcorn preßte die Lippen aufeinander. »Obwohl ich wahrhaftig nicht weiß, warum irgend jemand sich auf einen solchen Kampf einlassen sollte. Wenn Sie Ihre Sache richtig machen, kann er nicht gewinnen.«

Evan sagte nichts. Soweit es ihn betraf, konnte niemand bei dieser Sache gewinnen.

»Was hat Sie eigentlich auf diese Spur gebracht?« fragte Runcorn neugierig. »War es einfach Beharrlichkeit? Die richtige Frage zur richtigen Zeit?«

»Nein, Sir.« Evan wußte nicht, warum es ihm ein solches Vergnügen bereitete, Runcorn diesen Schlag zu versetzen. Es mußte etwas mit der selbstzufriedenen Ausstrahlung seines Vorgesetzten zu tun haben. »Es war Monk, der es herausgefunden hat. Er hat die Vergewaltigungsfälle bearbeitet, und die haben ihn zu Rhys Duff geführt.«

Runcorn riß den Kopf hoch, und seine Miene verdüsterte sich. Er schien drauf und dran zu sein, seinem Sergeant ins Wort zu fallen, änderte dann jedoch seine Meinung.

»Er hat mich gestern am späten Nachmittag aufgesucht und mir einfach die notwendigen Informationen gegeben«, fuhr Evan fort. »Ich habe alles überprüft.« Evan sah Runcorn freundlich an, als hätte er nicht die geringste Ahnung davon, wie sehr seine Eröffnung Runcorn ärgern mußte. »Ein Glück für uns, daß er die Sache so hartnäckig verfolgt hat«, setzte er noch hinzu, um das Maß voll zu machen. »Ansonsten hätte ich vielleicht immer noch Mrs. Duff bedrängt und nach einem Liebhaber Ausschau gehalten.«

Runcorn starrte ihn wütend an, und eine matte Röte stieg ihm in die Wangen.

»Monk bearbeitet seine Fälle um des Geldes willen, Evan«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Daß Sie mir das nicht vergessen! Sie bearbeiten Ihre Fälle, weil Sie ein Diener der Gerechtigkeit sind, ohne Furcht oder Verpflichtung, dessen Loyalität einzig Ihrer Majestät gilt, deren Gesetz Sie repräsentieren.« Er beugte sich über den Tisch, die Ellbogen auf die blanke Holzfläche gestützt. »Sie denken, Monk sei ein unglaublich cleverer Bursche, und in gewisser Weise ist er das tatsächlich. Aber Sie wissen nicht alles. Sie wissen nicht alles über ihn, ganz gewiß nicht! Beobachten Sie und lernen Sie von ihm, unbedingt, aber ich warne Sie: Machen Sie ihn sich nicht zum Freund! Sie würden es bedauern!« Die letzten Worte begleitete er mit einem Stirnrunzeln, das nicht Gehässigkeit vermittelte, sondern eine Warnung zu sein schien, als sei er um Evan besorgt, nicht um sich selbst. Der Schatten des alten Kummers huschte über sein Gesicht.

»Hat Monk Sie verraten, Sir?« fragte er laut und wünschte schon im nächsten Moment, geschwiegen zu haben. Er wollte im Grunde nichts davon wissen. Aber nun ließ es sich nicht mehr vermeiden.

Runcorn starrte ihn an.

»Ja, er hat mich verraten. Ich habe ihm vertraut, und er hat alles zerstört, was ich je gewollt habe«, erwiderte er verbittert.

»Er hat die Falle erkannt, auf die ich zusteuerte, und er hat mit angesehen, wie ich direkt hineinlief.«

Evan holte Atem, um zu fragen, inwieweit Runcorn das Recht hatte, Monk für eine solche Sache die Schuld zu geben. Vielleicht hatte Monk die Grube genausowenig gesehen wie Runcorn selbst. Oder vielleicht hatte er einfach angenommen, daß Runcorn sie ebenfalls gesehen hatte. Dann jedoch wurde ihm bewußt, daß es nicht nur sinnlos gewesen wäre, über Einzelheiten zu streiten, wenn der Geist der Tat zählte. Hinzu kam, daß er Monk selbst tief im Innern für schuldig hielt.

»Ich verstehe«, sagte er leise.

Runcorn sah ihn an. »Wirklich? Ich bezweifle es. Aber ich habe alles getan, was ich kann. Und jetzt verhaften Sie Rhys Duff. Die beiden anderen Männer werden jedoch noch nicht erwähnt, haben Sie mich verstanden, Evan? Ich verbiete es!

Damit würden Sie möglicherweise jede Chance zunichte machen, daß wir sie irgendwann in Zukunft bekommen können.« Seine Augen verrieten jetzt den Ärger und die Verbitterung über seine eigene Hilflosigkeit. Es widerstrebte ihm von ganzem Herzen, die beiden entkommen zu sehen und zu wissen, daß sie vielleicht auf immer frei waren.

»Jawohl, Sir. Ich verstehe.« Evan drehte sich um, ging hinaus und hatte für sich bereits entschieden, daß er Monk mitnehmen würde, wenn er in die Ebury Street ging. Monk hatte diesen Fall gelöst. Er verdiente es, dabeizusein.

Es war kalt, und es wurde langsam dunkel, als Monk, Evan und Shotts mit einer Droschke in der Ebury Street ankamen. Evan hatte überlegt, ob sie den Polizeiwagen nehmen sollten, sich aber dagegen entschieden. Rhys war immer noch zu krank, um in einem solchen Gefährt transportiert zu werden, falls er überhaupt verlegt werden konnte. Die Sorge, daß sie ihn vielleicht nicht mitnehmen konnten, war der Grund, warum er Shotts mitgebracht hatte. Er wollte Shotts als Wachposten dalassen, für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, daß Sylvestra versuchen würde, Rhys heimlich fortzuschaffen.

Evan entlohnte den Kutscher, stellte seinen Kragen hoch und ging voran. Noch nie hatte er eine Verhaftung vorgenommen, die ihm weniger behagte. Als er den Fuß auf der Schwelle stehen hatte und die Hand nach der Glocke ausstreckte, wußte er, daß er sich davor geradezu fürchtete. Er wußte, daß Monk genauso empfand, aber Monk empfand nur um Hesters willen so. Rhys selbst hatte er nie kennengelernt. Er hatte sein Gesicht nicht gesehen. Für ihn war der junge Mann lediglich die Summe der Beweise, die er gefunden hatte; vor allem war er der Grund für den Schmerz der Frauen, denen Monk zugehört hatte und von deren Schicksal er hautnah erfahren hatte.

Die Tür wurde geöffnet, und das Gesicht des Butlers verdüsterte sich, sobald er Evan erkannte.

»Ja bitte, Sir?« fragte er wachsam.

»Es tut mir leid«, begann Evan. Dann straffte er die Schultern und fuhr fort: »Aber ich muß mit Mrs. Duff sprechen. Mir ist klar, daß mein Erscheinen vielleicht nicht angenehm ist, aber ich habe keine andere Wahl.«

Der Butler sah an ihm vorbei zu Monk und Shotts hinüber. Er erbleichte.

»Was ist passiert, Sir? Hat es noch einen Zwischenfall gegeben?«

»Nein. Es ist nichts passiert, aber wir wissen jetzt mehr über die Vorfälle in der Nacht von Mr. Duffs Tod. Ich fürchte, es ist unerläßlich, daß wir hereinkommen.«

Der Butler zögerte nur einen Augenblick lang. Die Autorität in Evans Stimme war ihm nicht entgangen, und er begriff plötzlich die Schwere seines Amtes.

»Jawohl, Sir. Wenn Sie mir bitte folgen möchten, werde ich Mrs. Duff informieren.« Er trat zurück, um sie einzulassen. Evan und Monk folgten ihm, während Shotts wie vereinbart draußen zurückblieb.

Die Halle war warm und hell, eine ganz andere Welt als die eisige Düsternis der Straße. Der Butler ging auf die Salontür zu.

»Wharmby«, sagte Evan plötzlich.

»Ja, Sir?«

»Vielleicht sollten Sie besser Miss Latterly bitten, herunterzukommen.«

»Sir?«

»Es wird vielleicht einfacher für Mrs. Duff sein, wenn noch jemand anwesend ist, jemand, der ihr… behilflich sein könnte.«

Wharmby wurde noch blasser. Er schluckte so heftig, daß ein merklicher Ruck durch seine Kehle fuhr.

»Es tut mir leid«, wiederholte Evan.

»Weswegen… weswegen sind Sie hier, Sir?« fragte Wharmby.

»Um Mrs. Duff zu sagen, daß wir wissen, wie Mr. Duff zu Tode gekommen ist. Darüber hinaus müssen wir der Pflicht nachkommen, die uns aus diesen Erkenntnissen erwächst. Teilen Sie ihr jetzt bitte mit, daß wir hier sind, und lassen Sie dann Miss Latterly herunterkommen.«

Wharmby zog sein Jackett glatt, straffte sich und öffnete die Salontür.

»Mr. Evan wünscht Sie zu sprechen, Madam. Er hat noch einen anderen Herrn mitgebracht.« Mehr sagte er nicht, sondern verließ mit einer Verbeugung den Raum und bedachte Evan mit einem langen Blick, bevor er zur Treppe ging.

Sylvestra stand auf dem Teppich vor dem Feuer. Sie trug immer noch Schwarz und hatte sich das dunkle Haar zu einem großen Knoten im Nacken zusammengesteckt, aus dem ihr einige Strähnen über den Hals fielen. Im Schein des Feuers sah sie sehr schön aus mit ihren hohen Wangenknochen und den zarten Schultern.

»Ja, Mr. Evan. Was gibt es?« fragte sie und zog leicht die Augenbrauen in die Höhe. Dann sah sie an ihm vorbei zu Monk hinüber.

Evan machte die beiden kurz und ohne weitere Erklärungen miteinander bekannt.

»Guten Abend, Mr. Monk.« Sie tat nicht mehr, als Monks Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

»Madam«, sagte er und neigte den Kopf. Ihr ebenfalls einen »Guten Abend« zu wünschen, wäre ein Hohn gewesen. Er schloß die Tür hinter sich und trat weiter in den Raum hinein.

»Ja, Mrs. Duff. Wir haben ziemlich viel von dem herausbekommen, was in der Nacht geschehen ist, in der Ihr Mann getötet wurde. Zuerst würde ich Ihnen gern ein oder zwei letzte Fragen stellen.« Evan ignorierte den erstaunten Ausdruck ihres Gesichtes, ebenso wie er Monk ignorierte, der hinter ihm von einem Fuß auf den anderen trat. »Hat Mr. Duff Ihnen gegenüber in irgendeiner Weise Sorge darüber verraten, was Mr. Rhys an den Abenden tat, die er nicht zu Hause verbrachte? Hat er sich irgendwann einmal über die Freunde geäußert, mit denen Ihr Sohn Umgang pflegte?«

»Ja, das wissen Sie doch. Ich habe es Ihnen selbst erzählt.«

»Hat er mit Worten oder durch sein Verhalten durchblicken lassen, daß er in letzter Zeit etwas erfahren hatte, das seine Sorgen noch vertiefte?«

»Nein! Das heißt, zu mir hat er nichts davon gesagt. Warum?« Ihr Tonfall wurde schärfer. »Würden Sie bitte offen zu mir sein, Mr. Evan? Haben Sie herausgefunden, was mein Mann in St. Giles tat, oder nicht? Ich habe Ihnen bei Ihrem ersten Besuch hier erklärt, daß ich glaubte, er sei Rhys gefolgt, um mit ihm über die Sorte Frauen zu reden, deren Gesellschaft er suchte. Wollen Sie mir nun sagen, daß das die Wahrheit ist?« Sie hob ein wenig das Kinn, beinahe so, als wolle sie Evan herausfordern. »Das würde kaum Ihr Erscheinen hier erklären, noch dazu in Begleitung Mr. Monks und zu dieser späten Stunde.«

»Wir glauben außerdem, daß wir jetzt wissen, wie Ihr Mann zu Tode gekommen ist, Mrs. Duff, und wir müssen entsprechende Maßnahmen ergreifen«, erwiderte Evan. »Wir haben Zeugen, die Rhys mehrmals in St. Giles gesehen haben, manchmal mit anderen zusammen, manchmal allein. Eine junge Frau sagt aus, daß er an jenem Abend dort war…«

»Selbstverständlich war er an jenem Abend dort, Mr. Evan«, fiel Sylvestra ihm ins Wort. »Alles, was Sie mir bis jetzt erzählt haben, wissen wir bereits. Es ist offensichtlich!«

Monk konnte es nicht länger ertragen. Er trat aus dem Schatten heraus, und seine Miene war grimmig.

»Ich bin einer Reihe brutaler Vergewaltigungen nachgegangen, Mrs. Duff. Sie wurden von drei Männern gemeinsam verübt. Die Männer haben Frauen vergewaltigt, die manchmal nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre waren, dann haben sie sie geschlagen, ihnen die Knochen gebrochen, sie getreten. Manchmal bis zur Besinnungslosigkeit.«

Entsetzen malte sich in Sylvestras Zügen ab. Sie starrte ihn an, als sei er ein Geist, der Grauen und Schmerz in ihren Salon getragen hatte.

»Die letzte der Vergewaltigungen wurde in St. Giles begangen in jener Nacht, in der Ihr Mann mit derselben Brutalität ermordet wurde«, sagte Monk sehr leise. »Es ist unmöglich, die Tatsache zu übersehen, daß er Rhys nach St. Giles gefolgt ist und ihn dort direkt nach dem Verbrechen gefunden hat. Es ist weniger als fünfzig Meter von der Stelle entfernt passiert, an der man seine Leiche fand.«

Sylvestra war aschfahl. »Was wollen Sie damit sagen?« flüsterte sie.

»Wir sind hier, um Rhys Duff für den Mord an seinem Vater, Leighton Duff, zu verhaften«, antwortete Monk.

»Sie können ihn nicht mitnehmen!« Es war Hester. Keiner von ihnen hatte sie eintreten hören. »Er ist zu krank, um verlegt zu werden. Wenn Sie an meinem Wort zweifeln, wird Dr. Wade Ihnen Entsprechendes sagen. Ich habe einen Boten zu ihm geschickt, der ihn sofort herholen soll.« Sie sah Sylvestra an.

»Ich dachte, daß seine Anwesenheit vielleicht notwendig sein würde.«

»Oh, Gott sei Dank!« Sylvestra taumelte kurz, fing sich dann aber wieder. »Das… das ist doch absurd! Rhys würde niemals …« Sie blickte von Evan zu Hester. »Könnte er?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Hester ernst, während sie mitten in den Raum trat. »Aber was auch immer die Wahrheit sein mag, heute abend kann Rhys unmöglich das Haus verlassen, was auch in nächster Zukunft so sein wird. Man kann ihn unter Anklage stellen, aber bisher ist nicht bewiesen, daß er sich irgendeines Verbrechens schuldig gemacht hat. Wenn man ihm die notwendige medizinische Fürsorge verweigert, bringt man damit möglicherweise sein Leben in Gefahr, und das kommt nicht in Frage.«

»Ich bin mir über seinen Gesundheitszustand im klaren«, erwiderte Evan. »Wenn Dr. Wade sagt, daß er nicht transportfähig ist, werde ich einen Constable draußen postieren.« Er wandte sich an Sylvestra. »Er wird Sie nicht belästigen, es sei denn, Sie gäben ihm Grund zu der Annahme, Sie selbst hätten die Absicht, Mr. Duff aus dem Haus zu bringen. In diesem Falle wird er ihn natürlich sofort verhaften und ins Gefängnis bringen.«

Sylvestra war sprachlos.

»Das wird nicht geschehen«, sagte Hester an ihrer Stelle. »Er wird hierbleiben, in Dr. Wades Obhut. Und in meiner.«

Sylvestra nickte zustimmend.

»Ich werde ihn jetzt über seine Situation informieren«, sagte Evan und wandte sich der Tür zu.

Hester stand vor ihm. Einen Augenblick lang befürchtete er, sie werde versuchen, ihm den Weg zu versperren, aber nach einem kurzen Zögern ging sie selbst auf die Tür zu.

»Ich werde Sie begleiten. Vielleicht braucht er Hilfe. Ich…« Sie sah ihn an, und in ihrem Blick lagen sowohl Herausforderung als auch Flehen. »Ich habe die Absicht, dabeizusein, Sergeant Evan. Was Sie sagen, wird ihn sehr erregen, und er ist immer noch sehr schwach.«

»Natürlich«, stimmte er zu. »Ich habe nicht die Absicht, ihm Schaden zuzufügen.«

Hester wandte sich ab und ging Evan durch den Flur voraus. Es sah so aus, als wollte Monk bei Sylvestra bleiben. Vielleicht glaubte er, ihr irgendwelche Informationen entlocken zu können, wo Evan gescheitert war. Und vielleicht hatte er recht damit.

Hester ging die Treppe hinauf und durch den Flur, öffnete die Tür zu Rhys’ Zimmer und trat dann beiseite, so daß Evan das Bett sehen konnte.

Rhys lag auf dem Rücken. Durch etliche Kissen gestützt, war er in der Lage, Evan ohne jede Unbequemlichkeit in die Augen zu sehen. Das Erscheinen des Sergeants schien ihn zu überraschen. Die blauen Flecken waren etwas verblaßt, und die Schwellung war gänzlich zurückgegangen.

Mit einem Gefühl der Übelkeit erinnerte sich Evan an die Nacht, in der er ihn gefunden hatte. Er war Teil der Bemühungen um das „Leben des jungen Mannes gewesen, einer von denen, die ihn vom Rand der Dunkelheit zurückgeholt und in das grelle Licht des Schmerzes gezerrt hatten. Irgendwie hätte er in der Lage sein müssen, ihn zu schützen. Es war seine Pflicht, eine bessere Antwort zu finden als diese. »Mr. Duff«, begann er mit trockenem Mund. Er schluckte und fühlte sich noch schlimmer. »Wir haben herausgefunden, was Sie in der Nacht, in der Ihr Vater getötet wurde, getan haben. In jener Nacht und in zumindest drei vorangegangenen Nächten. Sie waren regelmäßig in St. Giles und haben dort die Dienste einer beziehungsweise mehrerer Prostituierter in Anspruch genommen …«

Rhys starrte ihn an. Eine leichte Röte überzog seine Wangen. Es war ihm peinlich, daß dergleichen vor Hester erwähnt wurde, das ließ sich unschwer an dem Ausdruck seiner Augen erkennen, an der Art, wie er Hester kurz ansah und den Blick dann wieder abwandte.

»In der fraglichen Nacht wurde eine Frau vergewaltigt und geschlagen…« Evan hielt inne. Rhys war aschfahl, ja beinahe grau im Gesicht geworden, und in seine Augen trat solches Entsetzen, daß Evan befürchtete, er könnte einen Anfall erleiden.

Hester trat einen Schritt auf ihn zu und blieb dann wieder stehen.

Ein mit Angst geladenes, vibrierendes Schweigen schien den Raum zu füllen. Die Lichter flackerten. Im Feuer stürzte ein Stück Kohle ein.

»Rhys Duff… ich verhafte Sie für den Mord an Leighton Duff, in der Nacht des 7. Januar 1860 in der Water Lane in St. Giles.« Es wäre grausam gewesen, ihn zu warnen, daß alles, was er sagte, vor Gericht als Beweis verwendet werden konnte. Er konnte nichts sagen, konnte sich weder verteidigen noch erklären oder irgend etwas leugnen.

Hester eilte zu ihm hinüber und setzte sich auf die Bettkante, wo sie Rhys zu sich umdrehte, so daß er sie ansehen mußte.

»Haben Sie es getan, Rhys?« fragte sie und zog an seinen Armen, um durch den Schmerz den Bann, in dem er gefangen war, zu brechen.

Er sah sie an und stieß ein ersticktes Geräusch hervor, das beinahe wie ein Lachen klang, dann strömten die Tränen über seine Wangen, und er schüttelte den Kopf, nur schwach zuerst, dann immer heftiger, bis er sich wild von einer Seite auf die andere warf, und die ganze Zeit über stieß er verzweifelte, röchelnde Laute aus.

Hester stand auf und wandte sich Evan zu.

»Also gut, Sergeant, Sie haben Ihrer Pflicht Genüge getan.

Mr. Duff hat Ihre Anklage gehört, und er hat Ihnen gesagt, daß er nicht schuldig ist. Wenn Sie auf Dr. Wade warten möchten, damit er Ihnen bestätigt, daß Rhys zu krank für eine Verlegung ist, können Sie das unten tun, vielleicht im Empfangssalon. Mrs. Duff wird vielleicht ebenfalls allein sein wollen.«

»Sie brauchen nicht zu warten.«

Evan fuhr herum und sah Corriden Wade hinter sich. Der Arzt wirkte erschöpft, und seine Wangen waren eingefallen, aber er verriet mit keinem Wimpernschlag, was er fühlte.

»Guten Abend, Dr. Wade.«

»Das dürfte wohl kaum ein guter Abend sein«, bemerkte Wade trocken. »Ich habe befürchtet, daß das passieren würde, aber jetzt, da es geschehen ist, muß ich Sie offiziell und in meiner Eigenschaft als Rhys’ Arzt davon in Kenntnis setzen, daß sein Gesundheitszustand keine Verlegung zuläßt. Wenn Sie es trotzdem täten, würden Sie damit vielleicht nicht nur seine Genesung, sondern womöglich sogar sein Leben gefährden. Und ich muß Ihnen ins Gedächtnis rufen, daß Sie zwar Anklage erhoben haben, daß bisher jedoch nichts bewiesen ist. Vor dem Gesetz ist er immer noch unschuldig.«

»Das ist mir bewußt, Dr. Wade«, antwortete Evan gelassen.

»Ich habe nicht die Absicht, irgend etwas zu erzwingen. Ich werde einen Constable draußen vorm Haus postieren. Ich bin nur hergekommen, um Mr. Duff über die Anklage zu informieren, nicht, um zu versuchen, ihn in Haft zu nehmen.«

Wade entspannte sich ein wenig. »Gut. Gut. Es tut mir leid, daß ich ein wenig vorschnell war. Sie müssen begreifen, daß diese Angelegenheit mich nicht nur auf beruflicher, sondern auch auf persönlicher Ebene zutiefst bekümmert. Ich bin seit vielen Jahren ein Freund der Familie. Diese Tragödie geht mir sehr nahe.«

»Das weiß ich«, räumte Evan ein. »Ich wünschte, es wäre etwas anderes, das mich hierhergeführt hat.«

»Das glaube ich Ihnen.« Wade nickte und ging dann an ihm vorbei ins Zimmer, wobei er Hester einen schnellen, dankbaren Blick zuwarf. »Vielen Dank, Miss Latterly, für Ihre Hilfe. Ich bin mir sicher, daß Sie Ihre Sache gut gemacht haben. Ich werde jetzt für eine Weile bei Rhys bleiben, um dafür zu sorgen, daß der Schock keine allzu ernsten Nachwirkungen für ihn hat. Vielleicht wären Sie so freundlich, in der Zwischenzeit Mrs. Duff zur Seite zu stehen. Ich werde in Kürze wieder unten sein.«

»Ja, natürlich«, antwortete Hester und führte Evan ohne langes Zögern aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.

»Es tut mir leid, Hester«, sagte Evan, der hinter ihr die Stufen hinunterstieg. »Ich hatte wirklich keine andere Wahl. Die Beweise sind erdrückend.«

»Ich weiß«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. »William hat es mir erzählt.« Sie wirkte steif und hielt sich nur mit Mühe aufrecht, als bestünde die Gefahr, daß sie sich nicht wieder würde fassen können, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Hester durchquerte die Halle und trat, ohne anzuklopfen, in den Salon.

Dort saß Sylvestra auf dem Sofa neben dem Feuer, und Monk stand vor dem Kamin. Keiner von ihnen hatte bei Hesters Eintritt etwas gesagt.

Sylvestra sah Hester mit verängstigtem, fragendem Blick an.

»Dr. Wade ist bei ihm«, erklärte Hester. »Rhys ist natürlich sehr erregt, aber es besteht keine echte Gefahr für ihn. Und er wird natürlich hierbleiben.« Sie senkte die Stimme. »Ich habe ihn gefragt, ob er schuldig sei, und er hat nachdrücklich den Kopf geschüttelt.«

»Aber…« stammelte Sylvestra. »Aber…« Sie sah erst Monk, dann Evan an, der hinter Hester stand.

»Das ist nicht besonders hilfreich, Hester!« sagte Monk scharf.

Sylvestra schien verwundert zu sein. Sie bewegte die Hände, als wolle sie nach etwas greifen. Ihre Haltung und ihr Verhalten ließen ahnen, daß sie sich immer mehr einem Zustand der Hysterie näherte. In diesem Augenblick war ihre Not größer als die ihres Sohnes.

Hester stellte sich neben sie und griff nach ihren Armen.

»Heute abend können wir nichts mehr tun, aber morgen früh müssen wir Pläne machen. Rhys ist angeklagt worden, und wir müssen darauf reagieren, irgendwie. Mr. Monk ist Privatermittler. Mag sein, daß es noch mehr herauszufinden gibt, und selbstverständlich werden Sie den besten Rechtsbeistand hinzuziehen, den Sie finden können. Im Augenblick müssen Sie vor allem Ihre Kräfte sammeln. Dr. Wade wird zweifellos seine Schwester von den Ereignissen informieren, aber wenn es Ihnen die Sache erleichtert, könnte ich mit Mrs. Kynaston reden.«

»Ich… weiß nicht…« Sylvestra zitterte heftig, und Hester spürte, wie kalt ihre Haut geworden war.

Evan räusperte sich beklommen. Er hatte seine Aufgabe hier erfüllt und hätte den Schmerz dieser Frau nicht mit ansehen sollen. Seine und Monks Anwesenheit verstieß gegen jedes Feingefühl. Er sah Hester an. Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit galt Sylvestra, so daß sie ihn und Monk kaum wahrnahm.

»Hester…« Es war Monk, der sprach, auch wenn seine Stimme stockend klang.

Evan sah ihn an. Das tiefe Mitleid, das seine Züge verrieten, brachte Evan einen Augenblick lang vollkommen aus dem Gleichgewicht, bis er begriff, daß es Hester galt, nicht der Frau, die gerade einen solch vernichtenden Schlag erhalten hatte. Es war nicht nur Mitleid, was Evan sah, sondern auch eine brennende Bewunderung und eine Zärtlichkeit, die Monks ganze Abwehr Lügen strafte.

Evan wünschte sich von Herzen, Hester möge sich umdrehen und dies ebenfalls in Monks Gesicht lesen, aber die Qualen, die sie um Sylvestras willen ausstand, machten sie blind gegen alles andere.

Evan ging zur Tür. Er war schon in der Halle, als er Dr. Wade die Treppe hinunterkommen sah. Wade wirkte hager, und die Verletzung am Bein, die er sich bei seinem Unfall zugezogen hatte, äußerte sich nach wie vor in einem leichten Humpeln.

»Es ist vollkommen unmöglich, ihn zu transportieren«, sagte er, als er sich der untersten Stufe näherte. »Ob er in der Verfassung sein wird, eine Verhandlung mitzumachen, kann ich noch nicht sagen.«

»Um uns darüber eine Meinung zu bilden, werden wir mehr als einen medizinischen Experten hören müssen«, antwortete Evan. Er bemerkte Wades angespannten Gesichtsausdruck, die Dunkelheit in seinen Augen und etwas, das vielleicht sogar Angst sein mochte oder der Schatten einer Angst, die die Zukunft bringen würde.

»Sergeant…«

»Ja, Doktor?«

»Haben Sie…« Wade biß sich auf die Unterlippe. Was er sagen wollte, schien ihm ungeheuer schwerzufallen. Er rang mit sich, zauderte am Rand einer Entscheidung und fand endlich die Kraft dazu. »Haben Sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß er geistig nicht ganz gesund ist… nicht für seine Taten verantwortlich, so wie Sie und ich den Begriff Verantwortung verstehen?«

Wade akzeptierte also Rhys’ Schuld! Waren es wirklich nur die Beweise, die sie vorgelegt hatten? Oder wußte er etwas von Rhys selbst, aus irgendwelchen Gesprächen? Hatte er im Laufe der Jahre eine tiefere Einsicht in den Charakter des jungen Mannes gewonnen?

»Kein Mann könnte diesen Frauen das angetan haben, Doktor, und geistig gesund sein, so wie Sie und ich diesen Ausdruck verstehen«, erwiderte er schnell. »Es ist nicht an uns, ein Urteil zu fällen, und dafür danke ich Gott.«

Wade holte tief Luft und stieß den Atem dann mit einem Seufzen wieder aus, bevor er Evan zum Abschied zunickte und an ihm vorbei zum Salon ging.