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Man behielt Rhys Duff noch für einige Tage im Krankenhaus. Am Montag, dem fünften Tag nach dem Überfall, wurde er nach Hause gebracht. Er litt immer noch große Schmerzen und hatte nach wie vor kein Wort gesprochen. Dr. Corriden Wade sollte täglich nach ihm sehen, später dann, wenn seine Genesung schließlich Fortschritte machte, alle zwei Tage. Überdies mußte Rhys vorläufig von einer ausgebildeten Krankenschwester gepflegt werden. Auf Empfehlung des jungen Polizisten, der den Fall bearbeitete, und nachdem er die entsprechenden Nachforschungen bezüglich ihrer Fähigkeiten angestellt hatte, stimmte Wade der Einstellung einer jener Frauen zu, die mit Florence Nightingale auf die Krim gezogen waren, einer gewissen Miss Hester Latterly. Sie war daran gewöhnt, für junge Männer zu sorgen, die im Kampf beinahe tödliche Verletzungen erlitten hatten. Die Entscheidung für Miss Latterly wurde von allen Seiten begrüßt.

Für Hester selbst war es eine erfreuliche Abwechslung, nachdem sie eine ältliche und äußerst ermüdende Dame gepflegt hatte, deren Probleme zum größten Teil auf Übellaunigkeit und Langeweile zurückzuführen gewesen und durch zwei gebrochene Zehen nur geringfügig verschlimmert worden waren. Mit einer tüchtigen Kammerzofe wäre ihr genausogut gedient gewesen, aber eine Krankenschwester entsprach mehr ihrem Sinn fürs Dramatische, und sie beeindruckte ihre Freundinnen mit endlosen Reden, in denen sie ihre Lage mit der Situation der Kriegshelden verglich, die Hester vor ihr gepflegt hatte.

Hester gelang es mit Mühe, höflich zu bleiben, und das auch nur, weil sie die Anstellung dringend benötigte, um zu überleben. Der finanzielle Ruin ihres Vaters hatte zur Folge gehabt, daß sie ohne jedes Erbe dastand. Charles, ihr älterer Bruder, hätte sie jederzeit versorgt, da man es von Männern erwartete, daß sie sich um ihre unverheirateten weiblichen Verwandten kümmerten, aber eine solche Abhängigkeit hätte eine Frau wie Hester erdrückt. Sie hatte auf der Krim eine außerordentliche Freiheit zu schmecken bekommen und eine Verantwortung getragen, die gleichzeitig beglückend und beängstigend gewesen war. Jedenfalls würde sie nicht den Rest ihrer Tage in stiller Häuslichkeit verbringen und einem zwar freundlichen, aber doch sehr phantasielosen Bruder Gehorsamkeit und Dankbarkeit bezeugen.

Als Hester in dem Hansom Platz genommen hatte, der sie zu ihrer neuen Stellung bringen sollte, überlegte sie, daß ihre Unabhängigkeit beträchtliche Vorteile mit sich brachte. Sie konnte Freundschaften schließen, wo es ihr gefiel und mit wem es ihr behagte. Sie dachte an Monk. Monk besaß einige Eigenschaften, die sie zutiefst bewunderte: Mut, Willensstärke, Intelligenz, Grundsatztreue, leidenschaftliches Streben nach Gerechtigkeit, die Fähigkeit, sich beinahe jeder Art von Wahrheit zu stellen, ganz gleich, wie furchtbar sie war, und die Tatsache, daß er nie, niemals zum Heuchler wurde.

Andererseits haßte sie diesen grausamen Zug, den sie an ihm erlebt hatte, die Arroganz, die immer wieder zutage tretende Gefühllosigkeit. Und er war ein Narr, wenn es um die Beurteilung eines Charakters ging. Er vermochte die Finten einer Frau ebensowenig zu durchschauen, wie ein Hund Spanisch lesen konnte! Er fühlte sich beständig zu einer Art von Frauen hingezogen, die ihn am wenigsten würde glücklich machen können.

Warum verursachte ihr die Erinnerung an ihr letztes Treffen diesen Schmerz, dieses Gefühl, innerlich wundgerieben zu sein? Hester versuchte, sich genau an seine Worte zu erinnern. Andererseits wußte sie nicht einmal mehr, worum es bei ihrem Streit eigentlich gegangen war: Es hatte etwas mit ihrer Eigenmächtigkeit zu tun gehabt, einem seiner Lieblingsthemen. Er hatte ihr vorgeworfen, sie sei selbstherrlich und beurteile die Menschen zu streng und nur nach ihren eigenen Maßstäben, denen es an augenzwinkernder Menschlichkeit fehle.

Monk hatte gesagt, sie verstehe sich darauf, Kranke und Schwache zu pflegen, sei aber nicht imstande, zu leben wie eine ganz gewöhnliche Frau, zu lachen oder zu weinen und andere Gefühle als die einer Krankenhausmatrone zu empfinden. Andauernd stürze sie sich auf die Katastrophen im Leben anderer Menschen, statt ihr eigenes Leben zu leben. Die Tatsache, daß sie sich unablässig in anderer Leute Angelegenheiten einmische, die Tatsache, daß sie immer glaube, alles besser zu wissen, mache sie zu einer ausgesprochen faden Person.

Alles in allem war es darauf hinausgelaufen, daß ihre Eigenschaften zwar bewundernswert und für die Gesellschaft dringend notwendig waren, sie jedoch zu einer persönlich unattraktiven Frau machten.

Das war es, was weh tat. Kritik war in Ordnung, sie rechnete damit, und sie konnte ihm gewiß genausoviel zurückgeben, wie sie selbst einsteckte. Aber Ablehnung war etwas ganz anderes.

Unwillkürlich dachte Hester an Oliver Rathbone. Der Gedanke an ihn entlockte ihr ein Lächeln. Im Grunde pflegten sie gar keinen gesellschaftlichen Kontakt, sondern eher eine berufliche Freundschaft. Der Anwalt hatte sie kürzlich damit überrascht, daß er sie zum Essen und anschließend ins Theater einlud. Sie hatte die Einladung angenommen und sehr genossen, daß sie sich noch jetzt gern daran erinnerte.

Zuerst hatte diese plötzliche Einladung sie ein wenig in Verlegenheit gestürzt. Wovon sollte sie reden? Ausnahmsweise gab es keinen Fall, an dem sie ein gemeinsames Interesse hatten.

Aber Hester hatte vergessen, wie weltgewandt Rathbone war.

Bei einem Verleumdungsfall hatte sie seine verletzliche Seite kennengelernt. Doch beim Dinner und im Theater war er vollkommen anders. Hier hatte er alles unter Kontrolle. Wie immer war er tadellos und mit der maßvollen Zurückhaltung eines Mannes gekleidet, der weiß, daß er niemanden zu beeindrucken braucht, da seine Position bereits gesichert ist. Er hatte ungezwungen über alle möglichen Dinge geredet, Kunst, Politik, Reisen, ein wenig Philosophie und ein paar nichtige Skandale. Er hatte Hester zum Lachen gebracht. Sie sah ihn vor sich, wie er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und sie sehr direkt anschaute. Er hatte ungewöhnliche Augen, die sehr dunkel in seinem hageren, schmalen Gesicht mit dem blonden Haar wirkten, dazu eine lange Nase und einen Mund, der ein anspruchsvolles Wesen verriet. Sie hatte ihn noch nie zuvor so entspannt erlebt, als hätten für einen gewissen Zeitraum Pflicht und Gesetz aufgehört, eine Rolle für ihn zu spielen.

Hester lächelte immer noch bei dem Gedanken an diese Stunden, als der Hansom ihr Ziel in der Ebury Street erreichte und sie mitsamt ihrem Gepäck dort absetzte. Sie entlohnte den Kutscher und ging zum Nebeneingang, wo ein Diener ihr mit ihren Koffern half und sie in einen Raum führte, in dem sie auf die erste Begegnung mit der Hausherrin warten sollte.

Man hatte Hester nur wenig über die Natur von Rhys Duffs Verletzungen mitgeteilt, nur daß sie ihm bei einem Überfall zugefügt worden waren, bei dem sein Vater getötet worden war. Hester hatte im Krankenhaus mit Dr. Riley gesprochen, und er hatte ein fortgesetztes Interesse an Rhys Duffs Genesung bekundet. Es war jedoch der Arzt der Familie, Corriden Wade, der sie engagiert hatte. Er hatte ihr nur erzählt, daß Rhys Duff unter schweren Verletzungen litt, sowohl innerlichen als auch äußerlichen. Er befände sich in einem Zustand ernsthaftesten Schocks und hätte seit dem Unfall kein Wort gesprochen. Hester sollte nicht versuchen, ihm irgendwelche Reaktionen zu entlocken, es sei denn, sie betrafen seine Wünsche bezüglich seiner Bequemlichkeit. Ihre Aufgabe bestand darin, seinen Schmerz soweit als möglich zu lindern und die Verbände an seinen geringfügigeren äußerlichen Wunden zu wechseln. Dr. Wade selbst würde sich um die schwerwiegenderen Verletzungen kümmern. Hester sollte den jungen Mann sauber und warmhalten und die Speisen für ihn zubereiten, die er zu sich zu nehmen bereit war. Sie mußten natürlich alle mild und nahrhaft sein.

Außerdem sollte sie sein Zimmer in Ordnung halten und ihm vorlesen, falls er einen entsprechenden Wunsch äußerte. Die Auswahl des Lesematerials sollte mit großer Behutsamkeit getroffen werden. Nichts, was seine Gefühle oder seinen Intellekt in Aufruhr bringen konnte, und nichts, was ihn erregen oder seine Ruhe beeinträchtigen würde. Soweit er überhaupt in der Lage war, Ruhe zu finden. Nach Hesters Meinung schloß das so ziemlich alles aus, was den Zeitaufwand oder die Mühe des Vorlesens gerechtfertigt hätte. Wenn es weder den Intellekt noch die Gefühle oder die Phantasie anregte, welchen Sinn sollte es dann haben? Sollte sie ihm den Eisenbahnfahrplan vorlesen?

Aber sie hatte lediglich genickt und sich folgsam gezeigt.

Als Sylvestra Duff den Raum betrat, war Hester einen Augenblick lang absolut überrascht. Hester hatte sich zwar kein Bild von ihr gemacht, aber nun wurde ihr klar, daß sie nach Dr. Wades Vorschriften für Rhys eine kraftlose Person erwartet hätte. Sylvestra war alles andere als kraftlos. Sie war auf eine sehr natürliche Weise ganz in Schwarz gekleidet, aber durch ihre Größe, ihre sehr schlanke Gestalt und ihren dunklen Teint wirkte es zugleich dramatisch und überaus schmeichelhaft. Sie war immer noch bleich nach dem Schock, den sie erlitten hatte, und bewegte sich, als müsse sie vorsichtig sein, damit sie in ihrer Benommenheit nicht irgendwo anstieß. Aber sie besaß große Würde und zeigte eine Haltung, die Hester nur bewundern konnte. Hesters erster Eindruck von Sylvestra Duff war ausgesprochen positiv.

Sie stand unverzüglich auf. »Guten Morgen, Mrs. Duff. Ich bin Hester Latterly, die Krankenschwester, die Dr. Wade in Ihrem Auftrag eingestellt hat. Ich soll mich während seiner Rekonvaleszenz um Ihren Sohn kümmern.«

»Guten Tag, Miss Latterly.« Sylvestra sprach leise und ziemlich langsam, als wäge sie jedes ihrer Worte sorgfältig ab, bevor sie es aussprach. »Ich danke Ihnen, daß Sie kommen konnten. Sie haben gewiß schon viele junge Männer gepflegt, die schwer verletzt waren.«

»Ja, das ist richtig.« Hester überlegte, ob sie noch hinzufügen sollte, daß sehr viele von ihnen sich überraschend gut erholt hatten, und das unter den schlimmsten Umständen. Dann aber sah sie die Gefaßtheit in Sylvestras Augen und kam zu dem Schluß, daß es eine oberflächliche Bemerkung wäre und sich anhören würde, als wolle sie die Wahrheit herunterspielen. Und sie hatte Rhys Duff noch nicht gesehen, konnte sich noch kein Urteil über seinen Zustand erlauben. Dr. Rileys abgehärmtes Gesicht, sein ängstlicher Blick und sein ausdrücklicher Wunsch, über die Fortschritte des Jungen auf dem laufenden gehalten zu werden, verrieten seine Sorge, daß Rhys sich nur langsam, wenn überhaupt, erholen würde. Überdies hatte Dr. Wade, als er sie einstellte, ebenfalls den Eindruck erweckt, persönlich betroffen zu sein.

»Wir haben ein Zimmer für Sie hergerichtet, direkt neben dem meines Sohnes«, fuhr Sylvestra fort, »und wir haben eine Glocke so aufgestellt, daß er sie rufen kann, falls er sie braucht. Natürlich kann er die Glocke nicht läuten, aber er kann sie auf den Boden werfen, so daß Sie ihn hören werden.« Sylvestra dachte an die vielen praktischen Einzelheiten und sprach viel zu schnell, weil sie auf diese Weise ihren Kummer zu verbergen versuchte. »Die Küche wird Ihnen natürlich Ihre Mahlzeiten servieren, wann immer es Ihnen günstig erscheinen mag. Sie müssen der Köchin jeden Tag Bescheid sagen, was Ihrer Meinung nach das Beste für meinen Sohn ist. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen. Wenn Sie sonst noch irgend etwas benötigen, sagen Sie es mir bitte, und ich werde alles tun, was ich kann.«

»Vielen Dank«, erwiderte Hester. »Das ist sicher eine zufriedenstellende Regelung.«

Der Schatten eines Lächelns umspielte Sylvestras Mund. »Ich denke, der Diener wird Ihr Gepäck mittlerweile nach oben gebracht haben. Möchten Sie vielleicht zuerst Ihr Zimmer sehen und Ihre Garderobe wechseln?«

»Vielen Dank, aber ich würde am liebsten Mr. Duff kennenlernen, noch bevor ich irgend etwas anderes tue«, erwiderte Hester. »Und vielleicht könnten Sie mir ein wenig mehr über ihn erzählen.«

»Über ihn?« Sylvestra schien verwirrt zu sein.

»Seinen Charakter, seine Interessen«, erklärte Hester freundlich. »Dr. Wade sagte, der Schock habe ihn vorübergehend der Sprache beraubt. Für den Anfang werde ich nur das über ihn wissen, was Sie mir sagen. Ich möchte ihm auf keinen Fall durch Unwissenheit unnötigen Kummer bereiten. Außerdem…« Sie zögerte.

Sylvestra sah sie wartend an; sie hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon Hester sprach.

Hester holte tief Luft.

»Außerdem muß ich wissen, ob Sie ihm vom Tod seines Vaters erzählt haben.«

Sylvestras Miene spiegelte jähes Begreifen wider. »Oh, natürlich! Es tut mir leid, daß ich so langsam bin. Ja, ich habe es ihm erzählt. Ich hielt es nicht für richtig, es vor ihm zu verbergen. Er wird sich diesen Dingen stellen müssen. Ich möchte nicht, daß er denkt, ich hätte ihn belogen.«

»Das alles muß furchtbar schwer für Sie sein«, meinte Hester.

»Es tut mir leid, daß ich diese Frage stellen mußte.«

Sylvestra schwieg einen Augenblick lang, als könne auch sie kaum glauben, was ihr binnen weniger Tage widerfahren war. Ihr Mann war tot und ihr Sohn schwer verletzt und eingesperrt in seine eigene, isolierte Welt, in der er sah und hörte, aber außerstande war zu sprechen, außerstande, irgend jemandem sein Entsetzen und seinen Schmerz mitzuteilen.

»Ich werde versuchen, Ihnen etwas über ihn zu erzählen«, erwiderte Sylvestra schließlich. »Es… es fällt mir schwer, an die Dinge zu denken, die vielleicht helfen könnten.« Sie wandte sich ab, um durch das Zimmer und den Korridor zur Treppe zu gehen. Am Fuß der Treppe sah sie sich nach Hester um. »Ich fürchte, daß wir auf Grund der Umstände dieses Unfalls damit rechnen müssen, daß die Polizei wiederkommen wird, um Fragen zu stellen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man Ihnen zur Last fallen wird, da Sie natürlich nichts wissen können. Wenn Rhys wieder sprechen kann, wird er mit der Polizei reden, aber man wird darauf gewiß nicht warten wollen.« Ein Ausdruck der Trostlosigkeit trat in ihre Züge. »Sie werden ohnehin wohl nie herausfinden, wer es gewesen ist. Wahrscheinlich war es eine Horde namenloser Unholde, und in den Elendsvierteln halten die Leute fest zueinander.« Sie ging die Treppe hinauf, den Rücken durchgedrückt, den Kopf hoch erhoben, aber in ihren Bewegungen war kein Leben.

Hester, die ihr folgte, stellte sich vor, daß die Taubheit des Schocks gerade erst von ihr abfiel und sie in Gedanken wieder und wieder alle Einzelheiten durchging, während ihr zu Bewußtsein kam, daß das alles Wirklichkeit war. Sie erinnerte sich, daß sie selbst ebenso empfunden hatte, als sie vom Selbstmord ihres Vaters erfuhr. Und als wenige Wochen später dann ihre Mutter starb, aus Einsamkeit und Verzweiflung. Hester hatte sich unaufhörlich mit den Einzelheiten beschäftigt und doch nie wirklich geglaubt, daß der Mann, der für den Ruin ihrer Familie verantwortlich war, jemals dingfest gemacht würde.

Aber das alles gehörte jetzt der Vergangenheit an, und das einzige, was sie davon im Kopf behalten mußte, war ihr Verständnis für die wechselhaften Stimmungen der Trauer.

Das Haus der Duffs war groß und sehr modern eingerichtet. Alles, was sie im Empfangssalon und nun im Flur sah, stammte spätestens aus der Zeit der Thronbesteigung der Königin. Dieses Haus hatte nichts von der kargen Eleganz der georgianischen Epoche. Überall fanden sich Gemälde, kunstvolle Tapeten, Wandbehänge und gewebte Teppiche, Blumenarrangements und ausgestopfte Tiere hinter Glas.

Sylvestra öffnete die dritte Tür im Flur, zögerte einen Augenblick lang und bedeutete Hester dann, ihr zu folgen. Dieses Zimmer war ganz anders. Die hohen Fenster gingen nach Süden hinaus, und das helle Tageslicht beleuchtete fast kahle Wände. Beherrscht wurde der Raum von einem großen Bett mit geschnitzten Pfosten, in dem ein junger Mann lag. Er war sehr bleich, und sein empfindsames, mutloses Gesicht war über und über mit blauschwarzen Quetschungen übersät. An mehreren Stellen sah man noch den Schorf getrockneten Blutes. Sein Haar, das ebenso schwarz war wie das seiner Mutter, war auf der einen Seite gescheitelt und fiel ihm über die Stirn. Wegen der Entstellung durch seine Verletzungen und der Schmerzen, die er immer noch haben mußte, fiel es schwer, seine Miene zu deuten, aber der Ausdruck, mit dem er Hester ansah, schien Groll und Abneigung widerzuspiegeln.

Das überraschte sie nicht. Sie war ein Eindringling und seine Trauer tief und äußerst privat. Sie war eine Fremde, und doch würde er in seinen persönlichsten Bedürfnissen von ihr abhängig sein. Sie würde seinen Schmerz miterleben und doch nichts damit zu tun haben, sie würde kommen und gehen können, würde wahrnehmen und doch nicht teilhaben. Er war nicht der erste Patient, dem dies demütigend erschien, die gefühlsmäßige und körperliche Nacktheit vor einem anderen Menschen, der stets den Schutz seiner Kleidung besaß.

Sylvestra trat ans Bett, setzte sich aber nicht zu dem jungen Mann.

»Das ist Miss Latterly, die für dich sorgen wird, jetzt, da du wieder zu Hause bist. Sie wird die ganze Zeit bei dir sein oder in dem Zimmer weiter unten im Flur, wo sie die Glocke hören wird, wenn du sie brauchst. Sie wird alles in ihren Kräften Stehende tun, damit du es bequem hast, und sie wird dir helfen, wieder gesund zu werden.«

Er wandte den Kopf, um Hester mit nur einem Anflug von Neugier zu betrachten, in den sich immer noch so etwas wie Abneigung mischte.

»Guten, Tag, Mr. Duff«, sagte sie deutlich kühler, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Sie hatte schon früher schwierige Patienten gepflegt, aber bei all ihrer Erfahrung war es immer noch ein beklemmendes Gefühl, wenn ein Mensch, mit dem sie instinktives Mitgefühl verspürte und mit dem sie die nächsten Wochen und Monate ständig und unter intimsten Umständen zusammen sein würde, ihr mit Ablehnung gegenübertrat.

Er blinzelte, erwiderte ihren Blick jedoch in völligem Schweigen. Was auch immer folgen mochte, der Anfang würde schwierig sein.

Sylvestra wirkte leicht verlegen. Sie wandte sich von Rhys ab und sah Hester an.

»Vielleicht sollte ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen?«

»Das wäre sehr freundlich«, erwiderte Hester. Sie wollte sich ein einfacheres und praktischeres Kleid anziehen und allein noch einmal herkommen, um sich zu bemühen, mit Rhys Duff Bekanntschaft zu schließen. Und um zu erfahren, was sie tun konnte, um ihm zu helfen.

Ihr erster Abend im Hause der Duffs war merkwürdig und seltsam gewesen. Sie war immer wieder mit Menschen zusammen gewesen, die unter dem tiefen Eindruck von Gewalt, Trauer, ja sogar Verbrechen gestanden hatten. Sie hatte mit Menschen gelebt, die es ertragen mußten, daß Fremde in die privatesten und verletzlichsten Teile ihres Lebens eindrangen, um Ermittlungen durchzuführen. Sie hatte Menschen gekannt, deren furchtbare Erlebnisse zu Argwohn und Angst untereinander geführt hatten. Aber nie zuvor hatte sie einen Patienten gepflegt, der bei Bewußtsein war und doch nicht sprechen konnte. Es lag eine Stille über dem ganzen Haus, die ihr das Gefühl von tiefer Isolation gab. Sylvestra selbst war eine ruhige Frau, die nicht zu Gesprächigkeit neigte. Allein aus Geselligkeit, wie die meisten Frauen es taten, redete sie jedenfalls nicht.

Die Diener wirkten gedämpft, als sei ein Toter im Haus, und auch hier herrschte nicht das gewohnte schwatzhafte Geplapper.

Als Hester in Rhys’ Zimmer zurückkehrte, lag er auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenen, reglosen Augen zur Decke hinauf. Es schien, als versuche er, sich mit aller Macht auf irgend etwas zu konzentrieren. Sie wußte nicht, ob sie ihn stören sollte. Also blickte sie einige Sekunden lang in den flackernden Feuerschein und prüfte dann, ob noch genug Kohlen für mehrere Stunden im Eimer waren. Dann betrachtete sie das kleine Bücherregal an der Wand neben ihr, um festzustellen, was der junge Mann vor dem Überfall gelesen hatte. Sie fand Bücher über verschiedene Länder, Afrika, Indien, den Fernen Osten und mindestens ein Dutzend über Reisen, Briefe und Memoiren von Entdeckern, Botanikern und Leuten, die die Gewohnheiten und Gebräuche anderer Kulturen studiert hatten. Dort stand auch ein großes, wunderschön eingebundenes Buch über die Kunst des Islam und daneben ein weiteres über die Geschichte von Byzanz. Ein anderes schien von den arabischen und maurischen Eroberungen Nordafrikas und Spaniens zu handeln. Schließlich entdeckte sie ein Buch über die arabische Kunst, die Mathemathik und die Erfindungen der Araber.

Sie mußte irgendwie mit ihm in Verbindung treten. Also trat sie vor, daß Rhys sie sehen mußte, wenn auch nur aus den Augenwinkeln.

»Sie haben eine interessante Büchersammlung«, sagte sie im Plauderton. »Sind Sie je selbst gereist?« Er wandte den Kopf um und sah sie an.

»Ich weiß, daß Sie nicht sprechen können, aber Sie können nicken«, fuhr sie fort. »Sind Sie gereist?«

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war zwar eine Antwort, aber sein Blick ließ nach wie vor Feindseligkeit erkennen.

»Haben Sie die Absicht zu reisen, wenn es Ihnen wieder besser geht?«

Es war, als senke sich ein Vorhang zwischen ihnen herab. Hester konnte die Veränderung deutlich wahrnehmen, obwohl sie so geringfügig war, daß sie sich nicht beschreiben ließ.

»Ich war auf der Krim«, sagte sie, ohne auf seine abweisende Haltung zu reagieren. »Ich war während des Krieges dort. Natürlich habe ich überwiegend Schlachtfelder und Hospitäler gesehen, aber gelegentlich habe ich auch etwas von den Menschen und dem Land zu Gesicht bekommen. Es erscheint mir immer ungewöhnlich, ja beinahe unanständig, daß die Blumen weiterblühen und so viele Dinge völlig unverändert scheinen, auch wenn die Welt kopfsteht und die Menschen einander töten und zu Hunderten sterben. Man hat das Gefühl, als solle eigentlich alles verharren, aber das geschieht natürlich nicht.«

Sie beobachtete ihn, und diesmal wandte er nicht den Blick ab, auch wenn seine Augen voller Zorn zu sein schienen. Sie war fast sicher, daß es Zorn war, nicht Angst. Hester blickte auf seine gebrochenen und geschienten Hände auf den Laken hinab.

Die Fingerkuppen unter den Verbänden waren schlank und empfindsam. Die Nägel waren makellos geformt, bis auf einen, der böse eingerissen war. Er mußte sich die Hände verletzt haben, als er um sein Leben gekämpft hatte… und vielleicht auch um das seines Vaters. Wieviel hatte er von dem Kampf in Erinnerung behalten? Welch furchtbares Wissen mochte in seinem Schweigen verborgen liegen?

»Ich habe auch einige Türken kennengelernt, die ausgesprochen charmant und sehr interessant waren«, fuhr sie fort, als habe er den Wunsch geäußert, mehr zu erfahren. Sie erzählte von einem jungen Mann, der im Krankenhaus geholfen hatte, und während sie ganz beiläufig über ihn sprach, fielen ihr immer neue Einzelheiten ein. Was sie nicht mehr im Gedächtnis hatte, das erfand sie hinzu.

Einmal, nur ein einziges Mal während der ganzen Stunde, sah sie, wie der Anflug eines Lächelns seine Mundwinkel zucken ließ. Zumindest hörte er wirklich zu. Einen Augenblick lang hatten sie einen Gedanken oder ein Gefühl geteilt.

Später brachte sie ihm eine Salbe, mit der sie die aufgerissene Haut seines Gesichts einreihen wollte. An manchen Stellen trockneten die Verletzungen bereits, und die Haut würde bald reißen, was sehr schmerzhaft war. Sie strich sich etwas Salbe auf den Finger, aber sobald sie Rhys berührte, riß er den Kopf zurück, sein Körper verkrampfte sich, und in seinen Augen stand dunkler Zorn.

»Es wird nicht weh tun«, versprach sie. »Die Salbe verhindert vielleicht, daß der Schorf reißt.«

Er bewegte sich nicht. Seine Muskeln waren gespannt, und er hielt Brust und Schultern so steif, daß die Verletzungen, die Dr. Riley und Dr. Wade zufolge seinen Körper bedeckten, davon schmerzen mußten.

Sie ließ die Hände sinken.

»Also gut. Es ist nicht so wichtig. Ich werde Sie später noch einmal fragen, und dann sehen wir, ob Sie Ihre Meinung geändert haben.«

Hester verließ das Zimmer und ging in die Küche hinunter, um Rhys etwas zu essen zu holen. Vielleicht konnte die Köchin ihm ein Ei oder ein leichte Eiercreme zubereiten. Dr. Wade meinte, daß Rhys Zustand ihm durchaus erlaube, etwas zu essen, und daß man ihn unbedingt dazu ermutigen müsse.

Die Köchin, Mrs. Crozier, hatte eine ganze Reihe passender Gerichte anzubieten, die entweder bereits fertig oder mühelos zuzubereiten waren, während Hester darauf wartete. Sie bot Rinderbrühe, Eier, gedünsteten Fisch, Brot und Butterpudding an, gebackene Eiercreme und kaltes Huhn.

»Wie geht es ihm, Miss?« fragte sie mit besorgter Miene.

»Er scheint sich immer noch sehr schlecht zu fühlen«, antwortete Hester ehrlich. »Aber wir dürfen nicht die Hoffnung verlieren. Vielleicht wissen Sie, welche Speisen er besonders mag?«

Das Gesicht der Köchin hellte sich ein wenig auf. »O ja, Miss, natürlich weiß ich das. Er ißt besonders gern kalten Hammelrücken, der junge Herr. Und Hasenpfeffer.«

»Sobald er wieder soweit hergestellt ist, daß er an diese Gerichte denken kann, werde ich es Sie wissen lassen.« Hester nahm ein gekochtes Ei und die Eiercreme mit hinauf.

Sie fand ihn in völlig veränderter Stimmung vor. Er schien mehr als bereit zu sein, sich von ihr helfen zu lassen, damit er sich aufsetzen und über die Hälfte des Essens zu sich nehmen konnte, das man für ihn zubereitet hatte, obwohl ihm jede Bewegung offensichtlich beträchtliche Schmerzen bereitete. Er stöhnte leise, und Schweißperlen zeigten sich auf seinem Gesicht. Rhys schien gleichzeitig verschwitzt zu sein und zu frieren, und eine Weile sah es so aus, als litte er auch unter Übelkeit.

Hester tat für ihn, was sie konnte, aber das war nur sehr wenig. Im Grunde konnte sie nur hilflos dastehen, während er die Wogen des Schmerzes niederkämpfte, den Blick fest auf ihr Gesicht geheftet, die Augen voller Verzweiflung und der flehentlichen Bitte um die geringste Erleichterung, den leisesten Trost. Sie streckte die Hände aus und umfaßte seine Fingerkuppen unterhalb der Verbände, ohne auf die Schwellungen und die aufgerissene, verschorfte Haut zu achten. Sie hielt ihn fest, wie sie es getan hätte, wenn er ihr buchstäblich entglitten wäre.

Seine Finger gruben sich so fest in ihr Fleisch, daß sie, wenn er sie endlich losließ, wahrscheinlich ein paar blaue Flecken bekommen würde.

Eine halbe Stunde verstrich in völligem Schweigen, dann begann er endlich, sich ein wenig zu entspannen. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und perlte auf seiner Oberlippe, aber seine Schultern ruhten unverkrampft auf dem Kissen, und seine Finger hatten sich geöffnet. Hester konnte ihre Hand zurückziehen und aufstehen, um sein Gesicht abzutupfen.

Rhys lächelte sie an. Es war nur eine kleine Wölbung der Lippen, ein weicherer Ausdruck in seinen Augen, aber es war ein Lächeln.

Sie lächelte zurück und hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle. Dies war ein flüchtiger Blick auf den Mann, der er gewesen sein mußte, bevor ihm dieses furchtbare Unglück widerfahren war.

Rhys rief sie in der Nacht nicht zu sich; seine Glocke blieb, wo sie war. Dennoch wachte sie zweimal aus eigener Unruhe auf und ging in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen. Beim ersten Mal stellte sie fest, daß er unruhig schlief, und wartete einige Sekunden, bevor sie sich wieder aus dem Zimmer stahl, ohne ihn zu stören.

Beim zweiten Mal war er wach, und er hörte sie, sobald sie die Tür aufdrückte. Er lag auf dem Rücken und starrte sie an.

Sie hatte keine Kerze mitgenommen und orientierte sich nur mit Hilfe des Lichtes, das die glühenden Kohlen im Kamin abgaben. Es war kälter geworden. Seine Augen wirkten in dem fahlen Licht eingefallen.

Hester lächelte ihm zu.

»Ich glaube, es wird Zeit, daß ich das Feuer noch einmal schüre«, sagte sie leise. »Es ist fast ausgegangen.«

Er nickte kaum merklich und sah dann zu, wie sie vorsichtig kleine Kohlenstücke auf die Glut legte. Dann wartete sie, bis die frischen Kohlen zaghaft Feuer fingen.

Als sie an sein Bett trat, versuchte sie, aus seiner Mine herauszulesen, was er wollte oder brauchte. Seine körperlichen Schmerzen schienen nicht schlimmer zu sein als zuvor, aber in seinem Blick lag ein neues Drängen, und sein Mund wirkte verkrampft. Wollte er, daß sie blieb, oder sollte sie gehen? Wenn sie ihn fragte – würde ihre Frage zu unbeholfen wirken, zu direkt? Sie mußte mit Takt zu Werke gehen. Er war so schwer verletzt worden. Was war ihm zugestoßen? Was hatte er mitangesehen?

»Hätten Sie vielleicht gern einen Becher Milch und etwas Pfeilwurz?« schlug sie vor.

Er nickte sofort.

»Ich bin gleich wieder da«, versprach sie.

Erst eine Viertelstunde später kehrte sie zurück. Der Weg bis zur Küche war weiter, als sie ihn in Erinnerung hatte, und sie hatte länger als erwartet gebraucht, um den Küchenherd einigermaßen warm zu bekommen. Aber die Zutaten waren frisch, und sie hielt einen hübschen blauweißen Porzellanbecher mit dampfender Milch in den Händen. Das Getränk hatte genau die richtige Temperatur, und der Pfeilwurz darin würde den Kranken ein wenig beruhigen. Hester schüttelte die Kissen in Rhys’ Rücken auf und hielt ihm den Becher an die Lippen. Lächelnd und ohne den Blick von ihr abzuwenden, nahm er den ersten Schluck.

Schließlich nahm sie ihm den leeren Becher ab. »Meinen Sie, daß Sie jetzt schlafen können?« fragte sie.

Langsam, aber entschlossen schüttelte er den Kopf. Er wollte, daß sie blieb.

»Sie haben einige sehr interessante Bücher.« Sie warf einen Blick auf das Regal. »Soll ich Ihnen vielleicht etwas vorlesen?« Er dachte einen Augenblick nach, dann nickte er. Am besten, sie wählte etwas, das mit seinem gegenwärtigen Leben möglichst wenig zu tun hatte. Außerdem durfte auch nicht die Andeutung von Gewalt darin enthalten sein. Nichts sollte ihn an seine eigene Erfahrung erinnern. Andererseits durfte es nicht zu langweilig sein.

Hester trat an das Regal und versuchte, im Schein des Feuers, das jetzt wieder munter brannte, die Titel zu entziffern. »Wie wäre es mit der Geschichte von Byzanz?« schlug sie vor.

Er nickte abermals, und sie kehrte mit dem Buch in der Hand zu seinem Bett zurück. »Ich muß das Gas anzünden.«

Er nickte zustimmend, und eine Dreiviertelstunde lang las sie mit ruhiger Stimme ein Kapitel aus der farbenprächtigen und trügerischen Geschichte jenes großen Zentrums des Reiches vor, von seinen Bräuchen und seinen Bewohnern, seinen Intrigen und Machtkämpfen. Schließlich schlief er widerstrebend ein, und sie klappte das Buch zu, nachdem sie die Seite markiert hatte. Dann löschte sie das Licht wieder und schlüpfte mit einem Gefühl, das beinahe an Jubel grenzte, auf Zehenspitzen wieder in ihr Zimmer zurück.

Dr. Wade kam am späten Vormittag. Er wirkte nervös, sein Gesicht war verkniffen, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er humpelte, nachdem er am vergangenen Wochenende vom Pferd gefallen war, und hatte selbst noch Schmerzen. Wade kam beinahe sofort nach oben, und Hester begegnete ihm auf dem Treppenabsatz.

»Wie geht es ihm, Miss Latterly? Ich fürchte, ich habe Ihnen da eine ganz erbärmliche Stelle verschafft. Das tut mir aufrichtig leid.«

»Bitte, entschuldigen Sie sich nicht, Dr. Wade«, antwortete sie ernst. »Ich habe nicht den Wunsch, nur die leichten Fälle zu übernehmen.«

Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Wie dankbar ich dafür bin! Ich habe viel Gutes von Ihnen gehört, und das hat, wie es scheint, seinen Grund. Dennoch, es muß Sie sehr bekümmern, daß Sie nur so wenig tun können, um ihm zu helfen. Niemand kann da viel tun.« Er runzelte die Stirn und blickte zu Boden. Mit gesenkter Stimme fuhr er schließlich fort:

»Ich kenne die Familie schon seit Jahren, Miss Latterly, seit ich von der Marine kam.«

»Von der Marine?« Das war eine Überraschung für sie. Dieser Gedanke wäre ihr niemals gekommen. »Ich entschuldige mich… ich habe kein Recht, zu…«

Er lächelte plötzlich, und seine Züge nahmen einen vollkommen anderen Ausdruck an. »Ich war vor zwanzig Jahren Marinearzt. Einige der Männer, die ich gepflegt habe, hatten unter Nelson gedient.« Sein Blick begegnete dem ihren, und seine Augen leuchteten bei der Erinnerung. Es schien, als sehe er sekundenlang eine andere Epoche vor sich, eine andere Welt.

»Ein alter Matrose, dem ich das Bein amputiert habe, nachdem sich eine Kanone losgerissen und ihn an den Schott genagelt hatte, war bei dem Sieg bei Trafalgar mit dabei.« Seine Stimme klang belegt, so sehr konzentrierte er sich auf die Vergangenheit. »Ich glaube nicht, daß es eine zweite Frau in meiner Bekanntschaft gibt, der ich das sagen könnte, und die überhaupt keine Vorstellung davon hat, was das bedeutet. Aber Sie haben den Krieg mitangesehen, Sie haben den Mut inmitten des Grauens erlebt, die Furchtlosigkeit und die Stärke, die Kraft, Schmerzen zu ertragen und dem Tod ins Auge zu sehen. Ich denke, wir teilen eine Erfahrung, die die Menschen um uns herum niemals begreifen können. Ich bin ungeheuer dankbar dafür, daß Sie den armen Rhys pflegen und hier sein werden, um Sylvestra während dieser Zeit, die für sie nur ein furchtbares Martyrium sein kann, zu stützen.«

Er sagte es zwar nicht ausdrücklich, aber sie las es in seinen Augen, daß er sie auf die Tatsache vorbereitete, daß Rhys sich möglicherweise nicht erholen würde. Sie wappnete sich innerlich gegen die Dinge, die die Zukunft bereithalten mochte.

»Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun«, versprach sie und hielt seinem Blick stand.

»Dessen bin ich gewiß.« Er nickte. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran. Und nun möchte ich ihn untersuchen. Allein. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Er ist ein stolzer Mann, jung, empfindsam. Ich muß seine Verletzungen versorgen, Verbände erneuern.«

»Natürlich. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, brauchen Sie nur zu läuten.«

»Vielen Dank, Miss Latterly. Vielen Dank.«

Am Nachmittag ließ Hester Ryhs allein, damit er sich ausruhen konnte, und sie verbrachte ein wenig Zeit mit Sylvestra im Salon. Wie überall im Haus standen auch dort zu viele Möbel, aber der Raum war warm und überraschend behaglich.

Sylvestra erkundigte sich nach Rhys, aber eher, um Konversation zu machen. Sie hatte ihn tagsüber zweimal besucht und war beim zweiten Mal eine qualvolle halbe Stunde lang geblieben, in der sie mühsam ein Gespräch mit ihm zu führen versucht hatte. Sie hatte an glückliche Zeiten in der fernen Vergangenheit erinnert, als er noch ein Kind gewesen war, und sie schien ihm versprechen zu wollen, daß es solchen Frieden und solche Freude auch in Zukunft für ihn geben würde. Leighton Duff hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht war das nur natürlich. Der Schock und der Schmerz über seinen Tod waren noch viel zu frisch, und sie wollte Rhys gewiß nicht daran erinnern.

Als das Gespräch zwischen den beiden Frauen stockte, sah Hester sich in dem Raum um und suchte nach etwas, mit dem sie die Unterhaltung wieder in Gang bringen konnte. Einmal mehr war sie nicht recht sicher, ob ihr Gegenüber ein Gespräch wünschte oder nicht. Sie war sich der schmerzlichen Isolation dieser Frau bewußt, die nur anderthalb Meter von ihr entfernt saß, mit einem höflichen Lächeln um die Mundwinkel und einem abwesenden Ausdruck in den Augen. Hester wußte nicht, ob es Einsamkeit war oder nur eine sehr persönliche Art der Trauer.

Inmitten der Gruppenfotos sah sie das Bild einer jungen Frau mit dunklen Augen, geraden Brauen und einer Nase, die zu kräftig war, um hübsch zu sein, aber sehr schönem Mund. Sie hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Rhys, und das Kleid, das sie trug und dessen Oberteil auf dem Bild deutlich zu sehen war, war sehr modisch und nicht älter als ein oder zwei Jahre.

»Was für ein interessantes Gesicht«, bemerkte sie in der Hoffnung, daß ihre Worte nicht an eine weitere Tragödie rührten.

Sylvestra lächelte, und in diesem Lächeln lag unverkennbarer Stolz.

»Das ist meine Tochter, Amalia.«

Hester fragte sich, wo sie wohl sein mochte und wie bald sie hier sein konnte, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen. Gewiß konnte keine andere familiäre Pflicht wichtiger sein als diese.

Die Antwort kam unverzüglich, und wieder schwangen Stolz und der Schatten der Verwirrung in Sylvestras Stimme mit.

»Sie ist in Indien. Meine beiden Töchter sind dort. Constance ist mit einem Hauptmann der Armee verheiratet. Sie hat vor drei Jahren, während des Aufstands, eine furchtbare Zeit durchgemacht. Sie schreibt häufig und erzählt uns von dem Leben dort.« Sylvestra sah nicht Hester an, sondern schaute in die tanzenden Flammen im Kamin. »Sie sagt, die Dinge würden nie wieder sein wie früher. Sie hat das Land geliebt, auch wenn es für viele der Ehefrauen dort unerträglich langweilig war. Die Frauen haben die Zeit der Sommerhitze dort immer im Bergland verbracht, wußten Sie das?« Es war eine rhetorische Frage. Sie erwartete nicht, daß Hester von diesen Dingen Kenntnis hatte. Es war ihr entfallen, daß sie eine Armeekrankenschwester vor sich hatte, aber vielleicht begriff sie auch einfach nicht, was das wirklich bedeutete. Es war eine andere Welt, die sich von ihrer kraß unterschied.

»Sie können sich nie wieder so ungezwungen fühlen. Es hat sich alles verändert«, fuhr sie fort. »Die Gewalttätigkeiten waren unvorstellbar, die Folterungen, die Massaker.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber nach Hause kommen können sie natürlich nicht. Es ist ihre Pflicht, dort zu bleiben.« Sie sagte dies ohne Bitterkeit und ohne den leisesten Groll. Pflicht war eine Stärke und ein Daseinsgrund.

»Ich verstehe«, erwiderte Hester hastig. Ihre Gedanken flogen wieder zu den Offizieren, die sie auf der Krim gekannt hatte. Männer, denen die Pflicht so selbstverständlich war wie das Atmen. Wie hoch der Preis auch sein mochte, den sie selbst zu zahlen hatten oder das ganze Volk, und selbst wenn es schmerzlich oder lächerlich war, nie wäre es ihnen eingefallen, etwas anderes zu tun als das, was von ihnen erwartet wurde. Bisweilen hätte Hester sie am liebsten angeschrien oder nach ihnen geschlagen, einfach aus Verzweiflung über die Unbeweglichkeit dieser Männer, über die bisweilen so unnötigen und furchtbaren Opfer. Aber sie hatte nie aufgehört, sie zu bewundern, weder bei ihren nobelsten Bemühungen noch bei ihren nutzlosesten – oder beidem zugleich.

Sylvestra mußte eine Schwingung in ihrer Stimme aufgefallen sein, vielleicht die besondere Gefühlstiefe, mit der Hester geantwortet hatte. Sie drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal lächelte sie.

»Amalia ist ebenfalls in Indien, aber ihr Ehemann ist im Kolonialdienst. Sie hat großes Interesse an den Einheimischen.« Ihr Gesicht drückte Stolz aus und auch Erstaunen im Angesicht einer Lebensart, die sie sich kaum vorstellen konnte. »Sie hat Freunde unter den Frauen. Manchmal mache ich mir Sorgen, daß sie vielleicht zu impulsiv sein könnte. Ich fürchte, sie dringt in Bereiche ein, in denen Europäer nicht erwünscht sind. Sie glaubt, sie könne die Dinge zum Besseren wenden, wo sie in Wahrheit vielleicht nur Schaden stiftet. Ich habe ihr geschrieben und ihr meinen Rat gegeben, aber sie hat sich noch nie gut darauf verstanden, Ratschläge anzunehmen. Hugo ist ein netter junger Mann, aber zu beschäftigt mit seinen eigenen Angelegenheiten, um Amalia die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken, denke ich.«

Hester stellte sich einen ziemlich pedantischen Mann vor, der Papiere auf seinem Schreibtisch ordnete, während die temperamentvolle und abenteuerlustige Amalia verbotene Gebiete erkundete.

»Es tut mir leid, daß Ihre Töchter zu weit fort sind, um jetzt bei Ihnen zu sein«, sagte sie behutsam. Sie wußte, daß es Monate dauern würde, bis Briefe von Sylvestra mit der Nachricht vom Tod ihres Mannes das Kap der Guten Hoffnung umrundet und Indien erreicht hatten. Und es würden noch einmal Monate vergehen, bis die Antwortschreiben ihren Weg nach England fanden. Kein Wunder, daß Sylvestra furchtbar allein war.

Die Trauer war schon immer eine Zeit für Nähe innerhalb der Familie. Außenseiter fühlten sich wie Eindringlinge und wußten nicht, was sie sagen sollten, ganz gleich, wie tief und freundschaftlich sie den Betreffenden verbunden waren.

»Ja«, pflichtete Sylvestra ihr bei, und es war fast, als spreche sie mit sich selbst. »Ich gäbe viel um ihre Gesellschaft, vor allem was Amalia betrifft. Sie ist immer so… positiv.« Obwohl das Zimmer gut geheizt war und die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen waren, um den Regen und die Dunkelheit abzuhalten, schauderte sie ein wenig. Sie blickte auf das leere Teetablett, auf dem noch die Reste von Hörnchen und Butter lagen. »Ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Wahrscheinlich wieder die Polizei. Noch mehr Fragen, auf die ich keine Antworten habe.«

Hester wußte es, aber es war gütiger, nichts zu erwidern. Man würde Antworten finden und häßliche Dinge enthüllen, und seien sie auch nur privater Natur und möglicherweise töricht oder schäbig. Die Entlarvung des Mannes, der Leighton Duff ermordet hatte, würde nicht notwendigerweise dazugehören.

Wieder nahm Rhys nur Rinderbrühe und ein wenig trockenen Toast zu sich. Hester las ihm eine Weile vor, und er schlief früh ein. Sie selbst löschte ihr Licht erst nach Mitternacht und erwachte in völliger Dunkelheit. Ein Gefühl des Entsetzens strich über sie hinweg wie ein eisiger Luftzug. Die Glocke war nicht zu Boden gefallen, aber sie sprang dennoch auf und lief in Rhys’ Zimmer.

Das Feuer brannte noch recht ordentlich, und die Flammen spendeten genügend Licht. Rhys saß, von Kissen gestützt, halb aufrecht im Bett. Seine Augen standen weit offen und waren von blindem, unaussprechlichem Entsetzen erfüllt. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er biß die Zähne zusammen und hatte dabei die Lippen geöffnet. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, und er schien bis auf das Keuchen zwischen zwei lautlosen Schreien kaum in der Lage zu sein, Atem zu schöpfen. Die geschienten Hände hatte er vor sein Gesicht geschlagen, um das Grauen abzuwehren, das er im Geiste vor sich sah.

»Rhys!« rief sie und eilte hastig an sein Bett.

Er hörte sie nicht. Er war eingeschlossen in einer schrecklichen, nur ihm selbst zugänglichen Welt.

»Rhys!« wiederholte sie noch lauter. »Wachen Sie auf! Wachen Sie auf – Sie sind zu Hause, in Sicherheit!«

Sein Mund zuckte immer noch, um die angsterfüllten Schreie zu formen, die seinen Körper erschütterten. Er konnte Hester weder sehen noch hören; er befand sich in einer schmalen Gasse irgendwo in St. Giles, wo er Schmerz und Tod miterlebte.

»Rhys!« rief sie ihn mit energischer Stimme an und berührte ihn am Handgelenk. Sie war darauf gefaßt, daß er nach ihr schlug, weil er sie für einen der Angreifer hielt. »Hören Sie auf damit! Sie sind zu Hause! Sie sind in Sicherheit!« Hester umfaßte sein Handgelenk mit festem Griff und schüttelte ihn. Sein Körper war völlig steif, die Muskeln verkrampft. Sein Nachthemd war schweißgetränkt. »Wachen Sie auf!« schrie sie ihn an. »Sie müssen aufwachen!«

Er begann zu zittern, so heftig nun, daß das ganze Bett schwankte. Dann fiel er plötzlich in sich zusammen, und ein lautloses Schluchzen schüttelte ihn, während ihm die Tränen übers Gesicht rannen und sein Atem in gehetzten Stößen kam.

Hester dachte nicht einmal darüber nach, sie setzte sich aufs Bett, streckte die Arme nach ihm aus und hielt ihn fest. Dann strich sie ihm sachte über das dichte Haar, schob ihm eine Strähne aus der Stirn und zeichnete die Linie seines Kopfes bis zum Nacken hinunter nach.

Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatten. Es mochte durchaus eine Stunde gewesen sein.

Endlich ließ sie ihn dann ganz sachte los und schob sich ein Stück von ihm weg, um aufzustehen. Sie mußte die feuchte und zerknitterte Wäsche wechseln und sich davon überzeugen, daß er in der Aufregung nicht seine Verbände zerrissen oder verschoben hatte.

»Ich werde frische Laken holen«, sagte sie leise. Sie wollte nicht, daß er glaubte, sie ginge einfach fort. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Als sie wiederkam, starrte er zur Decke empor. Er hatte auf sie gewartet. Sie legte die frische Wäsche auf den Stuhl und half ihm, sich auf die eine Seite des Bettes zu legen, damit sie auf der anderen Seite die Wäsche wechseln konnte. Dieses Unterfangen war nie einfach, aber er war zu krank, um aufzustehen und sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie wußte nicht, welche inneren Verletzungen möglicherweise durch seine Verkrampfung in Mitleidenschaft gezogen worden sein mochten oder welche der Wunden, die Dr. Wade behandelte und sie nicht gesehen hatte, vielleicht wieder aufgerissen waren.

Hester brauchte einige Zeit, und Rhys litt offensichtlich starke Schmerzen. Sie mußte sehr geduldig sein und um ihn herum die Wäsche glattstreichen und glattziehen, zusammenrollen und wieder auffalten. Endlich war das Bett fertig hergerichtet, und er lag erschöpft in den Kissen. Aber er brauchte noch ein frisches Nachthemd. Dasjenige, das er trug, war nicht nur verschwitzt, sondern nun auch voller Blutflecken. Sie wünschte inbrünstig, sie hätte auch die größeren Wunden versorgt, um sicherzugehen, daß sie ordentlich verbunden waren, aber Dr. Wade hatte ihr verboten, diese Verletzungen zu berühren, damit sie mit der Entfernung der Gaze nicht womöglich das heilende Gewebe aufriß.

Hester hielt Rhys das saubere Nachthemd hin.

Er starrte es reglos an. Plötzlich stand wieder dieser abweisende Ausdruck in seinen Augen, und alles Vertrauen war dahin. Unbewußt sank er tiefer in die Kissen hinter ihm zurück.

Sie griff nach dem leichten Oberbett und breitete es von der Taille abwärts bis zu seinen Füßen über ihm aus. Dann sah sie ihn mit einem winzigen Lächeln an, und er erlaubte ihr, wachsam und immer noch argwöhnisch, ihm das Nachthemd über den Kopf zu streifen. Es tat ihm in den Schultern weh, wenn er die Arme hob, aber er biß die Zähne zusammen und zögerte nicht. Sie zog ihm das frische Nachthemd über und breitete es behutsam unter der Decke über seinem Körper aus. Dann strich sie mit großer Vorsicht Laken und Decken wieder glatt, und endlich entspannte er sich.

Schließlich schürte sie noch einmal das Feuer, bevor sie sich auf den Stuhl setzte und wartete, bis er wieder eingeschlafen war.

Am Morgen war sie müde und hatte selbst steife Glieder. Sie würde sich nie daran gewöhnen, in einem Sessel zu schlafen, trotz der vielen Nächte, die sie so verbracht hatte.

Hester erwähnte den Vorfall Sylvestra gegenüber, ohne von dem ganzen Ausmaß des Grauens zu sprechen, das sie mitangesehen hatte. Sie brachte nur deshalb die Rede darauf, um dafür zu sorgen, daß Dr. Wade auch wirklich kam und nicht vielleicht glaubte, Rhys sei auf dem Wege der Genesung und ein anderer Patient brauche ihn dringender.

»Ich muß zu ihm«, sagte Sylvestra sofort; ihr Gesicht war ganz angespannt vor Qual. »Ich fühle mich so nutzlos! Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, um ihm zu helfen! Ich weiß ja nicht einmal, was passiert ist!« Sie sah Hester an, als glaube sie, diese könne ihr eine Antwort auf ihre Fragen geben.

Es hätte nie eine Antwort gegeben, weder für Rhys noch für all die anderen jungen Männer, die furchtbarere Greuel erlebt hatten, als sie ertragen konnten. Der einzige Trost mochte darin bestehen, daß Zeit und Liebe zumindest einen Teil des Schmerzes heilen konnten.

»Versuchen Sie nicht, über den Vorfall zu sprechen«, riet Hester Sylvestra. »Ihre Gegenwart ist das einzige, was ihm helfen kann.«

Aber als Sylvestra in sein Zimmer kam, wandte Rhys sich ab. Er weigerte sich, sie anzusehen. Sie setzte sich auf die Kante des Bettes und streckte die Hand aus, um seinen Arm auf der Decke zu berühren. Rhys jedoch riß den Arm weg, und als sie abermals die Hand nach ihm ausstreckte, schlug er nach ihr und traf ihre Hand mit seinen Schienen, so daß er nicht nur ihr, sondern auch sich selbst weh tat.

Sylvestra stieß einen leisen, bekümmerten Schrei aus, der nicht dem körperlichen Schmerz galt, sondern der Zurückweisung. Sie saß reglos da und wußte augenscheinlich nicht, was sie tun sollte.

Rhys wandte den Kopf ab und sah nach wie vor in die andere Richtung.

Sylvestra warf einen Blick auf Hester.

Hester hatte keine Ahnung, warum Rhys mit solch plötzlicher Grausamkeit reagiert hatte. Der Grund dafür ließ sich nicht einmal erahnen – vielleicht lag er in seiner Verletzung, einem Gefühl der Schuld, daß er vielleicht in der Lage hätte sein sollen, seinen Vater zu retten, oder daß er, wenn er dies schon nicht zu tun vermocht hatte, wenigstens ebenfalls hätte sterben sollen. Hester wußte von Männern, deren Scham über ihr eigenes Überleben jenseits jeder Vernunft und jeden Trosts gelegen hatte. Sie waren unerreichbar in ihrem Gram, und alle Worte jener, die niemals wahrhaft begreifen konnten, ließ die Schroffheit des trennenden Abgrunds nur noch klarer erkennen, betonte ihre grenzenlose Einsamkeit nur noch.

Aber nichts von alledem hätte den Schmerz gelindert, den Sylvestra im Augenblick verspürte.

»Kommen Sie mit nach unten«, sagte Hester leise. »Wir lassen ihn ein wenig ausruhen, zumindest bis der Arzt kommt.«

»Aber…«

Hester schüttelte den Kopf. Rhys lag immer noch steif und reglos da. Jeder Überredungsversuch wäre vergeblich gewesen.

Widerstrebend erhob Sylvestra sich und folgte Hester aus dem Zimmer, durch den Flur und die Treppe hinunter. Sie sagte nichts. Sie war in einer Welt eingeschlossen, die von ihrer eigenen Verwirrung beherrscht wurde.

Kurz nach dem Mittagessen kam das Stubenmädchen mit der Ankündigung, daß der Mann von der Polizei wieder da sei.

»Können Sie hierbleiben?« fragte Sylvestra hastig. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«

»Sind Sie sicher?« Hester war überrascht. Gewöhnlich hielten die Menschen ein solches Eindringen in ihr Privatleben gern vor anderen verborgen.

»Ja.« Sylvestras Stimme hatte einen entschiedenen Klang.

»Ja. Wenn er uns irgend etwas zu sagen hat, wird es für Rhys viel einfacher sein, wenn Sie es ebenfalls wissen. Ich…« Sie brauchte nicht auszusprechen, wie groß ihre Angst um ihren Sohn war, – die stand ihr nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.

Evan wurde hereingebracht. Er wirkte verfroren und unglücklich. Das Mädchen hatte ihm seinen Hut und seinen Überzieher abgenommen, aber seine Hosenbeine waren an den Aufschlägen feucht, seine Stiefel durchnäßt, und auf seinen Wangen glitzerte Regenwasser. Es war einige Zeit vergangen, seit Hester ihn zum letzten Mal gesehen hatte, aber sie teilten viele Erfahrungen miteinander, sie hatten gemeinsam Triumph, aber auch Angst und Schmerz erlebt, und Hester hatte Evan immer gemocht. Er war von einer Sanftheit und Aufrichtigkeit, die sie ehrlich bewunderte. Manchmal war er scharfsichtiger, als Monk ihm zutraute. Nun war es nur taktvoll, sich so zu benehmen, als seien sie einander fremd.

Sylvestra übernahm die Vorstellung, und Evan deutete mit keinem Wort ihre bereits bestehende Bekanntschaft an.

»Wie geht es Mr. Duff?« fragte er.

»Er ist sehr krank«, antwortete Sylvestra hastig. »Er hat noch nicht gesprochen, wenn es das ist, worauf Sie gehofft hatten. Ich fürchte, ich weiß nicht mehr als bei Ihrem letzten Besuch.«

»Das tut mir leid.« Evans Gesicht spiegelte seine Enttäuschung wider. Seine Miene war ungemein ausdrucksstark und verriet mehr von seinen Gedanken und Gefühlen, als ihm lieb war. Evan war eine Spur zu dünn, mit leuchtenden, haselnußbraunen Augen und einer ein wenig zu langen, vorspringenden Nase. Seine Worte zeugten von Mitleid, nicht von Ärger.

»Haben Sie… irgend etwas in Erfahrung gebracht?« wollte Sylvestra wissen. Ihr Atem ging ziemlich schnell, und sie hatte die Hände auf dem Schoß ineinander verkrampft.

»Nur sehr wenig, Mrs. Duff«, erwiderte er. »Falls irgend jemand beobachtet hat, was passiert ist, ist der Betreffende nicht bereit, davon zu sprechen. Wir haben es hier mit einem Viertel zu tun, in dem die Polizei nicht gerade gern gesehen ist. Die Menschen leben in den Randzonen des Gesetzes und haben zuviel zu verbergen, um freiwillig etwas zu verraten.«

»Ich verstehe.« Sylvestra hörte, was er sagte, aber er sprach von einer Welt, die sich ihrer Kenntnis entzog.

Evan betrachtete ihr ernstes und seltsam schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und versuchte nicht, ihr etwas zu erklären, obwohl er begriffen haben mußte.

Hester erriet die Frage, die er stellen wollte, und sie wußte auch, warum es ihm schwerfiel, sie in Worte zu kleiden, ohne Sylvestra zu kränken. Überdies war es durchaus wahrscheinlich, daß Sylvestra nicht die geringste Ahnung von den Dingen hatte. Warum sollte ein Mann in Leighton Duffs Position in ein solches Viertel gehen? Um an einem illegalen Glücksspiel teilzunehmen, um Geld zu leihen, um seine Habe zu verkaufen oder zu verpfänden, um etwas Gestohlenes oder Gefälschtes zu erwerben – oder um eine Prostituierte zu treffen. Nichts von alledem konnte er seiner Frau erzählen. Selbst wenn es sich um eine vergleichsweise lobenswerte Angelegenheit handelte, wenn er zum Beispiel einem Freund in Schwierigkeiten beigestanden hätte, wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, daß er ihr so etwas mitgeteilt hatte. Solcherlei Schwierigkeiten waren privater Natur und wurden unter Männern ohne Beteiligung der Frauen ausgemacht.

Evan entschied sich für Offenheit, was Hester nicht weiter überraschte. Es entsprach seinem Wesen.

»Mrs. Duff, haben Sie irgendeine Ahnung, warum Ihr Mann in einen Bezirk wie St. Giles gehen sollte, noch dazu spät am Abend?«

»Ich… ich weiß nichts über St. Giles.« Es war eine ausweichende Antwort, der Versuch, ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

Evan konnte es sich nicht leisten, sich abweisen zu lassen.

»Es ist ein Viertel, in dem äußerste Armut herrscht. Ein Viertel, in dem wir es mit geringfügigen wie schwerwiegenden Verbrechen zu tun haben«, erklärte er. »Die Straßen sind schmal, schmutzig und gefährlich. Die Kanalisation läuft mitten hindurch. In den Hauseingängen liegen Betrunkene und schlafende Bettler. Manchmal sind sie sogar schon tot, vor allem zu dieser Zeit des Jahres, in der die Menschen sehr schnell an Kälte und Hunger sterben, besonders wenn sie bereits krank sind. Tuberkulose ist ein weitverbreitetes Übel dort.«

Sylvestras Gesicht verzerrte sich vor Abscheu und vielleicht auch vor Mitleid, aber ihr Entsetzen entzog sich jeder Ausdrucksmöglichkeit. Sie wollte nichts von solchen Dingen wissen, wollte aus verschiedenen Gründen nichts davon wissen. Es rüttelte an ihrem früheren Glück, es erschreckte und ekelte sie. Es bedrohte die Gegenwart. Das bloße Wissen um diese Dinge verseuchte die Gedanken.

»Die meisten Kinder dort erreichen nicht einmal das sechste Lebensjahr«, fuhr Evan fort. »Die Mehrheit leidet an Rachitis. Viele der Frauen arbeiten in Ausbeutungsbetrieben und Fabriken, aber eine große Anzahl verdient sich nebenbei noch ein wenig als Prostituierte, um über die Runden zu kommen, um ihren Kindern zu essen zu geben.«

Evan war zu weit gegangen. Das Bild, das er da zeichnete, war mehr, als Sylvestra ertragen konnte.

»Nein…«, sagte sie heiser. »Ich kann mir nur denken, daß er sich verirrt haben muß.«

Mit seinen nächsten Worten legte er eine Unbarmherzigkeit an den Tag, die eher zu Monk gepaßt hätte.

»Zu Fuß?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Spazierte er häufig des Nachts durch Londoner Viertel, in denen er sich nicht auskannte, Mrs. Duff?«

»Natürlich nicht!« Ihre Antwort kam eine Spur zu schnell.

»Was hat er gesagt? Wo wollte er hin?« hakte Evan nach. Sylvestra war sehr blaß, und ihre Augen waren glänzend und abweisend.

»Er hat nichts Besonders gesagt«, antwortete sie ihm. »Aber ich glaube, er hat sich auf die Suche nach meinem Sohn gemacht. Früher am Abend hatte es einen Wortwechsel wegen Rhys’ Benehmen gegeben. Ich war nicht im Zimmer, aber ich hörte die erhobenen Stimmen. Rhys war im Zorn fortgegangen. Wir hatten beide geglaubt, er sei nach oben gegangen, in sein Zimmer.« Sie saß sehr aufrecht da, die Hände auf dem Schoß verschränkt. »Als mein Mann hinaufging, um ihr Gespräch fortzusetzen, stellte er fest, daß Rhys nicht mehr da war, und er war sehr wütend. Er ging dann ebenfalls aus dem Haus. Ich glaube, er wollte ihn suchen. Bevor Sie mich danach fragen: Ich weiß nicht, wohin Rhys gegangen ist oder wo Leighton ihn schließlich fand… was er ja offensichtlich tat. Vielleicht ist das die Erklärung für den Überfall?«

»Vielleicht«, wandte Evan ein. »Es ist nichts Ungewöhnliches, daß ein junger Mann fragwürdige Orte aufsucht, Ma’am. Wenn er kein Geld dabei verschwendet oder der Frau eines anderen Mannes seine Aufmerksamkeit schenkt, nimmt man solches Verhalten für gewöhnlich nicht besonders ernst. Vertrat Ihr Mann sehr strenge moralische Anschauungen?«

Sylvestra sah ihn verwirrt an. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, war dies eine Frage, die sie sich noch nie gestellt hatte.

»Er war nicht pedantisch oder selbstgerecht, wenn es das ist, was Sie meinen.« Sie hob die Brauen und sah ihn mit großen Augen an. »Ich glaube nicht, daß er jemals ungerecht war. Er erwartete nicht von Rhys, daß er… abstinent war. Im Grunde war es gar kein… gar kein Streit. Wenn ich diesen Eindruck erweckt habe, lag das nicht in meiner Absicht. Ich habe nicht gehört, worum es eigentlich bei ihrem Gespräch ging, ich habe nur ihre Stimmen gehört. Vielleicht handelte es sich auch um etwas ganz anderes.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Vielleicht traf Rhys sich mit einer Frau, die… verheiratet war? Davon hätte Leighton mir nichts gesagt. Er hätte mich wahrscheinlich schonen wollen.«

»Das kann durchaus der Fall gewesen sein«, räumte Evan ein.

»Es würde eine Menge erklären. Wenn Ihr Mann die beiden zur Rede gestellt hat, könnte es sehr wohl zu Gewalttätigkeiten gekommen sein.«

Sylvestra schauderte und wandte sich dem Fenster zu. »Aber einen Mord zu begehen? Was für eine Frau könnte das sein? Wären da nicht mehrere Männer notwendig gewesen, um so furchtbare Dinge zu tun?«

»Ja, das stimmt«, pflichtete er ihr leise bei. »Aber vielleicht waren es ja mehrere. Ein Vater oder ein Bruder oder beide.«

Sie hob die Hände und schlug sie vors Gesicht. »Wenn das stimmt, dann hat er Unrecht getan, großes Unrecht, aber eine solche Strafe hat er nicht verdient! Und mein Mann hat überhaupt keine Strafe verdient. Es war nicht seine Schuld!« Unbewußt fuhr sie sich mit ihren schlanken Fingern durchs Haar, so daß eine Nadel sich löste und eine lange, schwarze Locke herausfiel. »Kein Wunder, daß Rhys mir nicht in die Augen sehen kann!« Sie sah zu ihm auf. »Wie soll ich darauf reagieren? Wie soll ich lernen, ihm das zu verzeihen? Und wie soll ich ihn lehren, sich selbst zu verzeihen?«

Hester legte eine Hand auf Sylvestras Schulter. »Zunächst einmal können Sie mir helfen, indem Sie nicht davon ausgehen, daß diese Dinge der Wahrheit entsprechen, solange wir es nicht sicher wissen«, antwortete sie entschieden. »Vielleicht ist das Ganze ja ein Irrtum.« Wenn sie sich an die Szene im Schlafzimmer vergangene Nacht erinnerte und auch an das, was heute vorgefallen war, als Sylvestra ins Zimmer kam, konnte sie sich allerdings sehr gut vorstellen, daß sie mit ihrer Vermutung ganz richtig lagen.

Sylvestra setzte sich langsam und mit bleichem Gesicht wieder aufrecht hin.

Evan erhob sich. »Vielleicht könnte Miss Latterly mich jetzt zu Mr. Duff führen. Ich weiß, daß er nicht sprechen kann, aber vielleicht ist er in der Lage, mir einige Fragen mit einem Nicken oder einem Kopf schütteln zu beantworten.«

Sylvestra zögerte. Sie war noch nicht bereit, sich auch nur den Fragen zu stellen, geschweige denn den Antworten, die Rhys vielleicht geben würde. Und sie war auch nicht bereit, an den Schauplatz zurückzukehren, an dem sie erst vor so kurzer Zeit Zeugin einer Heftigkeit und Schroffheit gewesen war, die sie zuvor nicht an ihrem Sohn gekannt hatte. Hester las es in ihren Augen. Sie konnte dieses Gefühl mühelos erkennen, weil sie dieselbe Antwort hatte.

»Mrs. Duff?« hakte Evan nach.

»Er ist nicht wohl«, sagte Sylvestra und erwiderte mit großer Festigkeit seinen Blick.

»Das stimmt«, bekräftigte Hester. »Er hat eine schlimme Nacht hinter sich. Ich kann Ihnen nicht erlauben, jetzt in ihn zu dringen, Sergeant.«

Evan sah sie fragend an. Er mußte einen Teil ihrer Gefühle erraten haben, die Erinnerungen an Rhys, wie er sich in sein Kissen kauerte, während er im Geiste etwas Unaussprechliches noch einmal durchlebte, etwas, das so schrecklich war, daß er es nicht in Worte fassen konnte.

»Ich werde nicht in ihn dringen«, versprach er und senkte die Stimme. »Aber er hat vielleicht den Wunsch, mit mir zu reden. Wir müssen ihm diese Möglichkeit geben. Wir müssen die Wahrheit wissen. Mag sein, daß auch er das Bedürfnis hat, die Wahrheit zu erfahren, Mrs. Duff.«

»Glauben Sie?« Sie sah ihn skeptisch an. »Keine Rache und auch keine Gerechtigkeit wird etwas an dem Tod meines Mannes ändern oder an Rhys’ Verletzungen. Es dient lediglich einer verschwommenen Idee dessen, was gut und recht ist, und ich bin mir nicht sicher, wie wichtig mir das ist.«

Hester glaubte einen Augenblick, Evan werde Einwände erheben, aber er sagte nichts, sondern trat lediglich einen Schritt zurück und wartete darauf, daß Hester ihm den Weg zeigte.

Oben lag Rhys ruhig da, die geschienten Hände ruhten auf der Decke, und sein Gesichtsausdruck war friedlich, als schliefe er beinahe. Als er sie hörte, wandte er den Kopf. Er wirkte zurückhaltend, aber nicht verängstigt oder über Gebühr argwöhnisch.

»Es tut mir leid, Sie noch einmal beunruhigen zu müssen, Mr. Duff«, begann Evan, bevor Hester oder Sylvestra auch nur ein Wort sagen konnten. »Aber meine Nachforschungen haben mich bisher kaum weitergebracht. Ich weiß, daß Sie noch nicht sprechen können, aber wenn ich Ihnen einige Fragen stelle, können Sie mir ein Ja oder ein Nein bedeuten?«

Rhys erwiderte seinen Blick beinahe ohne einen Wimpernschlag. Hester bemerkte, daß sie mit den Zähnen knirschte und daß ihre Hände klebrig von Schweiß waren. Sie wußte, daß Evan keine andere Wahl hatte, als die Sache weiterzuverfolgen. Rhys war der einzige, der die Wahrheit kannte, aber sie wußte nicht, daß diese Fragen den jungen Mann mehr kosten würden, als seine Mutter erraten konnte, oder gar Evan, der dort vor dem Bett stand und so freundlich und mitfühlend aussah.

»Als Sie an jenem Abend ausgingen«, begann Evan, »haben Sie da jemanden getroffen, den Sie kannten, einen Freund vielleicht?«

Der Anflug eines Lächelns huschte über Rhys’ Mund, schmerzlich und verbittert. Er rührte sich nicht.

»Ich habe die falsche Frage gestellt.« Evan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sind Sie ausgegangen, um sich mit einem Freund zu treffen? Hatten Sie eine Verabredung?«

Rhys schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte Evan an Rhys’ Stelle. »Haben Sie zufällig jemanden getroffen?«

Rhys bewegte seine Schulter ein klein wenig, es war beinahe ein Achselzucken.

»Einen Freund?«

Diesmal war die negative Antwort unverkennbar.

»Jemanden, den Sie nicht mögen? Einen Feind?«

Wieder dieses Achselzucken, diesmal ärgerlich, ungeduldig.

»Sind Sie direkt nach St. Giles gegangen?«

Rhys nickte sehr langsam, als bereite es ihm Mühe, sich daran zu erinnern.

»Waren Sie früher schon einmal dort?« fragte Evan nun mit gesenkter Stimme.

Rhys nickte. Sein Blick verriet keinerlei Zaudern.

»Wußten Sie, daß Ihr Vater ebenfalls dorthin unterwegs war?«

Rhys verkrampfte sich sichtbar, und sein Körper wurde steif, bis die Muskeln vollkommen angespannt schienen.

»Wußten Sie es?« wiederholte Evan.

Rhys verkroch sich tiefer in das Kissen und zuckte zusammen, da diese Bewegung ihm offensichtlich Schmerzen bereitete. Er versuchte zu sprechen; sein Mund formte die Worte, seine Kehle bebte, aber über seine Lippen kam kein Laut. Er begann zu zittern. Das Atmen fiel ihm schwer, und er keuchte, als sei seine Kehle zu eng geworden, um Luft hindurchzulassen.

Sylvestra beugte sich vor. »Hören Sie auf!« befahl sie Evan.

»Lassen Sie ihn in Ruhe.« Sie stellte sich zwischen die beiden, als stelle Evan eine körperliche Bedrohung für ihren Sohn dar. Dann drehte sie sich zu Rhys herum, aber der schrak auch vor ihr zurück, als könne er den Unterschied zwischen den beiden Menschen vor seinem Bett nicht mehr erkennen.

Sylvestras Gesicht wurde aschfahl. Sie suchte krampfhaft nach Worten, mit denen sie Rhys hätte trösten können, aber diese Situation ging über ihre Kraft. Sie war verwirrt, verängstigt und verletzt.

»Sie müssen jetzt beide gehen«, sagte Hester entschieden.

»Bitte! Sofort!« Als sei die Ausführung ihres Befehls eine Selbstverständlichkeit, wandte sie sich daraufhin an Rhys, der heftig zitterte und in Gefahr zu stehen schien zu ersticken.

»Hören Sie auf damit!« rief sie ihn laut und deutlich an.

»Niemand wird Ihnen etwas tun! Versuchen Sie nicht, irgend etwas zu sagen. Atmen Sie einfach ganz ruhig ein und aus! Ganz ruhig! Tun Sie, was ich sage!«

Sie hörte, wie die Tür ins Schloß fiel, als Evan und Sylvestra den Raum verließen.

Allmählich klang Rhys’ Hysterie ab. Er begann, wieder gleichmäßiger zu atmen, das schnarrende Geräusch in seiner Kehle verstummte, und auch das Zittern legte sich nach und nach.

»Atmen Sie langsam weiter«, sagte sie. »Sachte. Ein – aus. Ein – aus.« Sie lächelte ihn an.

Wachsam und ein wenig unsicher erwiderte er ihr Lächeln.

»Ich werde Ihnen jetzt einen Becher heiße Milch holen und einen Kräutertrank, der Ihnen helfen wird. Sie brauchen Ruhe.«

Furcht verdunkelte seine Augen aufs neue.

»Es wird niemand hereinkommen.«

Ihre Worte schienen ihn nicht zu trösten.

Und dann begriff sie plötzlich, er hatte Angst vor Träumen. Das Grauen lag in ihm selbst.

»Sie brauchen nicht zu schlafen. Liegen Sie einfach still da. Die Kräuter werden Ihnen keinen Schlaf bringen.«

Er entspannte sich, sein Blick suchte den ihren.

Aber er schlief dann doch, mehrere Stunden lang, und sie saß neben ihm, beobachtete ihn und war darauf gefaßt, ihn zu wecken, sobald er Zeichen der Unruhe zeigte.

Am späten Nachmittag kam Corriden Wade. Er wirkte sehr besorgt, als Hester ihm von Rhys’ Beunruhigungen erzählte und von dem Alptraum, der so lang anhaltenden Schmerz und Hysterie nach sich gezogen hatte. Wades Gesicht verzog sich vor Kummer, und sein eigenes körperliches Ungemach nach dem Sturz war vollends vergessen.

»Der Zustand des Jungen ist überaus beunruhigend, Miss Latterly. Ich werde nun nach oben gehen und ihn untersuchen. Diese Wendung der Ereignisse gefällt mir gar nicht.«

Hester machte Anstalten, ihm zu folgen.

»Nein«, sagte er jäh und hob die Hand, als wolle er sie daran hindern. »Ich möchte mit ihm allein sein. Die Vorfälle haben ihn offensichtlich zutiefst erregt. Es ist in seinem besten Interesse und dient dazu, ihm weitere Hysterieattacken zu ersparen, wenn ich ihm bei meiner Untersuchung die mögliche Verlegenheit erspare, diese Dinge im Angesicht eines fremden Menschen, noch dazu einer Frau, über sich ergehen zu lassen.« Wade lächelte kurz. Es war nur ein winziges Aufflackern, eher eine Art Botschaft als ein Zeichen des Frohsinns. Was da vorgefallen war, machte ihm offensichtlich sehr zu schaffen. »Ich kenne Rhys seit seiner Kindheit«, erklärte er. »Ich kannte auch seinen Vater sehr gut, Gott sei seiner Seele gnädig, und meine Schwester ist seit langen Jahren schon eine gute Freundin von Sylvestra. Sie wird zweifellos bald herkommen und Sylvestra Trost und alle nur erdenkliche Hilfe anbieten.«

»Das wäre gut…«, setzte Hester an.

»Ja, natürlich«, unterbrach er sie. »Ich muß jetzt zu meinem Patienten, Miss Latterly. Mir scheint, daß sein Zustand eine Wendung zum Schlechteren erfahren haben könnte. Möglicherweise wird es notwendig sein, ihn für eine Weile unter Beruhigungsmitteln zu halten, damit er sich in seinem seelischen Aufruhr nicht womöglich weitere Verletzungen zufügt.«

Hester berührte ihn am Arm. »Aber er hat Angst zu schlafen, Doktor! Dann nämlich kommen die Träume.«

»Miss Latterly, mir ist durchaus bewußt, daß sein Wohlergehen Ihnen am Herzen liegt.« Seine Stimme war sehr leise, beinahe sanft, aber seine eigene, eiserne Entschlossenheit war nicht zu überhören. »Seine Verletzungen sind sehr ernst, ernster, als Ihnen bewußt ist. Ich kann nicht riskieren, daß er sich noch einmal derart erregt und seine Wunden vielleicht aufreißt. Das könnte tödlich sein.« Wade sah sie ernst an. »Wir haben es hier mit einer Art von Gewalt zu tun, mit der weder Sie noch ich normalerweise konfrontiert sind. Wir kennen den Krieg und seine Helden, die weiß Gott schon schlimm genug waren. Dies hier ist ein Martyrium von ganz anderem Kaliber. Wir müssen ihn vor sich selbst beschützen, zumindest für eine Weile. In einigen Wochen mag es ihm schon besser gehen; wir können nur hoffen.«

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

»Vielen Dank.« Seine Miene wurde weicher. »Ich bin mir sicher, daß wir hervorragend zusammenarbeiten werden. Wir haben so viel gemeinsam, sind beide durch eine harte Schule gegangen, was Ausdauer und Urteilskraft betrifft.« Er lächelte Hester flüchtig an, und in seinem Blick standen Schmerz und Unsicherheit. Dann wandte er sich ab und ging weiter die Treppe hinauf.

Hester und Sylvestra warteten im Salon. Sie saßen zu beiden Seiten des Feuers, steif und aufrecht und sprachen nur gelegentlich in knappen, abgehackten Sätzen miteinander.

»Ich kenne Corriden Wade schon seit Jahren«, bemerkte Sylvestra plötzlich. »Er war ein sehr, sehr guter Freund meines Mannes. Leighton hat ihm absolut vertraut. Er wird das Menschenmögliche für Rhys tun.«

»Natürlich. Ich habe von ihm gehört. Sein Ruf ist exzellent. Er genießt überall größtes Ansehen.«

»Ach ja? Ja. Ja, natürlich.«

Die Minuten verrannen. Die Glut im Feuer wurde dürftiger, doch keine der beiden Frauen machte Anstalten, nach dem Mädchen zu läuten, damit es weitere Kohlen auflegte.

»Seine Schwester, Eglantyne, ist eine liebe Freundin von mir.«

»Ja. Das hat er mir erzählt. Er sagte, sie würde Sie vielleicht bald aufsuchen.«

»Ich hoffe es. Hat er das gesagt?«

»Ja.«

»Sollten Sie nicht… bei ihm sein?«

»Nein. Er meinte, es wäre besser, wenn er allein zu ihm ginge.

Weniger beunruhigend.«

»Ist das wahr?«

»Ich weiß es nicht.«

Noch mehr Zeit verfloß. Hester beschloß, das Feuer selbst zu schüren. Da kehrte Corriden Wade mit grimmiger Miene zurück.

»Wie geht es ihm?« fragte Sylvestra, und ihre Stimme klang gepreßt und schrill vor Angst. Sie erhob sich, ohne sich dessen bewußt zu sein.

»Er ist sehr krank, meine Liebe«, erwiderte Wade leise. »Aber ich habe jede Hoffnung, daß er sich erholen wird. Er braucht so viel Ruhe wie nur möglich. Lassen Sie nicht zu, daß er noch einmal solchermaßen gestört wird. Er kann der Polizei nichts sagen. Man darf ihm nicht noch einmal so zusetzen, wie das heute geschehen ist. Jede Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die er zweifellos nicht nur mit angesehen, sondern auch erlitten hat, kann seinen Zustand nur beträchtlich verschlimmern. Möglicherweise könnte etwas Derartiges sogar einen kompletten Rückfall verursachen. Was in Anbetracht der Umstände kein Wunder wäre.«

Wade sah Hester an. »Wir müssen ihn schützen, Miss Latterly. Ich vertraue darauf, daß Sie sich diese Aufgabe zu eigen machen werden! Ich lasse Ihnen ein Pulver da, das Sie ihm in warmer Milch verabreichen können oder in Rinderbrühe, falls ihm das lieber sein sollte. Das Pulver wird ihm zu einem tiefen, traumlosen Schlaf verhelfen.« Wade runzelte die Stirn.

»Und ich muß absolut darauf bestehen, daß Sie mit ihm nicht über sein Martyrium sprechen und seine Gedanken auch in keiner anderen Weise darauf lenken werden. Er kann sich an nichts von alledem erinnern, ohne daß es ihm Qualen bereitet. Jedem jungen Mann, der auch nur über einen Funken Anstand und Feingefühl verfügt, würde es genauso ergehen. Ich stelle mir vor, daß Sie oder ich nicht anders empfinden würden.«

Hester hegte nicht den leisesten Zweifel, daß er mit seinen Sorgen richtig lag. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen.

»Natürlich«, pflichtete sie ihm bei. »Vielen Dank. Ich werde froh sein, wenn er ein wenig Linderung findet und wenn er etwas schlafen kann, ohne daß ihn seine furchtbaren Träume quälen.«

Wade lächelte sie an. Sein Gesicht war freundlich und voller Wärme.

»Ich wußte, daß Sie so empfinden, Miss Latterly. Rhys kann von Glück sagen, Sie bei sich zu haben. Ich werde weiterhin jeden Tag vorbeikommen, aber zögern Sie nicht, häufiger nach mir zu schicken, falls Sie mich brauchen sollten.« Dann wandte er sich an Sylvestra. »Ich glaube, Eglantyne wollte morgen vorbeikommen, wenn es angenehm ist? Darf ich ihr sagen, daß Sie sie empfangen werden?«

Endlich entspannte auch Sylvestra sich ein wenig, und der Hauch eines Lächelns glitt über ihre Lippen.

»Bitte tun Sie das. Vielen Dank, Corriden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir diese Sache ohne Ihre Freundlichkeit und Ihr Können überstehen sollten.«

Ihre Worte schienen ihm ein leises Ungemach zu bereiten.

»Ich wünschte, es wäre nicht notwendig gewesen. Das alles ist tragisch, sehr tragisch.« Er richtete sich auf. »Ich werde morgen wiederkommen, meine Liebe, und ich hoffe, daß Sie bis dahin ein wenig Mut gefaßt haben. Wir werden tun, was in unseren Kräften steht, Miss Latterly und ich.«