11

Monk war überzeugt davon, daß jeder Versuch, mildernde Umstände für Rhys Duff zu finden, zum Scheitern verurteilt war. Rhys war ein junger Mann, den ein Mangel an Selbstbeherrschung und maßlose Begierden erst zum Vergewaltiger, dann zum Mörder hatten werden lassen. Seltsamerweise aber waren es die Schläge, die Monk ihm nicht verzeihen konnte. Sie schienen ihm mehr als all die anderen Verbrechen eine unnötige Grausamkeit zu sein.

Nichtsdestoweniger wollte er es versuchen, um Hesters willen. Er hatte sein Versprechen gegeben, vielleicht von den Gefühlen des Augenblicks fortgerissen, und jetzt mußte er Wort halten.

Trotzdem galten seine Gedanken, als er nach St. Giles zurückkehrte, weniger Rhys als anderen Dingen. Die Verachtung in den Blicken der Menschen, die ihn früher gekannt hatten, ließ ihn nicht los. Sie hatten keinen Hehl daraus gemacht, daß Runcorn ihnen lieber war, daß er ihnen leid tat. Runcorn, wie er heute war, machte Monk wütend. Er war selbstherrlich, engstirnig und egoistisch. Aber vielleicht war er nicht immer so gewesen. Es war durchaus denkbar, daß, was immer zwischen ihnen vorgefallen sein mochte, zu einer Verzerrung seines ursprünglichen Wesens beigetragen hatte.

Wenn irgend jemand Monk das als Ausrede für sein eigenes Verhalten präsentiert hätte, hätte er es als genau das zurückgewiesen – als Ausrede. Wenn Runcorn nicht die Kraft, den Anstand oder den Mut aufbrachte, sich darüber zu erheben, dann hätte er, Monk, dazu in der Lage sein müssen. Anderen gegenüber konnte er eine Milde walten lassen, die er für sich selbst nicht hätte geltend machen können.

Monk befand sich nun in der Oxford Street und ging Richtung Süden. Gleich würde der Hansom stehenbleiben und ihn aussteigen lassen. Den Rest des Weges wollte er zu Fuß zurücklegen, obwohl er noch nicht genau wußte, wohin er sich wenden sollte. Um ihn herum herrschte dichter Verkehr, von überall her wurden Rufe laut, das Wiehern der Pferde, das Knarren der Geschirre und das leise Zischen der Räder im Regen vermischten sich miteinander zu einem altvertrauten Geräusch.

Er mußte sich auf Rhys Duff konzentrieren. Wonach konnte er suchen? Was konnte man als mildernde Umstände in Betracht ziehen? Ein Unfall kam nicht in Frage. Es mußte ein vorsätzlich geführter Kampf gewesen sein, der solange ausgefochten worden war, bis beide Männer sich nicht einmal mehr hatten bewegen können. Provokation? Das war ein Argument, das man für Leighton Duff in die Waagschale hätte werfen können, Zorn und Entsetzen über die Entdeckung dessen, was sein Sohn getan hatte. In Rhys’ Fall hatte keine Provokation vorgelegen, und es wäre unglaubwürdig gewesen, etwas Derartiges zu behaupten. Es sei denn, da wäre noch etwas anderes gewesen. Irgendein anderer Streit, der seinen Höhepunkt in der Water Lane erreicht hatte. Würde das irgend etwas entschuldigen? Waren Umstände denkbar, unter denen man ein derart gewalttätiges Ende, einen Mord, verstehen konnte? Monk konnte sich nichts Derartiges vorstellen. Leighton Duff war nicht an einem Schlag auf den Schädel gestorben, der auf einen einzigen schrecklichen Augenblick der Unbeherrschtheit zurückzuführen gewesen wäre. Man hatte ihn zu Tode geprügelt, Schlag um Schlag.

Der Hansom blieb stehen, Monk stieg aus und bezahlte den Kutscher, bevor er durch den Regen auf die erste Gasse zuging, die von der Straße abzweigte. Der Geruch des Schmutzes wurde ihm langsam vertraut, die schmalen, grauen Gebäude, die schiefen Mauern, das Gefühl, daß die knarrenden Gebäude jeden Augenblick einstürzen mußten, während der Wind lose herabhängende Leinwand aufblähte oder durch zerbrochenes Glas pfiff.

Das »Heilige Land« hatte vor zwanzig Jahren schon genauso ausgesehen, nur war es damals gefährlicher. Monk schlug den Kragen hoch und schob die Hände tiefer in seine Taschen. Es war nutzlos, den Pfützen ausweichen zu wollen; die Rinnsteine flössen überall über. Die einzige Lösung dieses Problems war die, eigens für solche Zwecke alte Stiefel aufzubewahren.

Was hatte Leighton Duff an jenem Abend veranlaßt, Rhys zu folgen? Hatte er irgend etwas bemerkt, das ihn voller Entsetzen hatte begreifen lassen, was sein Sohn tat? Was konnte das gewesen sein, und warum hatte Evan es nicht gefunden? Hatte Leighton Duff es zerstört oder mitgenommen, um Rhys damit zu konfrontieren? Wenn ja, warum hatte man es dann nicht bei seiner Leiche gefunden? Rhys hatte den Schauplatz nicht verlassen. Hatten dann vielleicht Arthur oder Duke Kynaston den Beweis mitgenommen und anschließend zerstört?

Oder gab es einen solchen Beweis gar nicht, und war Leighton Duff lediglich einem Verdacht gefolgt? Was hatte den Ausschlag gegeben, daß er Rhys gerade an diesem Abend gefolgt war?

War es möglich, daß er ihm schon früher gefolgt war? Monk überquerte einen schmalen Innenhof, auf dessen gegenüberliegender Seite sich eine Schmiede befand. Schon bevor er das Gebäude erreichte, konnte er die Wärme des Brennofens spüren und das Feuer riechen, das brennende Metall und das feuchte Fell der Pferde.

Als er hastig weiterging, bevor die Wärme ihn zum Bleiben verlocken konnte, kam ihm ein neuer Gedanke. Hatte Leighton Duff vielleicht ebenfalls Prostituierte aufgesucht, und war das der Grund, warum er überhaupt von Rhys’ Verhalten erfahren hatte? Und, um die Frage weiterzuverfolgen, wie hatte er davon erfahren? War Rhys mit einer Verletzung zurückgekehrt, und hatte er seinem Vater erklären müssen, woher er die Kratzer oder Prellungen hatte? Gewiß nicht. Seine Eltern hätten ihn wohl kaum wegen geringerer Verletzungen zur Rede gestellt, und wenn ja, hätte er sicher eine einfachere Erklärung gefunden. Er hätte einen Boxkampf erfinden können, der ein wenig zu weit gegangen war, ein Mißgeschick beim Reiten, eine Rauferei auf der Straße, ein Dutzend Dinge. Monk nahm sich vor, Sylvestra Duff zu fragen, ob derartige Dinge vorgekommen waren.

Was, wenn Leighton selbst in Seven Dials gewesen war, vielleicht bei einer ganz bestimmten Prostituierten? Diese Theorie erklärt, warum er von Rhys’ Anwesenheit in diesem Bezirk und den Vergewaltigungen dort gewußt hätte. Außerdem würde es teilweise erklären, warum Rhys so wütend darüber war, daß sein Vater ihn zur Rede stellte. Die blanke Heuchelei dieses Tuns konnte ihn wütend gemacht haben.

Und wenn er über die Beziehung seines Vaters zu solchen Frauen Bescheid wußte, konnte das vielleicht auch seine eigene Gewalttätigkeit gegenüber Prostituierten erklären. Hatte er aus dem Gefühl heraus gehandelt, daß seiner Familie, vor allem seiner Mutter, Unrecht getan worden war? Das wäre zumindest ein Ansatzpunkt für mildernde Umstände. Falls es der Wahrheit entsprach und sich beweisen ließ.

Als erstes mußte Monk feststellen, ob irgend jemand in St. Giles Leighton Duff auch an einem anderen Abend als dem seines Todes gesehen hatte. War er in einem der Bordelle bekannt? Wenn ja, würde man ihn dort nur vom Sehen kennen. Ein so welterfahrener Mann wie Leighton Duff würde kaum seinen eigenen Namen benutzen. Während die Gesellschaft sehr wohl wußte, daß viele Gentlemen in solchen Häusern Vergnügungen suchten, war es doch eine ganz andere Sache, in einem davon entdeckt zu werden. Eine solche Ungeschicklichkeit würde dem Ruf eines Mannes schaden, vielleicht sogar irreparablen Schaden zufügen.

Monk blieb abrupt stehen und wäre beinahe über den Bordstein gestolpert. Mit ungewöhnlicher Schärfe kehrte die Erinnerung zurück. Natürlich konnte ein Mann durch ein solches Verhalten ruiniert und zur Zielscheibe hämischer Witze werden, und der Grund dafür war dann weniger seine fleischliche Schwäche als die Absurdheit der lächerlichen Situation, in der er ertappt worden war. Die Würde dieses Mannes war für alle Zeit zerstört. Die Untergebenen des Betreffenden lachten ihn aus, ihr Respekt schmolz dahin. Von Autorität konnte keine Rede mehr sein.

Warum hatte er an Autorität gedacht?

Ein Richter. Es war ein Richter gewesen, den man bei einer Polizeirazzia in einem Bordell gefunden hatte. Er hatte sich mit einem dicken, dreisten Mädchen von etwa vierzehn Jahren vergnügt. Als die Polizei das Haus betreten hatte, war er im Hemd und mit fliegenden Haaren aus dem Zimmer gestürzt gekommen; er hatte seine Brille vergessen, war gestolpert und die Treppe hinuntergestürzt. Am Ende war er direkt vor den Füßen des Polizeibeamten gelandet, das Hemd über den Kopf gestülpt, so daß kaum noch etwas der Phantasie überlassen blieb. Monk war nicht dabeigewesen. Er hatte später davon gehört und gelacht, bis er vor Tränen nichts mehr sehen konnte und ihm die Rippen weh taten.

Warum fiel ihm das jetzt wieder ein? Der Zwischenfall war immer noch komisch, aber es mußte irgendeine Ungerechtigkeit damit verbunden gewesen sein, irgendein Schmerz.

Warum? Warum sollte Monk deswegen Gewissensbisse haben? Der Mann war ein Heuchler, der Frauen für ein Verbrechen verurteilte, bei dem er selbst mittat. Sie dafür bestrafte, daß sie eine Ware feilboten, die er selbst nur allzu offensichtlich kaufte.

Und doch verspürte Monk immer noch dieses Gefühl des Bedauerns, als er sich nach links wandte und abermals die Straße überquerte. Unbewußt ging er auf eines der größeren Bordelle zu. Wollte er dort nach Leighton Duff fragen? Oder war das das Haus, in dem seinerzeit die Razzia stattgefunden hatte? Warum sollte die Polizei eine Razzia in einem Bordell in St. Giles machen – in dem »Heiligen Land«? Dieses Viertel war übersät von Bordellen, und niemand scherte sich darum. Es mußte irgendeinen anderen Grund gegeben haben, Diebstahl, Fälschung, vielleicht auch etwas Ernsteres wie eine Entführung oder gar einen Mord. Das wäre Rechtfertigung genug gewesen.

Vida Hopgood war mit dem Abschluß des Falles zufrieden. Mit einem leisen Lächeln dachte er an ihr Gesicht, als er ihr von Rhys Duff und dessen Freunden erzählt hatte. Es war keine vollkommene Lösung, daß Arthur und Duke Kynaston der Bestrafung entgehen sollten, aber das mußte nicht unbedingt auf Dauer so bleiben. Sie kehrten wahrscheinlich nicht noch einmal nach Seven Dials zurück, und wenn doch, würde man ihnen dort einen überaus unerfreulichen Empfang bereiten. Vielleicht sollte er, Monk, sie davor warnen? Möglicherweise rettete er ihnen damit das Leben, was ihn allerdings nicht allzusehr interessierte. Aber er hatte dann keine Beihilfe zum Mord auf dem Gewissen, falls die beiden jungen Männer töricht genug wären, seine Worte unbeachtet zu lassen.

Auf dem Revier ging Monk sogleich zu Evan, der mittlerweile mit einem neuen Fall befaßt war.

»Dürfte ich mir Ihre Bilder von Rhys und Leighton Duff ausborgen?« fragte er, als sie in Evans winzigem Büro saßen.

Evan war überrascht. »Wozu? Ist Vida Hopgood nicht zufrieden?«

»Doch. Ich arbeite im Augenblick nicht für sie.« Es wäre Monk lieber gewesen, Evan nicht sagen zu müssen, daß er versuchte, Rhys Duffs Kopf zu retten, daß er also in gewisser Weise gegen Evan arbeitete.

»Für wen dann?« Evan sah ihn eindringlich an, und seine haselnußbraunen Augen leuchteten.

Evan würde früher oder später sowieso erfahren, daß Rathbone die Verteidigung übernommen hatte. Der Sergeant mußte bei der Verhandlung aussagen, und spätestens dann erfuhr er es.

»Rathbone«, antwortete Monk angespannt. »Er möchte gern mehr darüber wissen, was vor jener Nacht passiert ist.«

Evan sah ihn an. In seinem Gesicht standen weder Ärger noch das Gefühl, hintergangen worden zu sein. Tatsächlich wirkte er eher erleichtert.

»Sie meinen, Hester hat Rathbone überredet, Rhys zu verteidigen, und Sie versuchen, den beiden zu helfen«, bemerkte Evan mit einem Unterton, der nach Zufriedenheit klang.

Es mißfiel Monk, daß Evan glaubte, er arbeite für Hester, noch dazu in einem derart hoffnungslosen Fall. Und am schlimmsten war es, daß Evans Vermutung der Wahrheit entsprach. Monk kämpfte gegen Windmühlen, wie ein Idiot. Es paßte überhaupt nicht zu ihm, fügte sich in keiner Weise zu dem, was er über sich selbst wußte, und er tat es nur deshalb, um Hesters Schmerz zu lindern, wenn sie mit ansehen mußte, wie Rhys Duff verurteilt wurde. Es war ein Verbrechen, für das man ihn hängen würde, und Hester konnte nichts tun, um ihm auch nur den leisesten Trost anzubieten. Bei dem Gedanken an ihren Schmerz krampfte sich alles in Monk zusammen. Dafür allein hätte er Rhys Duff und seine selbstsüchtigen, zwanghaften Begierden hassen können, seine Grausamkeit, seine Dummheit und seine gedankenlose Gewalttätigkeit.

»Ich arbeite für Rathbone«, fuhr er Evan an. »Es ist zwar absolute Zeitverschwendung, aber wenn ich es nicht tue, wird er sich einen anderen suchen und das Geld der armen Mrs. Duff verschwenden. Ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Kummer, den all das ihr bereiten muß. Sie hat weiß Gott schon genug zu ertragen!«

Evan erhob keine Einwände, obwohl Monk das bei weitem lieber gewesen wäre. Es war eine Ausflucht gewesen, und Monk wußte, daß Evan es durchschaute. Statt einer Antwort wandte sich der Sergeant nun mit einem leichten Lächeln seiner Schreibtischschublade zu und nahm achselzuckend zwei Bilder heraus, die er an Monk weiterreichte.

»Ich hätte sie gern zurück, wenn Sie sie nicht mehr brauchen, falls sie als Beweise benötigt werden.«

»Vielen Dank«, sagte Monk deutlich weniger höflich, als Evan es verdient hatte. Er schlug die Bilder vorsichtig in ein Stück Papier und steckte sie in eine Tasche. Dann verabschiedete er sich von Evan und verließ mit schnellem Schritt das Polizeirevier. Er zog es vor, daß Runcorn nichts von seinem Besuch dort erfuhr. Das Letzte, was er wollte, war eine Zufallsbegegnung mit diesem Mann.

Es würde ein langer, kalter Tag werden, und erst der Abend war der beste Zeitpunkt, um die Menschen zu treffen, die auch am Mordtag in dieser Gegend unterwegs gewesen waren und Rhys oder Leighton Duff oder einen der beiden Kynastons gesehen hatten. Wütend über seine eigene Hilflosigkeit, mit nassen und von der Kälte beinahe tauben Füßen, kehrte Monk nach St. Giles zurück, wo er in einem Lokal eine heiße Fleischpastete, Kartoffeln, Zwiebeln und einen gedämpften Pudding mit einer einfachen Soße aß.

Anschließend verbrachte er mehrere Stunden damit, Nachforschungen anzustellen und die verschiedensten Leute zu befragen. Er ging langsam durch Gassen und Straßen, treppauf, treppab, immer tiefer hinein in den ältesten, seit Generationen unveränderten Teil des Bezirks. Wasser tropfte von verfaulenden Dachtraufen, die Steine waren mit Schlamm bedeckt, Holz knarrte, und Türen hingen schief, aber festverschlossen in ihren Angeln. Vor und hinter ihm bewegten sich schattengleiche Gestalten. Im einen Augenblick erschien seine Umgebung ihm fremdartig, erschreckend, wie ein Moloch, der ihn zu verschlingen drohte; im nächsten Augenblick glaubte er, etwas Vertrautes zu entdecken. Manchmal bog er um eine Ecke und sah dort genau das, was er erwartet hatte, den Umriß eines Häuserblocks oder eine schiefe Mauer, eine Tür mit gewaltigen Eisenbeschlägen, deren Muster er mit geschlossenen Augen hätte nachzeichnen können.

Monk erfuhr jedoch nichts Neues, außer daß er in der Vergangenheit hier gewesen war, und das wußte er bereits.

Er begann mit den größeren und teureren Bordellen. Wenn Leighton Duff in St. Giles zu Prostituierten gegangen war, dann war er am ehesten dort hingegangen.

Bis nach Mitternacht fragte, drohte, schmeichelte, schwatzte er – und erfuhr dabei nicht das Geringste. Wenn Leighton Duff in einem dieser Häuser gewesen war, konnten die Bordellwirtinnen sich entweder nicht an ihn erinnern, oder sie logen, um sich nicht wegen einer Indiskretion in Verruf zu bringen. Monk vermutete letzteres. Duff war tot, und sie hatten nicht viel zu befürchten, wenn sie Monks Fragen beantworteten. Er hatte nicht so viel von seinem früheren Charakter eingebüßt, daß er Menschen, die am Rande des Verbrechens lebten, nicht irgendwelche Informationen hätte abpressen können. Monk verstand sich zu gut auf diese Dinge, um sie nicht zu benutzen.

Er ging gerade durch eine kurze Gasse Richtung Regent Street, als er einen Droschkenkutscher auf dem Gehsteig stehen sah. Der Mann unterhielt sich mit einem Sandwichverkäufer und schauderte, als der Wind um die Ecke peitschte und ihn mit einem Schwall eisiger Luft traf.

Monk nahm einen Penny aus der Tasche und kaufte sich ein übergroßes Sandwich. Er biß mit echtem Genuß hinein. Es war sehr gut, frisches Brot mit einer knusprigen Kruste und einer dicken, großzügig mit einem Rhabarber-Chutney bestrichenen Scheibe Schinken.

»Gut«, sagte er mit vollem Mund. »Haben Sie Ihre Vergewaltiger schon gefunden?« fragte der Kutscher mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte traurige, ziemlich vorstehende, blaßblaue Augen.

»Ja, vielen Dank«, erwiderte Monk lächelnd. »Arbeiten Sie schon lange an dieser Stelle?«

»Ungefähr acht Jahre jetzt. Warum?«

»Nur so.« Er wandte sich dem Sandwichverkäufer zu. »Und Sie?«

»Fünfundzwanzig«, antwortete er. »Mehr oder weniger.«

»Kennen Sie mich?«

Der Mann blinzelte. »Klar kenne ich Sie. Was für ‘ne Frage soll das sein?«

Monk wappnete sich gegen das Kommende. »Erinnern Sie sich an eine Razzia in einem Bordell – schon vor ziemlich langer Zeit –, als ein Richter dort gefunden wurde? Er ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich übel dabei weh getan.« Er hatte seinen Satz noch nicht ganz beendet, als die Miene des Mannes ihm seine Frage bereits beantwortete. Sein Gesicht verzog sich vor Lachen, und ein tiefes, belustigtes Kichern folgte.

»Und ob!« rief er fröhlich. »Klar erinnere ich mich daran! Das war ein elender Mistkerl, der alte Gutteridge. Hat Polly Thorp für drei Jahre in den Bau geschickt, bloß weil irgendein Kerl, dem sie einem Gefallen getan hat, sagte, sie hätte sein Geld gestohlen, als er gerade zufällig die Hosen runter hatte!« Er lachte noch einmal und blies dabei die Wangen auf, die im Schein der Laternen von der anderen Straßenseite leuchteten.

»Den haben sie schön erwischt! Mit runtergelassenen Hosen und allem, was dazugehört. Danach hat man ihn nicht mehr auf der Richterbank gesehen. Wie gern hat er früher den einen zu vier Jahren verknackt und den anderen zu fünf, aber nach dieser Sache damals war der Spaß für ihn vorbei. Man konnte die Leute im ganzen Heiligen Land lachen hören, an jeder Straßenecke. Runcorn soll angeblich den Lorbeer dafür geerntet haben, aber ich habe mich immer gefragt, ob Sie nicht eigentlich dahinter gesteckt haben, Mr. Monk. Viele von uns haben das geglaubt. Sie waren, sozusagen, zu der Zeit gerade nicht da.«

»So haben Sie die Sache also damals gesehen?« fragte Monk langsam. »Nun, das ist jetzt lange her.« Er wollte das Thema wechseln. Monk geriet immer mehr ins Schleudern und konnte es sich nicht leisten, diesen Leuten seine Verletzlichkeit zu zeigen. Sein Erfolg hing davon ab, daß sie ihn fürchteten und respektierten. Er zog das Bild von Leighton Duff aus der Tasche und zeigte es dem Sandwichverkäufer. »Haben Sie diesen Mann jemals gesehen?«

Der Sandwichverkäufer hielt das Bild ein wenig schräg, damit das Licht der nächsten Straßenlaterne darauffiel. Er dachte einige Sekunden lang nach.

»Ja, das war der Herr, den sie in der Water Lane alle gemacht haben. Das Bild hier hat mir schon mal einer gezeigt. Ein Polyp. Und weswegen wollen Sie das jetzt wissen?«

»Ich habe nur überlegt, ob er vielleicht schon früher irgendwann mal hier war«, erwiderte Monk.

Der Droschkenkutscher sah ihn neugierig an.

»He, einen Augenblick mal!« sagte er aufgeregt. »Den habe ich schon mal gesehen. Nicht an dem Abend, an dem er den Löffel abgegeben hat, aber vorher habe ich ihn mal gesehen, ungefähr zwei Wochen davor. Es war an dem Abend vor Weihnachten, das weiß ich! Das würde ich beschwören.«

Monk spürte, wie seine Muskeln sich strafften und sein Herz ein wenig schneller schlug. Es war die Witterung des Sieges, die er in der Nase hatte, ein vertrauter, scharfer Geruch. »Am Abend vor Weihnachten, und er war hier, in St. Giles?«

»Ja! Habe ich das nicht grade gesagt? Der sah ganz schön mitgenommen aus an dem Abend, als hätte er eine Schlägerei hinter sich. Blut im Gesicht und auf den Ärmeln, jawohl.«

Monk schluckte. »Sehen Sie noch einmal genau hin. Sind Sie sich sicher?«

»Ja, bin ich. Die Ohren, verstehen Sie?« Er sah Monk lächelnd an. »Ich habe was übrig für Ohren. Die Ohren von den Leuten sind immer verschieden. Ist Ihnen das mal aufgefallen?«

»Ja! Ja, das ist es. Und was war an den Ohren dieses Mannes, das Sie so gut in Erinnerung behalten haben?« Während er sprach, schob er die Hand über die Bilder, um die Ohren zu verdecken.

»Lang«, antwortete der Droschkenkutscher ohne Zögern.

»Lang und schmal, mit ganz schweren Ohrläppchen dran. Nehmen Sie mal den Finger da weg und sehen Sie es sich an. Ich habe recht.«

Monk gehorchte. Der Mann hatte in der Tat recht.

»Und er war voller Blut? Haben Sie irgendeine Verletzung bemerkt?« Er wollte diese Frage nicht stellen. Es ließ sich zu leicht widerlegen. Schon spürte er, wie diese neue Fährte ihm abermals entglitt.

»Nein, ich habe nur das Blut gesehen. Muß nicht unbedingt seines gewesen sein. Außerdem sah er irgendwie betrunken aus. War ein bißchen wacklig auf den Beinen, aber durchaus zufrieden, als hätte er gerade irgendwas besonders gut hingekriegt. Also hat der andere Kerl vielleicht den kürzeren gezogen und eins auf die Nase gekriegt?«

»Ja, vielleicht. War er allein? Haben Sie noch jemanden gesehen?« War Rhys bei ihm gewesen, dicht hinter ihm, oder war er am Schauplatz des Kampfes zurückgeblieben? Dieser Beweis war beinahe zu gut, um wahr zu sein. Vielleicht würde er Hester doch irgend etwas Handfestes bringen können! Oder eher Runcorn etwas nehmen.

»Ja, da war noch wer«, meinte der Droschkenkutscher nachdenklich. »Ich könnte aber nicht sagen, wie der ausgesehen hat. War bloß ein Schatten. Irgendwie groß und dünn, obwohl das nicht leicht zu sagen ist. Und er hatte einen guten Mantel an. Verdeckt eine ganze Menge, ein guter Mantel.«

»Groß und dünn«, wiederholte Monk langsam. »Und sein Gesicht? War er eher ein dunkler oder ein heller Typ? Jung oder alt?« Der zweite Mann mußte doch Rhys gewesen sein oder nicht? »Und war er ebenfalls verletzt?«

»Mann, hetzen Sie mich nicht so!« protestierte der Kutscher.

»Ich kann immer nur eine Frage gleichzeitig beantworten.«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?« fragte Monk, der sich mit Mühe beherrschte.

»Irgendwie schon, so halb.«

»Dunkle Haare oder blonde?«

»Dunkle. Ganz dunkle.«

Monk schluckte. »Und war er verletzt, konnten Sie das sehen?«

»Ja, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, war der andere auch voller Blut. Nicht so sehr, wenn ich mich recht erinnere. Aber, doch, der sah auch ganz schön mitgenommen aus. Ich schätze, sein Mantel war schwer zerrissen, und irgendwie sah er auch naß aus. Warum fragen Sie das, Chef? Wen interessiert das jetzt noch? Sie haben ihn doch, oder?«

»Ja. Es geht nur darum, ein wenig Ordnung in die Sache zu bringen, für die Beweisaufnahme vor Gericht. Sie sind sich ganz sicher, was das Datum betrifft?«

»Ja, habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Vielen Dank. Sie waren mir eine große Hilfe. Wären Sie jetzt wohl so freundlich, mich in die Ebury Street zu fahren? Hier, nehmen Sie doch auch ein Sandwich.« Er gab dem Sandwichverkäufer drei Pennys und erhielt noch zwei Brote.

»Essen Sie auch eins«, fügte er wohlgelaunt hinzu. »Die Brote sind sehr gut.« Eines gab er dem Droschkenkutscher, das andere dem Verkäufer und ging dann mit langen Schritten auf den Hansom zu. Er bedauerte nur, daß er nicht auch etwas für das Pferd hatte.

In der Ebury Street dankte er dem Kutscher noch einmal, bevor er die Stufen hinaufging und die Glocke läutete. Als ein grimmig dreinblickender Wharmby ihm die Tür öffnete, bat er darum, Mrs. Duff sprechen zu dürfen.

»Es tut mir leid, Sir, aber Mrs. Duff empfängt niemanden«, erwiderte Wharmby entschlossen.

»Bitte teilen Sie ihr mit, daß ich für Sir Oliver Rathbone arbeite und ihr eine Frage stellen muß, die den Fall betrifft«, sagte Monk mit derselben ungerührten Teilnahmslosigkeit. »Es ist wichtig, daß ich eine Antwort erhalte, bevor ich weitermache. Es wäre sehr wichtig für Mr. Rhys Duff.«

»Jawohl, Sir, ich werde es ihr mitteilen.« Wharmby zögerte. Es gab nichts mehr zu sagen, aber der Butler rührte sich dennoch nicht von der Stelle.

Monk wartete. Er hätte ihn gern zum Sprechen gedrängt, fürchtete jedoch ein zu direktes Vorgehen.

»Erinnern Sie sich an Weihnachten, Wharmby?« fragte er möglichst beiläufig.

»Jawohl, Sir.« Wharmby war überrascht.

»Auch an den Abend davor?«

Wharmby nickte. »Ja, Sir. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wer war am betreffenden Abend hier im Haus?«

»Niemand, Sir. Mrs. Duff ist mit Mrs. Wade in ein Konzert gegangen, Mr. Rhys war zum Dinner bei den Kynastons eingeladen, und Mr. Duff ist geschäftlich unterwegs gewesen.«

»Ich verstehe.« Da war er wieder, der Geschmack des Sieges.

»Und wie haben sie sich benommen, als sie nach Hause zurückkamen oder als Sie sie das nächste Mal sahen?«

»Wie sie sich benommen haben, Sir? Ganz normal, wenn man bedenkt, daß Weihnachten war.«

»Keiner war irgendwie verletzt? Vielleicht ein unbedeutender Verkehrsunfall oder etwas in der Art?«

»Ich glaube, Mr. Duff hatte einen Kratzer im Gesicht. Er sagte, es sei ein Stein gewesen, den eine zu schnell fahrende Kutsche aufgewirbelt hatte. Warum, Sir? Ist das irgendwie von Bedeutung? Können Sie… können Sie Mr. Rhys helfen, Sir?« Wharmbys Gesicht war von Neugier verzogen, und seine Augen waren voller Angst, als fürchte er sich vor der Antwort. Er hatte es beinahe nicht gewagt, diese Frage überhaupt zu stellen.

Monk war verwirrt. Eine derartige Besorgnis paßte nicht zu dem Bild, das Monk sich von Rhys Duff gemacht hatte. Ging der gewaltsame Tod seines Herrn dem Butler nicht näher? Oder war es jetzt Sylvestra, der sein Kummer galt, der Gedanke an ihren zweiten Verlust, der sie noch bei weitem schlimmer treffen mußte als der erste?

»Ich weiß es nicht«, sagte er aufrichtig. »Ich tue alles, was ich kann. Es ist möglich, daß diese Entdeckung… die Dinge ein wenig abmildern würde. Vielleicht brauchen Sie Mrs. Duff doch nicht zu stören. Wenn Sie sagen, daß Mr. Rhys erzählt hat, er wolle an dem betreffenden Abend zu den Kynastons, dann kann ich dort um eine Bestätigung dieser Tatsache bitten. Wenn Sie mir wohl die Adresse der Kynastons geben könnten?«

»Gewiß, Sir. Ich werde sie Ihnen aufschreiben.« Und ohne auf eine Zustimmung zu warten, verschwand Wharmby und kehrte einige Sekunden später mit einem Stück Papier zurück, auf dem in gestochen scharfer Handschrift eine Adresse stand. Monk dankte ihm und verließ das Haus, um sich eine neue Droschke zu suchen.

An seinem Ziel angekommen, bat er darum, mit Mr. Kynaston sprechen zu dürfen.

Widerstrebend führte man ihn in die Bibliothek. Dort brannte kein Feuer, aber der Kamin war noch warm. Joel Kynaston kam herein, zog die Tür hinter sich zu und musterte Monk von oben bis unten mit verächtlichem Blick. Er war ein Mann von unverwechselbarem Äußeren, mit dichtem, sehr schönem, kastanienbraunem Haar, einer dünnen Nase und einem ungewöhnlichen Mund. Er war durchschnittlich groß und von schlankem Körperbau, und im Augenblick war er eindeutig ungeduldig.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er energisch. »Mein Butler hat mich darüber informiert, daß Sie Fragen haben, die Rhys Duff und die bevorstehende Verhandlung betreffen. Ich finde die ganze Angelegenheit überaus unangenehm. Mr. Leighton Duff war ein enger persönlicher Freund von mir, und sein Tod ist für meine ganze Familie eine Tragödie. Wenn ich in der Sache der Gerechtigkeit dienen kann, dann ist es meine Bürgerpflicht, das zu tun, und ich scheue nicht davor zurück. Aber ich muß Sie warnen, Sir, ich habe weder den Wunsch noch die Absicht, noch weiter zu dem Schmerz der Familie Duff beizutragen. Und ich werde auch meiner eigenen Familie keinen Kummer bereiten, um Ihnen zu helfen. Was wollen Sie also von mir?«

»War Mr. Rhys Duff am Abend vor dem Weihnachtstag in Ihrem Haus zu Gast, Mr. Kynaston?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich war selbst nicht daheim. Warum ist das wichtig? Leighton Duff war zu diesem Zeitpunkt vollkommen unverletzt und erfreute sich bester Gesundheit. Was geht es Sie an, ob Rhys hier war oder nicht?«

Monk konnte verstehen, daß Joel Kynaston seine Söhne beschützen wollte, die, wie er durchaus befürchten mochte, vielleicht auf eine tragische Weise mit dem Schicksal der Familie Duff zu tun hatten. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, daß ihn selbst der Vorwurf traf, ebensowenig über das Verhalten seiner Söhne Bescheid gewußt zu haben wie Leighton Duff. Hätte das Schicksal es anders gewollt, hätte er als erster von dem Treiben der jungen Männer erfahren. Dann wäre vielleicht er in der Water Lane erschlagen worden, und Monk hätte jetzt ebendiese Fragen an Leighton Duff gerichtet. Es war nicht schwer zu begreifen, daß Mr. Kynaston angespannt, bekümmert und nicht bereit war, Monk oder irgend jemandem sonst zu gestatten, noch tiefer in der Wunde zu graben.

»Es scheint mir möglich zu sein, daß es in der Nacht von Mr. Duffs Tod nicht zum ersten Mal zwischen ihm und seinem Sohn zu einem Streit wegen Rhys’ Benehmen gekommen ist«, antwortete Monk. »Es gibt Beweise, die die Vermutung nahelegen, daß die beiden sich am Abend vor Weihnachten getroffen haben und es zu einer hitzigen Auseinandersetzung gekommen ist. Ich möchte nun gerne wissen, ob das der Wahrheit entspricht oder nicht.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, warum«, sagte Kynaston mit einem Stirnrunzeln. »Es scheint mir tragisch offensichtlich zu sein, was passiert ist. Leighton wurde klar, was Rhys tat, daß sein Verhalten unentschuldbar war, ganz gleich, welche Maßstäbe man anlegte, und erst recht für einen Gentleman. Seine Zügellosigkeit hatte jedes Maß überschritten, seine jüngste Schwäche war in unverhohlene Verderbnis ausgeartet. Sein Vater folgte ihm nach St. Giles und stellte ihn zur Rede, woraufhin Rhys ihn, von rasendem Zorn erfüllt, angriff. Mit Folgen, die uns nur allzugut bekannt sind.«

»War Rhys schon immer jähzornig, Mr. Kynaston?«

»Ich fürchte, ja. Als er noch ein Junge war, wurde sein Jähzorn im Zaum gehalten. Solange er sich in meiner Obhut befand, war es ihm niemals gestattet, sich derart gehen zu lassen. Was man ihm zu Hause gestattet hat, weiß ich natürlich nicht. Aber sein Vater machte sich Sorgen um ihn. Das zumindest hat er mir anvertraut. Ich möchte nichts Nachteiliges über die arme Frau sagen, die weiß Gott Schlimmeres zu leiden hat, als es irgendeinem Menschen auferlegt sein sollte, aber Mrs. Duff hat den Jungen im Laufe der Jahre sehr verzogen. Es war ihr verhaßt, ihn zu strafen, und sein Charakter hat darunter gelitten.«

»Verstehe. Ist jemand im Haus, den ich fragen könnte, ob Rhys an dem betreffenden Abend hier war?«

»Sie könnten wahrscheinlich meine Frau fragen. Sie war zu Hause, ebenso wie meine Söhne, wenn ich mich recht entsinne.« Diese Eröffnung verunsicherte Monk ein wenig, aber sie mußte nicht unbedingt das Ende seiner Theorie bedeuten. Es war durchaus denkbar, daß Rhys bei dieser Gelegenheit allein losgezogen war. Noch wahrscheinlicher war jedoch, daß Kynaston im Bezug auf sie alle irrte.

»Vielen Dank«, sagte Monk, der nicht recht wußte, ob Mrs. Kynastons Wort ihm genügen würde. Kaum hatte Kynaston sich der Tür zugewandt, machte Monk Anstalten, ihm zu folgen.

Kynaston blieb stehen. »Sie sind mir ein wenig zu schnell, Mr. Monk. Ich sähe es lieber, wenn Sie hier warten würden. Ich werde meine Frau befragen und Ihnen dann die Antwort mitteilen.«

»Das wäre durchaus möglich«, pflichtete Monk ihm bei.

»Dann müßte ich Sir Oliver davon in Kenntnis setzen, daß es mir nicht gestattet war, mit Mrs. Kynaston persönlich zu sprechen, und Sir Oliver könnte sich genötigt sehen, Ihre Frau vor Gericht in den Zeugenstand zu rufen.« Er sah den Hausherrn mit direktem, kaltem Blick an. »Andererseits, wenn ich selbst mit ihr und Ihren Söhnen sprechen könnte, würde sich das vielleicht als ausreichend erweisen.«

Kynaston versteifte sich. »Ich mag es nicht, wenn man mir droht, Mr. Monk!«

»Das mögen wohl nur wenige von uns«, antwortete Monk mit einem dünnen Lächeln. »Aber dennoch nehmen die meisten eine Drohung ernst.«

Kynaston sah ihn noch einen Augenblick länger an, erwog das Ausmaß von Monks Entschlossenheit, fuhr dann auf dem Absatz herum und bedeutete seinem Besucher den Weg.

Fidelis Kynaston war eine Überraschung für Monk. Er hatte keine speziellen Erwartungen gehabt, aber diese außergewöhnlich gefaßte Dame mit ihrem asymmetrischen Gesicht und ihrer ruhigen, wohlklingenden Stimme verblüffte ihn. Von ihrer inneren Gefaßtheit ging eine seltsame Faszination aus.

»Das ist Mr. Monk«, sagte Kynaston schroff und ohne ihn anzusehen. »Er möchte dir eine Frage bezüglich Rhys Duff stellen. Es ist wahrscheinlich ratsam, daß du ihm eine Antwort gibst.«

»Guten Tag, Mr. Monk«, grüßte sie freundlich. Ihr Gesicht spiegelte anders als das ihres Mannes eher Traurigkeit als Anspannung oder Ärger wider. Vielleicht hatte sie nicht die leiseste Ahnung von der Rolle, die ihre Söhne bei dem Verbrechen gespielt hatten, oder von dem Verhalten, das der Tat vorangegangen war. Kynaston konnte sie durchaus vor diesem Wissen abgeschirmt haben, in welchem Falle der Mann über bewundernswerte Eigenschaften verfügte, die Monk nicht bei ihm erwartet hatte. Und doch erkannte er, daß unter Fidelis’ Gefaßtheit Schmerz lag und eine Art Reglosigkeit in ihren Augen war, wie sie großer Selbstbeherrschung inmitten eines tiefen Unglücks entspringt. War es vorstellbar, daß sie beide es wußten und jeder den anderen vor der schrecklichen Wahrheit zu schützen versuchte, daß jeder diese Tragödie für sich allein trug?

»Es tut mir leid, daß ich Sie am Abend störe, Mrs. Kynaston«, sagte Monk aufrichtig. »Aber ich muß Sie bitten, sich auf den Abend vor Weihnachten zu besinnen. Können Sie mir sagen, ob Sie zu Hause waren, und wenn ja, wer bei Ihnen war und wie lange?«

»Aber gewiß«, erwiderte sie mit einem Hauch von Verwirrung. »Ich war zu Hause, und meine Söhne waren hier und Rhys Duff und Lady Sandon und deren Sohn, Mr. Rufus Sandon. Wir haben Karten gespielt und viel geredet, über alle möglichen Dinge, vor allem über die Erforschung Ägyptens. Rufus Sandon sprach mit großer Begeisterung über Monsieur Champollion und dessen Entzifferung des Rosetta-Steins. Rhys war fasziniert. Ich denke, er hätte mit Freuden die ganze Nacht zugehört.«

»Um wieviel Uhr ist er gegangen, Mrs. Kynaston?«

»Ich glaube, es war so etwa gegen zwei Uhr«, antwortete sie.

»Es war wirklich sehr spät. Aber der nächste Tag war der Weihnachtstag, und die jungen Leute wollten morgens lange schlafen, um auch am nächsten Abend bis zu später Stunde aufzubleiben. Ich erinnere mich, daß sie etwas in der Art sagten. Marmaduke war schon früher zu Bett gegangen. Das Gespräch interessierte ihn weniger als uns andere, die wir bis in die Nacht hinein zusammengeblieben sind. Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen, Mr. Monk? Können die Ereignisse jenes Abends Rhys heute in irgendeiner Weise helfen?« Es war nicht notwendig, sie zu fragen, ob es ihr Wunsch war, daß Rhys geholfen würde; ihr ganzes Verhalten sprach eine deutliche Sprache.

»Ich weiß „es nicht, Madam«, antwortete er offen. »Ihre Antwort ist nicht die, die ich erwartet hätte. Ich gestehe, daß ich einigermaßen verwirrt bin. Sie haben, was das Datum betrifft, nicht den leisesten Zweifel?«

»Ganz gewiß nicht. Wir haben ausdrücklich darüber gesprochen, daß am nächsten Tag Weihnachten war«, bekräftigte sie ihre Aussage.

»Vielen Dank. Sie waren sehr freundlich.«

»Dann wollen wir Sie jetzt nicht länger aufhalten, Mr. Monk«, sagte Kynaston schroff und genau in dem Augenblick, als Fidelis im Begriff war, noch etwas zu sagen.

Monk verneigte sich und verließ durch und durch verwirrt das Haus. Wenn Rhys bis zwei Uhr morgens bei den Kynastons gewesen war, dann konnte er unmöglich der Mann gewesen sein, mit dem Leighton Duff sich kurz nach Mitternacht in St. Giles geprügelt hatte. Monk zweifelte nicht an Fidelis’ Worten, aber es würde nicht weiter schwierig sein, sich eine Bestätigung von Lady Sandon zu holen. Er hatte nicht nach ihrer Adresse gefragt, aber eine Frau, die einen Titel führte, war gewiß leicht zu finden.

Sobald er wieder in seiner Wohnung war, ging er an seinen Schreibtisch und suchte seine Notizen über die Vergewaltigungen heraus. Sie waren chronologisch geordnet, und er brauchte nur wenige Sekunden, um festzustellen, daß seine Erinnerung ihn nicht getrogen hatte. Am Abend vor Weihnachten war es zu einer besonders brutalen Vergewaltigung gekommen, und zwar kurz vor Mitternacht. Außerdem war die Frau sich ziemlich sicher gewesen, daß zwei Männer und nicht drei sie überfallen hatten.

Die Schlußfolgerung war ebenso verblüffend wie unausweichlich. Mit dieser Vergewaltigung hatte Rhys nichts zu tun gehabt. Leighton Duff war dort gewesen, und er hatte Spuren eines Kampfes davongetragen. Und Marmaduke Kynaston hätte ebenfalls dort sein können. Arthur Kynaston schied genau wie Rhys aus. Monk mußte sich absolut sicher sein. Es gab noch mehr Dinge zu überprüfen. Er mußte bei Lady Sandon und bei Sylvestra Duff nachfragen und zur Sicherheit auch bei den Dienern im Haus Duff.

War Leighton Duff Marmaduke Kynaston und einem Komplizen, wer immer das gewesen sein mochte, gefolgt, und hatte er die beiden wegen der Vergewaltigung zur Rede gestellt, oder war er selbst dieser Komplize gewesen? Und hatte Rhys, für gewöhnlich der dritte im Bunde, bei dieser Gelegenheit andere Dinge fesselnder gefunden und war deshalb bei den Kynastons geblieben, um den Erzählungen von Ägypten um den Rosetta-Stein zu lauschen? War es möglich, daß die drei Männer, die die Vergewaltigungen begangen hatten, nicht immer dieselben gewesen waren?

Als Monk zu Bett ging, überschlugen sich seine Gedanken, und er schlief unruhig und von wilden Träumen geplagt.

Am nächsten Morgen ging er nach einem hastigen Frühstück wieder hinaus, wo er die Kälte kaum empfand. Um zwei Uhr nachmittags hatte er seine Fakten bestätigt. Rhys Duff war bis zwei Uhr morgens im Hause Kynaston gewesen und dann geradewegs in sein eigenes Heim zurückgekehrt, wo er bis zum Mittag des Weihnachtstages geblieben war. Er konnte nicht in St. Giles gewesen sein.

Leighton Duff war am betreffenden Abend um halb zehn ausgegangen und zu unbekannter Stunde zurückgekehrt. Der Diener war nicht aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Mr. Duff war stets überaus rücksichtsvoll gewesen und hatte nie von den Dienern verlangt, seinetwegen aufzubleiben.

Ferner bestätigte es sich, daß Duke Kynaston tatsächlich vor Ende der Feier ins Bett gegangen war, aber ob er das Haus verlassen hatte oder nicht, das vermochte niemand zu sagen. Während Monk sich bei den Kynastons aufhielt, nutzte er die Gelegenheit, eine Warnung auszusprechen. Anfangs hatte er Zweifel gehabt, ob eine solche Warnung klug war oder ob er die Gerechtigkeit dem Schicksal überlassen sollte. Jetzt, da das Bild seiner Meinung nach noch Ungewisser geworden war, löste der Zweifel sich auf. Er bat darum, mit beiden Brüdern sprechen zu dürfen, und erfuhr, daß Arthur ausgegangen war, daß Marmaduke ihm jedoch einige Augenblicke seiner Zeit widmen konnte, falls Monk in den Empfangssalon kommen wolle.

Duke sah ihn mit einer Mischung aus Interesse und Verachtung an.

»Ein privater Ermittler, hm?« sagte er und zog die Augenbrauen hoch. »Was für eine merkwürdige Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nun ja, wahrscheinlich immer noch besser, als Ratten zu fangen oder Schulden einzutreiben.«

»Es gibt Zeiten, zu denen meine Arbeit größere Ähnlichkeit mit der eines Rattenfängers hat, als es einem lieb sein kann«, antwortete Monk mit demselben Hohn.

»Ich höre, Sie waren derjenige, der Rhys Duff überführt hat«, fiel Duke ihm hastig ins Wort. »Glauben Sie, das Gericht wird ihn für schuldig befinden?«

»Ist das der Grund, warum Sie einverstanden waren, mich zu empfangen?« fragte Monk belustigt. »Weil Sie glauben, ich weiß vielleicht, wie die Sache ausgehen wird?«

Eine schwache Rötung überzog Dukes Wangen. »Wissen Sie es?« fragte er schroff.

Monk war überrascht. War es möglich, daß Duke unter dieser Fassade der Großtuerei tatsächlich so etwas wie Anteilnahme empfand? Daß er sich, zumindest teilweise, seiner Verantwortung bewußt war, daß er Gewissensbisse hatte?

»Nein, ich weiß es nicht«, erklärte Monk ein wenig freundlicher. »Ich dachte, ich wäre mit der Antwort ohne jeden Zweifel sicher, aber ich habe seither einige Informationen zusammengetragen, die neue Fragen auf werfen.«

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte Duke stirnrunzelnd. »Was wollen Sie von uns?«

»Als Sie am Abend vor Weihnachten die Gesellschaft verließen, wohin sind Sie gegangen?«

»Ins Bett! Warum? Was spielt das für eine Rolle?«

»Sie sind nicht vielleicht mit Leighton Duff nach St. Giles gegangen?«

Dukes absolutes Erstaunen war zu ehrlich, um ihm nicht zu glauben.

»Was?«

Monk wiederholte, was er gesagt hatte.

»Mit Leighton Duff? Haben Sie den Verstand verloren? Ich habe tatsächlich Huren in St. Giles besucht, mit Rhys zusammen, was das betrifft, und mit meinem Bruder Arthur.

Aber Leighton Duff! Dieser selbstherrliche, staubtrockene alte Langweiler!« Duke fing an zu lachen, und es war ein rauhes, mißbilligendes Lachen, aber soweit Monk es beurteilen konnte, absolut aufrichtig.

»Ich entnehme Ihrer Reaktion, daß Sie es für unwahrscheinlich halten, daß Mr. Duff eine Prostituierte in St. Giles aufgesucht haben könnte?«

»Ungefähr so unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, daß Ihre Majestät auf der Bühne eines Varietes erscheint«, erwiderte Duke verbittert. »Wie sind Sie bloß auf diesen Gedanken verfallen? Sie müssen bei dem Fall vollkommen ins Schwimmen geraten sein. Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie?«

Monk nahm das Bild von Leighton Duff aus der Tasche.

»Ist das ein gutes Porträt von ihm?«

Duke betrachtete es einen Augenblick lang. »Ja, doch. Es ist ausgesprochen gut. Seine herablassende, selbstgerechte Art ist wunderbar getroffen.«

»Sie mochten ihn nicht«, bemerkte Monk.

»Das dürfte wohl unverkennbar sein.« Duke zog die Augenbrauen hoch. »Verdienen Sie sich wirklich Ihren Lebensunterhalt mit dieser Arbeit, Mr. Monk?«

»Es würde Sie überraschen, wie viele Leute sich verraten, wenn Sie sich in Sicherheit wähnen, Mr. Kynaston«, sagte Monk mit einem Lächeln. »Aber ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Sorge um mein Wohlergehen. Sie ist überflüssig. Ich bin hergekommen, um Sie und Ihren Bruder zu warnen, daß die Leute in St. Giles und ebenfalls in Seven Dials Bescheid wissen, wer für die jüngsten Vergewaltigungen in ihren Bezirken verantwortlich war. Und wenn einer von Ihnen beiden dorthin zurückkehren sollte, ist es höchstwahrscheinlich, daß es ein überaus unangenehmes Ende mit Ihnen nehmen wird. Sie sind dort gewesen. Sie wissen oder können es sich denken, wie leicht eine solche Tat begangen werden könnte, ohne daß Ihre Leichen jemals wieder auftauchen würden. Zumindest nicht in erkennbarem Zustand.«

Duke starrte Monk mit einer Mischung aus Entsetzen und Verständnislosigkeit an, aber es lag nun auch unverkennbare Angst in seinen Zügen.

»Warum schert es Sie, ob ich in St. Giles ermordet werde?« fragte er aufsässig, dann fuhr er sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen.

»Es schert mich nicht im mindesten«, erwiderte Monk mit einem Lächeln, aber noch während er das sagte, wurde ihm klar, daß es nicht die ganze Wahrheit war. Obwohl er keinen Grund dafür hätte nennen können, hatte seine Abneigung gegen Marmaduke Kynaston im Laufe ihrer Unterhaltung ein wenig an Schärfe verloren. »Ich möchte nicht, daß die Menschen in St. Giles sich wegen Mordes verantworten müssen.«

Duke holte tief Atem. »Ich hätte es wissen müssen. Stammen Sie aus St. Giles?«

Monk lachte herzlich. Es war seit Tagen das erste Mal, daß ihm danach zumute war.

»Nein. Ich stamme aus Northumberland.«

»Ich sollte Ihnen wohl für Ihre Warnung danken«, sagte Duke beiläufig, aber in seinen Augen stand immer noch das Erschrecken, und in seiner Stimme schwang widerstrebende Aufrichtigkeit mit.

Monk zuckte die Achseln und lächelte.

Als er das Haus verließ, war seine Verwirrung noch gewachsen.

Die Zeit wurde zweifellos knapp.

Monk ging mit Leighton Duffs Bild nach Seven Dials und zeigte es dort den Droschkenkutschern und Straßenhändlern, den Verkäufern von Blumen, Schnürsenkeln, Streichhölzern und Glasgeschirr und schließlich auch einem Rattenfänger und mehreren Prostituierten. Mindestens ein Dutzend Leute erkannte den Mann auf dem Bild, einige davon ohne das geringste Zögern. Und keiner dieser Leute konnte Rhys identifizieren.

Am zweiten Abend hatte Monk nur noch eine Frage im Sinn. Er kehrte nach St. Giles zurück, um die Antwort darauf zu suchen, und ging durch Gassen und über Höfe, durch tropfnasse Durchgänge und über halbverfaulte Treppen, bis etwa gegen sieben Uhr ein grauer, trostloser Morgen heraufdämmerte. Monk war erschöpft und so durchgefroren, daß seine Füße sich vollkommen taub anfühlten und er keine Macht mehr über das Zittern seines Körpers hatte. Aber er wußte nun zwei Dinge. Rhys Duff und sein Vater waren in der Mordnacht aus zwei verschiedenen Richtungen nach St. Giles gekommen, und es gab keine Beweise dafür, daß sie einander vor dem schicksalsschweren Zusammentreffen in der Water Lane begegnet waren.

Die zweite Information hatte er durch einen bloßen Zufall erhalten. Er sprach mit einer Frau, die in ihrer Jugend als Prostituierte gearbeitet und genug Geld gespart hatte, um eine Pension zu kaufen. Sie wußte bis auf den heutigen Tag bemerkenswert gut über die Gerüchte Bescheid, die im Umlauf waren. Er wollte sich von ihr einerseits gewisse Daten und Ortsangaben bestätigen lassen, vor allem aber trieb ihn die Frage nach seiner eigenen Vergangenheit zu ihr, nach seiner Verknüpfung mit Runcorn. Nicht mit dem Runcorn, der er heute war, mit ergrauenden Schläfen und etwas stärker um die Taille herum, sondern mit einem jüngeren, leidenschaftlicheren Runcorn, mit straffen Schultern und klaren, mutigeren Augen.

»Erinnern Sie sich an die Razzia in dem Bordell, bei der Richter Gutteridge mit runtergelassenen Hosen erwischt wurde?« Monk war sich nicht sicher, warum er diese Frage stellte oder welche Antwort er darauf erwartete. Er wußte nur, daß das Geschehen von damals ständig in seinen Gedanken lauerte und sich nicht daraus vertreiben ließ.

Sie stieß ein heiteres, gurgelndes Kichern aus. »Klar erinnere ich mich. Warum?«

»Runcorn hat diese Razzia geführt?«

»Das wissen Sie doch! Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten’s vergessen!« Sie sah ihn mit schräggelegtem Kopf und schmalen Augen an.

»Hat er die Sache eingefädelt?« fragte er.

»Was soll das werden, ein Spiel oder so was? Sie haben es eingefädelt, und Runcorn hat die Sache von Ihnen übernommen. Sie haben ihn das machen lassen, weil Sie wußten, daß der arme alte Gutteridge da sein würde. Und Runcorn ist schnurstracks da reingelaufen, der dumme Kerl.«

»Warum? Gutteridge war doch selbst schuld. Hat er erwartet, die Polizei würde sich zurückhalten, nur weil er sich dort amüsierte?«

Ihre Augen weiteten sich. »Klar hat er das! Oder er dachte wohl, daß man ihn wenigstens warnen würde! Das hat damals ziemlich viele Leute aufgescheucht, diese Sache. Und es waren wichtige Leute. Uns hier war das natürlich egal, das können Sie sich denken! Wir haben uns scheckig gelacht, wir hier!«

»Welche Leute meinen Sie denn?« Monk hielt inne, denn er wußte, daß ihm irgendeine Information fehlte, etwas, das wichtig war.

»He, was soll das Ganze?« fragte sie stirnrunzelnd. »Die Geschichte ist doch lange tot und begraben! Wen schert das heute noch? Mit den Vergewaltigungen hier hat die Sache von damals bestimmt nichts zu tun.«

»Das ist mir klar. Ich wollte es einfach nur wissen. Erzählen Sie es mir«, drängte er sie.

»Na ja, da waren ein paar Herren, die sich irgendwie bloßgestellt gefühlt haben, danach meine ich.« Sie lachte schallend über ihren eigenen Witz. »Die hatten sich doch alle darauf verlassen, daß ihr Polypen euch von gewissen Häusern fernhalten würdet.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Danach haben die keinem mehr getraut. Konnten sie nicht! Die Sache hat die Beziehungen zwischen den Polypen und gewissen einflußreichen Leuten ganz schön abgekühlt. Das war das einzige Mal damals, daß ich dachte, ich könnte den Runcorn doch ein wenig mögen. Die meiste Zeit ist er ja elend lästig. Schlimmer als Sie! Sie sind ein Mistkerl, aber man wußte bei Ihnen immer, woran man war, und Sie sind einem nie mit frommen Sprüchen gekommen. Ich habe nie gehört, daß Sie die eine Sache gepredigt und dann die andere getan hätten. So einer sind Sie nicht.« Sie sah ihn genauer an. »Was ist los, Monk? Warum geben Sie auch nur einen roten Heller auf eine Razzia in einem Freudenhaus, die jetzt zwanzig Jahre zurückliegt?«

»Ich bin mir selbst nicht ganz sicher«, antwortete er aufrichtig.

»Er sitzt Ihnen im Nacken, wie?« fragte sie mit einem Unterton, der beinahe Mitgefühl hätte sein können. Monk wußte nicht recht, ob dieses Mitgefühl ihm galt oder Runcorn.

»Der soll mir im Nacken sitzen?« wiederholte er. »Warum?« Es klang töricht, aber sie wußte etwas über diese Sache, sonst hätte sie keine solche Schlußfolgerung ziehen können. Er mußte es wissen. Er war jetzt zu nahe dran, um nicht danach zu greifen, was immer es sein mochte.

»Na, hören Sie, Sie haben ihn doch ins Messer laufen lassen, oder?« fragte sie ungläubig. »Sie wußten, daß all diese Leute da sein würden, und Sie haben ihm kein Wort davon gesagt. Sie haben ihn da reinstürmen und sich zum Narren machen lassen. Es wurde wahrscheinlich nicht viel drüber geredet, aber solche Sachen verzeihen diese Leute nie. Runcorn ist deswegen nicht befördert worden, und sein Mädchen hat er auch verloren, weil ihr Vater einer von denen war, die mit hochgegangen sind, war es nicht so?« Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mich ganz schön vorsehen, selbst heute noch, nach so langer Zeit. Er kann nicht verzeihen, hm? Wenn Runcorn was gegen einen hat, dann vergißt er das nicht so leicht.«

Monk hörte ihr kaum mehr zu. Er konnte sich nicht daran erinnern, das getan zu haben, nicht einmal nach dem, was sie ihm berichtet hatte. Aber er konnte sich an das Gefühl des Triumphes erinnern, die tiefe, heiße Befriedigung angesichts des Wissens, daß er Runcorn geschlagen hatte. Jetzt verspürte er nur noch Scham. Es war ein schäbiger Trick gewesen und eine zu harte Rache, ganz gleich, was Runcorn ihm angetan haben mochte. Falls er ihm irgend etwas angetan hatte. Daran konnte er sich nicht erinnern.

Monk bedankte sich leise und ließ die Frau verwirrt zurück. Er hörte noch, wie sie leise vor sich hinmurmelte, daß die Zeiten sich verändert hätten.

Warum? Er ging mit gesenktem Kopf durch den Regen, die Hände tief in den Taschen vergraben und ohne auf die Rinnsteine und seine nassen Füße zu achten. Es war mittlerweile vollends hell geworden. Warum hatte er so etwas getan? War es wirklich mit dem Vorsatz und der wohlberechneten Grausamkeit geschehen, wie alle anderen glaubten? Wenn ja, dann war es kein Wunder, daß Runcorn ihn immer noch haßte. Daß er nicht befördert worden war, war kein großes Unrecht gewesen. Es war das Gesetz des Krieges. Aber die Frau zu verlieren, die er liebte, war ein bitterer Schlag, ein Schlag, den Monk heute keinem Mann hätte versetzen wollen.

Aber er durfte trotz alledem seinen Auftrag von Rathbone nicht vergessen. Monks neue Informationen waren unbedingt zweckdienlich, auch wenn sie kaum eine echte Hilfe versprachen. Er mußte damit zu Rathbone gehen. Hester würde verletzt sein. Wie Sylvestra Duff die Neuigkeit verkraftete, daß ihr Mann ebenfalls ein Vergewaltiger gewesen war, konnte er nicht einmal ahnen.

Monk überquerte die Regent Street und bemerkte kaum, daß er St. Giles hinter sich gelassen hatte, bis er stehenblieb, um sich einen Becher heißen Tee zu kaufen. Vielleicht sollte er Rathbone doch nichts davon erzählen? Es sprach Rhys nicht von dem Mord an seinem Vater frei, sondern nur von einer einzigen Vergewaltigung, die man ihm vor Gericht ohnehin nicht zur Last legte!

Aber es war ein Teil der Wahrheit, und die Wahrheit zählte. Sie wußten ohnehin noch zu wenig, um wirklich zu verstehen, was in jener Nacht vorgefallen war. Rathbone hatte ihn dafür bezahlt, so viel wie nur möglich herauszufinden. Er hatte Hester sein Wort gegeben. Er mußte sich an sein Ehrgefühl klammern, an seine Aufrichtigkeit und an das Vertrauen, das seine Freunde ihm heute entgegenbrachten. Was er früher gewesen war, bereitete ihm den größten Schmerz. Er konnte sich weder daran erinnern noch es verstehen.

Verstand Rhys Duff sich selbst?

Das war unerheblich. Monk war ein erwachsener Mann, und ob er sich an seine Taten erinnerte oder nicht, er war verantwortlich dafür. Er war heute zweifellos im Vollbesitz seiner Kräfte und absolut verantwortlich für sein Tun. Der einzige Grund, warum er sich seiner Vergangenheit nicht stellte, war die Furcht vor dem, was er dort finden würde, und die Demütigung, sich Runcorn stellen und sein Bedauern eingestehen zu müssen.

Hatte er das, was dazu notwendig war – Mut?

Monk war grausam gewesen, despotisch, vorschnell in seinem Urteil, aber er war niemals ein Lügner gewesen, und er war zu keiner Zeit seines Lebens ein Feigling gewesen.

Er trank seinen Tee aus, kaufte sich noch ein Brötchen und ging dann Richtung Polizeirevier.

Monk mußte bis Viertel nach neun warten, bis Runcorn auf dem Revier ankam. Er sah in seinem modischen Übermantel warm und trocken aus, sein Gesicht war gerötet und frisch rasiert, seine Schuhe glänzten.

Runcorn musterte Monk mit nüchternem Blick von Kopf bis Fuß, von seinem tropfenden Haar, dem übernächtigten Gesicht und den hohlen Augen über seinen nassen Mantel bis hinunter zu seinen durchweichten, schmutzigen Stiefeln. Seine Miene war selbstgefällig und triefte vor Befriedigung.

»Sie sehen so aus, als machten Sie harte Zeiten durch, Monk«, sagte er wohlgelaunt. »Wollen Sie reinkommen und sich die Füße wärmen? Vielleicht hätten Sie auch gern eine Tasse Tee?«

»Die hatte ich bereits, vielen Dank«, erwiderte Monk. Nur die scharfe Erinnerung an seine Verachtung für Feiglinge hielt ihn dort fest, das und der Gedanke daran, was Hester von ihm halten würde, wenn er sich dieser letzten Konfrontation entzog. »Aber ich würde gern hereinkommen. Ich möchte mit Ihnen reden.«

»Ich bin ziemlich beschäftigt«, antwortete Runcorn. »Aber ich denke, ich kann fünfzehn Minuten für Sie erübrigen. Sie sehen schrecklich aus!« Er öffnete seine Bürotür, und Monk folgte ihm. Jemand hatte bereits das Feuer entzündet, und eine angenehme Wärme schlug ihnen entgegen. In der Luft lag der schwache Duft von Bienenwachs und Lavendelpolitur.

»Setzen Sie sich«, sagte Runcorn. »Aber ziehen Sie zuerst Ihren Mantel aus, sonst machen Sie mir noch meinen Stuhl schmutzig.«

»Ich habe die Nacht in St. Giles verbracht«, erklärte Monk, der immer noch stand.

»So sehen Sie aus«, gab Runcorn zurück. Er zog die Nase kraus. »Und, offen gesagt, so riechen Sie auch.«

»Ich habe mit Bessie Mallard gesprochen.«

»Wer ist das? Und warum erzählen Sie mir das?« Runcorn setzte sich und machte es sich bequem.

»Sie war in ihrer Jugend eine Hure. Jetzt besitzt sie eine kleine Pension. Sie hat mir von der Nacht erzählt, in der die Razzia in dem Bordell in der Cutters’ Row durchgeführt wurde. Die Razzia, bei der Richter Gutteridge gefunden wurde und er die Treppe hinunterfiel…« Monk hielt inne. Eine Woge stumpfer Röte breitete sich in Runcorns Gesicht aus. Seine Hände, die flach auf dem Schreibtisch gelegen hatten, ballten sich zu Fäusten.

Monk holte tief Atem. Es gab kein Zurück mehr.

»Warum habe ich Sie genug gehaßt, um Sie da hineinrennen zu lassen? Ich erinnere mich nicht.«

Runcorn starrte ihn an, und seine Augen weiteten sich, während ihm langsam klar wurde, was Monk sagte.

»Warum interessiert Sie das?« Seine Stimme klang schrill und ein wenig verletzend. »Sie haben meine Chancen bei Dora zerstört. War es nicht das, was Sie wollten?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es Ihnen gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Aber es war eine Gemeinheit, und ich möchte wissen, warum ich es getan habe.«

Runcorn blinzelte. Er war sichtlich aus dem Gleichgewicht geraten. Dies war nicht der Monk, den er zu kennen glaubte.

Monk beugte sich über den Schreibtisch und blickte auf den anderen Mann hinab. Hinter dem frisch rasierten Gesicht, der Maske der Selbstzufriedenheit, erkannte er einen Mann, dessen Selbstachtung eine Wunde empfangen hatte, die nie verheilt war. Das war Monks Schuld gewesen oder zumindest teilweise seine Schuld. Er mußte herausfinden, warum er sich so verhalten hatte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Aber ich muß wissen, warum ich es getan habe. Wir haben früher einmal zusammengearbeitet und einander vertraut. Wir sind Seite an Seite nach St. Giles gegangen, ohne jemals am anderen zu zweifeln. Was hat sich geändert? Waren Sie es… oder ich?«

Runcorn saß so lange schweigend da, daß Monk schon glaubte, er werde nicht antworten. Er konnte draußen das Geräusch schwerer Schritte hören und den Regen, der von der Dachtraufe aufs Fensterbrett klatschte. Gedämpft war das leise Dröhnen des Verkehrs auf der Straße zu hören, und ein Pferd wieherte.

»Wir beide haben uns verändert«, begann Runcorn schließlich doch noch zu sprechen. »Es begann mit dem Mantel, könnte man sagen.«

»Mit dem Mantel? Mit welchem Mantel?« Monk hatte keine Ahnung, wovon der andere sprach.

»Ich hatte einen neuen Mantel mit einem Samtkragen. Sie haben sich einen mit Pelzkragen gekauft, gerade eine Spur besser als meiner. Wir wollten im selben Lokal speisen.«

»Was für eine Dummheit«, sagte Monk sofort.

»Also habe ich es Ihnen heimgezahlt«, erwiderte Runcorn.

»Es hatte irgendwie mit einem Mädchen zu tun. Ich weiß heute nicht einmal mehr, worum es eigentlich ging. Es kam einfach eins zum anderen, bis die Sache solche Ausmaße annahm, daß wir nicht mehr zurückkonnten.«

»Das war alles? Einfach kindische Eifersucht?« Monk war entsetzt. »Sie haben die Frau verloren, die Sie liebten – wegen eines Mantelkragens?«

Dunkles Blut schoß in Runcorns Gesicht. »Es war mehr als das!« verteidigte er sich. »Es war…« Er blickte wieder zu Monk auf, und in seinen Augen stand glühender Zorn. Er wirkte ehrlicher, als Monk ihn je zuvor erlebt hatte. Zum ersten Mal war da kein Schleier zwischen ihnen. »Es waren hundert Dinge. Sie haben meine Autorität bei den Männern untergraben, hinter meinem Rücken über mich gelacht, den Ruhm für meine Ideen geerntet, für meine Verhaftungen…«

Monk spürte, wie die Leere der Unwissenheit ihn verschlang. Er wußte nicht, ob das die Wahrheit war oder einfach die Art und Weise, wie Runcorn sein eigenes Verhalten entschuldigte. Er haßte dieses Gefühl mit der ganzen blinden, würgenden Panik der Hilflosigkeit. Er wußte nichts! Er kämpfte ohne Waffen. Es war durchaus möglich, daß er ein solcher Mensch gewesen war! Er hatte nicht das Gefühl, daß er das wirklich war, aber andererseits – wie sehr hatte sein • Unfall ihn verändert? Oder lag es einfach daran, daß er gezwungen worden war, sich von außen zu betrachten, wie ein Fremder einen anderen Menschen sah, und hatte er sich deshalb verändert?

»Habe ich das getan?« fragte er langsam. »Warum Sie? Warum habe ich solche Dinge nur Ihnen angetan? Warum niemandem sonst? Was haben Sie mir angetan?«

Runcorn sah unglücklich und verwirrt aus, als ringe er mit seinen Gedanken, Monk wartete. Er durfte nicht drängen. Ein falsches Wort, und die Wahrheit würde ihm vielleicht entgleiten.

Runcorn sah Monk in die Augen, begann aber nicht sofort zu sprechen.

»Ich nehme an, ich habe mich über Sie geärgert«, sagte er schließlich. »Sie schienen immer das richtige Wort zu wissen, die richtigen Antworten zu erraten. Sie hatten immer das Glück auf Ihrer Seite, und Sie haben niemals Platz für irgendeinen anderen Menschen gelassen. Sie konnten keinen Fehler verzeihen.«

Das war die erdrückendste Anklage. Er konnte nicht verzeihen.

»Das war falsch von mir«, sagte er ernst. »Die Sache mit Dora tut mir leid. Ich kann es jetzt nicht mehr ungeschehen machen, aber es tut mir leid.«

Runcorn starrte ihn an. »Es tut Ihnen wirklich leid!« sagte er voller Erstaunen. Er holte tief Atem und stieß ihn mit einem leisen Seufzer wieder aus. »Sie haben im Fall Duff gute Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen.« Deutlicher konnte er Monk nicht zeigen, daß er seine Entschuldigung annahm.

Es genügte. Monk nickte.

»Ich bin aber noch nicht fertig mit dem Fall. Ich bin mir nicht sicher, was das Motiv betrifft. Der Vater war selbst mindestens für eine der Vergewaltigungen in St. Giles verantwortlich, und er hat sich regelmäßig in Seven Dials aufgehalten.«

»Was?« Runcorn schien seinen Ohren kaum zu trauen. »Das ist unmöglich! Es ergibt keinen Sinn, Monk!«

»Ich weiß: Aber es ist die Wahrheit. Ich habe ein Dutzend Zeugen. Einer der Leute hat ihn am Abend vor Weihnachten blutverschmiert in St. Giles gesehen, an einem der Abende, an dem es dort zu einer Vergewaltigung gekommen ist. Und Mrs. Kynaston und Lady Sandon beschwören, daß Rhys zu dieser Zeit bei ihnen war, meilenweit entfernt.«

»Die Anklage gegen Rhys Duff lautet nicht auf Vergewaltigung«, antwortete Runcorn stirnrunzelnd. Er schien jetzt ehrlich verunsichert zu sein, denn er verstand sein Handwerk als Polizist gut genug, um die Konsequenzen dieser Tatsache zu begreifen.

Monk verfolgte das Thema nicht weiter. Es war unnötig.

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet«, sagte Runcorn kopfschüttelnd.

Monk nickte, zögerte noch einen Augenblick und verabschiedete sich. Dann ging er nach Hause, um zu baden und zu schlafen. Anschließend wollte er Rathbone aufsuchen, um ihm Bericht zu erstatten.