3
Monk saß allein in dem breiten Sessel in seiner Wohnung in der Fitzroy Street. Er wußte nichts von Evans Fall und auch nicht, daß Hester mit einem der Opfer zu tun hatte. Hester hatte er seit mehr als zwei Wochen nicht gesehen, und er war sich bewußt, daß er sie in der unmittelbaren Zukunft auch nicht zu sehen wünschte. Seine Rolle in Rathbones Verleumdungsprozeß hatte ihn auf den Kontinent geführt, sowohl nach Venedig als auch in ein ehemaliges kleines deutsches Fürstentum. Der Aufenthalt dort hatte ihm eine Kostprobe von einem ganz anderen Leben verschafft, einem Leben des Glanzes, des Wohlstands und des Müßiggangs, des Lachens und der Oberflächlichkeit, und all das war ihm ungemein verführerisch erschienen. Es hatte aber auch Elemente gegeben, die ihm nicht unvertraut gewesen waren. Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit waren wach geworden, an eine Zeit, bevor er der Polizei beigetreten war. Er hatte darum gekämpft, diesen Erinnerungen weiter auf den Grund zu gehen, und war gescheitert. Wie alle anderen Erinnerungen waren auch diese ihm verloren, bis auf einige wenige flüchtige Bilder ab und zu, einige wenige Fenster, die sich plötzlich öffneten, ihm aber nur einen winzigen Ausschnitt zeigten, bevor sie sich wieder schlössen und ihn in noch größerer Verwirrung als zuvor zurückließen.
In Deutschland hatte er sich in Evelyn von Seidlitz verliebt. Zumindest hatte er geglaubt, verliebt zu sein. Gewiß war es eine köstliche und erregende Erfahrung gewesen, die sein Denken ausgefüllt und seinen Puls beschleunigt hatte. Es hatte weh getan, auch wenn es ihn lange nicht so sehr überrascht hatte, wie es der Fall hätte sein müssen, schließlich herauszufinden, daß Evelyn ein seichtes Geschöpf und unter der Oberfläche von Charme und sprühendem Witz durch und durch egoistisch war. Am Ende hatte er sich nach Hesters schrofferen, härteren Qualitäten zurückgesehnt, nach ihrer Aufrichtigkeit, ihrer Wahrheitsliebe und ihrem Mut. Selbst ihre Tugendhaftigkeit und ihre selbstgerechten Anschauungen hatten eine Art Sauberkeit an sich, wie ein süßer, kühler Wind nach heißen, von Fliegenschwärmen gezeichneten Tagen.
Monk beugte sich vor und griff nach dem Schürhaken, um in den Kohlen zu stochern, er schob sie unbarmherzig von einer Seite zur anderen. Er wollte nicht an Hester denken. Sie war unberechenbar, arrogant und bisweilen selbstgerecht, ein Charakterfehler, den er bis dato ausschließlich bei Männern erlebt hatte. Er konnte es sich nicht leisten, sich von solchen Gedanken angreifen zu lassen.
Monk hatte gegenwärtig keinen interessanten Fall, was seine düstere Laune noch verschlimmerte. Einige kleinere Diebstähle, um die er sich kümmern mußte, für gewöhnlich entweder ein Diener, dessen Entlarvung tragisch einfach war, oder ein Einbrecher, den zu finden ans Unmögliche grenzte, weil er einer der in den Elendsvierteln zusammengepferchten Zehntausenden Unglücklicher war und binnen kürzester Frist wieder in deren Massen verschwand.
Aber solche Fälle waren besser als gar keine Arbeit. Außerdem konnte er sich natürlich immer an Rathbone wenden und sehen, ob dieser irgendwelche Informationen benötigte. Aber das war nur eine letzte Zuflucht, da es Monks Stolz untergrub. Er mochte Rathbone. Sie hatten viele Fälle miteinander gelöst und einige Gefahren gemeinsam überstanden. Zu oft hatten sie Seite an Seite jede Unze Phantasie zu einem gemeinsamen Zweck aufgeboten, um nicht mit der notwendigen Bewunderung eine gewisse Stärke im anderen erlebt zu haben. Und weil sie sowohl Triumph als auch Scheitern miteinander geteilt hatten, verband sie eine tiefe Freundschaft.
Aber da war auch eine gewisse unterschwellige Gereiztheit, eine Uneinigkeit, die zu häufig an ihnen beiden nagte. Da waren Stolz und Vorurteile, die häufiger aneinanderprallten, als daß sie einander ergänzt hätten. Und dann war da immer noch Hester. Sie brachte die beiden Männer einander näher und stand gleichzeitig zwischen ihnen.
Aber Monk zog es vor, nicht an Hester zu denken, schon gar nicht im Zusammenhang mit Rathbone.
Er freute sich, als die Türglocke erklang und einen Augenblick später eine Frau eintrat. Sie war vielleicht Anfang Vierzig, aber auf eine reife und ziemlich offensichtliche Art immer noch recht attraktiv. Ihr Mund war zu groß, aber sinnlich geformt, ihre Augen waren wunderschön und ihre Gestalt ein wenig zu gut mit Fleisch gepolstert. Ihre Figur ließ sich zweifellos als drall bezeichnen. Die Kleider waren dunkel und einfach und von nichtssagender Qualität, aber die Frau hatte eine Ausstrahlung, die augenblicklich Selbstvertrauen, ja sogar Unverfrorenheit vermittelte. Sie war weder eine Dame noch eine Frau, die Umgang mit Damen pflegte.
»Sind Sie William Monk?« fragte sie, bevor er Zeit hatte, etwas zu sagen. »Ja, ich sehe, Sie sind’s.« Sie musterte ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß. »Sie haben sich verändert. Kann nicht direkt den Finger drauflegen, aber Sie sind anders. Die Sache ist die… sind Sie immer noch gut?«
»Ja, ich bin ausgesprochen gut!« erwiderte er wachsam. Sie schien ihn zu kennen, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer sie war. Er wußte nur das, was er aus ihrem Aussehen schließen konnte.
Sie lachte scharf auf. »Na, so sehr haben Sie sich vielleicht doch nicht verändert! Wir sind immer noch ganz schön von uns eingenommen, wie?« Die Belustigung verschwand aus ihren Zügen, und ihr Gesicht wurde hart und vorsichtig. »Ich will Sie engagieren. Ich kann bezahlen.«
Es war unwahrscheinlich, daß es sich um eine Arbeit handelte, die ihm Spaß machen würde, aber er war nicht in der Position, irgendwelche Angebote auszuschlagen. Zuhören konnte er ihr auf jeden Fall. Häusliche Probleme würde sie wohl kaum haben; mit solchen Dingen würde sie gewiß spielend allein fertig.
»Ich heiße Vida Hopgood«, sagte sie. »Für den Fall, daß Sie sich nicht erinnern.«
Er erinnerte sich tatsächlich nicht, aber es war offenkundig, daß sie ihn aus der Vergangenheit kannte, aus der Zeit vor dem Unfall. Wieder einmal fühlte er sich qualvoll an seine Verletzlichkeit erinnert.
»Wo liegt Ihr Problem, Mrs. Hopgood?« Er deutete auf den breiten Sessel auf der anderen Seite des Kamins, und als sie es sich bequem gemacht hatte, nahm er ihr gegenüber Platz.
Sie warf einen Blick auf die brennenden Kohlen und sah sich dann unverhohlen in dem ansprechenden Raum mit seinen Landschaftsgemälden, den schweren Vorhängen und den alten, teuren Möbeln um. Der größte Teil der Ausstattung stammte von Monks Gönnerin, Lady Callandra Daviot, und waren Dinge, die in ihrem Landhaus überflüssig gewesen waren. Aber das brauchte Vida Hopgood nicht zu wissen.
»Sie haben wohl ein behagliches Auskommen«, sagte sie ohne Neid. »Eine reiche Frau haben Sie nicht geheiratet, sonst würden Sie sich nicht mit anderer Leute Problemen abgeben. Außerdem waren Sie auch nicht der Typ zum Heiraten. Zu bockbeinig. Und dann stand Ihnen der Sinn wohl auch immer nur nach der Art Ehefrau, wie Sie sie nie kriegen können. Also schätze ich, Sie haben nichts von Ihrer Klugheit verloren. Deshalb bin ich hier. Es wird ‘ne Menge Geld auffressen, aber wir müssen es wissen. Wir müssen der Sache ein Ende machen.«
»Welcher Sache, Mrs. Hopgood?«
»Was mein Mann ist, Tom, der hat eine Fabrik. Macht Hemden und solche Sachen.«
Monk wußte, wie die Ausbeutungsbetriebe in East End aussahen: riesige, stickige Hallen, glutheiß im Sommer, bitterkalt im Winter, wo hundert oder mehr Frauen von Sonnenaufgang fast bis Mitternacht Hemden, Handschuhe, Taschentücher und Unterröcke nähten, und das für einen Lohn, der kaum genügte, um sie selbst durchzubringen. Ganz zu schweigen von der Familie, die vielleicht von ihnen abhing. Wenn irgend jemand den Mann bestohlen hatte, würde Monk jedenfalls nicht nach dem Täter suchen.
Vida sah seinen Gesichtsausdruck.
Er sah sie scharf an. »Natürlich tun Sie das!« beantwortete sie ihre eigene Frage, und eine überraschende Gehässigkeit verzerrte ihren Mund. »Und was zahlen Sie für die Hemden, hm? Wollen Sie mehr zahlen? Was glauben Sie denn, was Schneider und Herrenausstatter uns für die Dinger bezahlen, he? Wenn wir mit den Preisen raufgingen, verlören wir das Geschäft. Und wem würde das was nützen? Die feinen Herren, die gern feine Hemden tragen, kaufen sie so billig, wie’s nur geht. Ich kann nicht mehr zahlen, als ich kann, klar?«
Sie hatte einen Nerv getroffen. »Ich nehme an, Sie sind nicht zu mir gekommen, damit ich die finanzielle Lage im Schneidergewerbe reformiere?«
In ihren Zügen spiegelte sich Verachtung wider, aber es war nicht persönlich gemeint. Und Verachtung war auch nicht das vorherrschende Gefühl, das Monk dort las. Weit dringlicher schien der eigentliche Grund zu sein, warum sie zu ihm gekommen war. Sie wollte nicht mit ihm streiten. Der Grund, daß sie ihm überhaupt gegenübersaß und sich über die natürliche Barriere zwischen ihnen hinweggesetzt hatte, war ein Zeichen dafür, wie ernst ihr die Angelegenheit sein mußte.
Ihre Augen wurden schmal. »He! Was ist los mit Ihnen? Sie sehen irgendwie anders aus. Sie haben sich nicht an mich erinnert, wie?«
Würde sie ihm eine Lüge abnehmen? Und spielte es eine Rolle?
Vida sah ihn durchdringend an. »Warum sind Sie eigentlich von den Bullen weg? Haben die Sie bei was erwischt, was Sie nicht hätten tun sollen?«
»Nein, ich habe mich mit meinem Vorgesetzten gestritten.«
Sie stieß ein schrilles Lachen aus. »Dann haben Sie sich vielleicht doch nicht so sehr geändert! Aber Sie sehen irgendwie nicht aus wie früher. Härter vielleicht, aber nicht mehr so arrogant. Wir sind wohl ein bißchen bescheidener geworden, wie?« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Sie haben jetzt wohl auch nicht mehr so viel Macht wie damals, als Sie sich in Seven Dials wichtig gemacht haben.«
Er sagte nichts.
Sie sah ihn eindringlicher an und beugte sich zu diesem Zweck ein klein wenig vor. Vida war eine ausgesprochen gutaussehende Frau und von einer Vitalität, die man unmöglich ignorieren konnte.
»Warum können Sie sich nicht an mich erinnern? Sollten Sie eigentlich!«
»Ich hatte einen Unfall. Es gibt viele Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnere.«
»Jesus!« Sie stieß langsam den Atem aus. »Das ist die Wahrheit, wie? Na, da laust mich doch der Affe!« Sie war zu wütend, um auch nur zu fluchen. »Das ist mir aber mal ein Rückschlag. Sie fangen also wieder ganz von vorne an.« Vida lachte leise. »Geht Ihnen also auch nicht besser als uns anderen. Nun, ich bezahle Sie, wenn Sie Ihr Geld wert sind.«
»Ich bin besser als die anderen, Mrs. Hopgood«, sagte er und sah ihr direkt in die Augen. »Ich habe ein paar Dinge vergessen, ein paar Leute, aber ich habe weder meinen Verstand noch meinen Willen verloren. Warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Wir kommen ganz gut durch, die meisten von uns«, erwiderte sie gelassen. »Auf die eine oder andere Weise. Zumindest konnten wir es früher, bis diese Dinge angefangen haben.«
»Welche Dinge haben angefangen?«
»Vergewaltigung, Mr. Monk«, antwortete sie und begegnete seinem Blick ohne einen Wimpernschlag und mit eiskaltem Zorn.
Er war verblüfft. Unter allen Möglichkeiten, die ihm inzwischen kurz durch den Kopf gegangen waren, wäre dies die unwahrscheinlichste gewesen.
»Vergewaltigung?« wiederholte er ungläubig.
»Einige unserer Mädchen werden auf der Straße vergewaltigt.« Jetzt sah er nichts anderes mehr in ihrem Gesicht als Schmerz, Schmerz und eine blinde Verwirrung, weil sie den Feind nicht erkennen konnte. Ausnahmsweise einmal kämpfte sie nicht auf einem Schlachtfeld eigener Wahl.
Man hätte das Ganze als lächerlich abtun können. Sie sprach schließlich nicht von respektablen Frauen in irgendeinem hübschen Bezirk, sondern von Fabrikarbeiterinnen, die sich mit Ach und Krach durchschlugen, indem sie rund um die Uhr arbeiteten und dann in ein Zimmer zurückkehrten, das sie sich vielleicht noch mit einem halben Dutzend anderer Menschen aller Altersklassen und beiderlei Geschlechts teilten. Verbrechen und Gewalttaten gehörten zu ihrem Alltag. Daß Vida überhaupt zu ihm gekommen war, zu einem ehemaligen Polizisten, den sie für seine Hilfe bezahlen wollte, bedeutete, daß es sich um etwas ganz und gar Ungewöhnliches handeln mußte.
»Erzählen Sie mir davon«, sagte er einfach.
Vida hatte die erste Barriere bereits durchbrochen. Dies war die zweite. Er hörte zu; aus seinen Augen sprachen weder Hohn noch Gelächter.
»Zuerst dachte ich mir ja nichts dabei«, begann sie. »War nur eine einzige Frau, die ein bißchen mitgenommen aussah. So was kommt vor. So was kommt ziemlich oft vor. Ein Ehemann, der ein bißchen mehr trinkt als gewöhnlich. Wir haben oft eine Frau mit einem blauen Auge oder Schlimmerem in der Fabrik sitzen. Vor allem montags. Aber dann wurde plötzlich getuschelt. Es hieß, man hätte ihr Schlimmeres angetan als das. Ich habe mich immer noch nicht weiter drum gekümmert. Geht mich nichts an, wenn eine Frau sich einen schlechten Mann anlacht. Gibt ja genug davon.«
Monk unterbrach sie nicht. Ihre Stimme klang gepreßter als zuvor, und der Schmerz war deutlich herauszuhören.
»Dann war da noch eine Frau. Eine, deren Mann krank ist, zu krank, um sie zu schlagen. Und dann hat’s eine dritte Frau getroffen, und nun will ich wissen, was da vorgeht.« Sie zuckte leicht zusammen. »Einige von ihnen sind kaum älter als Kinder. Kurz und gut, Mr. Monk, diese Frauen werden vergewaltigt und verprügelt. Ich habe die ganze Geschichte aus ihnen rausgeholt. Ich habe sie zu mir kommen lassen und in meinen Salon mitgenommen, eine nach der anderen, und ich habe alles aus ihnen rausgeholt. Ich erzähle Ihnen, was ich weiß.«
»Sie sollten mir die Sache besser in der richtigen Reihenfolge berichten, Mrs. Hopgood. Das wird uns einige Zeit sparen.«
»Natürlich! Was denken Sie, was ich vorhatte? Ihnen das zu erzählen, so wie sie es mir erzählt haben? Da säßen wir aber die ganze verdammte Nacht hier. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, selbst wenn’s bei Ihnen anders wäre. Ich nehme an, Sie berechnen nach Stunden. Tun die meisten.«
»Ich rechne nach Tagen ab. Aber erst, wenn ich den Fall übernommen habe. Falls ich es tue.«
Ihr Gesicht verhärtete sich. »Was wollen Sie von mir – mehr Geld?«
Er sah die Furcht hinter ihrem Trotz. Hinter all ihrer Unverfrorenheit und der gespielten Großtuerei, mit der sie ihn zu beeindrucken versuchte, war sie eingeschüchtert, verletzt und wütend. Hier ging es nicht um eins der vertrauten Ärgernisse, mit denen sie es ihr Leben lang zu tun gehabt hatte, hier ging es um etwas, mit dem sie nicht umzugehen wußte.
»Nein«, fiel er ihr ins Wort, gerade als sie weitersprechen wollte. »Ich werde nur nicht behaupten, daß ich Ihnen helfen könnte, wenn ich es nicht kann. Erzählen Sie mir, was Sie in Erfahrung gebracht haben. Ich werde zuhören.«
Vida war zumindest teilweise beschwichtigt. Also lehnte sie sich wieder in ihrem Sessel zurück und ordnete ihre Röcke um ihre außerordentlich reizvolle Gestalt.
»Einige unserer respektableren Frauen machen schwere Zeiten durch und wollen sich auf keinen Fall verkaufen, komme, was da wolle!« fuhr sie fort. »Sie würden lieber verhungern, bevor sie auf die Straße gehen. Aber es ist erstaunlich, wie schnell man seine Meinung ändern kann, wenn die Kinder halb verhungert und krank sind. Man braucht sie nur lange genug vor Kälte und Hunger weinen zu hören, und plötzlich ist man bereit, sich an den Teufel persönlich zu verkaufen, wenn er einem bloß Brot und Kohlen für das Feuer gibt oder eine Decke oder ein Paar Stiefel. Es ist ja schön und gut, eine Märtyrerin zu sein, aber zuzusehen, wie die eigenen Kinder sterben, das ist doch was anderes.«
Monk widersprach ihr nicht. Sein Wissen um diese Dinge ging tiefer als jede persönliche Erinnerung; es war etwas, das ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.
»Ich hätte mir ja nichts dabei gedacht«, sagte sie achselzuckend. Sie beobachtete ihn immer noch genau, als wolle sie sehen, wie er reagierte. »Aber dann kam eine Frau von Kopf bis Fuß voller blauer Flecken und Schrammen zur Arbeit, als hätte man sie böse zusammengeschlagen. Wie gesagt, zuerst bin ich einfach davon ausgegangen, daß ihr Mann sie geschlagen hatte. Ich hätte es durchaus verstanden, wenn sie mit einem Glasscherben auf ihn losgegangen wäre. Aber sie sagte, es wären zwei Männer gewesen, Kunden von ihr. Sie hätte die beiden auf der Straße aufgelesen und wäre für eine paar schnellverdiente Schillinge mit ihnen in eine dunkle Gasse, wo sie sie dann geschlagen hätten. Sie haben sie mit Gewalt genommen, obwohl sie durchaus willig war, Sie verstehen schon.« Vida biß sich auf ihre volle Unterlippe. »Sind immer welche dabei, die es ein wenig rauh mögen, aber das ging darüber hinaus. Das waren echte Hiebe. Ich meine, sie hat nicht nur ein paar Schrammen abbekommen, sie ist wirklich verletzt worden.«
Monk wartete ab. Er sah in ihren Augen, daß da noch mehr kommen würde. Eine Vergewaltigung einer einzigen Prostituierten war nicht mehr als ein Mißgeschick. Vida mußte genausogut wissen wie er, daß man gegen diese Dinge nichts tun konnte, so häßlich und ungerecht es war.
»Sie war nicht die einzige«, nahm sie ihren Bericht wieder auf. »Es geschah ein zweites Mal, einer anderen Frau, und dann wieder. Mit jedem Mal wurde es schlimmer. Es sind jetzt insgesamt sieben, Mr. Monk, von denen ich weiß. Die letzte Frau ist halbtot geschlagen worden. Sie haben ihr die Nase und den Kiefer gebrochen, und sie hat fünf Zähne verloren. Niemand sonst kümmert sich darum. Die Polizei wird uns nicht helfen. Die denken doch, Frauen, die sich verkaufen, verdienen es nicht besser.« Monk sah, wie ihr Körper sich unter dem dunklen Stoff verkrampfte. »Aber niemand verdient es, so zusammengeschlagen zu werden. Es ist für die Frauen gefährlich geworden, sich ein bißchen was nebenbei zu verdienen, obwohl sie es dringend brauchen. Wir müssen die Männer, die das tun, finden, und dazu brauchen wir Sie, Mr. Monk. Wir werden Sie bezahlen.«
Einige Sekunden lang saß er da, ohne etwas zu erwidern. Wenn das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach, dann argwöhnte er, daß die Frauen auch ein klein wenig natürliche Gerechtigkeit planten. Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Sie wußten beide, wie unwahrscheinlich es war, daß die Polizei gegen einen Mann vorgehen würde, der Prostituierte vergewaltigte. Die Gesellschaft vertrat die Auffassung, daß eine Frau, die ihren Körper verkaufte, nur wenig oder gar kein Recht hatte, die feilgebotene Ware zurückzuhalten oder Einwände zu erheben, wenn sie wie ein Gegenstand behandelt wurde und nicht wie ein Mensch. Sie hatte sich aus der Kategorie anständiger Frauen entfernt. Allein durch ihre bloße Existenz war sie eine Beleidigung für die Gesellschaft. Niemand würde sich überanstrengen, um eine Tugend zu schützen, die nach allgemeiner Meinung nicht existierte.
Und dann waren da die häßlicheren, dunkleren Gefühle. Die Männer, die solche Frauen benutzten, verachteten sie und verachteten auch jenen Teil ihrer selbst, der sie brauchte. Bestenfalls war es eine Art Verletzlichkeit, schlimmstenfalls Scham. Oder vielleicht war das Schlimmste die Tatsache, daß sie eine Schwäche hatten, von der diese Frauen wußten. Einmal hatten sie die Dinge nicht unter Kontrolle, wie sie sie im gewöhnlichen, alltäglichen Leben unter Kontrolle hatten, und eben die Menschen, die sie am meisten verachteten, waren diejenigen, die ihre Schwäche sahen und sie in all ihrer Intimität kennenlernten. War ein Mann jemals so schutzlos der Lächerlichkeit preisgegeben, wie wenn er eine Frau, für die er ja nur Verachtung hatte, für die Benutzung ihres Körpers bezahlte, um seine Bedürfnisse zu befriedigen? Diese Frau sah nicht nur seinen nackten Leib, sondern auch einen Teil seiner Seele.
Dafür mußte er sie hassen. Und es lag ihm gewiß nichts daran, an ihre Existenz erinnert zu werden, es sei denn, er konnte ihre Unmoral verdammen und erklären, wie sehr er sich wünsche, sich von ihr und ihresgleichen zu befreien. Sich dafür ins Zeug zu legen, sie vor den vorhersehbaren Unbilden ihres erwählten Gewerbes zu schützen, war undenkbar.
Die Polizei würde niemals ernsthaft versuchen, der Prostitution einen Riegel vorzuschieben. Abgesehen von der Tatsache, daß dies unmöglich wäre, kannte man ihren Wert und wußte, daß die Hälfte der angesehenen Gesellschaft entsetzt wäre, wenn ein solches Unternehmen von Erfolg gekrönt sein sollte. Prostituierte waren wie Kanalisation, ein Thema, das weder im Salon noch sonstwo diskutiert wurde – aber sie waren unabdingbar für die Gesundheit und das Funktionieren der Gesellschaft.
Monk verspürte ein heftiges Aufwallen desselben Zorns, den Vida Hopgood empfunden hatte. Und wenn er zornig war, kannte er keine Vergebung.
»Ja«, sagte er und sah sie direkt an. »Ich übernehme den Fall. Bezahlen Sie mir genug, um davon zu leben, und ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun, um den Mann oder die Männer zu finden, die das tun. Ich muß allerdings mit den Frauen sprechen. Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Mit Lügen kann ich nichts anfangen.«
In Vidas Augen blitzte so etwas wie Triumph auf. Sie hatte ihre erste Schlacht gewonnen.
»Ich werde den Mann für sie finden, wenn ich kann«, fügte er hinzu. »Ich kann nicht behaupten, daß die Polizei Anklage erheben würde. Sie wissen genausogut wie ich, wie groß die Chancen sind, daß es zu einer solchen Anklage kommen würde.«
Vida stieß ein explosives Lachen voller Geringschätzung aus.
»Was Sie danach tun, ist Ihre eigene Angelegenheit«, sagte er im vollen Bewußtsein dessen, was seine Worte bedeuten konnten. »Aber ich kann Ihnen nichts sagen, bevor ich mir ganz sicher bin.«
Vida holte Luft, um Einwände zu erheben, begriff jedoch, daß es sinnlos gewesen wäre, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
»Ich werde Ihnen nichts erzählen«, wiederholte er, »bevor ich es sicher weiß. Das ist meine Bedingung.«
Sie streckte die Hand aus.
Monk ergriff sie, und sie schlug mit ungewöhnlicher Kraft ein.
Vida wartete neben dem Kamin, während Monk seine Kleidung gegen ältere Stücke eintauschte, zum einen, weil er die Kleidungsstücke, die er schätzte, nicht beschmutzen wollte, aber auch aus dem sehr viel praktischeren Grund, daß er auf diese Weise in dem besagten Viertel seiner Wege gehen konnte, ohne aufzufallen. Dann begleitete er Vida Hopgood nach Seven Dials.
Sie nahm ihn in ihre Wohnung mit, die aus einer Reihe überraschend gut möblierter Räume über dem Ausbeutungsbetrieb bestand. In dem Betrieb beugten dreiundachtzig Frauen im Schein des Gaslichts die Köpfe über ihre Nadeln, mit schmerzendem Rücken und tränenden Augen, die sich mühten, etwas zu sehen. Aber zumindest war es trocken, und es war wärmer als draußen auf der Straße, wo es gerade zu schneien begann.
Vida zog sich ebenfalls um und ließ Monk währenddessen in ihrem Salon allein. Ihr Mann war unten in der Fabrik und sorgte dafür, daß niemand nachlässig wurde, mit seinem Nachbarn plauderte oder sich etwas einsteckte, was nicht ihm gehörte.
Vida kehrte in schlichteren, schäbigeren Kleidern zurück und kam gleich zur Sache. Sie mochte zwar die Dienste eines Polizisten benötigen, aber sie hatte nicht die Absicht, überflüssigen Umgang mit ihm zu pflegen. Es war ein vorübergehender Waffenstillstand, und trotz all ihrer Freundlichkeit war Monk nach wie vor der »Feind«. Sie würde das nicht vergessen, selbst wenn er es möglicherweise tat.
»Ich bringe Sie jetzt zuerst zu Nellie«, sagte sie, während sie sich ihren Rock glattstrich und die Schultern durchdrückte. »Hat keinen Sinn, wenn Sie da allein hingehen. Sie wird nicht mit Ihnen reden, wenn ich es ihr nicht sage. Kann man ihr keinen Vorwurf draus machen.« Vida sah Monk an, wie er da immer noch in dem behaglichen Raum stand. »Na, kommen Sie schon! Ich weiß, es regnet, aber ein bißchen Wasser wird Ihnen schon nicht schaden!«
Monk verschluckte eine passende Antwort und folgte ihr hinaus auf die von einem eisigen Wind gepeitschte Straße, wo er alle Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Sie bewegte sich überraschend schnell, ihre Stiefel vollführten einen scharfen Trommelwirbel auf den Pflastersteinen. Vida hielt sich sehr gerade und blickte stur nach vorn. Sie hatte ihre Anweisungen gegeben und ging einfach davon aus, daß er ihnen Folge leisten würde, wenn er bezahlt werden wollte.
Schließlich bog Vida ohne Vorwarnung in eine Gasse ein, den Kopf gesenkt gegen den Ansturm der Schneeflocken, eine Hand instinktiv erhoben, um ihren Hut festzuhalten. Selbst hier achtete sie darauf, ihren überlegenen Status zu demonstrieren, indem sie einen Hut trug statt eines Umhangs, der sie vor den Elementen geschützt hätte. Vor einer der vielen Türen blieb sie stehen und klopfte vernehmlich an. Einige Sekunden später wurde die Tür von einer rundlichen jungen Frau mit einem hübschen Gesicht geöffnet, das beim Lächeln fehlende oder fleckige Zähne offenbarte.
»Ich will zu Nellie«, erklärte Vida schroff. »Sag ihr, Mrs. Hopgood wäre hier. Ich habe Monk mitgebracht. Sie weiß, wen ich meine.«
Monk verspürte einen jähen Stich der Furcht, weil sein Name so gut bekannt war, daß selbst diese Frau von der Straße, von der er noch nie gehört hatte, über ihn Bescheid wußte. Er konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt schon einmal in Seven Dials gewesen zu sein, ganz zu schweigen von einzelnen Gesichtern, die ihm möglicherweise hätten vertraut sein sollen. Er spürte deutlich, wie sehr ihm dieser Umstand zum Nachteil gereichte.
Das Mädchen hörte den Befehlston in Vidas Stimme und ging gehorsam davon, um Nellie zu holen. Sie bat sie nicht herein, sondern ließ sie in der eisigen Gasse stehen. Vida allerdings setzte eine Einladung als selbstverständlich voraus und drückte die Tür auf. Monk folgte ihr.
Im Haus selbst war es ebenfalls kalt, aber barmherzigerweise blieben wenigstens der Wind und der dichter fallende Schnee draußen. Die Wände im Korridor waren feucht und rochen nach Moder und dem alles durchdringenden Geruch von Exkrementen, – der Abfalleimer war nicht weit entfernt und wahrscheinlich übervoll. Vida drückte die zweite Tür auf, die in einen Raum mit einem recht großen Bett führte. Das Bett war zerwühlt und offensichtlich vor kurzem noch benutzt worden, aber es war relativ sauber, und es lagen mehrere Decken und Laken darauf. Monk vermutete, daß es eher Geschäften denn der Ruhe diente.
In der gegenüberliegenden Ecke stand eine junge Frau. Ihr Gesicht wurde von langsam verblassenden Prellungen verschandelt und von einer bös zerschnittenen Augenbraue, deren Narbe noch nicht ganz verheilt war und die wahrscheinlich nie wieder vollends zusammenwachsen würde. Monk brauchte keine weitere Bestätigung, um zu wissen, daß die Frau schwer geschlagen worden war. Er konnte sich keinen Unfall vorstellen, der einen Menschen in einen ähnlichen Zustand versetzt hätte.
»Na, dann erzähl diesem Herrn mal, was dir passiert ist, Nellie«, befahl Vida.
»Das ist ein Bulle«, sagte Nellie ungläubig. Sie sah Monk mit tiefer Abneigung an.
»Nein, ist er nicht«, widersprach Vida ihr. »Er war früher einer. Sie haben ihn rausgeworfen. Jetzt arbeitet er für jeden, der ihn bezahlt. Und heute sind wir das. Er wird rausfinden, wer die Mädchen hier herum halbtot schlägt, damit wir der Sache ein Ende machen können.«
»Ach ja?« fragte Nellie höhnisch. »Und wie will er das machen, bitteschön? Warum interessiert ihn das überhaupt?«
»Wahrscheinlich interessiert es ihn gar nicht«, entgegnete Vida scharf. Nellies Begriffsstutzigkeit machte sie ungeduldig.
»Aber er muß essen, genau wie wir anderen auch. Er wird tun, wofür wir ihn bezahlen. Was wir mit dem Bastard machen, wenn er ihn gefunden hat, geht ihn nichts mehr an.«
Nellie zögerte immer noch.
»Hör mal, Nellie.« Vida war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. »Vielleicht bist du ja eins von diesen dämlichen Weibern, die sich gern grün und blau schlagen lassen, wahrhaftig!« Sie stemmte die Hände in ihre üppigen Hüften.
»Aber würde es dir auch Spaß machen, wenn du dich nicht mehr auf die Straße traust, um dir was dazuzuverdienen? Du willst von dem leben, was du mit der Näherei verdienst, ja? Das ist genug für dich, wie?«
Widerstrebend mußte Nellie einsehen, daß die andere recht hatte. Sie drehte sich zu Monk um, und ihr Gesicht war verzerrt vor Abneigung.
»Erzähl mir, was passiert ist und wo es passiert ist«, verlangte Monk. »Fürs erste könntest du mir sagen, wo du warst und wieviel Uhr es war, zumindest schätzungsweise.«
»Es war gestern vor drei Wochen«, antwortete Nellie und saugte dabei an einem abgebrochenen Zahn. »An einem Dienstagabend. Ich war in der Fetter Lane. Ich hatte gerade einem Herrn auf Wiedersehen gesagt, der zurück nach Norden gegangen war. Ich habe mich umgedreht, um nach Hause zu gehen, und da sah ich einen anderen Herrn. Trug einen guten, schweren Mantel und hatte einen Zylinder auf. Er sah nach Geld aus, und er hing da rum, als wollte er was. Also bin ich zu ihm hin und habe mein Sprüchlein aufgesagt. Ich dachte, vielleicht gefalle ich ihm.« Sie hielt inne und wartete auf Monks Reaktion.
»Und war es so?« fragte er.
»Ja. Jedenfalls hat er das gesagt. Bloß, als wir dann anfingen, wird er plötzlich grob und fängt an, auf mich einzuschlagen, obwohl ich ja wollte. Bevor ich auch nur schreien konnte, stand plötzlich noch ein Herr vor mir. Und der ist dann auch auf mich los.« Sie betastete zaghaft ihr Auge. »Er hat mich geschlagen, der Kerl. Schlimm geschlagen. Ich wäre fast ohnmächtig geworden. Dann haben er und der erste Herr mich festgehalten und genommen, einer nach dem anderen. Und danach hat dann einer von ihnen, ich weiß nicht mehr, welcher, weil sich mir mittlerweile alles drehte und ich vor Schmerz halb bewußtlos war, die Zähne ausgeschlagen. Und gelacht haben sie, wie die Irren. Ich sage Ihnen, ich war halbtot vor Angst.«
Wenn man ihr Gesicht sah, fiel es nicht weiter schwer, das zu glauben. Allein die Erinnerung daran hatte sie erbleichen lassen.
»Kannst du mir irgend etwas über die beiden Männer sagen?« fragte Monk. »Irgend etwas, einen Geruch, eine Stimme, eine bestimmte Art von Stoff?«
»Was?«
»Der Geruch«, wiederholte er. »Kannst du dich an irgendeinen Geruch erinnern? Du bist diesen Männern schließlich ganz nahe gewesen.«
»Was für ein Geruch soll das gewesen sein?« Nellie sah ihn verwirrt an.
»Irgendeiner. Denk nach!« Er bemühte sich, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Gab sie sich mit Absicht so begriffsstutzig? »Männer arbeiten zum Beispiel an verschiedenen Stellen«, erklärte er. »Einige arbeiten mit Pferden, andere mit Leder, wieder andere mit Fischen oder Wolle oder Hanfballen. Haben Sie zum Beispiel nach Salz gerochen? Schweiß? Whisky?«
Sie schwieg.
»Also?« fuhr Vida sie an. »Denk nach! Was ist los mit dir? Möchtest du nicht, daß man diese Bastarde findet?«
»Doch! Und ich denke ja nach«, protestierte Nellie. »Ich habe bei keinem von ihnen irgendwas von diesen Sachen gerochen. Der eine hat gerochen, als hätte er was getrunken, was wirklich Starkes, aber es muß was gewesen sein, was ich selbst noch nie getrunken habe. Hat scheußlich gerochen.«
»Und der Stoff«, hakte Monk nach. »Hast du den Stoff ihrer Anzüge gefühlt? War das Tuch von guter Qualität, oder war der Stoff wiederverarbeitet worden? Dick oder dünn?«
»Warm«, sagte sie ohne zu zögern und weil sie an das einzige dachte, was für sie von Bedeutung gewesen wäre. »Gegen so einen Mantel hätte ich selber nichts einzuwenden. Kostet mehr, als ich in einem Monat verdiene, eine Menge mehr.«
»Waren sie glatt rasiert, oder trugen sie einen Bart?«
»Ich habe nicht hingesehen!«
»Du mußt es aber gespürt haben. Du mußt ihre Gesichter gespürt haben. Denk nach!«
»Kein Bart. Glatt rasiert… denk ich. Vielleicht Koteletten.« Sie stieß einen Laut der Verachtung aus. »Gibt Tausende von Männern, die so aussehen!« Ihre Stimme klang rauh und desillusioniert, als hätte sie einen Augenblick lang wirklich Hoffnung geschöpft. »Sie werden die nicht finden, niemals. Sie sind ein Lügner, wenn Sie Mrs. Hopgoods Geld nehmen, und sie ist eine Närrin, Ihnen welches zu geben!«
»Paß du gut auf, was du sagst, Nellie West!« fuhr Vida sie scharf an. »Du bist nicht so klug, daß du allein zurechtkämst, daß du mir das mal nicht vergißt! Ich rate dir, höflich zu bleiben, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
»Wie spät am Abend war es denn?« stellte Monk nun die letzte Frage, von deren Antwort er sich etwas erhoffte.
»Warum?« fragte sie höhnisch zurück. »Weil es dann nicht mehr so viele Verdächtige gibt, ja? Weil Sie dann wissen, wer’s war, wie?«
»Es könnte mir weiterhelfen, ja. Aber wenn du diese Leute lieber schützen willst, werden wir unsere Fragen anderswo stellen. Wenn ich recht verstanden habe, bist du nicht die einzige Frau, die geschlagen wurde.«
Er wandte sich zur Tür, ohne darauf zu warten, daß Vida die Initiative ergriff. Monk hörte noch, wie sie Nellie bedachtsam und boshaft beschimpfte, ohne sich zu wiederholen.
Die zweite Frau, zu der Vida ihn führte, war ganz anders. Sie trafen sie, als sie nach einem langen Tag in der Fabrik nach Hause trottete. Es schneite immer noch, obwohl die Pflastersteine zu naß waren, als daß der Schnee hätte liegenbleiben können. Diese Frau war vielleicht fünfunddreißig, auch wenn ihre Schultern so gebeugt waren, daß sie ebensogut hätte fünfzig sein können. Ihr Gesicht war aufgedunsen und ihre Haut bleich, aber sie hatte hübsche Augen und dichtes, natürlich gewelltes Haar. Mit ein klein wenig Lebensmut, ein klein wenig Lachen, wäre sie immer noch attraktiv gewesen. Als sie Vida erkannte, blieb sie stehen. Ihre Miene verriet weder Furcht noch Unfreundlichkeit. Es sprach sehr für Vidas Charakter, daß sie als Ehefrau des Fabrikbesitzers in einer solchen Frau immer noch ein gewisses Gefühl der Freundschaft wecken konnte.
»Hallo, Betty«, sagte Vida mit frischer Stimme. »Das hier ist Monk. Er wird uns bei diesen Mistkerlen helfen, die die Frauen hier in der Gegend zusammenschlagen.«
In Bettys Augen flackerte so etwas wie Hoffnung auf, aber der Eindruck war so flüchtig, daß Monk es sich auch nur eingebildet haben konnte.
»Ach ja?« fragte sie ohne großes Interesse. »Und wozu? Damit die Bullen sie verhaften und der Richter sie rauf nach Coldbath Fields schickt? Oder vielleicht wandern sie ja auch nach Newgate, wo der Strick auf sie wartet, hm?« Sie stieß ein trockenes, beinahe geräuschloses Lachen aus.
Vida hatte sich ihr angeschlossen und ging neben ihr her, so daß Monk einige Schritte zurückbleiben mußte. Sie bogen um eine Ecke und kamen an einer Spelunke vorbei, auf deren Türschwelle einige betrunkene Frauen saßen, die die Kälte schon nicht mehr wahrnahmen.
»Was macht Bert?« fragte Vida.
»Saufen«, antwortete Betty. »Was sonst?«
»Und die Kinder?«
»Billy hat Kehlkopfdiphtherie, und Maisie hustet sich die Seele aus dem Leib. Die anderen sind in Ordnung.« Betty streckte die Hand nach der Klinke ihrer Haustür aus und wollte sie gerade aufdrücken, als zwei kleine Jungen rufend und lachend aus der anderen Richtung die Gasse heruntergefegt kamen. Sie waren mit Stöcken bewaffnet, mit denen sie um sich schlugen, als seien es Schwerter. Einer der beiden machte einen Satz nach vorn, der andere schrie laut auf, ließ sich dann der Länge nach hinfallen und tat so, als stürbe er in Qualen; freudestrahlend wälzte er sich auf den feuchten Pflastersteinen. Der andere hüpfte auf und ab und schmetterte seinen Sieg heraus. Anscheinend war er gerade mit Siegen an der Reihe, und er hatte die Absicht, diese Wonne bis zur Neige auszukosten.
Betty lächelte geduldig. Die Lumpen, die die beiden trugen, eine Mischung aus abgelegter und aufgetrennter Kleidung neu zusammengenähten Kleidern älterer Kinder, konnten kaum noch schmutziger werden.
Monk spürte, wie sich seine Schultern bei dem Klang von Kinderlachen ein wenig entspannten. Es war ein Hauch von Menschlichkeit in dem grauen Einerlei von Armut und Not um ihn herum.
Betty führte sie in ein Wohnhaus, ganz ähnlich dem, in dem Nellie West lebte. Anscheinend bewohnte sie zwei Räume im unteren Teil. Ein Mann in mittleren Jahren lag im Rausch lang ausgestreckt halb über einem Sessel, halb auf dem Fußboden. Sie achtete nicht weiter auf ihn. Das Zimmer war mit zweckmäßigen Möbelstücken vollgestellt, einem schiefen Tisch, dem gepolsterten Sessel, in dem der Mann lag, zwei Holzstühlen, wobei einer davon einige Flicken auf der Sitzfläche hatte, sowie einem Kleiderbesen und einer ganzen Anzahl von Lumpen. Der Klang von Kinderstimmen im Nebenzimmer drang durch die dünnen Wände, und man hörte jemanden husten. Die beiden Jungen hatten ihren Kampf in den Flur verlegt.
Vida ignorierte alle anderen und konzentrierte sich auf Betty.
»Sag ihm, was dir passiert ist.« Mit einer ruckartigen Kopfbewegung deutete sie auf Monk, um zu erklären, von wem sie sprach. Der andere Mann war anscheinend zu tief in seinem Rausch befangen, um sie überhaupt wahrzunehmen.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, erwiderte Betty resigniert.
»Man hat mich geschlagen. Es tut immer noch weh, aber da kann niemand was dran machen. Ich sollte einen Glasscherben bei mir tragen, aber das ist die Sache nicht wert. Wenn ich die Bastarde aufschlitze, schlägt man mir bloß wegen Mord den Kopf ab. Außerdem glaube ich nicht, daß die wieder herkommen werden.«
»Ach nein?« fragte Vida, und ihre Stimme troff von Geringschätzung. »Verläßt du dich drauf? Du hast keine Angst, wieder auf die Straße zu gehen und dein Glück zu versuchen? Es gefällt dir, so wie es ist, ja? Du hast wohl nicht gehört, was Nellie West passiert ist oder Carrie Barker oder Dot MacRae? Oder all den anderen, die vergewaltigt oder geschlagen worden sind? Ein paar davon sind noch Kinder. Betty Grover, das arme kleine Kälbchen, hätten sie fast totgeschlagen.«
Monk stellte ihr dieselben Fragen, die er Nellie West gestellt hatte, und bekam im großen und ganzen dieselben Antworten.
Sie war draußen auf der Straße gewesen, um sich ein bißchen was nebenbei zu verdienen. Es war eine magere Woche für ihren Mann gewesen, wie sie es bezeichnete. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, aber wegen des schlechten Wetters war nichts zu machen gewesen. Die Winter waren immer hart, vor allem auf dem Fischmarkt, wo er häufig eine Gelegenheitsarbeit finden konnte. Sie hatten sich gestritten, irgendeine Kleinigkeit, nichts Besonderes. Er hatte sie geschlagen, hatte ihr ein blaues Auge verpaßt und ein Büschel Haare ausgerissen. Sie hatte ihm eine leere Ginflasche über den Kopf gezogen, und er war bewußtlos geworden. Die Flasche war zerbrochen, und sie hatte sich die Hand aufgeschnitten, weil sie die Scherben eilig auflesen mußte, bevor noch eines der Kinder hineintrat und sich die Füße aufschnitt.
Danach hatte sie sich dann auf die Suche nach Kundschaft gemacht, um das fehlende Geld zu verdienen. Am Ende hatte sie siebzehn und sechs Pence gehabt, ein ganz hübsches Sümmchen, und sie hatte sogar die Hoffnung, es noch zu vergrößern, als drei Männer an sie herangetreten waren, zwei von vorn, einer von hinten. Doch nachdem sie sie einige Sekunden lang beschimpft hatten, hatte der eine sie festgehalten, während die beiden anderen sie einer nach dem anderen vergewaltigten. Am Ende war sie in einem schlimmen Zustand gewesen, eine Schulter ausgerenkt und Knie und Ellbogen blutig aufgeschürft. Danach hatte sie sich drei Wochen lang nicht mehr auf die Straße getraut und auch ihren Mann nicht einmal in ihre Nähe gelassen. Tatsächlich, so stellte es sich nun heraus, hatte ihr schon der Gedanke, wieder auf die Straße zu gehen, vor Angst beinahe schlecht werden lassen, obwohl der Hunger sie schließlich doch hinaustrieb.
Monk befragte sie genau nach allem, was ihr vielleicht im Gedächtnis geblieben sein konnte. Die Männer hatten sie beschimpft. Wie waren ihre Stimmen gewesen?
»Sie haben ordentlich gesprochen. Wie feine Herren. Die waren nicht hier aus der Gegend!« Was das betraf, hatte sie nicht den leisesten Zweifel.
»Alt oder jung?«
»Keine Ahnung. Ich habe sie nicht gesehen. An der Stimme kann man so was nicht hören.«
»Glatt rasiert oder bärtig?«
»Rasiert, glaube ich! An Barthaare kann ich mich nicht erinnern. Das heißt, ich glaube es jedenfalls nicht.«
»Was für Kleider?«
»Weiß ich nicht.«
»Können Sie sich an irgend etwas sonst erinnern? Einen Geruch, Worte, einen Namen, irgend etwas?«
»Weiß nicht.« Ihr Blick trübte sich. »Geruch? Was meinen Sie denn damit? Sie haben nach nichts gerochen!«
»Kein Alkohol?«
»Nicht, daß ich wüßte. Nein, gerochen habe ich nichts.«
»Keine Seife?« Kaum hatte er es ausgesprochen, wünschte er, er hätte nichts gesagt. Er legte ihr Dinge in den Mund, auf die sie von allein nicht gekommen wäre.
»Seife? Ja, könnte schon sein. Komisch, irgendwie…
anders.«
Wußte sie, wie Sauberkeit roch? Vielleicht würde es ihr merkwürdig erscheinen, eher etwas, das fehlte, als etwas, das sich ihr sogleich aufdrängte. Ihre Antworten verrieten ihm nicht mehr als die von Nellie West, malten aber in etwa dasselbe Bild: zwei oder drei Männer, die aus einer anderen Gegend in diesen Bezirk gekommen waren und deren Gelüste zunehmend gewalttätig wurden. Sie kannten sich anscheinend immerhin so weit aus, daß sie allein arbeitende Frauen aufgriffen statt der berufsmäßigen Prostituierten, die vielleicht einen Zuhälter hatten, der sie schützte. Sie nahmen die Frauen, die nur gelegentlich auf die Straße gingen, wenn die Zeiten besonders schlimm waren.
Es war bereits dunkel, als sie fortgingen, und nun blieb der Schnee draußen langsam liegen. Die wenigen intakten Straßenlaternen spiegelten sich als glitzernde Lichtflecken in der feuchten Gosse. Aber Vida hatte nicht die Absicht, schon aufzuhören. Dies war der Zeitpunkt, zu dem sie die Frauen zu Hause antreffen würden, und abgesehen davon, daß sie in Gegenwart ihrer Kolleginnen vielleicht nicht sprechen wollten, hatte Vida nicht die Absicht, gute Arbeitszeit einzubüßen, indem sie ihre Fragen stellte, wenn die Frauen eigentlich auftrennen oder zuschneiden oder nähen sollten. Vida mußte praktisch denken. Außerdem, ging es Monk durch den Sinn, wußte Mr. Hopgood vielleicht nichts von ihrem Feldzug, für den er bezahlte. Möglich, daß er die ganze Angelegenheit keineswegs so persönlich nahm, wie seine Frau es tat.
Der nächste Besuch galt Carrie Barker. Sie war knapp sechzehn, die Älteste in einer Familie, deren Eltern beide verschwunden oder tot waren. Carrie hatte sich um sechs jüngere Geschwister zu kümmern und mußte auf die eine oder andere Art verdienen, was sie nur konnte. Monk fragte nicht weiter nach. Sie saßen im einzigen großen Zimmer alle zusammen, während sie Vida mit atemloser Stimme durch einen abgebrochenen Schneidezahn erzählte, was ihr zugestoßen war. Eine Schwester, etwa anderthalb Jahre jünger als sie, preßte den linken Arm auf ihren Leib, als hätte sie Schmerzen in Brust und Magen; sie hörte genau zu, was Carrie sagte, und nickte gelegentlich dazu.
In dem fahlen Licht der einzigen brennenden Kerze war Vidas Gesicht eine Maske des Zorns und des Mitleids, ihre üppigen Lippen waren starr, ihre Augen hell.
Es war im Grunde dieselbe Geschichte. Die beiden ältesten Mädchen waren draußen gewesen, um ein wenig nebenbei zu verdienen. Dies war offensichtlich die Art und Weise, in der auch das nächste Mädchen, das jetzt fast zehn war, in einem Jahr oder noch eher dafür sorgen würde, daß sie und ihre jüngeren Geschwister Nahrung und Kleidung bekamen. Im Augenblick war sie ganz damit beschäftigt, einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren geistesabwesend in ihren Armen zu wiegen, während sie dem Bericht ihrer Schwester lauschte.
Diese beiden Mädchen waren äußerlich nicht so schwer verletzt wie die älteren Frauen, die Monk gesehen hatte, aber ihre Furcht ging tiefer, und vielleicht brauchten sie das Geld noch dringender. Es waren sieben Mäuler zu füttern, und es gab sonst niemanden, der sich um sie gekümmert hätte. Monk verspürte einen solchen maßlosen Zorn, daß er, ob Vida Hopgood ihn nun bezahlte oder nicht, die feste Absicht hatte, die Männer zu finden, die das getan hatten. Er würde dafür sorgen, daß sie so hart bestraft wurden, wie das Gesetz es nur zuließ. Und wenn das Gesetz sich nicht darum scherte, dann würde es andere geben, die das taten.
Er befragte die beiden vorsichtig und sanft, ließ aber keine Einzelheit aus. Woran konnten sie sich erinnern? Wo war es passiert? Um wieviel Uhr? Wurde irgend etwas gesprochen? Was war mit den Stimmen? Was hatten die Männer an? Wie fühlte sich der Stoff an, wie war es mit der Haut, waren sie bärtig oder rasiert? Wie rochen sie, waren sie betrunken oder nüchtern, rochen sie nach Salz, Tier, Fisch, Hanf, Ruß? Carrie sah ihn verständnislos an. All ihre Antworten bestätigten die anderen Geschichten, fügten ihnen aber nichts hinzu. Das einzige, woran die beiden sich deutlich erinnern konnten, waren der Schmerz und die entsetzliche Angst, der Geruch der nassen Straße, der offenen Kanalisation, das Gefühl der Pflastersteine, die sich in ihren Rücken bohrten, der grausame Schmerz, zuerst in ihren Leibern, dann außerhalb, als es Fausthiebe und Tritte hagelte. Danach hatten sie dann in der Dunkelheit dagelegen, während die Kälte sich in sie hineinfraß, und endlich waren da Stimmen gewesen, man hatte sie aufgehoben, und schließlich war langsam die Wahrnehmung und mit ihr der Schmerz zurückgekehrt.
Jetzt hatten sie Hunger. Es war kaum noch etwas zu essen da, genausowenig wie Kohle oder auch nur Holz, und sie waren zu verängstigt, um sich aus dem Haus zu trauen. Aber schon bald würde die Zeit kommen, da ihnen nichts anderes mehr übrig blieb, wenn sie nicht verhungern wollten. Monk klopfte seine Taschen ab und legte zwei Münzen auf den Tisch. Er sagte nichts, sah aber, wie die Blicke der Kinder von diesen Münzen angezogen wurden.
»Nun?« verlangte Vida zu wissen, als sie wieder draußen auf der Straße waren und sich mit gesenktem Kopf dem Wind entgegenstemmten. Auf den Steinen hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, über die sich nun Schnee breitete. Es sah unheimlich aus in dem fahlen Licht und warf den Widerschein der fernen Straßenlaternen zurück, bleiche, verschwommene Flecken vor dem Schwarz der Dächer und Mauern und dem dumpfen, lichtlosen Himmel. Der Boden unter ihren Füßen war glatt und gefährlich.
Monk schob die Hände tiefer in seine Taschen und zog den Mantel fest um sich. Sein Körper war steif vor Zorn, und dieses Gefühl verschlimmerte die Kälte noch.
»Zwei oder drei Männer schlagen und vergewaltigen Frauen, die auf den Strich gehen«, antwortete er verbittert. »Sie stammen nicht von hier, aber sie können ansonsten überall herkommen. Es sind keine Arbeiter, können aber Angestellte, Verkäufer, Geschäftsleute oder Gentlemen sein. Es können Soldaten auf Urlaub sein oder Seeleute, die Landgang haben. Es müssen nicht einmal unbedingt jedesmal dieselben Männer gewesen sein, obwohl das ziemlich wahrscheinlich ist.«
»Na, das bringt uns ja nun wirklich ein Riesenstück weiter!« fauchte Vida ihn an. »Soviel wußten wir selber schon, verflucht! Ich bezahle Sie nicht, damit Sie mir erzählen, was ich mir selber zusammenknobeln kann! Ich dachte, Sie wären angeblich der beste Schnüffler, den es gibt! Zumindest haben Sie immer so getan, als wären Sie das!« Ihre Stimme klang schrill und scharf, und es lag nicht nur Abscheu darin, sondern auch Furcht. Furcht schien sie zu zerreißen. Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte niemanden, an den sie sich sonst hätte wenden können.
»Haben Sie erwartet, daß ich heute abend noch die Antwort finde?« fragte er sarkastisch. »Ein Abend, und ich soll Ihnen Namen oder Beweise liefern? Sie wollen keinen Detektiv, Sie wollen einen Zauberer.«
Vida blieb stehen und sah ihn direkt an. Einen Augenblick lang war sie versucht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Es war ihr Instinkt, sich zur Wehr zu setzen. Dann holte die Wirklichkeit sie ein. Sie sackte ein wenig in sich zusammen. In dem trüben Licht und dem immer dichter fallenden Schnee konnte er nur ihre Umrisse erkennen. Sie waren zwanzig Meter von der nächsten Laterne entfernt.
»Können Sie uns helfen oder nicht, Monk? Ich habe keine Zeit, Ihre Spielchen zu spielen.«
Ein alter Mann, der einen Sack über der Schulter trug, schlurfte murmelnd an ihnen vorbei.
»Ich glaube schon«, antwortete Monk ihr. »Diese Männer sind nicht aus dem Nichts hier erschienen. Sie müssen irgendwie hierhergekommen sein, wahrscheinlich mit einem Hansom. Sie müssen eine Weile herumgelungert haben, bevor sie diese Frauen überfielen. Vielleicht haben sie auch ein oder zwei Gläschen getrunken. Irgend jemand hat sie gesehen. Irgend jemand hat sie hergefahren und auch wieder zurückgebracht. Sie waren zu zweit oder zu dritt. Männer, die eine Frau suchen, tauchen gewöhnlich nicht zu zweit oder dritt auf. Irgend jemand wird sich erinnern.«
»Und Sie werden ihn zum Reden bringen«, sagte sie bedrückt, als sei die Erinnerung bitter und erfüllt von Schmerz und Bedauern.
Woher wußte sie soviel über ihn? War es alles Hörensagen, und wenn ja, was hatte sie gehört? Sie befanden sich mittlerweile in den Randbezirken des Gebietes, in dem er als Polizist eingesetzt worden war. Oder hatten sie einander schon lange davor gekannt und besser, als sie es angedeutet hatte? Bei einem anderen Fall, zu einer anderen Zeit? Was wußte sie von ihm, was er selbst nicht wußte? Sie wußte, daß er schlau war und skrupellos. Und sie mochte ihn nicht, aber sie respektierte seine Fähigkeiten. Auf ihre eigene verdrehte Art und Weise vertraute sie ihm. Und sie glaubte, daß er in Seven Dials arbeiten konnte.
Er wollte ihr Vertrauen zu ihm nicht enttäuschen, dringender noch, als wenn sie irgendeine wohlhabende Frau aus besseren Kreisen gewesen wäre. Der Grund dafür lag vor allem in seinem Zorn auf die Brutalität dieser Männer, die Ungerechtigkeit des Ganzen, ihres Lebens und des Lebens dieser Frauen. Aber es war auch Stolz im Spiel. Er wollte ihr beweisen, daß er immer noch der Mann war, der er früher gewesen war. Er hatte nicht seine Fähigkeiten verloren, nur sein Gedächtnis! Alles andere war genau wie früher, nein, besser sogar! Runcorn wußte das vielleicht nicht…
Der Gedanke an Runcorn ließ ihn jäh stehenbleiben. Runcorn war sein Vorgesetzter gewesen. Er war sich immer der Tatsache bewußt gewesen, daß Monk ihm direkt auf den Fersen war, daß Monk die besseren Anzüge, den schnelleren Verstand und die schärfere Zunge besaß, daß Monk stets darauf lauerte, ihn bei einem Fehler zu ertappen!
War es sein Gedächtnis, das zu ihm sprach, oder nur das, was er aus Runcorns Benehmen nach dem Unfall geschlossen hatte?
Dies hier war Runcorns Bezirk. Wenn er diese Verbrecher zu fassen bekam, würde es Runcorn sein, an den er sich mit der Sache wenden mußte.
»Ja«, sagte er laut. »Es könnte schwierig sein, herauszufinden, woher die Männer kamen. Einfacher ist es möglicherweise, herauszufinden, wohin sie gegangen sind. Sie müssen schmutzig gewesen sein, nachdem sie sich mit den Frauen auf dem Pflaster gewälzt haben. Ein oder zwei der Männer waren vielleicht auch leicht verletzt. Diese Frauen haben sich gewehrt, zumindest genug, um zu kratzen oder zu beißen.« In Gedanken sah er nur schattenhafte Gestalten vor sich, aber einige Dinge wußte er doch. »Sie müssen in Hochstimmung gewesen sein, angestachelt sowohl von Triumph als auch von Furcht. Sie hatten etwas Furchtbares getan. Irgendein Echo dessen müßte noch in ihrem Auftreten zu finden gewesen sein. Irgendeinem Droschkenfahrer, irgendwem wird etwas aufgefallen sein. Er müßte noch wissen, wo er sie hingefahren hat, welche Fahrt ihn aus seinem Bezirk weggeführt hat.«
»Ich sagte ja, daß Sie ein schlauer Mistkerl sind«, bemerkte Vida mit einem leisen Seufzer der Erleichterung. »Da ist noch eine, mit der Sie sprechen sollten. Dot MacRae. Sie ist richtig verheiratet, vor dem Gesetz, aber ihr Mann ist nichts wert. Schwindsüchtig, der arme Teufel. Kann nichts tun. Hustet sich die Lunge aus dem Leib. Sie muß arbeiten, und Hemden nähen allein reicht nicht.«
Dot MacRae erzählte ihnen im wesentlichen genau das, was sie bereits gehört hatten. Sie war älter als die anderen, vielleicht vierzig, aber immer noch von gutem Aussehen. Ihr Gesicht hatte Charakter, und ihre Augen verrieten Mut. Und einen hilflosen Zorn. Sie saß in der Falle, und sie wußte es. Sie erwartete weder Hilfe noch Mitleid. Dot erzählte Monk mit einfachen Worten, was vor zweieinhalb Wochen passiert war, als zwei Männer auf einem Hof von zwei Seiten an sie herangetreten waren und sie angegriffen hatten. Ja, sie war absolut sicher, daß es nur zwei gewesen waren. Einer davon hatte sie festgehalten, während der andere sie vergewaltigte, und als sie sich gewehrt hatte, hatten sie beide mit Fäusten und Füßen auf sie eingedroschen, bis sie fast besinnungslos liegengeblieben war.
Percy, ein Bettler, der regelmäßig in einem der Hauseingange dort schlief, hatte sie gefunden und nach Hause gebracht. Er hatte gesehen, daß da etwas ganz und gar nicht stimmte, und alles in seinen Kräften Stehende getan, um ihr zu helfen. Er hatte den Vorfall auch irgend jemandem melden wollen, aber an wen hätten sie sich schon wenden können? Wen scherte es, wenn eine Frau, die ihren Körper verkaufte, ein wenig geschlagen oder mit Gewalt genommen wurde?
Vida bemerkte nichts dazu, aber wiederum waren ihre Gefühle deutlich in ihrem Gesicht zu lesen.
Monk stellte Fragen nach Zeit und Ort, wollte alles wissen, woran Dot sich erinnern konnte und wodurch sich diese Männer von anderen unterscheiden ließen.
Dot hatte sie nicht richtig gesehen. Sie waren nicht mehr gewesen als Umrisse, ein Gesicht, ein Schmerz in der Dunkelheit. Sie hatte einen überwältigenden Zorn in ihnen gespürt und nachher dann Erregung, ja sogar Jubel.
Monk ging durch den Schnee davon, so blind vor Zorn, daß er die Kälte kaum mehr wahrnahm. Er hatte sich an der Straßenecke von Vida Hopgood verabschiedet, um den Bezirk Seven Dials hinter sich zu lassen und zu den offenen Durchgangsstraßen zurückzukehren, den Lichtern und dem Verkehr der Stadt. Später würde er sich einen Hansom suchen und den Rest der Strecke zurück in seine Wohnung in der Fitzroy Street fahren. Jetzt hatte er das Bedürfnis, nachzudenken und seinen Muskeln etwas zu tun zu geben, seine Energie im Laufen zu verströmen und den scharfen Schmerz des Eiswindes auf seinem Gesicht zu spüren.
Diese Vergewaltigungen folgten einem bestimmten Muster. Die Gewalttätigkeit war dieselbe und immer unnötig. Die Täter suchten sich keine widerstrebenden Frauen aus. Gott helfe ihnen, sie waren nur allzu willig. Sie waren keine berufsmäßigen Prostituierten, sondern verzweifelte Frauen, die ehrlicher Arbeit nachgingen, wenn sie konnten, und nur auf die Straße gingen, wenn der Hunger sie trieb.
Warum keine Berufsprostituierten? Weil hinter denen Männer standen, die sich um sie kümmerten. Sie stellten eine Ware dar, zu wertvoll, um sie zu gefährden. Wenn jemand sie schlug, entstellte oder ihren Wert verringerte, dann waren es die Zuhälter selbst, die »Besitzer«, und sie taten es immer aus einem bestimmten Grund. Meist, um sie für einen Diebstahl zu bestrafen, weil sie in ihre eigene Tasche gearbeitet hatten, statt den Lohn ihrem Herrn auszuhändigen.
Den Gedanken an einen Rivalen, der versuchte, das Gebiet zu übernehmen, hatte Monk bereits verworfen. Diese Frauen teilten ihre Einnahmen mit niemandem. Sie waren in keiner Weise eine Bedrohung für die Frauen, die sich allein mit Prostitution ihren Lebensunterhalt verdienten. Außerdem würde ein Zuhälter zwar schlagen, aber nicht vergewaltigen. Das war keines der Kennzeichen eines Unterweltverbrechens. Die Sache brachte keinen Profit. Menschen, die sich nur mit Mühe ihr Überleben sichern konnten, verschwendeten weder Energie noch mögliche Einnahmequellen wieder und wieder auf sinnlose Gewalttätigkeit.
Monk bog um eine Ecke, und der Wind traf ihn bitterkalt und brannte auf seiner Haut, daß ihm die Augen tränten. Er wollte eigentlich nach Hause gehen, abwägen, was er gehört hatte, und sich eine Strategie zurechtlegen. Aber die Verbrechen hatten sich nachts ereignet. Die Nacht war die Zeit, in der er nach anderen Zeugen Ausschau halten sollte, Droschkenfahrern, die Fahrgäste auflesen und aus den Randbezirken von Seven Dials Richtung Westen kutschiert hatten. Es wäre nicht anständig gewesen, wenn er in seine eigenen, geheizten Räume zurückgekehrt wäre, zu warmem Essen und einem sauberen Bett, und sich dann eingeredet hätte, daß er gerade versuchte, den Mann zu finden, der diese sinnlosen und bestialischen Dinge getan hatte.
Monk streifte bis lange nach Mitternacht durch die Straßen am Rand von Seven Dials, wobei er sich überwiegend im Nordwesten hielt, Richtung Oxford Street und Regent Street, wo er mit einem Droschkenfahrer nach dem anderen sprach und immer dieselben Fragen stellte. Die allerletzte Begegnung war typisch für den Verlauf sämtlicher dieser Gespräche.
»Wo soll’s denn hingehen, Chef?«
»Nach Hause. Fitzroy Street«, erwiderte Monk, der immer noch auf dem Pflaster stand.
»Na denn.«
»Arbeiten Sie oft in dieser Gegend?«
»Hm, ja. Warum?«
»Tut mir leid, daß ich Ihnen eine so weite Fahrt aufbürden muß.« Er setzte seinen Fuß auf das Trittbrett, er ließ sich Zeit.
Der Droschkenfahrer stieß ein rauhes Lachen aus. »Dafür bin ich schließlich hier. Nur mal kurz um die Ecke zu fahren bringt mir nicht viel.«
»Sie bringen doch manchmal auch Leute nach Nordwesten, nicht wahr?«
»Manchmal. Steigen Sie nun ein oder nicht?«
»Ja«, antwortete Monk, ohne es dann jedoch wirklich zu tun.
»Erinnern Sie sich an zwei Herren aus dieser Gegend, es muß so ungefähr zu dieser Stunde der Nacht gewesen sein oder später. Die beiden sahen aus, als hätten sie eine Rauferei hinter sich gehabt, vielleicht waren sie naß, vielleicht hatten sie Kratzer oder Schrammen abbekommen. Jedenfalls wollten sie wieder nach Westen gebracht werden. Erinnern Sie sich?«
»Warum? Was geht das Sie an? Ich bringe jede Menge Herren wohin. Wer sind Sie eigentlich, und weshalb wollen Sie das wissen?«
»Einige Frauen hier aus der Gegend sind zusammengeschlagen worden, und das ziemlich übel«, erwiderte Monk. »Und ich glaube, es waren Männer, die aus einem anderen Teil der Stadt kamen, um sich ein wenig zu amüsieren, und zu weit gegangen sind. Ich würde sie gerne finden.«
»Ach ne!« Der Kutscher zögerte und wog die Vor und Nachteile einer Zusammenarbeit mit Monk ab. »Warum? Die Frauen gehören Ihnen, wie?«
»Ich werde dafür bezahlt«, erwiderte Monk wahrheitsgemäß.
»Die Sache bedeutet jemandem genug, um zu versuchen, ihr einen Riegel vorzuschieben.«
»Wer soll das sein? Die Zuhälter? Hören Sie, ich werde hier nicht die ganze Nacht rumstehen und Ihre blöden Fragen beantworten, es sei denn, Sie zahlen. Klar?«
Monk griff in seine Tasche und förderte eine halbe Krone zutage. Er hielt sie in die Höhe, so daß der Kutscher sie sehen konnte, überließ sie ihm aber noch nicht.
»Ich arbeite für Vida Hopgood, deren Mann die Fabrik gehört, in der die Frauen arbeiten. Sie hat etwas gegen Vergewaltigung. Ich habe den Eindruck, Ihnen ist das egal?«
Der Kutscher fluchte, und seine Stimme hatte einen wütenden Klang angenommen. »Wer zum Teufel sind Sie, daß Sie behaupten, mir wäre es egal, wo Sie doch selber so ein verfluchter feiner Pinkel aus dem Westen sind? Diese Bastarde kommen hierher, nehmen sich eine Frau und behandeln sie wie Dreck. Dann fahren sie wieder nach Hause zurück, als hätten sie bloß ‘nen hübschen Ausflug in die Stadt gemacht!« Er machte keinen Hehl aus seiner Verachtung.
Monk gab ihm die halbe Krone, und er biß automatisch hinein.
»Also, wo haben Sie die beiden einsteigen lassen, und wohin haben Sie sie gebracht?« fragte Monk.
»Eingestiegen sind sie in der Brick Lane«, antwortete der Kutscher. »Und ausgestiegen oben am Portman Square. Ein andermal habe ich sie zum Eaton Square gebracht. Das heißt aber nicht, daß sie da wirklich wohnen. Da finden Sie eher eine Nadel im Heuhaufen als die beiden. Die waren verdammt vorsichtig, diese Mistkerle, was? Damals habe ich mir natürlich nichts dabei gedacht. Sie brauchen nicht mal in der Nähe vom Portman Square zu wohnen. Vielleicht sind sie da auch bloß in den nächsten Hansom gestiegen, um sich nach Hause bringen zu lassen. Die können überall wohnen.«
»Es ist immerhin ein Anfang.«
»Ach, erzählen Sie mir doch nichts! Nicht mal die Scheißbullen könnten die Kerle finden!«
»Vielleicht nicht, aber die Männer sind ein dutzendmal hiergewesen, vielleicht sogar häufiger. Irgendwo muß es einen Hinweis geben, und wenn es ihn gibt, dann werde ich die Männer finden«, sagte Monk mit leiser, verbitterter Stimme.
Der Droschkenfahrer schauderte, und der Schnee war nur einer der Gründe dafür. Er blickte in Monks Gesicht.
»Sie sind wie ein Wolf, wie? Ich bin verdammt froh, daß Sie nicht hinter mir her sind! Also, wenn Sie nach Hause wollen, steigen Sie in meine Kutsche, und wir bringen es hinter uns. Wenn Sie die ganze Nacht hier rumstehen wollen, dann müssen Sie auf mich verzichten und auf mein Pferd auch, den armen Gaul!«
Monk stieg ein und setzte sich. Es war zu kalt, um sich zu entspannen, aber langsam und unter stetigem Schaukeln kam er der Fitzroy Street und einem warmen Bett immer näher.
Am nächsten Morgen erwachte er mit schmerzenden Gliedern und pochendem Schädel. Er war schlechter Laune, und er hatte kein Recht dazu. Er besaß ein Zuhause, Essen, Kleidung und eine Art von Sicherheit. Der Grund für sein körperliches Ungemach lag darin, daß er beim Einschlafen noch immer ganz steif vor Zorn gewesen war.
Er rasierte sich, kleidete sich an, frühstückte und ging zu dem Polizeirevier, in dem er früher gearbeitet hatte, vor dem letzten und unwiderruflichen Streit mit Runcorn, nach dem er den Dienst hatte quittieren müssen. Das war noch nicht allzu lange her, ungefähr zwei Jahre. Man erinnerte sich auf dem Revier noch immer sehr deutlich und mit gemischten Gefühlen an ihn. Es gab Männer dort, die noch heute Angst vor ihm hatten, die unterschwellig immer noch mit seiner Kritik rechneten oder mit einem Seitenhieb, was die Qualität ihrer Arbeit, ihren Fleiß oder ihre Intelligenz betraf. Manchmal war sein Tadel gerecht gewesen, allzu häufig jedoch nicht.
Er wollte John Evan abfangen, bevor dieser das Revier verließ, um sich seinem gegenwärtigen Fall zu widmen. Evan war der einzige Freund, auf den Monk sich verlassen konnte. Er war erst nach dem Unfall aufs Revier gekommen, und sie hatten gemeinsam den Fall Grey bearbeitet, hatten ihn Schritt um Schritt entwirrt und gleichzeitig Monks eigene Ängste und seine schreckliche Verletztheit bloßgelegt. Am Ende hatten sie die Wahrheit entdeckt, an die man heute nur mit einem Schaudern zurückdenken konnte. Evan kannte ihn besser als irgend jemand sonst, mit Ausnahme von Hester.
Evan saß in seinem kleinen Büro, das kaum mehr war als ein geräumiger Wandschrank, groß genug für ein Schränkchen mit Schubladen, zwei harte Stühle und einen winzigen Tisch, an dem er schreiben konnte. Evan sah müde aus. Er hatte dunkle Schatten unter seinen haselnußbraunen Augen, und sein Haar war länger als gewöhnlich, so daß es ihm in einer schweren, hellbraunen Welle ins Gesicht fiel.
Monk kam direkt zur Sache. Er war nicht so dumm, die Zeit eines Polizisten zu vergeuden.
»Ich habe da einen Fall. Seven Dials«, begann er. »Der Randbezirk grenzt an Ihr Gebiet. Sie wissen vielleicht etwas darüber, und ich könnte Ihnen möglicherweise von Nutzen sein.«
»Seven Dials?« Evan zog die Augenbrauen hoch. »Worum geht es? Wer in Seven Dials ruft einen Privatermittler? Und was das betrifft, wer hätte dort irgend etwas, das man ihm stehlen kann?« Es lag keine Unfreundlichkeit in seinen Zügen, nur das ermattete Wissen darum, wie die Dinge dort standen.
»Es geht nicht um Diebstahl«, erwiderte Monk. »Es geht um Vergewaltigung und um unnötige Gewalttätigkeit, Prügel.«
Evan zuckte kaum merklich zusammen. »Eine häusliche Angelegenheit? Ich glaube nicht, daß wir da viel ausrichten können. Wie sollte irgend jemand etwas beweisen? Es ist schon schwierig genug, eine Vergewaltigung in einem gepflegten, ordentlichen Vorort zu beweisen. Sie wissen so gut wie ich, daß die Gesellschaft zu der Auffassung neigt, eine Frau, die vergewaltigt wird, müsse es irgendwie verdient haben. Die Leute wollen einfach nicht glauben, daß so etwas auch Unschuldigen zustoßen kann. Auf diese Weise kann ein solches Unheil ihnen nämlich nicht widerfahren.«
»Ja, natürlich weiß ich das!« Monk war gereizt, und sein Kopf hämmerte immer noch. »Aber ob eine Frau es verdient, vergewaltigt zu werden oder nicht, sie verdient es nicht, daß man sie verprügelt, ihr die Zähne ausschlägt oder ihr die Rippen bricht. Sie verdient es nicht, von zwei Männern gleichzeitig zu Boden geschlagen und dann mit Füßen und Fäusten bearbeitet zu werden.«
Evan prallte zurück, als hätte er mit eigenen Augen gesehen, was Monk beschrieb. »Nein, natürlich verdient sie das nicht«, pflichtete er ihm bei. Dann sah er Monk ruhig in die Augen.
»Aber Gewalttätigkeit, Diebstahl, Hunger und Kälte sind in einem Dutzend Londoner Bezirke ein Teil des Lebens, und dazu kommen noch Schmutz und Krankheiten. Das wissen Sie besser als ich. St. Giles, Aldgate, Seven Dials, Bermondsey, Friar’s Mount, Bluegate Fields, der Devil’s Acre und ein Dutzend andere. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Handelt es sich um eine häusliche Angelegenheit?«
»Nein. Es waren Männer von außerhalb. Guterzogene, wohlsituierte Männer, die nach Seven Dials kamen, um sich ein wenig zu amüsieren.« Monk hörte den Zorn in seiner Stimme, als er diese Worte aussprach, und sah ein Abbild seiner Gefühle in Evans Gesicht.
»Welche Beweise haben Sie?« fragte Evan, der ihn genau beobachtete. »Besteht auch nur die geringste Chance, die Männer jemals zu finden, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, ihre Schuld zu beweisen, zu beweisen, daß es sich um ein Verbrechen gehandelt hat und nicht nur um die Befriedigung eines besonders abscheulichen Verlangens?«
Monk holte bereits Atem, um zu sagen, daß er selbstverständlich Beweise habe, schloß dann den Mund aber wieder. Alles, was er hatte, war die Aussage von Frauen, denen kein Gericht Glauben schenken würde, selbst wenn man sie überreden konnte, eine Aussage zu machen. Und das allein war schon zweifelhaft.
»Es tut mir leid«, sagte Evan leise. Sein Gesicht war angespannt und müde vor Bedauern. »Es hat keinen Sinn, da nachzuhaken. Selbst wenn wir sie fänden, könnten wir nichts tun. Es macht einen ganz krank, aber Sie wissen das genausogut wie ich.«
Evan sah ihn verständnisvoll an.
»Ich arbeite selbst an einem ganz erbärmlichen Fall.«
Monk war nicht wirklich interessiert, aber seine Freundschaft zu dem anderen zwang ihn, Anteilnahme zu heucheln. Zumindest das war er Evan schuldig, wenn nicht mehr.
»Ach ja? Worum geht es denn?«
»Um Mord und tätlichen Angriff in St. Giles. Der arme Teufel wäre besser dran gewesen, wenn sie auch ihn ermordet hätten, statt ihn halbtotgeschlagen liegenzulassen. Und jetzt steht er so sehr unter Schock, daß er nicht sprechen kann. Überhaupt nicht.«
»St. Giles?« Monk war überrascht. Ein weiterer Bezirk, der nicht besser war als Seven Dials und nur einige tausend Meter von diesem entfernt. »Warum plagen Sie sich damit ab?« fragte er trocken. »Stehen die Chancen, dieses Verbrechen aufzuklären, nicht genauso schlecht wie bei meinem Fall?«
Evan zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich sieht es da nicht viel besser aus. Aber ich muß es versuchen, weil der Tote aus der Ebury Street kam und über beträchtlichen Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen verfügte.«
Monk zog die Augenbrauen hoch. »Was zum Teufel hatte er dann in St. Giles zu suchen?«
»Sie«, verbesserte Evan ihn. »Sie waren zu zweit. Bisher habe ich, was das betrifft, kaum eine Ahnung. Die Witwe weiß nichts und will wahrscheinlich auch nichts wissen. Die arme Frau. Ich habe keine Spuren, denen ich folgen könnte, bis auf die offensichtlichen Dinge. Er ging nach St. Giles, um ein Verlangen zu befriedigen – nach Frauen oder nach Abenteuern anderer Art –, das er zu Hause nicht befriedigen konnte.«
»Und der andere lebt noch?« fragte Monk.
»Sein Sohn. Sie hatten anscheinend einen Streit oder zumindest eine erhitzte Debatte, bevor der Sohn das Haus verließ, und dann ging der Vater ihm nach.«
»Häßlich«, sagte Monk. Dann erhob er sich. »Wenn mir irgend etwas dazu einfällt, melde ich mich bei Ihnen. Aber ich mache mir da keine großen Hoffnungen.«
Evan lächelte resigniert und griff nach der Feder, um sich wieder dem Schriftstück zuzuwenden, an dem er vor Monks Eintritt gearbeitet hatte.
Monk verließ das Revier, ohne nach links oder rechts zu sehen. Er wollte nicht zufällig Runcorn über den Weg laufen. Sein Ärger und seine Enttäuschung machten ihm schon genug zu schaffen. Das Letzte, wonach es ihn verlangte, war die Begegnung mit einem ehemaligen Vorgesetzten, der einen tiefen Groll gegen ihn hegte und nun auch noch über ihn triumphieren konnte. Er mußte nach Seven Dials zurückkehren und zu Vida Hopgood und ihren Frauen. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Was immer geschah, es lag allein in seiner Hand.