7
Rhys machte nur sehr langsam Fortschritte. Dr. Wade zeigte sich jedoch zufrieden damit, wie seine äußeren Wunden verheilten. Als er auf Rhys’ Zimmer kam, sah er ernst aus, schien aber nicht besorgter zu sein als beim Eintritt ins Krankenzimmer. Wie immer hatte er es vorgezogen, Rhys allein zu untersuchen, eingedenk der natürlichen Scham des jungen Mannes. Hester war für Rhys als Krankenschwester nicht so unpersönlich, wie sie es für die Männer in den Hospitälern auf der Krim gewesen war. Dort hatte es so viele von ihnen gegeben, daß sie keine Zeit gehabt hatte, sich mit einem einzelnen anzufreunden, es sei denn in kurzen Augenblicken extremer Situationen. Für Rhys war sie weit mehr als einfach irgend jemand, der sich um seine körperlichen Bedürfnisse kümmerte. Sie verbrachten viele Stunden miteinander, sie redete mit ihm, las ihm vor, manchmal lachten sie miteinander. Hester kannte seine Familie und seine Freunde, wie Arthur Kynaston und jetzt auch dessen Bruder Duke, einen jungen Mann, den sie weniger sympathisch fand, auch wenn sie ihn nur von ferne gesehen hatte.
»Zufriedenstellend, Miss Latterly«, sagte Wade mit dem Anflug eines Lächelns. »Er scheint gut auf meine Behandlung anzusprechen, obwohl ich keine falschen Hoffnungen wecken möchte. Von Genesung kann gewiß noch keine Rede sein. Sie müssen immer noch all Ihre Fähigkeiten einsetzen, um ihn zu pflegen.«
Wade zog die Brauen zusammen und sah Hester forschend an.
»Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, daß er nicht aufgeregt wird, daß man ihm keinen Grund zu Nervosität, Angst oder anderen Beunruhigungen gibt. Sie dürfen diesem jungen Polizisten und auch keinem anderen erlauben, Rhys zu dem Versuch zu zwingen, sich an die Nacht seiner Verletzung zu erinnern. Ich hoffe, Sie verstehen das? Ich denke schon. Ich habe das Gefühl, daß Sie sich seiner furchtbaren Lage voll bewußt sind und alles tun würden, um ihn zu schützen, sogar wenn Sie sich selbst damit in Gefahr brächten.« Er wirkte plötzlich ein klein wenig verlegen, und eine leichte Röte stahl sich in seine Wangen. »Ich habe eine sehr hohe Meinung von Ihnen, Miss Latterly.«
Ein Gefühl der Wärme stieg in ihr auf. Das einfache Kompliment von einem Kollegen, vor dem sie größten Respekt hatte, war weit wertvoller als die überschwenglichsten Lobreden eines Menschen, der gar nicht genau wußte, was das eigentlich bedeutete.
»Ich danke Ihnen, Dr. Wade«, sagte sie ruhig. »Ich werde mich bemühen, Ihnen keinen Grund zu geben, jemals anders von mir zu denken.«
Er lächelte, als hätte er einen Augenblick lang den Schmerz und das Unglück vergessen, die sie zusammengeführt hatten.
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel an Ihnen«, erwiderte er, bevor er sich mit einer angedeuteten Verbeugung von ihr verabschiedete und an ihr vorbei die Treppe hinunterging, wo Sylvestra ihn wahrscheinlich im Salon erwartete.
Am frühen Nachmittag wollte Hester kleine häusliche Arbeiten erledigen, Flecken aus Rhys’ Nachthemd herauswaschen, wo einer seiner Verbände verrutscht war und Blut aus der noch unverheilten Wunde durchgesickert war. Sie flickte einen Kissenbezug, bevor der winzige Riß größer wurde, und brachte eine gewisse Ordnung in die Bücher im Schlafzimmer. Schließlich klopfte es an der Tür, und als sie öffnete, stand das Mädchen vor ihr. Janet teilte ihr mit, daß ein Gentleman sie zu sprechen wünsche und daß man ihn in das Wohnzimmer der Haushälterin geführt habe.
»Wer ist es denn?« fragte Hester überrascht. Ihr erster Gedanke war Monk, dann wurde ihr bewußt, wie unwahrscheinlich das war. Monk war ihr nur eingefallen, weil unter der Oberfläche ihres Bewußtseins stets die Gedanken an ihn lauerten. Es war wahrscheinlich Evan, der wissen wollte, ob sie ihm irgendwie bei der Lösung des Rätsels um Rhys’ Verletzungen helfen konnte. Es interessierte ihn vermutlich, ob sie etwas mehr über die Familie und die Beziehung zwischen Vater und Sohn in Erfahrung gebracht hatte. Das flaue Gefühl der Enttäuschung, das sie jäh befiel, war vollkommen lächerlich. Sie wußte ohnehin nicht, was sie zu Monk hätte sagen sollen.
Genausowenig wie sie wußte, was sie zu Evan sagen sollte. Ihre Pflicht galt der Wahrheit, aber sie wußte nicht, ob sie diese Wahrheit wirklich aufdecken wollte. Ihre berufliche Loyalität und ihre Gefühle sprachen für Rhys. Und sie stand in Sylvestras Diensten, ein Umstand, der sie zu einer gewissen Rücksichtnahme zwang.
Sie dankte dem Mädchen und beendete ihre Arbeit, dann ging sie die Treppe hinunter und durch die mit grünem Tuch bezogene Tür weiter durch den Korridor, der zum Wohnzimmer der Haushälterin führte. Hester trat ein, ohne anzuklopfen.
Auf der Schwelle hielt sie abrupt inne. Es war tatsächlich Monk, der mitten im Raum stand, schlank und elegant in seinem perfekt geschnittenen Mantel. Er wirkte gereizt und ungeduldig.
Sie schloß die Tür hinter sich.
»Wie geht es Ihrem Patienten?« fragte er. Seine Miene verriet echtes Interesse.
War es Höflichkeit, oder hatte er einen Grund für seine Anteilnahme? Diente sie ihm lediglich als Vorwand, um überhaupt irgend etwas sagen zu können?
»Dr. Wade ist der Meinung, daß er sich recht gut erholt, aber noch immer alles andere als geheilt ist«, antwortete Hester mit einer leichten Steifheit. Sie ärgerte sich über ihre Freude, daß es Monk war und nicht Evan. Sie hatte überhaupt keinen Grund, sich zu freuen. Sein Besuch würde nur zu einem weiteren sinnlosen Streit führen.
»Haben Sie keine eigene Meinung?« Er zog die Augenbrauen hoch und sah sie kritisch an.
»Natürlich habe ich die«, gab sie zurück. »Glauben Sie, daß meine Meinung Ihnen von größerem Nutzen sein könnte als die eines Arztes?«
»Wohl kaum…«
»Das dachte ich mir. Deshalb habe ich Ihnen gesagt, was Dr. Wade denkt.«
Monk holte tief Atem und stieß dann hastig die Luft wieder aus.
»Und er spricht immer noch nicht?«
»Nein.«
»Oder teilt sich auf irgendeine andere Art mit?«
»Wenn Sie meinen, ob er sich mit Worten mitteilt, nein. Er kann keine Feder halten, um zu schreiben. Die Knochen in seinen Händen sind noch weit von einer Heilung entfernt. Ihrer Beharrlichkeit entnehme ich, daß Ihr Interesse beruflicher Natur ist? Ich wüßte nicht, warum. Glauben Sie, daß er die Männer in Seven Dials, nach denen Sie suchen, gesehen hat? Oder daß er weiß, wer sie waren?«
Monk schob die Hände in die Taschen und senkte den Blick, bevor er sie erneut ansah. Seine Miene wurde weicher, und der Argwohn wich aus seinen Zügen.
»Ich würde gern glauben, daß er nicht das geringste mit diesen Männern zu tun hat.« Ihre Augen blickten ruhig und klar.
»Sind Sie sicher, daß das so ist?«
»Ja!« antwortete sie sofort. Dann fing sie seinen Blick auf, und da sie ein zutiefst ehrlicher Mensch war, wurde ihr sofort klar, daß das nicht stimmte. »Nein – nicht vollkommen.« Sie versuchte es noch einmal. »Ich weiß nicht, was geschehen ist, nur daß es furchtbar gewesen sein muß. So furchtbar, daß es ihm die Sprache geraubt hat.«
»Ist das echt… ich meine, sind Sie davon überzeugt?« Er sah sie entschuldigend an, denn er wollte sie nicht kränken. »Wenn Sie sagen, daß es so ist, werde ich es akzeptieren.«
Sie trat weiter in den Raum hinein, näher an Monk heran. Das Feuer in dem kleinen, sorgfältig geschwärzten Kamin brannte hell, und es standen zwei Sessel daneben, die Hester jedoch genau wie Monk ignorierte.
»Ja«, sagte sie, diesmal mit absoluter Gewißheit. »Wenn Sie ihn bei einem seiner Alpträume erlebt hätten, wie er verzweifelt versuchte, aufzuschreien, dann wüßten Sie das genauso sicher wie ich.«
Man konnte ihm ansehen, daß er ihr Glauben schenkte. Aber in seinen Zügen lag auch eine Traurigkeit, die ihr Angst machte. Es war eine Art von Zärtlichkeit, eine Regung, die sie nicht oft bei ihm sah, ein Gefühl, das er für gewöhnlich zu verbergen wußte.
»Haben Sie Beweise gefunden?« fragte sie mit stockender Stimme. »Wissen Sie etwas über die Sache?«
»Nein.« Sein Gesichtausdruck blieb unverändert. »Aber die Hinweise mehren sich.«
»Was? Welche Hinweise?«
»Es tut mir leid, Hester. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Welche Hinweise?« Ihre Stimme war ein klein wenig höher geworden, hauptsächlich aus Angst um Rhys, aber auch, weil die Freundlichkeit in Monks Augen sie erschütterte. Sie war zu zerbrechlich, um sie fassen zu können, zu kostbar, um sie zu zerbrechen, wie ein perfektes Spiegelbild im Wasser, das bei der ersten Berührung zerspringt. »Was haben Sie herausgefunden?«
»Daß die drei Männer, die diese Frauen überfallen haben, Gentlemen waren. Sie waren gut gekleidet und kamen mit Droschken, manchmal zusammen, manchmal getrennt. Weggefahren sind sie fast immer gemeinsam, in einem Hansom.«
»Das hat nichts mit Rhys zu tun!« Hester wußte, daß sie ihn unterbrochen hatte und daß er nicht darauf zu sprechen gekommen wäre, wenn er nicht mehr in der Hand gehabt hätte. Es war ihr einfach unmöglich, ihn weiter sprechen zu lassen, der Gedanke tat zu weh. Ihr war klar, daß er das wußte und daß er es haßte, ihr das antun zu müssen. Die Wärme in seinen Augen würde sie wie eine kostbare Erinnerung bewahren, ein süßes Licht in der Dunkelheit.
»Einer von ihnen war groß und schlank«, fuhr er fort.
Die Beschreibung paßte auf Rhys. Das wußten sie beide.
»Die beiden anderen waren von durchschnittlicher Größe, einer etwas untersetzt, der andere ziemlich dünn«, fuhr er leise fort.
Monk hatte Arthur und Duke Kynaston noch nicht gesehen, aber Hester hatte es. Wenn man eine dunkle Straße entlangeilte und nur einen kurzen Blick auf die beiden erhaschte, hätte man sie durchaus so beschreiben können. Ein Gefühl der Kälte erfüllte sie. Sie versuchte, es zu verdrängen, aber die Erinnerung an die Grausamkeit in Rhys’ Augen war noch allzu frisch. Sie dachte an das Gefühl der Macht, das er genoß, als er Sylvestra verletzt hatte. Sie dachte an sein Lächeln kurz darauf, an die Befriedigung in seinen Zügen. Es war nicht nur ein einziges Mal geschehen, ließ sich nicht als Irrtum oder Ausrutscher wegreden. Er genoß seine Macht, anderen weh zu tun. Hester versuchte, sich gegen diese Möglichkeit zu wehren, aber in Monks Anwesenheit war ihr das unmöglich. Sie konnte zornig auf ihn sein, sie konnte einzelne Teile seines Wesens verachten, sie konnte ihm heftig widersprechen, – aber sie konnte ihm nicht absichtlich Schaden zufügen, und sie konnte nicht lügen. Es wäre unerträglich für sie gewesen, eine solche Barriere zwischen ihnen zu errichten. Beinahe so, als leugne sie einen Teil ihrer selbst.
Monk machte einen Schritt auf sie zu. Er war so nahe, daß sie die feuchte Wolle seines Mantels riechen konnte.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich kann mich nicht einfach abwenden, weil er jetzt verletzt ist oder weil er Ihr Patient ist. Wenn er allein gewesen wäre, dann sähe es vielleicht anders aus. Aber ich muß auch an die beiden anderen Männer denken.«
»Ich kann einfach nicht glauben, daß Arthur Kynaston mit der Sache zu tun hatte.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Dafür müßte ich einen Beweis haben, der sich nicht bestreiten ließe. Ich müßte hören, daß er selbst es eingesteht. Was Duke betrifft, bin ich mir nicht sicher.«
»Es könnten Rhys, Duke und irgend jemand anderes gewesen sein«, bemerkte er.
»Warum ist dann Leighton Duff tot und Duke Kynaston unverletzt?«
Monk streckte die Hand aus, als wolle er Hester berühren, ließ sie dann aber wieder sinken.
»Weil Leighton Duff geahnt hat, daß da etwas ganz und gar nicht stimmte. Er ist ihnen gefolgt und hat seinen Sohn zur Rede gestellt«, antwortete er ernst. Dann runzelte er die Stirn. »Seinen Sohn als denjenigen der drei Männer, der ihm am nächsten stand, der ihm am wichtigsten war. Und Rhys verlor die Fassung, hatte vielleicht zu viel Whisky getrunken. Schuldgefühle, Angst und der Glaube an seine eigene Kraft haben ein übriges getan. Die anderen sind weggelaufen. Das Ergebnis ist das, was Evan vorgefunden hat… Zwei Männer, die in einen Streit gerieten und nicht mehr aufhören konnten, bevor der eine tot war und der andere lebensgefährlich verletzt.«
Hester schüttelte den Kopf, nicht weil sie diese Möglichkeit hätte leugnen können, sondern um das Bild, das sich ihr aufdrängte, abzustreifen.
Diesmal legte Monk die Hände auf ihre Schultern, ganz sachte, nicht um sie an sich zu ziehen, nur um sie zu berühren.
Sie blickte zu Boden, denn sie wollte nicht zu ihm aufsehen.
»Vielleicht haben einige Männer aus dem Bezirk sie entdeckt, die Ehemänner oder die Geliebten des letzten Opfers.
Brüder oder sogar Freunde. Sie waren zu lange an einem Ort stehengeblieben. Und diese Männer haben dann Vater und Sohn so zugerichtet. Rhys kann es uns nicht erzählen. Nicht einmal, wenn er es wollte.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Hester hätte die ganze Idee am liebsten als unmöglich abgetan, aber das war sinnlos.
»Ich weiß nicht, wie ich es herausfinden könnte«, verteidigte sie sich schließlich. »Das ist mir klar.« Er lächelte schwach.
»Und wenn Sie es wüßten, würden Sie es nicht tun. Es sei denn, Sie müßten es wissen, für sich selbst. Sie würden seine Unschuld beweisen müssen. Und wenn Sie dabei feststellten, daß er unschuldig ist, würden Sie nichts sagen, und ich würde es trotzdem wissen.«
Hester blickte hastig zu ihm auf. »Nein, das würden Sie nicht! Nicht, wenn ich mich dazu entschließen würde, es vor Ihnen zu verbergen.«
Er zögerte und trat dann einen halben Schritt zurück.
»Ich würde es wissen«, wiederholte Monk. »Warum? Würden Sie seine Taten verteidigen? Ich könnte Sie zu diesen Frauen bringen, geschlagen von Armut, Schmutz, Unwissenheit und nun auch noch geschlagen von drei jungen Gentlemen, die ihr behagliches Leben langweilt und die es nach etwas gefährlicher Unterhaltung verlangt. Etwas, das das Herz eine Spur schneller schlagen und das Blut in den Kopf schießen läßt.« Seine Stimme klang hart vor Zorn, und ein tiefer, beständiger Schmerz klang darin mit, das Mitleid für die Opfer. »Einige der Frauen sind nicht mehr als Kinder. In deren Alter saßen Sie in einem Schulzimmer, trugen eine Schürze und haben Ihre Rechenaufgaben gemacht, und Ihr größter Kummer bestand darin, daß man Sie zwang, Ihren Reispudding aufzuessen!« Er übertrieb, und er wußte es, aber es spielte kaum eine Rolle. Der Kern seiner Worte traf die Wirklichkeit. »Etwas Derartiges würden Sie nicht verteidigen, Hester. Sie könnten es nicht! Dazu haben Sie zu viel Anstand, zu viel Phantasie!«
Sie wandte sich ab. »Natürlich habe ich das! Aber Sie haben Rhys auch nicht so leiden sehen. Ein Urteil ist immer schön und gut, wenn man nur die eine Seite kennt. Es ist viel schwieriger, wenn man auch den Täter kennt, wenn man ihn mag und auch seinen Schmerz spürt.«
Monk stand jetzt unmittelbar hinter ihr. »Es geht mir darum, was recht und was unrecht ist. Manchmal können wir nicht beides haben. Ich weiß, daß manche Leute das nicht verstehen oder akzeptieren, aber Sie gehören nicht zu diesen Leuten. Sie waren immer in der Lage, der Wahrheit in die Augen zu sehen, ganz gleich, worin sie bestand. Sie werden es auch diesmal können.«
In seiner Stimme lag nicht der geringste Zweifel. Sie war Hester, die verläßliche, starke, tugendhafte Hester. Es war nicht notwendig, sie vor Schmerz oder Gefahr zu schützen. Nicht notwendig, sich ihretwegen auch nur Gedanken zu machen.
Hester hätte am liebsten nach ihm geschlagen, so wütend war sie darüber, daß er ihre Stärke als so selbstverständlich nahm. Im Innern war sie genau wie jede andere auch, wie jede andere Frau. Manchmal sehnte sie sich danach, beschützt und umsorgt zu werden, jemanden zu haben, der Gefahren und häßliche Dinge von ihr fernhielt, nicht weil er glaubte, sie könne es nicht ertragen, sondern weil er ihr Schmerz ersparen wollte.
Aber das konnte sie ihm unmöglich sagen. Nicht Monk, erst recht nicht ihm. Um auch nur das Geringste wert zu sein, mußte sie zu schützen sein Wunsch, ja sein Bedürfnis sein, mußte freiwillig gegeben werden. Wenn sie eine dieser zerbrechlichen, warmherzigen, femininen Frauen gewesen wäre, die er so bewunderte, hätte er es instinktiv getan.
Was konnte sie sagen? Sie war so wütend, verwirrt und verletzt, daß die Worte sich in ihrem Kopf überschlugen, und alle waren sie gleich nutzlos und hätten nur ihre Gefühle verraten, was das letzte war, was sie wollte. Soweit zumindest konnte sie selber auf sich aufpassen.
»Natürlich«, sagte sie steif, und ihre Stimme klang belegt. »Es hätte kaum einen Sinn, etwas anderes zu tun, nicht wahr?« Sie entfernte sich noch einen Schritt weiter von ihm und versteifte dabei die Schultern, als würde sie zurückzucken, wenn er sie noch einmal berührte. »Ich nehme an, ich werde es wohl aushaken, was immer es ist. Ich werde gar keine andere Wahl haben.«
»Sie sind wütend«, sagte er mit hörbarer Überraschung.
»Unsinn!« brauste sie auf. Er hatte die Sache vollkommen falsch verstanden. Es hatte nichts mit Rhys Duff zu tun oder mit der Frage, wer die Frauen überfallen hatte. Wütend machte sie seine Vermutung, daß er sie wie einen anderen Mann behandeln konnte, daß sie zu jeder Zeit auf sich selbst achtgeben konnte und dies auch tun sollte. Sie konnte es tatsächlich! Aber auch darum ging es hier nicht.
»Hester!«
Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, aber er klang geduldig und vernünftig. Es war wie Essig auf einer Wunde.
»Hester, ich wünsche mir nicht, daß Rhys sich als der Schuldige entpuppt. Ich werde auch jede andere Möglichkeit untersuchen.«
»Das weiß ich!«
Jetzt war er verwirrt. »Was zum Teufel wollen Sie denn dann von mir? Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, und ich werde mich auch mit nichts Geringerem als der Wahrheit zufriedengeben! Ich kann Rhys nicht vor sich selbst retten, und ich kann seine Mutter nicht retten… wenn es das ist, was Sie wollen?«
Sie fuhr herum.
»Es ist nicht das, was ich will! Und ich erwarte überhaupt nichts von Ihnen! Gott behüte! Ich kenne Sie jetzt lange genug, um mir vollauf darüber im klaren zu sein, was ich von Ihnen bekommen werde.« Ihre Worte überschlugen sich, und noch während sie selber sie hörte, wünschte sie, sie hätte geschwiegen. Hätte sich nicht so durchsichtig, so verletzlich gemacht. Er würde ihre Gefühle jetzt ohne Mühe deuten können. Er konnte kaum umhin, es zu tun.
Monk war sprachlos und verärgert. Sein Gesicht zeigte die nur allzu vertrauten Anzeichen eines Zornesausbruchs. Ein Schleier legte sich über seine Augen und verbarg die Freundlichkeit, die noch kurz zuvor darin gestanden hatte.
»Dann scheint unser Gespräch ja sinnlos zu sein«, sagte er grimmig. »Wir verstehen einander vollkommen, und es braucht nichts mehr gesagt zu werden.« Er machte eine knappe Bewegung, die kaum als Verbeugung hätte bezeichnet werden können. »Vielen Dank, daß Sie mir so viel von Ihrer Zeit geopfert haben. Auf Wiedersehen.« Er ging aus dem Zimmer und ließ sie unglücklich zurück und ebenso wütend, wie er es war.
Ein wenig später am Nachmittag kam Arthur Kynaston noch einmal vorbei, diesmal in Begleitung seines älteren Bruders Duke. Hester sah sie, als sie aus der Bibliothek kommend die Halle durchquerte, um die Treppe hinaufzugehen.
»Guten Tag, Miss Latterly«, sagte Arthur fröhlich. Er warf einen Blick auf das Buch, das sie in der Hand hielt. »Ist das für Rhys? Wie geht es ihm?«
Duke stand hinter ihm, eine größere und kräftigere Ausgabe seines Bruders mit schwereren Schultern. Sein Gang war eleganter, aber auch großspuriger als der von Arthur. Sein Gesicht hatte kräftigere Knochen, und er war auf eine traditionellere Weise gutaussehend, wenn sein Gesichtsschnitt vielleicht auch weniger eigenwillig schien. Duke hatte wie Arthur weiches, gewelltes Haar, das ins Kastanienbraune spielte. Er betrachtete Hester mit unverhohlener Ungeduld. Nicht sie war es, die sie zu besuchen hergekommen waren.
Arthur drehte sich um. »Oh, Duke, das ist Miss Latterly, die sich um Rhys kümmert.«
»Schön«, sagte Duke schroff. »Wir nehmen das Buch für Sie mit nach oben.« Er streckte die Hand danach aus. Seine Worte waren eher ein Befehl als ein Angebot.
Hester verspürte eine augenblickliche Abneigung gegen ihn. Wenn das hier wirklich die jungen Männer waren, nach denen Monk suchte, dann war Duke nicht nur für die brutalen Angriffe auf die Frauen verantwortlich, er hatte auch seinen Bruder und Rhys zugrunde gerichtet.
»Ich danke Ihnen, Mr. Kynaston«, erwiderte sie kalt. Sie hatte jäh ihre Meinung geändert. »Das Buch ist nicht für Rhys bestimmt, ich habe die Absicht, es selbst zu lesen.«
Er betrachtete es kurz. »Das ist eine Geschichte des Ottomanischen Reichs!« sagte er mit einem leichten Lächeln.
»Ein überaus interessantes Volk«, bemerkte sie. »Als ich das letzte Mal in Istanbul war, habe ich sehr viel Schönheit dort gesehen. Ich wüßte gern mehr darüber. Die Menschen dort sind in vieler Hinsicht großzügig, und ihre Kultur ist von großer Raffinesse und Vielschichtigkeit.« Auch Hester war manchmal von einer Grausamkeit, die sich ihrem eigenen Verständnis entzog, aber das war im Augenblick unerheblich.
Duke schien wie vor den Kopf gestoßen. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, aber er fand seine Fassung rasch wieder.
»Gibt es in Istanbul so großen Bedarf an Hausangestellten? Ich hätte gedacht, die meisten Leute dort würden Einheimische einstellen, vor allem für Botendienste.«
»Ich denke, das tun sie auch«, antwortete sie ihm, ohne Arthur anzusehen. »Ich hatte zu viel zu tun, um über solche Dinge nachzudenken. Ich hatte meine eigene Kammerzofe in London zurückgelassen, weil es mir nicht der richtige Ort für sie zu sein schien, und es wäre auch unfair gewesen, sie zu bitten, mich zu begleiten.« Sie lächelte Duke an. »Ich war immer der Meinung, daß Rücksichtnahme auf die eigenen Dienstboten das Kennzeichen des Gentleman ist… oder der Lady, je nachdem. Finden Sie nicht auch?«
»Sie hatten eine Kammerzofe?« fragte er ungläubig. »Wozu denn das?«
»Wenn Sie Ihre Mutter fragen, Mr. Kynaston, wird sie Sie sicher über die Pflichten einer Kammerzofe ins Bild setzen«, erwiderte Hester, während sie sich das Buch unter den Arm klemmte. »Sie sind zahlreich und mannigfach, und ich bin mir sicher, daß Sie Mr. Duff deswegen nicht warten lassen wollen.« Und bevor ihm auf diese Bemerkung eine Antwort einfiel, schenkte Hester Arthur ein bezauberndes Lächeln und ging vor ihnen die Treppe hinauf.
Eine Stunde später klopfte er an ihrer Tür, und als sie öffnete, stand Arthur Kynaston auf der Schwelle.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Er kann furchtbar rüde sein. Es gibt keine Entschuldigung für sein Benehmen. Dürfte ich wohl hereinkommen und mit Ihnen sprechen?«
»Natürlich.« Sie hätte ihm seine Bitte ohnehin nicht abschlagen können, und wie sehr es ihr auch widerstrebte, Monk hatte recht. Sie würde nach der Wahrheit suchen und bei jedem Schritt hoffen, daß Rhys sich als unschuldig erweisen würde.
Aber sie mußte es wissen. »Bitte, kommen Sie doch herein.«
»Vielen Dank.« Er sah sich neugierig um und errötete dann.
»Ich wollte Sie fragen, ob Rhys’ Zustand sich wirklich bessert und ob…« Seine Stirn furchte sich, und seine Augen wurden dunkler. »Ob er irgendwann wieder sprechen können wird. Wird er es wieder lernen, Miss Latterly?«
Augenblicklich durchzuckte sie der Gedanke, ob es wohl Furcht sein mochte, die sie in seinen Zügen las. Was würde Rhys erzählen, wenn er sprechen könnte? War das der Grund, warum Duke Kynaston hierhergekommen war – um festzustellen, ob Rhys eine Gefahr für ihn bedeutete? Um vielleicht dafür zu sorgen, daß er auch weiterhin schwieg? Durfte sie die beiden Brüder mit ihm allein lassen? Er konnte nicht einmal um Hilfe schreien! Er war ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Nein, das war ein schrecklicher Gedanke! Und töricht. Wenn ihm irgend etwas zustieß, während die beiden Kynastons bei ihm waren, würde die Brüder die Schuld dafür treffen. Sie konnten etwas Derartiges weder erklären noch den Konsequenzen entrinnen. Das mußten sie genausogut wissen, wie Hester selbst es wußte! War Duke jetzt allein mit ihm? Instinktiv machte sie einen Schritt auf die Verbindungstür zu.
»Was ist denn?« fragte Arthur hastig.
»Oh.« Sie drehte sich wieder zu ihm um und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr Hoffnung machen, Mr. Kynaston…« Sie mußte Rhys schützen. »Aber dafür gibt es nicht die geringsten Anzeichen. Es tut mir so leid.«
Er sah erschüttert aus, als hätte sie tatsächlich eine Hoffnung zerstört.
»Was ist ihm zugestoßen?« fragte er mit einem leichten Kopfschütteln. »Was für Verletzungen hat er davongetragen, daß er nicht mehr sprechen kann? Warum kann Dr. Wade denn nichts für ihn tun? Ist irgend etwas gebrochen? Dann müßte es doch eigentlich heilen, oder?«
Arthur sah sie an, als nähme er tiefen Anteil an Rhys’ Geschick. Es war ihr beinahe unmöglich zu glauben, daß sein verzweifelter Blick vielleicht nur Schuldgefühle verbarg.
»Es ist nichts Körperliches«, antwortete sie wahrheitsgemäß, bevor sie sich überlegt hatte, ob das wirklich klug war. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück. »Was er in jener Nacht erlebt hat, war so furchtbar, daß es seinen Geist in Mitleidenschaft gezogen hat.«
Arthurs Augen leuchteten auf. »Das heißt, er könnte die Sprache jederzeit wiederfinden?«
Was sollte sie darauf antworten? Was war das beste für Rhys? Arthur beobachtete sie, und die Sorge umwölkte abermals sein Gesicht.
»Wäre das möglich?« wiederholte er.
»Es könnte sein«, sagte sie ausweichend. »Aber wir dürfen jetzt noch nicht damit rechnen. Es kann lange dauern.«
»Es ist schrecklich!« Arthur schob die Hände tief in die Taschen. »Es war immer so lustig mit Rhys, wußten Sie das?« Er sah sie ernsthaft an, als wolle er sie zwingen zu verstehen.
»Wir haben alles Mögliche miteinander unternommen, er und ich. Manchmal war Duke auch mit dabei. Rhys war so abenteuerlustig. Er konnte schrecklich tapfer sein und uns alle zum Lachen bringen.« Der Kummer in seinem Gesicht war unleugbar. »Können Sie sich etwas Schlimmeres vorstellen, als Hunderte von Dingen zu sagen zu haben und allein in einem Bett zu liegen und nichts über die Lippen zu bringen, gar nichts? Es fällt einem eine komische Bemerkung ein, und man kann sie mit niemandem teilen! Welchen Sinn hat ein Witz, wenn man ihn niemandem erzählen und sein Gesicht beobachten kann, wenn ihm plötzlich die Pointe aufgeht? Sie können nichts Schönes mit jemand anderem teilen, nichts Schreckliches, Sie können nicht einmal um Hilfe bitten oder sagen, daß Sie Hunger haben oder Todesängste ausstehen!« Er schüttelte abermals den Kopf. »Woher wissen Sie überhaupt, was er will? Sie könnten ihm Reispudding geben, wenn er eigentlich Brot und Butter haben möchte!«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, antwortete sie sanft, obwohl er im wesentlichen recht hatte. Rhys konnte weder seinen Schmerz noch sein Entsetzen mitteilen. »Ich kann ihm Fragen stellen, und er kann mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln antworten. Außerdem bin ich langsam recht gut, wenn es darum geht, seine Wünsche zu erraten.«
»Aber das ist kaum dasselbe!« sagte er mit einem jähen Anflug von Bitterkeit. »Wird er jemals wieder ein Pferd reiten können oder gar ein Rennen bestreiten? Wird er tanzen oder Karten spielen können? Er hatte so eine gute Hand mit Karten. Er konnte sie schneller mischen als irgend jemand sonst. Duke hat sich furchtbar darüber geärgert, weil er nicht mithalten konnte. Können Sie denn gar nichts tun, um ihm zu helfen, Miss Latterly? Es ist schrecklich, daneben zu stehen und ihn einfach anzusehen. Ich fühle mich so… nutzlos!«
»Sie sind nicht nutzlos«, versicherte sie ihm. »Ihre Besuche machen ihm viel Mut. Freundschaften helfen immer.«
Sein Lächeln flackerte auf und erlosch sofort wieder. »Dann sollte ich wohl noch einmal zu ihm gehen und ein Weilchen mit ihm reden. Ich danke Ihnen.«
Aber Arthur blieb nicht so lange wie bei seinen vorherigen Besuchen, und als Hester in Rhys’ Zimmer ging, nachdem die Kynaston-Brüder es verlassen hatten, starrte Rhys mit nachdenklichen Augen an die Decke. Auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck in sich gekehrten Unglücklichseins, den sie mittlerweile so gut kannte. Hester konnte nur erraten, was seinen Kummer verursacht haben mochte. Sie wollte nicht fragen, weil sie fürchtete, es dadurch nur noch zu verschlimmern. Vielleicht hatte ihm die Begegnung mit Duke Kynaston, der weniger taktvoll war als sein Bruder, an die Vergangenheit erinnert. Als sie alle noch voller Kraft und ein wenig leichtsinnig gewesen waren und geglaubt hatten, zu allem fähig zu sein. Die beiden anderen waren es noch immer. Rhys hatte sie schweigend und in einem Bett liegend empfangen. Er konnte nicht einmal die kleinste Bemerkung machen.
Oder war es die Erinnerung an ein grauenhaftes Geheimnis, das sie alle miteinander teilten?
Rhys wandte sich langsam zu ihr um, und sein Blick war neugierig, aber auch kalt und abweisend.
»Möchten Sie, daß Duke Kynaston Sie noch einmal besucht, wenn er das wünscht?« fragte Hester. »Wenn Sie ihn lieber nicht noch einmal sehen möchten, kann ich ihn abweisen lassen. Mir fällt schon ein Grund ein.«
Er sah sie an, ohne irgendwie erkennen zu lassen, daß er sie verstanden hatte.
»Sie scheinen ihn weniger zu mögen als Arthur.«
Diesmal zeigte sein Gesicht verschiedene Regungen: Belustigung, Ärger, Ungeduld und schließlich Resignation. Er richtete sich ein oder zwei Zoll weit auf und holte tief Atem. Seine Lippen bewegten sich.
Hester beugte sich vor, nur ein klein wenig, um ihn nicht in Verlegenheit zu stürzen, wenn er scheiterte.
Er stieß den Atem aus und versuchte es noch einmal. Sein Mund formte Silben, aber sie konnte keine Worte erkennen. Seine Kehle verkrampfte sich. Rhys sah Hester mit verzweifelter Eindringlichkeit an.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, oberhalb der Verbände.
»Hat es etwas mit Duke Kynaston zu tun?« fragte sie.
Er zögerte nur einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf, Einsamkeit und Verwirrung in den Augen. Es gab etwas, das er ihr unbedingt erzählen wollte, und je heftiger er es versuchte, desto schlimmer wurde seine Hilflosigkeit.
Hester konnte nicht einfach gehen. Sie mußte versuchen, es zu erraten, sie mußte das Risiko eingehen, trotz allem, was Dr. Wade gesagt hatte. Seine Ohnmacht war eine zu große Qual für ihn.
»Hat es mit der Nacht zu tun, in der Sie verletzt wurden?« Ganz langsam nickte er, als sei er sich nun nicht mehr sicher, ob er weitermachen wollte oder nicht.
»Wissen Sie, was passiert ist?« fragte sie sehr leise.
Seine Augen füllten sich mit Tränen, er wandte den Kopf von ihr ab und riß den Arm weg, auf dem noch immer ihre Hand gelegen hatte.
Sollte sie ihm eine direkte Frage stellen? Welchen Schaden konnte sie ihm damit zufügen? Wenn sie ihn zwang, sich zu erinnern und ihr zu antworten, konnte sie damit den heftigen Schock auslösen, vor dem Dr. Wade sie gewarnt hatte? Und wenn ja, konnte sie den Schaden, den sie anrichtete, irgendwie wiedergutmachen?
Rhys wandte ihr immer noch den Rücken zu und lag vollkommen reglos da. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, um zu erahnen, was in ihm vorging.
Dr. Wade hatte ihn sehr gern. Wade war kein weicher oder feiger Mann. Dafür hatte er selbst zu viel Leiden gesehen, hatte Gefahren und Härten durchgestanden. Er bewunderte den Mut und die innere Kraft, die zum Überleben gehörten. Ihre Einschätzung dieses Mannes beantwortete ihre Frage. Sie mußte sich an seine Anweisungen halten, die im übrigen vollkommen unmißverständliche Befehle gewesen waren.
»Möchten Sie mir irgend etwas erzählen?« fragte sie.
Er drehte sich langsam wieder zu ihr um. Seine Augen glänzten und waren voller Verletzung. Er schüttelte den Kopf.
»Sie würden nur gern wieder reden können?«
Er nickte.
»Möchten Sie lieber allein sein?« Er schüttelte den Kopf.
»Soll ich bleiben?« Er nickte.
Am folgenden Abend kam Fidelis Kynaston noch einmal zu Besuch, wie sie es versprochen hatte, Sylvestra hatte Hester gedrängt, sich abermals den Abend freizunehmen und zu tun, wonach ihr der Sinn stand, vielleicht zu Freunden zu gehen. Hester hatte den Vorschlag mit Freuden angenommen, vor allem weil Oliver Rathbone wieder angefragt hatte, ob sie Lust hätte, mit ihm ins Theater zu gehen und anschließend zu speisen.
Als Rathbone sie abholte, durchwogte sie die Freude, ihn zu sehen. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie sich an ihren letzten Abschied erinnerte, an seine Lippen, die über ihre streiften.
»Guten Abend, Oliver«, sagte sie atemlos, als sie durch die Halle auf ihn zulief, wo er nur wenige Schritte von dem überraschten Butler entfernt stand. Rathbone erwiderte ihr Lächeln, begrüßte sie mit einigen höflichen Nettigkeiten und führte sie dann zu dem wartenden Hansom.
Der Abend war kalt, aber recht trocken, und ausnahmsweise herrschte einmal kein Nebel. Man hatte einen klaren Blick auf den dreiviertelvollen Mond über den Dächern. Während der Fahrt unterhielten sie sich unbefangen über vollkommen nichtige Angelegenheiten, das Wetter, politische Gerüchte und Neuigkeiten aus dem Ausland, bis sie beim Theater ankamen und ausstiegen. Rathbone hatte ein Stück voller Witz und Humor ausgewählt, eher geeignet für einen gesellschaftlichen Anlaß als etwas, das den Geist forderte oder die Gefühle aufwühlte.
Sie betraten das Theater und wurden unverzüglich von einer Woge aus Farben und Licht verschlungen. Überall um sie herum plauderte und lachte man, Frauen in gewaltigen, raschelnden Röcken rauschten an ihnen vorbei, um voller Eifer alte Bekannte zu begrüßen oder neue Bekanntschaften zu suchen.
Es war die Art von gesellschaftlichem Leben, wie Hester es gekannt hatte, bevor sie auf die Krim gegangen war. Damals hatte sie noch im Hause ihres Vaters gelebt, und alle gingen selbstverständlich davon aus, daß sie einen akzeptablen jungen Mann kennenlernen und heiraten würde. Ihre Familie hoffte, daß dieses Ereignis in einem, höchstens zwei Jahren eintreten würde. Diese Dinge lagen nur sechs Jahre zurück, aber Hester hatte das Gefühl, als sei es ein ganzes Leben. Jetzt erschien ihr ihre Umgebung fremdartig, und sie hatte die Spielregeln verlernt.
»Guten Abend, Sir Oliver!« Eine üppige Dame stürzte voller Begeisterung auf sie zu. »Wie entzückend, Sie einmal wiederzusehen. Ich hatte schon befürchtet, wir müßten fortan auf die Freude Ihrer Gesellschaft verzichten. Sie kennen doch sicher meine Schwester, Mrs. Maybury, nicht wahr?« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Darf ich Sie mit ihrer Tochter bekannt machen, meiner Nichte, Miss Mariella Maybury?«
»Guten Tag, Miss Maybury.« Rathbone beugte sich mit der Ungezwungenheit langer Erfahrung über die Hand der jungen Frau. »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, das Stück wird Ihnen gefallen. Es soll ja überaus unterhaltsam sein. Mrs. Trowbridge, darf ich Ihnen Miss Hester Latterly vorstellen?« Er gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern legte eine Hand unter Hesters Ellbogen, als wolle er damit bekräftigen, daß sie nicht eine bloße Bekannte von ihm war, sondern eine Freundin, auf deren Gesellschaft er stolz war und die ihm nahestand.
»Guten Abend, Miss Latterly«, sagte Mrs. Trowbridge mit schlecht verhohlener Überraschung. Ihre relativ dünnen Augenbrauen fuhren in die Höhe, als wolle sie noch etwas hinzufügen, aber dann besann sie sich eines anderen und schwieg.
»Guten Abend, Mrs. Trowbridge«, antwortete Hester höflich, während ein schwaches prickelndes Gefühl der Wärme in ihr aufstieg. »Miss Maybury.«
Mrs. Trowbridge musterte Hester mit einem bösartigen Blick.
»Kennen Sie Sir Oliver schon lange, Miss Latterly?« fragte sie mit honigsüßer Stimme.
Hester wollte gerade wahrheitsgemäß antworten, aber Rathbone kam ihr zuvor.
»Wir kennen uns schon seit einigen Jahren«, erklärte er mit unverkennbarer Zufriedenheit. »Und ich habe das Gefühl, daß wir einander heute näherstehen als je zuvor. Manchmal denke ich, die beste Art der Zuneigung wächst langsam, in Kämpfen, die man Seite an Seite ausgefochten hat, durch gemeinsame Anschauungen. Finden Sie nicht auch?«
Mrs. Trowbridge holte tief Luft. »In der Tat«, nickte sie. »Vor allem, wenn es sich um Freundschaften innerhalb einer Familie handelt. Sind Sie eine Freundin der Familie, Miss Latterly?«
»Ich kenne Sir Olivers Vater, und ich mag ihn sehr«, antwortete Hester wahrheitsgemäß.
Mrs. Trowbridge murmelte etwas Unverständliches.
Rathbone verneigte sich, bot Hester seinen Arm und führte sie zu einer anderen Gruppe von Leuten, die meisten davon Männer in mittleren Jahren und offensichtlich wohlhabend.
Er stellte Hester einem nach dem anderen vor, jedesmal ohne irgendeine Erklärung zu geben.
Als sie ihre Plätze eingenommen hatten und sich der Vorhang zum ersten Akt hob, waren Hesters Gedanken in Aufruhr. Sie hatte die Spekulationen in den Augen dieser Leute gesehen. Rathbone wußte genau, was er tat.
Jetzt saß sie neben ihm in der Loge und konnte sich des Dranges nicht erwehren, ihn zu betrachten, statt zur Bühne zu sehen. Sie versuchte, in dem schwachen Licht in seinen Zügen zu lesen. Er schien entspannt zu sein, und wenn er überhaupt eine Regung verriet, dann vielleicht eine Spur Belustigung. Ein kaum merkliches Lächeln lag um seine Lippen. Als sie jedoch einen Blick auf seine Hände warf, sah sie, daß er sie ständig bewegte, ganz leicht nur, aber es vermittelte doch den Eindruck, als sei er außerstande, sie still zu halten. Er war nervös, weshalb auch immer.
Hester richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne, aber ihr Herz schlug so heftig, daß sie meinte, es beinahe hören zu können. Sie beobachtete die Schauspieler und hörte alles, was sie sagten, aber einen Augenblick später hätte sie sich an kein einziges Wort mehr erinnern können. Sie dachte an ihren ersten Theaterbesuch mit Rathbone. Damals hatte sie viel mehr geredet, wahrscheinlich zu viel, sie hatte unverblümt ihre Meinung zu den Dingen geäußert, die ihr am meisten am Herzen lagen. Rathbone war höflich gewesen, wie er es immer sein würde, alles andere wäre unter seiner Würde gewesen. Aber sie hatte die Kühle in ihm gespürt, eine gewisse Distanziertheit, als wolle er sicherstellen, daß seine Freunde nicht zu viel in seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber hineindeuteten. Sein konventionelles Wesen beklagte ihren Freimut, auch wenn es ihre Courage bewunderte und sie am Ende für dieselben Ziele kämpften, nur auf unterschiedliche Weise.
Aber in der Zwischenzeit hatte er Zorah Rostova verteidigt und damit beinahe seine Karriere ruiniert. Er hatte hautnah die Grenzen der Urteilsfähigkeit und die Intoleranz seines eigenen Berufsstandes erlebt, hatte erfahren, wie schnell die Gesellschaft ihre Loyalität ins Gegenteil verkehren konnte, wenn gewisse Grenzen überschritten wurden. Mitleid und Überzeugung waren keine Entschuldigung. Er hatte gesprochen, ohne zuvor die Konsequenzen abzuwägen, einfach, weil es seine Meinung gewesen war. Plötzlich standen er und Hester auf derselben Seite des Abgrunds, der sie zuvor getrennt hatte.
War es das Bewußtsein um diese Tatsache, ein Gefühl, das ihn gleichzeitig erschreckte und beglückte?
Hester wandte den Kopf, um ihn noch einmal anzusehen, und stellte fest, daß er sie ebenfalls anblickte. Sie wußte, wie dunkel seine Augen waren, und dennoch verblüffte sie jetzt die Wärme darin. Sie lächelte, schluckte dann und wandte sich wieder der Bühne zu. Sie mußte Interesse heucheln, damit sie nachher zumindest wußte, wovon das Stück handelte. Hester hatte nicht die leiseste Ahnung. Sie hätte weder den Helden noch den Schurken identifizieren können – vorausgesetzt, es gab einen Helden und einen Schurken.
Als dann die Pause kam, stellte sie fest, daß sie lächerlich gehemmt war.
»Gefällt Ihnen das Stück?« fragte er, als er sie durchs Foyer begleitete, dorthin, wo die Erfrischungen serviert wurden.
»Ja, vielen Dank«, antwortete sie und hoffte, daß er sie nicht in ein Gespräch über die Handlung verstrickte.
»Und wenn ich Ihnen erzählte, daß ich dem Geschehen auf der Bühne nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet habe, daß meine Gedanken in eine andere Richtung abgeirrt sind, könnten Sie mir dann sagen, was ich verpaßt habe?« fragte er sanft.
»Damit ich den zweiten Akt besser verstehe?«
Sie dachte hastig nach. Sie mußte sich darauf konzentrieren, was er sagte, nicht darauf, was er möglicherweise meinte – oder vielleicht nicht meinte! Hester durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen und sie damit vielleicht beide in Verlegenheit bringen. Dann würden sie ihre Freundschaft nicht mehr aufrechterhalten können. Es wäre vorbei, auch wenn keiner von ihnen es aussprach, und es wäre sehr schmerzlich. Mit einiger Überraschung wurde ihr klar, wie sehr es weh tun würde.
Sie sah Rathbone mit einem Lächeln an, das recht beiläufig war, aber nicht so flüchtig, daß es einstudiert oder kühl hätte wirken können.
»Haben Sie einen Fall, der Ihnen Schwierigkeiten bereitet, einen neuen Fall?«
Würde er sich in diese Entschuldigung flüchten, oder hatte sie damit ohnehin die Wahrheit getroffen?
»Nein«, sagte er, ohne zu zögern. »Wahrscheinlich hat es in gewissem Sinne mit dem Gesetz zu tun, aber es ist bestimmt nicht der juristische Aspekt der Angelegenheit, der mir gerade durch den Kopf ging.«
Diesmal sah sie ihn nicht an. »Der juristische Aspekt? Wovon?«
»Von der Angelegenheit, die mir Kopfzerbrechen bereitet.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie durch das Gedränge zurückzuführen, und sie spürte, wie die Wärme seiner Berührung sie durchströmte. Es war ein Gefühl der Sicherheit und beunruhigend angenehm. Warum sollte ein angenehmes Gefühl sie beunruhigen? Lächerlich!
Weil es so einfach gewesen wäre, sich daran zu gewöhnen. Die wohltuende Süße dieses Gefühls war eine überwältigende Versuchung. Es war, als käme man ins Sonnenlicht, wo man plötzlich merkte, wie sehr man zuvor gefroren hatte.
»Hester?«
»Ja?«
»Vielleicht ist das nicht der beste Ort, aber…«
Bevor er seinen Satz beenden konnte, trat ein hochgewachsener Mann mit flatterndem, silberweißem Haar und onkelhaftem Gehabe an ihn heran.
»Meine Güte, Rathbone, Sie müssen ja meilenweit weg sein mit Ihren Gedanken. Ich schwöre, ich habe Sie an einem halben Dutzend Bekannter vorbeigehen sehen, als wüßten Sie nicht einmal von deren Existenz! Darf ich das Ihrer charmanten Begleiterin zuschreiben oder einem besonders schwierigen Fall?
Sie scheinen sich wirklich immer die vertracktesten Gerichtsfälle herauszusuchen.«
Rathbone blinzelte kaum merklich. Es war eine winzige Geste, die man bei ihm nur in sehr wenigen Situationen beobachten konnte.
»Der Grund für meine Geistesabwesenheit liegt natürlich bei meiner Begleiterin«, antwortete er ohne Zögern. »Hester, darf ich Ihnen Richter Charles vorstellen? Miss Hester Latterly.«
»Ah!« sagte Charles zufrieden. »Jetzt erkenn ich Sie auch, Madam. Sie sind die bemerkenswerte junge Dame, die im Fall Rostova entscheidende Beweise beigebracht hat. Sie waren doch auf der Krim, nicht wahr? Ganz außerordentlich! Wie die Welt sich doch verändert. Nicht, daß ich besonders erpicht auf den Wandel wäre, aber ich habe da wohl keine Wahl. Man muß das Beste daraus machen, wie?«
Instinktiv hätte Hester unverzüglich nachgehakt und ihn gefragt, was er meinte. Mißfiel es ihm, daß Frauen die Gelegenheit bekamen, einen solchen Beitrag zu leisten, wie Florence Nightingale es getan hatte? Daß sie ein Stück Freiheit für sich eroberten? Daß sie ihr Wissen, ihre Autorität und die damit verbundene Macht nutzten, und sei es auch nur vorübergehend? Eine solche Einstellung machte sie wütend.
So etwas war antiquiert, blind und verwurzelt in Privilegien und Ignoranz. Es war schlimmer als ungerecht, es war gefährlich. Es war genau die Art verblendeter Dummheit, die im Krimkrieg untauglichen Männern das Kommando in die Hand gelegt und zahllose Menschen das Leben gekostet hatte.
Hester holte bereits Luft, um ihre Attacke zu beginnen, als ihr bewußt wurde, wo sie sich befand. Rathbone stand dicht neben ihr; er berührte sogar ihren Ellbogen. Mit einem leisen Seufzen atmete sie tief durch. Ein solches Verhalten ihrerseits wäre ihm furchtbar peinlich gewesen, auch wenn er teilweise ihrer Meinung war.
»Ich fürchte, in dieser Situation sind wir alle, Sir«, antwortete sie freundlich. »Es gibt viele Dinge, die mir ganz und gar nicht gefallen, aber ich habe bisher noch keine Möglichkeit gefunden, etwas daran zu ändern.«
»Was gewiß nicht auf mangelnde Initiative zurückzuführen ist!« bemerkte Rathbone trocken, nachdem sie Richter Charles einen guten Abend gewünscht hatten und ein paar Schritte weitergegangen waren. »Sie waren ausgesprochen taktvoll mit ihm! Ich habe fest damit gerechnet, daß Sie ihm wegen seiner altmodischen Ansichten gründlich die Leviten lesen würden.«
»Glauben Sie, er hätte seine Meinung auch nur um ein Jota geändert?« fragte sie und sah ihn mit großen Augen an.
»Nein, meine Liebe, das glaube ich nicht«, antwortete Rathbone mit einem Lächeln. »Aber ich habe noch nie zuvor erlebt, daß solche Bedenken Sie aufgehalten hätten.«
»Dann verändert die Welt sich vielleicht wirklich?« meinte sie.
»Bitte lassen Sie nicht zu, daß sie sich allzusehr verändert«, sagte er mit einer Sanftheit, die sie in Erstaunen setzte. »Ich weiß taktvolles Leben zu schätzen – es hat durchaus seinen Platz –, aber es würde mir nicht gefallen, wenn Sie selbst sich ändern würden. Ich mag Sie genau so, wie Sie sind.« Er strich sachte mit den Fingern über ihre Hände. »Selbst wenn es mich manchmal erschreckt. Vielleicht ist es gut, ab und zu ein wenig aufgerüttelt zu werden? Man wird sonst vielleicht zu selbstzufrieden.«
»Ich habe Sie nie für selbstzufrieden gehalten!«
»Doch, das haben Sie durchaus. Aber ich versichere Ihnen, wenn Sie mir in der jetzigen Situation Selbstzufriedenheit unterstellen würden, lägen Sie vollkommen falsch. Ich habe mich noch nie in meinem Leben weniger wohlgefühlt oder weniger selbstsicher.«
Plötzlich war auch sie verunsichert. In ihrer Verwirrung mußte sie an Monk denken. Sie mochte Rathbone sehr, er hatte etwas an sich, das unschätzbar war. Monk war ein schwieriger Mensch, unnachgiebig, bisweilen despotisch und kalt. Aber sie konnte sich nicht von ihm abwenden. Sie wollte nicht, daß Rathbone irgend etwas sagte, das eine Entscheidung von ihr forderte.
Ihr Herz schlug wieder langsamer. Sie lächelte und hob die Hand, um Rathbone über die Wange zu streichen.
»Dann lassen Sie uns das Gestern und das Morgen vergessen und einfach das Wissen genießen, daß dieser Abend eine Insel der Freundschaft und eines Vertrauens ist, an dem nicht der geringste Zweifel bestehen kann. Ich habe auch keine Ahnung, worum es bei dem Stück geht, aber da das Publikum alle paar Sekunden lacht, muß es wohl so witzig sein, wie die Kritiker behaupten.«
Er holte tief Atem und erwiderte ihr Lächeln. Seine Züge entspannten sich plötzlich. Er beugte sich vor, nahm ihre Hand, die an seiner Wange ruhte, und führte sie an die Lippen.
Als Dr. Wade am nächsten Tag vorbeikam, befand er sich in Begleitung seiner Schwester Eglantyne, die Sylvestra mit derselben Anteilnahme begegnete wie zuvor. Die beiden Frauen verband eine Art stillschweigenden Verständnisses, das Hester inzwischen mehr zu schätzen wußte als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Anfangs hatte Hester den Eindruck gehabt, als wisse die andere Frau nicht recht, was sie sagen sollte. Nachdem sie sie nun jedoch ein wenig genauer kennengelernt hatte, schien es ihr statt dessen, als sei Eglantynes Schweigen dem Wissen entsprungen, daß Worte nichts bewirken konnten, daß sie am Ende nur bagatellisieren konnten, was zu groß für das menschliche Fassungsvermögen war. Nachdem sie gemeinsam in den Salon gegangen waren, warf Hester einen Blick auf Corriden Wade. Er war unübersehbar müde, und die Anstrengung zeigte sich in den dünnen Linien der Erschöpfung um seinen Mund und um die Augen. Seine Haltung war nicht mehr von derselben Energie geprägt wie zuvor.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Dr. Wade?« fragte sie ernst. »Es muß doch die Möglichkeit geben, wie ich Ihre Last ein wenig leichter machen könnte? Sie haben gewiß noch viele andere Patienten, sowohl im Hospital als auch in Ihren eigenen Häusern.« Sie sah ihm forschend in die Augen. »Wann haben Sie das letzte Mal an sich selbst gedacht?«
Er starrte Hester an, als wisse er im Augenblick nicht recht, wovon sie sprach.
»Dr. Wade?«
Wade lächelte, und sein Gesicht verwandelte sich vollkommen. Die Niedergeschlagenheit und die Besorgnis verschwanden, obwohl nichts die Müdigkeit in seinen Zügen verhüllen konnte.
»Wie großzügig von Ihnen, Miss Latterly«, sagte er leise.
»Ich entschuldige mich dafür, daß ich meine eigenen Gefühle so offen zur Schau getragen habe. Das ist ein Benehmen, das ich weder erstrebe noch akzeptabel finde. Ich gebe zu, daß dieser Fall mich sehr mitnimmt. Wie Sie zweifellos beobachtet haben werden, sind sowohl meine Schwester als auch ich der ganzen Familie sehr verbunden.« Ein Schatten des Schmerzes schimmerte in seinen Augen auf, und seine eigene Überraschung über diese Regung war unverkennbar. »Es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, daß Leighton tot ist. Ich kannte ihn seit vielen Jahren. Wir hatten sehr viel gemeinsam. Daß das alles so enden mußte…« Er holte tief Atem. »So tragisch! Es ist furchtbar. Rhys ist viel mehr für mich als ein Patient. Ich weiß …«, er machte eine knappe Handbewegung, »ich weiß, daß ein guter Arzt oder eine gute Krankenschwester sich nicht gestatten sollte, persönliche Anteilnahme an einem Patienten zu nehmen. Das kann die Urteilskraft beeinträchtigen, so daß sie dem Patienten nicht mehr die bestmögliche Pflege bieten können. Verwandte können Mitleid, moralische Unterstützung und Liebe anbieten. Von uns werden keine Gefühle erwartet, sondern die beste medizinische Behandlung. Ich weiß das genausogut wie jeder andere. Trotzdem kann ich nicht umhin, mir Rhys’ Not zu Herzen zu nehmen.«
»Mir geht es da nicht anders«, gestand sie. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns erwartet, daß wir gefühllos sind. Wie könnten wir unsere Zeit der Pflege Kranker und Verletzter widmen, wenn wir ihnen gegenüber gleichgültig wären?«
Wade sah sie sekundenlang durchdringend an.
»Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Miss Latterly. Natürlich haben Sie recht. Ich werde jetzt zu Rhys hinaufgehen. Vielleicht möchten Sie den Damen Gesellschaft leisten, und…«
»Ja?« Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, daß er Rhys allein zu untersuchen pflegte, und stellte dieses Verfahren nicht mehr in Frage.
»Bitte, machen Sie ihnen keine allzu große Hoffnung. Ich weiß nicht, ob Rhys so gute Fortschritte macht, wie ich es gern gesehen hätte. Seine äußeren Verletzungen heilen, aber er scheint keine Energie zu haben, keinen Willen, gesund zu werden. Er wird kaum kräftiger, und das beunruhigt mich. Können Sie mir sagen, ob ich irgend etwas übersehen habe, Miss Latterly?«
»Nein. Nein, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber es geht mir nicht anders als Ihnen. Ich habe ebenfalls gehofft, daß er nach und nach den Wunsch verspüren würde, ein wenig länger aufrecht zu sitzen oder sogar eine Weile in einem Sessel zu verbringen. Er ist immer noch sehr schwach und kann auch nicht so viel essen, wie ich erwartet hatte.«
Wade seufzte. »Vielleicht haben wir uns zu viel erhofft. Aber achten Sie auf Ihre Worte, Miss Latterly, sonst werden wir seiner Mutter unbeabsichtigt vielleicht noch mehr Schmerz bereiten.« Dann ging er mit einer knappen Verneigung an ihr vorbei die Treppe hinauf und verschwand im oberen Korridor.
Hester ging zum Salon und klopfte an. Sie fürchtete ein wenig, daß sie die beiden Damen in einem Augenblick störte, in dem sie lieber miteinander allein gewesen wären, doch sie wurde sofort hineingebeten und mit durchaus echt wirkender Freude begrüßt.
»Treten Sie doch bitte ein, Miss Latterly«, sagte Eglantyne herzlich. »Mrs. Duff erzählte mir gerade von Amalias Brief aus Indien. Es scheint dort außerordentlich schön zu sein, trotz der Hitze und der Krankheiten. Manchmal bedaure ich, daß es so viele Länder gibt, die ich niemals sehen werde. Mein Bruder ist natürlich viel gereist.«
»Er war Marinearzt, nicht wahr?« Hester nahm in dem ihr angebotenen Sessel Platz. »Er hat mir gegenüber einmal davon gesprochen.«
Eglantyne sah sie mit höflicher Miene an. Ihrem Gesicht war abzulesen, daß die frühere Tätigkeit ihres Bruders sie nicht an Gefahr, persönlichen Mut und furchtbare Bedingungen denken ließ, wie es bei Hester der Fall war. Aber wie hätte es auch anders sein können? Eglantyne Wade hatte wahrscheinlich niemals Schlimmeres mit angesehen als einen geringfügigen Kutschenunfall, hier und da einen gebrochenen Knochen oder eine leichte Schnittwunde. Was mochte es sein, das sie bekümmerte? Langeweile, ein Gefühl, daß das Leben verstrich, ohne sie wirklich berührt zu haben? Die vage Furcht, niemandem wirklich von Nutzen gewesen zu sein? Man konnte beinahe mit Sicherheit davon ausgehen, daß sie einsam war, daß sie vielleicht eine unglückliche Romanze hinter sich hatte, daß sie die Liebe kennengelernt und verloren, vielleicht aber auch nur davon geträumt hatte. Sie war hübsch, sehr hübsch sogar, und sie schien von freundlichem Wesen zu sein. Aber um einen Mann wie Corriden Wade zu verstehen, genügte das nicht.
Eglantyne wich Hesters Blick aus. »Ja, er spricht gelegentlich davon. Er glaubt fest daran, daß die Marine und das Leben auf See den Charakter eines Menschen stärken. Er sagt, dies sei die Art und Weise, wie die Natur eine Rasse veredelt. Zumindest glaube ich, daß er sich so ausgedrückt hat.« Das Thema schien sie nicht besonders zu interessieren. Ihre Stimme klang leblos, ohne einen Anflug von Begeisterung oder Anteilnahme.
Sylvestra sah kurz zu ihr auf, als spüre sie irgendein Gefühl, vielleicht Einsamkeit, hinter ihren Worten.
»Würden Sie gern reisen?« fragte Hester, um das Schweigen zu brechen.
»Ja, zumindest denke ich das manchmal«, antwortete Eglantyne langsam, als müsse sie sich auf die höflichen Umgangsformen einer solchen Konversation besinnen. »Ich weiß aber nicht, wohin. Fidelis, Mrs. Kynaston, spricht manchmal davon. Aber es ist natürlich nur ein Traum. Trotzdem macht es einem immer wieder Freude, Reiseberichte zu lesen, nicht wahr? Ich nehme an, Sie lesen Rhys viel vor?«
Sie unterhielten sich noch fast eine ganze Stunde lang und kamen dabei auf ein Dutzend Dinge zu sprechen, ohne eines davon näher zu erörtern.
Schließlich kehrte Corriden Wade mit tiefernster Miene zurück, und in seinem Gesicht waren tiefe Furchen zu sehen, als sei er der Erschöpfung nahe. Er schloß die Tür hinter sich und kam zu ihnen.
Schweigend beugte Eglantyne sich vor und griff nach Sylvestras Hand. Sylvestra klammerte sich so fest an sie, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Es tut mir leid, Sylvestra«, sagte Wade leise. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Rhys’ Genesung nicht so gut voranschreitet, wie ich es gern sähe. Wie Miss Latterly Ihnen zweifellos bereits erklärt hat, verheilen seine äußeren Wunden recht gut. Es hat sich kein Eiter gebildet, und es besteht auch keinerlei Gefahr von Wundbrand. Aber was die inneren Verletzungen betrifft, können wir nicht sicher sein. Manchmal nehmen Organe Schaden, ohne daß wir etwas darüber wissen. Ich kann nichts für ihn tun, außer ihm Beruhigungsmittel zu verschreiben, die ihm möglichst viel Ruhe schenken. Überdies benötigt er einfaches Essen, das nahrhaft und leicht verdaulich ist.«
Sylvestra blickte mit erschütterter Miene zu ihm auf.
»Wir müssen abwarten und weiter hoffen«, sagte Eglantyne sanft. Sie sah erst Sylvestra, dann ihren Bruder und schließlich wieder Sylvestra an. »Zumindest hat sich sein Zustand nicht verschlechtert, und allein dafür müssen wir schon dankbar sein.«
Sylvestra versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch mißlang.
»Warum spricht er nicht?« fragte sie flehentlich. »Sie haben gesagt, er habe keinerlei Verletzungen davongetragen, die Stummheit bewirken können. Was ist los mit ihm, Corriden? Warum hat er sich so furchtbar verändert?«
Wage zögerte. Er blickte zu seiner Schwester hinüber, holte dann Atem, als wolle er antworten, und schwieg schließlich doch.
»Warum?« fragte Sylvestra, lauter diesmal.
»Ich weiß es nicht«, sagte er hilflos. »Ich weiß es nicht, und, meine liebe Freundin, Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß wir es vielleicht niemals erfahren werden. Vielleicht wird er sich nur dann erholen, wenn er alles Geschehene vollkommen vergessen kann und das Leben noch einmal ganz von vorne beginnt. Möglicherweise wird es mit der Zeit tatsächlich so kommen.« Er drehte sich zu Hester um und sah sie fragend an.
Hester konnte nicht antworten. Alle Blicke ruhten auf ihr, als erwarteten die drei anderen Menschen im Raum, daß sie ihnen irgendeine Hoffnung würde anbieten können. Sie wünschte sich so sehr, ihnen helfen zu können, aber andererseits – wenn sich ihre Zuversicht als irrig erwies, wieviel schwerer würde es dann erst für sie sein? Oder zählte im Augenblick nichts als die Notwendigkeit, den heutigen Abend und den morgigen Tag zu überstehen? Immer einen Schritt nach dem anderen.
»Das ist durchaus möglich«, gab sie dem Arzt schließlich recht. »Zeit und Vergessen könnten seinen Geist heilen, und sein Körper wird folgen.«
Sylvestra entspannte sich und blinzelte, um gegen die Tränen zu kämpfen. Überraschenderweise schien sogar Corriden Wade angenehm berührt von Hesters Antwort zu sein.
Hester erhob sich. »Ich muß jetzt zu ihm gehen und nachsehen, ob ich etwas für ihn tun kann. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen?«
Die Geschwister Wade und Sylvestra murmelten einige zustimmende Worte, und Hester verließ mit einem kurzen Abschiedswort den Raum und eilte die Treppe hinauf. Rhys lag zusammengekrümmt im Bett, die Laken waren zerwühlt, und an der Tür stand eine halb mit einem Tuch verdeckte Schale voller blutbefleckter Verbände. Rhys zitterte, obwohl er bis zur Brust zugedeckt war, und das Feuer prasselte.
»Soll ich Ihr Bett frisch beziehen…« begann sie.
Er starrte sie mit flammenden Augen und einem solchen Zorn an, daß sie mitten im Satz abbrach. Sein Blick war so wild, daß sie glaubte, er würde versuchen, nach ihr zu schlagen, wenn sie ihm nur nahe genug käme. Hester blieb, wo sie war, denn er durfte sich auf keinen Fall seine gebrochenen Hände weiter verletzen.
Was war geschehen? Hatte Dr. Wade ihm erzählt wie ernst sein Zustand war? War ihm plötzlich klargeworden, daß er sich vielleicht nie wieder erholen würde? War dieser Zorn seine Art und Weise, einen Schmerz zu verbergen, den er nicht ertragen konnte? Hester hatte schon früher solchen Zorn erlebt – nur allzuoft.
Oder hatte Dr. Wade ihm bei seiner Untersuchung weh tun müssen, um sich seine Verletzungen sorgfältiger ansehen zu können? Entsprangen die Wut in seinen Augen und die Tränenflecken auf seinen Wangen unerträglichem Schmerz und der Demütigung, nicht in der Lage gewesen zu sein, seiner Idealvorstellung von Tapferkeit gerecht zu werden?
Wie konnte sie Rhys nur helfen?
Vielleicht war überflüssiges Getue im Augenblick das letzte, was er wollte. Möglicherweise waren sogar ein zerwühltes Bett und verschwitzte, blutbefleckte Laken besser als die Einmischung eines Fremden, der seinen Schmerz nicht teilen konnte.
»Wenn Sie mich brauchen, werfen Sie die Glocke um«, sagte sie leise und sah sich um, um sicherzugehen, daß die Glocke in seiner Reichweite stand. Aber die Glocke war nicht da. Hester ließ ihren Blick durchs Zimmer wandern, bis sie die Glocke schließlich auf der Kommode entdeckte. Wahrscheinlich hatte Dr. Wade sie weggestellt, weil er den Nachttisch für seine Instrumente oder die Schale benutzen wollte. Sie stellte die Glocke wieder an ihren gewohnten Platz. »Ganz gleich, wie spät es ist«, sagte sie. »Ich werde kommen.«
Rhys starrte sie an. Er war immer noch wütend, immer noch gefangen in seinem Schweigen. Tränen sprangen ihm aus den Augen, und er wandte sich von ihr ab.