8

Monk ging rasch die Brick Lane hinunter. Er mußte noch einmal mit Vida Hopgood sprechen, bevor er den Fall weiter verfolgte. Sie hatte das Recht, von Runcorns Weigerung zu erfahren, die Polizei in diese Sache einzuschalten, und das trotz der wachsenden Beweise dafür, daß eine Reihe von zunehmend gewalttätigen Verbrechen verübt worden waren. Monk war immer noch wütend, wenn er an die Begegnung mit Runcorn dachte, um so mehr, als er sich halb und halb eingestehen mußte, daß Runcorn recht hatte und daß er selbst an dessen Stelle dieselbe Entscheidung getroffen haben könnte. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil andere Dinge Vorrang hatten. Er hatte zu wenig Leute, und bei Verbrechen in Gebieten wie Seven Dials konnten sie nur die Spitze des Eisbergs ergründen. Diese Tatsache war eine billige Ausrede, um Menschen wie Vida Hopgood zu ignorieren, aber es war zahllosen anderen Opfern gegenüber ebenso ungerecht, Männer an Orten einzusetzen, an denen sie im Grunde nichts ausrichten konnten.

Monk klopfte an Vida Hopgoods Tür. Es war seiner Meinung nach eine gute Zeit für einen Besuch, und sie würde gewiß zu Hause sein. Mit einem Gefühl der Erleichterung dachte er an die Wärme ihres Feuers und, wenn er Glück hatte, an eine heiße Tasse Tee.

»Sie schon wieder«, sagte Vida, als sie ihn sah. »Sie machen immer noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, also haben Sie wahrscheinlich noch nichts Nützliches rausgefunden. Na, dann kommen Sie mal rein. Es wird nicht wärmer hier drin, wenn Sie noch lange da rumstehen!« Sie ging durch den Korridor und überließ es ihm, die Tür zu schließen, bevor er ihr folgte.

Monk zog seinen Mantel aus und setzte sich unaufgefordert vor das Feuer im Salon, wo er sich die Hände rieb und sich über den Kamin beugte, um sich zu wärmen.

Vida nahm ihm gegenüber Platz, und ihr hübsches Gesicht mit den scharfen Augen hatte einen wachsamen Ausdruck.

»Sind Sie bloß gekommen, weil Sie zu Hause kein Feuer haben und sich wärmen wollten, oder gibt’s was Bestimmtes?«

Er hatte sich mittlerweile an ihr Benehmen gewöhnt. »Ich habe gestern Runcorn alles vorgelegt, was wir bisher in der Hand haben. Er stimmt mir zu, daß reichlich Beweise für ein Verbrechen vorliegen, meint aber, daß er die Polizei nicht einschalten wolle, weil kein Gericht gegen die Täter Anklage erheben, geschweige denn sie verurteilen würde.«

Monk sah sie an und wartete darauf, daß sich Verachtung und Schmerz in ihren Zügen zeigen würden.

Sie erwiderte seinen Blick aufmerksam, und in ihren Augen lag ein seltsames Glitzern, eine Mischung aus Wut, Belustigung und Schlauheit.

»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie damit rausrücken würden. Wollen Sie jetzt aufgeben, oder was wollten Sie mir damit sagen? Kommen Sie zur Sache!«

»Wenn ich aufgeben wollte, würde ich es sagen. Ich dachte, Sie kennen mich besser!«

Sie lächelte und verriet dabei einen Moment lang echte Erheiterung.

»Sie sind ein Bastard, Monk, aber manchmal könnte ich das glatt vergessen, jedenfalls wenn Sie kein Polyp wären. Ich könnte mich beinahe für Sie erwärmen. Beinahe.«

Er lachte. »Das wäre mir zu riskant!« sagte er obenhin. »Es könnte Ihnen plötzlich wieder einfallen, und wo bliebe ich dann?«

»Im Bett. Mit einem Messer im Rücken«, sagte sie lakonisch, aber die Wärme war noch nicht vollends aus ihren Augen gewichen, als hätte die ganze Idee durchaus einen gewissen Reiz für sie. Dann war der Augenblick der Nähe verflogen. »Also, was werden Sie wegen dieser armen Wesen, die da vergewaltigt worden sind, unternehmen? Wenn Sie die Sache noch nicht aufgegeben haben, was tun Sie dann als nächstes, hm? Werden Sie die Bastarde für uns finden?«

»Ich werde sie finden«, sagte er bedachtsam, wobei er jedem einzelnen Wort sein volles Gewicht gab. »Wie weit ich Sie ins Vertrauen ziehe, hängt jedoch ganz davon ab, was Sie deswegen zu unternehmen gedenken.«

Ihre Miene verdüsterte sich. »Hören Sie mal zu, Monk…«

»Nein, Sie hören zu!« unterbrach er sie. »Ich habe keine Lust, am Ende bei Ihrer Verhandlung auszusagen, nachdem man Sie des Mordes angeklagt hat. Und ich habe auch keine Lust, als Ihr Komplize mit auf der Anklagebank zu sitzen. Kein Geschworenengericht in London würde mir glauben, ich hätte nicht gewußt, was Sie mit meinen Informationen anfangen würden.«

Ein Ausdruck der Verwirrung huschte über ihre Züge, bevor offene Verachtung an seine Stelle trat. »Ich werde schon dafür sorgen, daß Sie nicht mit reingezogen werden«, sagte sie vernichtend. »Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Sagen Sie uns bloß, wer die Männer sind, den Rest erledigen wir. Wir werden niemals sagen, wie wir die Mistkerle gefunden haben.«

»Das ist bereits bekannt.«

»Ich sage den Bullen, Sie hätten’s nicht geschafft«, meinte sie mit einem Grinsen. »Wir hätten die Kerle selbst gefunden. Wird Ihren Ruf vielleicht ein bißchen ankratzen, aber Sie werden dafür dann auch nicht baumeln. Darum geht’s Ihnen doch, wie?«

»Machen Sie sich nichts vor, Vida. Wenn ich weiß, wer die Schuldigen sind, werden wir uns schon irgendwie darüber einigen, was wir deswegen unternehmen. Und wir werden es auf meine Weise tun, oder Sie werden nichts von mir erfahren.«

»Sie haben Geld, was?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ganz plötzlich können Sie es sich leisten, ohne Bezahlung zu arbeiten, wie? Da habe ich aber anderes gehört.«

»Das geht Sie nichts an, Vida.« Er sah ihr an, daß sie ihm nicht glaubte. »Vielleicht gibt es da eine reiche Frau im Hintergrund, die dafür sorgt, daß ich ein Dach überm Kopf und etwas zu essen im Magen habe.« Es stimmte. Callandra Daviot würde ihm helfen, wie sie es von Anfang an getan hatte, obwohl ihre Unterstützung ganz andere Gründe hatte als die, die Vida Hopgood nach seiner Bemerkung vermuten würde.

Vida riß erstaunt die Augen auf, dann begann sie zu lachen, ein volles, kehliges Aufwallen von Belustigung.

»Sie!« kicherte sie. »Sie haben sich eine reiche Frau gesucht, die Sie aushält! Das ist ja köstlich! So was Komisches hab ich mein Lebtag nicht gehört.« Aber diesmal schien sie Monk durchaus Glauben zu schenken, das verriet ihr Blick.

»Also, hier sind meine Bedingungen, Vida«, sagte er lächelnd. »Ich habe die Absicht, herauszufinden, wer die Verantwortung für diese Vergewaltigungen trägt. Dann verhandeln wir darüber, wie es weitergehen soll, und wieviel ich Ihnen erzähle, hängt von unserer Absprache ab.«

Sie schürzte die Lippen und musterte ihn schweigend, als versuche sie, seine Entschlossenheit, seine Willenskraft, seine Intelligenz abzuschätzen.

Er erwiderte ihren Blick ohne einen Wimpernschlag. Monk wußte nicht, wieweit sie ihn aus der Vergangenheit kannte, aber er spürte, daß sein Ruf in Seven Dials dafür sorgen würde, daß sie ihn nicht unterschätzte.

»Na schön«, sagte sie schließlich. »Ich nehme an, Sie werden die Bastarde schon nicht laufenlassen, sonst wäre es Ihnen nicht so wichtig, sie zu schnappen, ganz egal, ob ich Sie bezahle oder nicht. Aus irgendeinem Grund wollen Sie die Kerle unbedingt kriegen, genauso dringend wie ich.« Sie stand auf und trat zu einem kleinen Tisch, aus dessen Schublade sie zwei Guineen nahm. »Hier. Das ist alles, bis Sie mir etwas bringen, das uns weiterhilft, Monk. Und beeilen Sie sich. Bloß weil irgendeine Frau mit mehr Geld als Verstand ein Auge auf Sie geworfen hat, heißt das nicht, daß ich Sie den halben Abend in meinem besten Zimmer rumsitzen lasse.« Aber sie lächelte, während sie das sagte.

Monk dankte ihr und verabschiedete sich. Er ging langsam die Straße hinunter, die Hände tief in den Taschen vergraben. Je weiter er in den Fall eindrang, um so mehr verstärkte sich der Eindruck, daß Rhys Duff durchaus schuldig sein konnte. Eine Tatsache war ihm aufgefallen, von der er Vida Hopgood nichts erzählt hatte, daß nämlich von dem Abend an, an dem Rhys verletzt worden war, keine derartigen Verbrechen in Seven Dials mehr verübt worden waren. Die Übergriffe hatten langsam begonnen, mit kleinen Tätlichkeiten, die nach und nach einem Höhepunkt entgegenstrebten, bis sie schließlich in lebensbedrohlichen Angriffen geendet hatten. Und plötzlich hatten diese Dinge einfach aufgehört. Zehn Tage vor dem Angriff auf Leighton und Rhys Duff war es zu der letzten Vergewaltigung in Seven Dials gekommen.

Warum die zehn Tage? Die Abstände zwischen den vorangegangenen Überfällen waren kürzer gewesen. Was hatte die Täter so lange von Seven Dials ferngehalten? Gab es vielleicht ein Opfer, das er übersehen hatte? Nach seiner Theorie hätte es mindestens zwei weitere Frauen geben müssen.

Waren die Männer in einem anderen Bezirk gewesen? Man hatte Rhys in St. Giles gefunden. Hatten er und seine Freunde sich ein anderes Territorium gesucht, vielleicht, weil sie fürchteten, Seven Dials sei zu gefährlich für sie geworden? Das war eine Antwort, die durchaus zu Monks bisherigen Erkenntnissen paßte. Aber er mußte diese Theorie noch überprüfen.

Er drehte sich um und wandte sich wieder in westliche Richtung, bis er an eine Durchgangsstraße kam, wo er eine Droschke anhielt. Er hatte es nicht sehr weit, hätte den ganzen Weg in einer halben Stunde zu Fuß gehen können, aber plötzlich befiel ihn ein Gefühl der Ungeduld.

Monk stieg direkt hinter der Kirche von St. Giles aus und ging mit langen Schritten auf das erstbeste Wirtshaus zu. Er trat ein, setzte sich an einen der Tische, und wenige Minuten später wurde ein Becher Bier vor ihn hingestellt. Überall um ihn herum brandeten Stimmengewirr, Rufe und Gelächter auf, Menschen drängten sich zusammen, taumelten und benutzten die Ellbogen, um sich ihren Weg zu bahnen, während andere einander laute Grußworte oder freundschaftliche Neckereien zuriefen. Hier und da bekam Monk Bruchstücke von Gerüchten und Neuigkeiten mit, und an manchen Tischen wurden offensichtlich Geschäfte abgeschlossen. Hier fand man Hehler gestohlener Waren, Taschendiebe, Fälscher, die auf Kundschaft aus waren, Falschspieler, Glücksritter, Zuhälter.

Er beobachtete die bunt zusammengewürfelte Menge mit einem wachsenden Gefühl der Vertrautheit, als sei er schon einmal hier oder an einem Dutzend ähnlicher Orte gewesen. Monk erinnerte sich an die Lampe, die eine Spur schief hing und ein ungleichmäßiges Licht auf das Messinggitter über der Bar warf. Die Reihe der Haken, an denen die Kunden ihre Becher aufhängten, kippte auf der einen Seite ein wenig nach unten ab.

Ein relativ kleiner Mann mit einem verkümmerten Arm sah ihn an und machte seinem Gefährten mit dem Kopf ein Zeichen, woraufhin sie beide ihre Kragen aufstellten und hinaus gingen.

Ein blonder Mann mit einem schottischen Akzent ließ sich auf den Stuhl Monk gegenüber gleiten.

»Hier gibt’s nichts für Sie zu tun, Mr. Monk. Sagen Sie mir, worauf Sie aus sind, und ich höre mich mal um. Aber Sie wissen, es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie Ihr Bier nicht ausgerechnet in meinem Haus trinken müßten. Na schön, wir haben ab und zu mal einen Dieb hier, aber alles kleine Fische, da braucht einer wie Sie seine Zeit nicht drauf zu verschwenden.«

»Bei Mord sehe ich das anders, Jamie«, antwortete Monk sehr leise. »Und bei Vergewaltigung und gewalttätigen Angriffen auf Frauen ebenfalls.«

»Wenn Sie von den zwei Männern reden, die in der Water Lane gefunden wurden, da weiß keiner von uns, wer das gewesen ist. Wir hatten schon einen jungen Polizisten hier, der rumgefragt hat. Er hat bloß seine Zeit verschwendet, der arme Teufel. Und Constable Shotts, der hier aus der Gegend stammt, der müßte es eigentlich auch besser wissen. Aber warum sind Sie hier?« Sein breites, hübsches Gesicht war wachsam, und seine vor Jahren gebrochene und schief zusammengewachsene Nase und die großen, blauen Augen gaben ihm ein Aussehen, das seine Intelligenz Lügen strafte. »Und was hat die Sache mit Vergewaltigung zu tun?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Monk, bevor er einen weiteren Schluck von seinem Bier nahm. »Sind in den letzten ein oder zwei Monaten irgendwelche Frauen hier aus der Gegend vergewaltigt worden? Ich meine normale Frauen, Frauen, die in den Fabriken arbeiten und vielleicht ab und zu auf die Straße gehen, wenn die Dinge ein wenig klamm werden.«

»Warum? Und wenn es so wäre, was interessiert es Sie? Die Polizei schert sich doch keinen roten Heller um solche Dinge. Obwohl ich gehört habe, Sie wären gar nicht mehr bei der Polizei.« Ein Ausdruck der Belustigung huschte über seine Züge, und seine Lippen verzogen sich, als lache er ein lautloses Lachen.

»Sie haben richtig gehört«, antwortete Monk. Er war ganz sicher, daß er diesen Mann kannte. Er hatte dessen Namen ausgesprochen, ohne nachzudenken. Jamie… der Rest war ihm entglitten. Aber sie kannten einander gut, zu gut, um sich zu verstellen. Es war ein unbehaglicher Waffenstillstand, eine natürliche Feindschaft, die von gewissen gemeinsamen Interessen gedämpft wurde und von einem, wenn auch sehr dünnen, Faden des Respekts, in den sich auch ein Hauch Angst mischte. Jamie MacPherson war ein Raufbold und heißblütig; er trug einen inneren Groll mit sich herum, und er verachtete Feigheit und Selbstmitleid. Aber er stand treu zu seinesgleichen und war bei weitem zu intelligent, um grundlos zuzuschlagen oder gegen seine eigenen Interessen zu verstoßen.

Er lächelte jetzt, und seine Augen leuchteten. »Sie haben Sie rausgeschmissen, was? Runcorn. Das hätten Sie eigentlich kommen sehen müssen, Mann. Der hat lange darauf gewartet, es Ihnen heimzuzahlen.«

Monk spürte, wie ein kalter Schauer ihn durchlief. Der Mann kannte nicht nur ihn, sondern auch Runcorn, und er wußte mehr darüber, was zwischen ihnen vorgefallen war, als Monk selbst. Das Geplauder und Gelächter brandete um ihn herum wie eine aufgewühlte See, und er saß allein auf einer Insel seines eigenen Schweigens, abseits von allen anderen. Sie wußten Bescheid und er nicht.

»Ja«, pflichtete Monk Jamie bei, da er nicht wußte, was er sonst hätte sagen sollen. Er hatte die Kontrolle über das Gespräch verloren, und das passierte ihm nicht häufig. »Für den Augenblick«, fügte er hinzu. Er durfte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, daß er keine Größe mehr war, mit der man zu rechnen hatte.

MacPhersons Lächeln wurde breiter. »Ja, das ist sein Gebiet hier. Er wird nicht gerade glücklich sein, wenn Sie ihm seinen Fall abnehmen.«

»Er interessiert sich nicht dafür«, sagte Monk hastig. »Ich bin hinter den Vergewaltigern her, nicht hinter dem Mörder.«

»Und das ist nicht ein und dieselbe Person?«

»Nein, ich glaube nicht. Das heißt, einer vielleicht schon!«

»Sie reden Blödsinn, Mann«, sagte MacPherson schroff.

»Und Sie sollten mich gut genug kennen, um mich nicht zum Narren halten zu wollen. Sagen Sie mir, was Sache ist, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

Monk entschied sich sofort.

»Eine Frau in Seven Dials hat mich engagiert, herauszufinden, wer die Fabrikarbeiterinnen dort verprügelt und vergewaltigt. Ich bearbeite den Fall jetzt seit drei Wochen, und je mehr ich herausfinde, um so mehr bin ich davon überzeugt, daß die Sache mit dem Mord hier zusammenhängen könnte.«

»Aber Sie haben gerade gesagt, es wären nicht dieselben Leute gewesen!« MacPhersons blaue Augen wurden schmaler, aber er hörte immer noch aufmerksam zu. Er mochte Monk nicht, aber er hatte durchaus Respekt vor dessen Intelligenz.

»Ich glaube, der junge Mann, der den Angriff überlebt hat, könnte einer der Vergewaltiger gewesen sein«, erklärte Monk.

»Der Mann, der gestorben ist, war sein Vater…«

»Ja, so viel wissen wir selber.«

»Sein Vater, der erfahren oder erraten hatte, was er tat, folgte ihm, wurde in den Kampf verwickelt und war schließlich derjenige, der die schlimmsten Prügel abbekam.«

MacPherson schürzte die Lippen. »Was sagt denn Ihr junger Mann dazu?«

»Gar nichts. Er kann nicht sprechen.«

»Ach ja? Und warum nicht?« fragte MacPherson skeptisch.

»Schock. Aber es stimmt. Ich kenne die Krankenschwester, die ihn pflegt.«

MacPherson sah ihn eingehend an. »Also, was wollen Sie von mir?«

»Seit dem Mord hat es in Seven Dials keine Überfälle oder Vergewaltigungen mehr gegeben«, erwiderte Monk. »Das heißt, schon seit kurz davor nicht mehr. Ich muß wissen, ob die Männer sich ein neues Gebiet gesucht haben. Ob sie nach St. Giles gegangen sind.«

»Mir ist/nichts dergleichen zu Ohren gekommen«, sagte MacPherson mit gerunzelter Stirn. »Andererseits ist das eine Sache, über die die Leute nicht leicht reden. Da reicht es nicht, wenn Sie einfach hier hereinspazieren und danach fragen.«

»Das weiß ich. Aber mit ein wenig Unterstützung würde es nicht so lange dauern. Es hat nicht viel Sinn, in die Bordelle zu gehen, – es waren keine Berufsprostituierten, die vergewaltigt wurden. Es waren Frauen, die ab und zu etwas zusätzlich verdienen mußten.«

MacPherson schob die Unterlippe vor, und seine Augen glühten vor Zorn. »Keine Beschützer«, sagte er laut. »Leichte Beute. Wenn wir wüßten, wer die sind und die kämen nach St. Giles, dann war’s ihr letzter Ausflug. Die würden nicht wieder nach Hause kommen, das verspreche ich Ihnen.«

»Sie sind nicht der einzige, der die Kerle bestimmt nicht laufenlassen würde«, bemerkte Monk trocken. »Aber wir müssen sie finden, bevor wir etwas gegen sie unternehmen können.«

MacPherson sah ihn mit einem trostlosen Lächeln an, bei dem er die Zähne zeigte. »Ich kenne Sie, Monk. Sie mögen ein unangenehmer Bastard sein, aber Sie sind viel zu schlau, um einen Mord anzustiften, wenn man die Sache zu Ihnen zurückverfolgen könnte. Sie werden meinesgleichen gewiß nicht sagen, was Sie herausgefunden haben.«

Monk erwiderte das Lächeln, obwohl ihm keineswegs danach zumute war. Jedesmal, wenn er sprach, fügte MacPherson Monks Wissen über sich selbst einen neuen dunklen Aspekt hinzu. War er wirklich ein Mann gewesen, der andere glauben machte, er würde einen Mord dulden, jeden Mord, solange man ihn nicht zu ihm zurückverfolgen konnte? Konnte das die Wahrheit sein?

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen oder Vida Hopgood zu erlauben, persönliche Rache an den Tätern zu nehmen«, sagte er laut und mit eisiger Stimme. »Wenn das Gesetz nichts unternehmen will, gibt es noch andere Wege. Diese Männer sind keine kleinen Angestellten oder Krämer, die kaum etwas zu verlieren haben. Es sind wohlhabende Männer, die eine gewisse Stellung in der Gesellschaft innehaben. Sie zu ruinieren, wäre bei weitem wirksamer. Es wäre langsamer, qualvoller und absolut legal.«

MacPherson sah ihn prüfend an.

»Soll ihresgleichen sie bestrafen«, fuhr Monk ungerührt fort.

»Darauf verstehen diese Leute sich bestens. Glauben Sie mir. Sie haben es zu einer Kunst entwickelt.«

MacPherson schnitt eine Grimasse. »Sie haben sich nicht geändert, Monk. Ich hätte Sie nicht unterschätzen dürfen. Sie sind ein böser Teufel. Ich würde mich Ihnen nicht in den Weg stellen. Damals habe ich versucht, Runcorn vor Ihnen zu warnen, aber er war zu blind, um es zu sehen. Heute würde ich ihm raten, gut auf sich aufzupassen, nachdem er Sie rausgeworfen hat, aber es würde wieder nichts nutzen. Sie werden auf den richtigen Zeitpunkt warten, und dann werden Sie ihn kriegen, auf die eine oder andere Weise.«

Monk fror plötzlich. So hart er auch war, MacPherson hielt ihn für noch härter, noch skrupelloser. Er sah in Runcorn immer noch das Opfer. Er kannte nicht die ganze Geschichte. Er kannte nicht Runcorns gesellschaftlichen Ehrgeiz, seinen moralischen Wankelmut, wann immer eine Entscheidung seine eigene Karriere gefährden konnte, wußte nicht, welche Winkelzüge er gemacht hatte, um denen zu gefallen, die die Macht hatten. Ganz gleich, um welche Art von Macht es sich handelte. Er kannte seine Engstirnigkeit nicht, seinen Mangel an Phantasie, seine unbeschreibliche Feigheit, seine Niedertracht!

Aber andererseits kannte auch Monk selbst nicht die ganze Geschichte.

Und der schlimmste Gedanke von allen, der ihn bis auf die Knochen frieren machte – war Monk verantwortlich für das, wozu Runcorn geworden war? War es etwas, das er in der Vergangenheit getan und das Runcorns Seele verzerrt und verbogen hatte und ihn zu dem werden ließ, was er heute war?

»An wen wende ich mich?« sagte er laut. »Wer weiß, was in St. Giles vorgeht?«

Macpherson dachte ein oder zwei Sekunden lang nach.

»Da wäre zum einen Willie Snaith«, sagte er schließlich.

»Und dann die alte Bertha. Aber sie werden nicht mit Ihnen reden, es sei denn, jemand bringt Sie hin und verbürgt sich für Sie.«

»Das dachte ich mir«, antwortete Monk. »Begleiten Sie mich.«

»Ich?« MacPherson schien empört zu sein. »Ich soll mein Geschäft im Stich lassen? Und wer kümmert sich um dieses Lokal, wenn ich Ihre Arbeit tue?«

Monk nahm eine von Vidas Guineen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

MacPherson knurrte etwas Unverständliches. »Sie müssen verzweifelt sein«, sagte er dann trocken. »Warum? Was bedeutet es Ihnen, wenn ein paar erbärmliche Frauen vergewaltigt oder geprügelt werden? Erzählen Sie mir nicht, es wäre eine dabei, an der Ihnen was liegt!« Er sah Monk mit durchdringender Aufmerksamkeit an. »Da muß noch mehr dahinterstecken. Sind diese Bastarde Ihnen irgendwie krumm gekommen? Ist es das? Oder hat es immer noch mit Runcorn und der Polizei zu tun? Sie wollen die vorführen, was?«

»Ich habe es Ihnen doch bereits erklärt«, sagte Monk gereizt.

»Es ist kein Polizeifall.«

»Sie haben recht«, räumte MacPherson ein. »Das wäre auch unmöglich. Runcorn ist keiner, der so ein Risiko eingehen würde. Immer auf Nummer Sicher, immer vorsichtig. Nicht wie Sie!« Er lachte plötzlich auf und erhob sich dann. »Also schön. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Willie.«

Monk folgte ihm sofort.

Draußen, wieder mit schweren Überziehern bekleidet, ging MacPherson voran und führte Monk tiefer nach St. Giles hinein, in den alten Teil des Bezirks, der Anfang des Jahrhunderts unter dem Namen »Heiliges Land« bekannt gewesen war. Er ging nicht durch Straßen und Gassen, sondern durch Gänge zwischen den Häusern, die manchmal nicht mehr als einen Meter breit waren. An vielen Stellen herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Der Boden unter ihnen war naß von dem Wasser, das ständig von den Dächern heruntertropfte. Man hörte das Rascheln und Kratzen der Ratten, das Knirschen verrottenden Holzes. MacPherson blieb mehrmals stehen, und Monk, der ihn nicht sehen konnte, ging weiter und stieß mit ihm zusammen.

Zu guter Letzt kamen sie auf einen Hof, auf dem eine einzige, gelbe Gaslampe brannte, und ihr Licht schien im Vergleich zu der vorherigen Finsternis geradezu strahlend zu sein. Die Umrisse einer Holzhütte hoben sich scharf und schwarz gegen die Nacht ab, und Ziegelsteine und Mörtel warfen den Glanz des Gaslichtes zurück. Die nassen Pflastersteine leuchteten.

MacPherson warf kurz einen Blick hinter sich, um sich davon zu überzeugen, daß Monk noch da war, dann ging er über eine steinerne Treppe in einen Keller hinunter, wo eine Talgkerze in einer halbdurchgebrochenen, alten Flasche steckte. Die Kerze qualmte, spendete aber genug Licht, um den Eingang zu einem Tunnel zu zeigen, und MacPherson trat ohne Zögern hinein.

Monk folgte ihm. Eine scharfe Erinnerung an eine den Atem raubende, den Magen zusammenkrampfende Gefahr durchzuckte ihn, eine Erinnerung an plötzlichen Schmerz, dem tiefes Vergessen folgte. Er wußte, was es war. Das Gefühl kam aus der Vergangenheit, die er fürchtete, jener Zeit, da er und Runcorn vom Gesetz gesuchten Männern in genau solche Gebiete gefolgt waren. Damals hatte ihn Kameradschaft mit dem anderen Mann verbunden. Es hatte nicht den leisesten Groll seinerseits gegeben, das wußte er genau. Und er war der Gefahr in die Arme gelaufen, ohne auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, daß Runcorn da sein würde, um ihm den Rücken zu decken. Es war jene Art von Vertrauen gewesen, die sich aus Erfahrung gründete und kein einziges Mal enttäuscht worden war.

Jetzt folgte er Jamie MacPherson mit den breiten Schultern und dem breitbeinigen, leicht schaukelnden Gang, der den Eindruck erweckte, als sei der Mann in seiner Jugend zur See gefahren. Er hatte die Beweglichkeit eines Berufsboxers, und seine Fäuste waren stets bereit. Monk schätzte ihn auf Mitte Fünfzig, sein rotblondes Haar wurde an den Schläfen bereits schütter.

Wie lange war es her, daß er und Runcorn Seite an Seite hier gearbeitet hatten? Zwanzig Jahre? In dem Fall mußte Monk damals etwa Mitte Zwanzig gewesen sein, jung und von leidenschaftlicher Gerechtigkeitsliebe beseelt, vielleicht noch immer zu sehr von dem Zorn über die Ungerechtigkeit beherrscht, die seinem Freund und Mentor widerfahren war. Vielleicht war er zu ehrgeizig gewesen, um sich die Macht zu verschaffen, die es ihm ermöglicht hätte, das Unrecht zu sühnen.

MacPhersons Stimme kam aus der Dunkelheit vor ihm, um ihn vor einer Stufe zu warnen, und einen Augenblick später wäre er beinahe darüber gestolpert. Sie stiegen eine Treppe hinauf und kamen in eine anderes Kellergewölbe, diesmal mit einer beleuchteten Tür an der gegenüberliegenden Seite, die in einen weiteren Raum führte. MacPherson klopfte energisch an, einmal, dann viermal, und schließlich öffnete ihm ein Mann, dem das Haar wie Stacheln vom Kopf abstand. Sein Gesicht strahlte vor Lächeln. An der Hand, die er grüßend hochhielt, fehlte der dritte Finger.

»Na, da hol mich doch der Teufel, wenn das nicht Mr. Monk ist«, sagte er fröhlich. »Dachte, Sie wären tot. Was wollen Sie hier?«

»Er interessiert sich für die Vergewaltigungen drüben in Seven Dials«, erwiderte MacPherson, bevor Monk etwas sagen konnte.

Willie Snaith’s haselnußbraune Augen weiteten sich. Er hatte den Blick immer noch auf McPherson gerichtet. »Du hast mir nie erzählt, daß die Bullen da auch nur einen Pfifferling drum geben? Ich glaube das nicht. Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank, Mac? Du hast wohl vergessen, wer das ist, wie?«

»Er ist nicht mehr bei der Polizei«, erklärte MacPherson, während er weiter in dem Raum hineintrat und die Kellertür hinter sich zuzog. »Runcorn hat seine Rache anscheinend bekommen und ihn rausgeschmissen. Monk arbeitet allein. Und ich würde selber gerne wissen, wer das getan hat, denn es war keiner von uns hier. Es muß so’n feiner Pinkel oben aus dem Westen gewesen sein.«

»Na, wenn das nicht alles schlägt! Wie heißt es so schön? Man wird alt wie ‘ne Kuh und lernt immer noch dazu. Das heißt also, daß Monk in gewisser Weise für uns arbeitet! Daß ich das noch erleben darf!« Er stieß ein kehliges Lachen aus. »Und was wollt ihr dann von mir? Ich weiß nicht, wer es gewesen ist, sonst hätte ich die Sache selbst in die Hand genommen!«

»Ich möchte wissen, ob in den letzten drei Wochen Frauen vergewaltigt oder verprügelt worden sind«, antwortete Monk sofort. »Oder in den zwei Wochen davor.«

»Nein…«, sagte Snaith langsam. »Mir ist nichts Derartiges zu Ohren gekommen. Hilft Ihnen das weiter?«

»Nein, tut es nicht«, erwiderte Monk. »Ich hatte mir eine andere Antwort von Ihnen erhofft.« Dann wurde ihm klar, daß er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Eine andere Antwort hätte auf eine bestimmte Lösung hingedeutet, aber nicht auf die, die er sich wünschte. Er selbst hatte kein Interesse an Rhys Duff, aber er wußte, wie sehr das Ganze Hester berührte. Das hätte für ihn nicht von Belang sein dürfen. Was zählte, war die Wahrheit. Wenn Rhys Duff schuldig war, dann war er einer der brutalsten und gefühllosesten Männer, die Monk je gekannt hatte. In diesem Falle mußte er von einer Schlechtigkeit sein, von der man ihn unmöglich freisprechen konnte. Und was im Augenblick von noch größerer Bedeutung war, obwohl er selbst mit der Zeit durchaus genesen konnte, waren seine Spießgesellen. Er war nicht allein schuldig. Wer auch immer ihn begleitet hatte, war nach wie vor auf freiem Fuß und hatte wahrscheinlich immer noch Grausamkeiten und Gewalttaten im Sinn. Selbst wenn der Angriff auf Rhys die anderen vorübergehend eingeschüchtert hatte, würden die Verbrechen irgendwann von neuem beginnen. Ein solch ungeheuerlicher Sadismus ließ sich nicht durch ein einziges Ereignis, wie einschneidend es auch gewesen sein mochte, einfach auslöschen. Das Bedürfnis, anderen Gewalt anzutun, würde wieder aufleben und wieder befriedigt werden.

Snaith betrachtete Monk mit wachsendem Interesse.

»Sie haben sich verändert«, bemerkte er und nickte leicht.

»Keine Ahnung, ob es mir gefällt. Vielleicht ja. Sie sind nicht mehr so ein scharfer Hund wie damals und auch nicht mehr so hungrig. Mein Gott, waren Sie lästig. Viel mehr als Runcorn, der arme Teufel. Der hatte noch nie eine Nase für Lügen, der nicht. Aber er hat Ihnen geglaubt, wenn Sie die Wahrheit rochen. Und jetzt haben sie Ihre Nase verloren, wie?«

»Schwierige Fälle brauchen länger«, sagte Monk angespannt.

»Und wir alle verändern uns. Sie sollten Runcorn nicht unterschätzen. Er ist ebenfalls beharrlich, er setzt nur seine Schwerpunkte anders, das ist alles.«

Snaith grinste. »Der hat immer die größten Happen im Auge, das weiß ich, während Sie… Sie sind wie ein Hund mit einem Knochen. Würden niemals loslassen. Wenn man Ihnen den Kopf abschnitte, wären Ihre Zähne immer noch fest aufeinandergebissen! Sie mögen ein elender Bastard sein, aber Ihnen versalzt niemand zweimal die Suppe, nicht mal Ihre eigenen Leute.«

»Das haben Sie schon einmal gesagt!« fuhr Monk auf. Seine Hilflosigkeit machte ihn reizbar. »Habe ich Runcorn irgend etwas angetan, das er nicht verdient hätte?« Er formulierte die Frage mit einem aggressiven Unterton, als kenne er die Antwort nur allzugut, aber sein Magen krampfte sich zusammen, während er Snaith’s Gesicht im Gaslicht musterte und auf seine Erwiderung wartete. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor der andere sprach. Man konnte spüren, wie die Sekunden dahinglitten, und er hörte das Hämmern seines eigenen Herzens.

Snaith erwiderte Monks Blick ohne einen Wimpernschlag, ein Schatten lag über seinen runden, haselnußbraunen Augen, und seine Stirn war leicht gerunzelt. Noch bevor er sein Schweigen brach, wußte Monk, daß seine Antwort die sein würde, die er gefürchtet hatte.

»Ja, ich denke schon. Einen Feind vor sich zu haben, ist eine Sache, ihn im Rücken zu haben, ist was ganz anderes. Ich weiß nicht, was Sie ihm angetan haben, aber es hat ihn kaputtgemacht, und er hatte es nicht von Ihnen erwartet. Ich habe eine Menge daraus gelernt – über Sie. Danach habe ich Sie nie mehr unterschätzt. Sie sind ein harter Mistkerl, und das ist die Wahrheit.« Er holte Atem. »Aber wenn Sie das Schwein suchen, das über die Frauen in Seven Dials hergefallen ist, dann werde ich Ihnen helfen. Ich bin nicht wählerisch, wenn’s darum geht, jemanden auszunutzen. Fragen Sie mal Wee Minnie. Die alte Bertha weiß nichts. Suchen Sie Wee Minnie, und sagen Sie ihr, ich hätte Sie geschickt.«

»Sie wird mir nicht glauben«, wandte Monk ein.

»Doch, wird sie, denn wenn ich Ihnen nicht erkläre, wo Sie sie finden können, würden Sie den Rest ihres Lebens zwischen den Mietskasernen rumlaufen!«

»Das ist wahr«, pflichtete MacPherson ihm bei.

»Na schön, erklären Sie’s mir«, antwortete Monk.

Snaith schüttelte den Kopf. »Haben Sie eigentlich niemals Angst, Monk? Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß wir Ihnen die Kehle durchschneiden könnten, nur um der alten Zeiten willen?«

Monk erwiderte sein Grinsen. »Oh doch, mehrmals, und wenn Sie es tun, kann ich Sie nicht daran hindern. Ich habe mich zu tief nach St. Giles hineingewagt, um Hilfe zu schreien, selbst wenn ich mir einbildete, daß jemand darauf reagieren könnte. Aber Sie sind Geschäftsmann, das heißt, zumindest MacPherson ist einer. Sie wollen dasselbe wie ich.

Sie werden warten, bis ich es habe, bevor Sie mir etwas antun.«

»Manchmal könnte ich mir direkt vorstellen, Sie zu mögen« sagte Snaith, offensichtlich selbst überrascht. »Eins muß ich Ihnen lassen, scheinheilig waren Sie noch nie. Das jedenfalls haben sie Runcorn voraus.«

»Vielen Dank«, erwiderte Monk sarkastisch. »Also, wo finde ich diese Wee Minnie?«

Es war eine qualvolle Stunde, und Monk verirrte sich dreimal, bevor er endlich durch ein Tor schlüpfte, über einen gepflasterten Hof ging und an die Hintertreppe kam, die Snaith ihm beschrieben hatte. Die Treppe führte zu einer Reihe von Räumen, die ihn zu dem stickigen, überhitzten Salon führten, in dem er Wee Minnie fand. Sie saß auf einem Kissenstapel, ihr verhutzeltes Gesicht zu einem zahnlosen Lächeln verzogen, während die schwieligen Hände Stricknadeln aus Knochen klappern ließen. Sie arbeitete, ohne ihr Strickzeug ansehen zu müssen.

»Sie haben’s also gefunden«, bemerkte sie mit einem trockenen Kichern. »Ich dachte schon, Sie hätten sich verirrt. Sie wollen was über die Vergewaltigungen wissen, habe ich gehört?«

Er hätte wissen müssen, daß die Nachricht sie vor ihm erreichen würde.

»Ja.«

»Es waren zwei. Es war schlimm, so schlimm, daß nie eine ein Wort gesagt hat.«

»Das verstehe ich nicht. Wenn es so schlimm war, hätten die Frauen doch um so mehr Grund gehabt, etwas deswegen zu unternehmen, die Leute zu warnen, zusammenzubleiben… irgend etwas.«

Wee schüttelte den Kopf, ohne daß ihre Finger auch nur einen Augenblick lang ihren Rhythmus verloren hätten.

»Wenn man sie verprügelt, reden die drüber. Das ist nichts Persönliches. Aber Vergewaltigung, das ist was anderes.«

»Woher wissen Sie dann davon?«

»Ich weiß alles.« In ihren Worten schwang Befriedigung mit. Dann verhärtete sich ihre Stimme plötzlich, und ihre Augen nahmen einen grausamen Ausdruck an. »Vernichten Sie sie. Geben Sie sie uns, und wir werden sie vierteilen, wie man das in den alten Tagen gemacht hat. Mein Großvater hat mir davon erzählt. Man knüpft sie auf, und beim Tor der Hölle, genau das werden wir mit denen machen!«

»Ob ich wohl mit den Frauen sprechen könnte, die vergewaltigt worden sind.?«

»Ob Sie was könnten?« fragte sie ungläubig.

»Kann ich mit den Frauen sprechen?« wiederholte er. Wee fluchte leise.

»Ich muß sie über die Männer befragen. Ich muß sicher sein, daß es dieselben waren. Sie könnten sich an irgend etwas erinnern, an ein Gesicht, eine Stimme, vielleicht sogar einen Namen, den Stoff der Kleider, irgend etwas.«

»Es waren dieselben Männer«, sagte Wee mit absoluter Gewißheit. »Sie waren zu dritt. Ein großer, einer etwas schwerer und einer eher auf der mageren Seite.«

Monk versuchte, das Gefühl des Triumphes aus seiner Stimme herauszuhalten. »Wie alt waren sie?«

»Wie alt? Keine Ahnung. Wissen Sie es denn nicht?«

»Ich glaube, daß ich es weiß. Wann waren diese Überfälle?«

»Was?«

»Vor dem Mord in der Water Lane oder danach?«

Wee sah Monk mit leicht schiefgeneigtem Kopf an wie ein verhutzelter alter Spatz.

»Davor natürlich. Seither ist nichts mehr vorgefallen. Kein Wunder, oder?«

»Ja, ich denke, Sie haben recht.«

»Dann war es also einer von denen, der, der getötet wurde?« fragte sie mit Befriedigung.

»Einer von ihnen.« Monk machte sich nicht die Mühe, ihren Irrtum zu korrigieren. »Ich will die beiden anderen.«

Sie grinste ihr zahnloses Grinsen. »Da sind Sie nicht der einzige.«

»Wo genau haben diese Überfälle stattgefunden? Ich muß es wissen. Ich muß mit Leuten sprechen, die sie vielleicht kommen oder gehen sehen haben, Leuten auf der Straße, Händlern, Bettlern, vor allem Droschkenfahrern, die sie hergebracht oder anschließend wieder weggefahren haben.«

»Wozu soll das gut sein?« Wee war ehrlich verwirrt, das konnte Monk in ihrem Gesicht lesen. »Sie wissen doch, wer die Männer sind, oder?«

»Ich glaube es, aber ich muß es beweisen.«

»Wozu?« fragte sie noch einmal. »Wenn Sie glauben, das Gesetz wird sich um so was kümmern, sind Sie nicht ganz bei Trost! Sie mögen so manches sein, aber dumm sind Sie nicht, das würde Ihnen nicht mal Ihr schlimmster Feind nachsagen.«

»Wollen Sie, daß die Männer geschnappt werden?« fragte er.

»Glauben Sie, daß die nach St. Giles zurückkommen werden, nach allem, was einem von ihnen hier passiert ist? Glauben Sie, daß die wieder herkommen, damit Sie sie abstechen und auf irgendeinen Müllhaufen werden können? Nächstes Mal werden sie in Limehouse aufkreuzen oder auf dem Devil’s Acre oder in Bluegate Fields. Wenn wir Gerechtigkeit wollen, müssen wir auf ihrem eigenen Territorium kämpfen, und zwar mit besseren Waffen, als ihnen zu Gebote stehen. Das heißt, wir brauchen Beweise. Nicht für das Gesetz, das sich, wie Sie sagen, nicht für diese Männer interessieren wird, sondern für die Gesellschaft. Die Gesellschaft wird sich dafür interessieren.«

»Für Prostituierte, die vergewaltigt oder verprügelt werden?« fragte Wee, und ihre brüchige Stimme war schrill vor Verachtung. »Sie müssen den Verstand verloren haben, Monk! Es hat Sie also doch erwischt!«

»Die Damen der Gesellschaft wissen, daß ihre Männer und Söhne zu Prostituierten gehen, Wee«, erklärte er geduldig. »Es gefällt ihnen allerdings gar nicht, sich vorzustellen, daß auch andere Leute davon wissen. Ganz gewiß gefällt es ihnen nicht, ihre Töchter mit jungen Männern zu verheiraten, die Orte wie St. Giles aufsuchen, um Frauen von der Straße aufzulesen. Frauen, die Krankheiten haben könnten. Es gefällt ihnen nicht, wenn Männer aus ihren Kreisen Frauen gegenüber gewalttätig werden, extrem gewalttätig. Was die Gesellschaft weiß und was sie sich eingesteht, das kann durchaus zweierlei sein. Es gibt Dinge, die man im eigenen Heim übersehen kann, die die Öffentlichkeit jedoch niemals vergeben oder vergessen könnte.« Er betrachtete ihr faltiges Gesicht. »Sie haben ihren eigenen Ehrenkodex hier. Sie verstehen das. Sie verraten ihre Sippe nicht an andere. Das tun die feinen Leute auch nicht. Diese jungen Männer haben ihr Nest beschmutzt, und das wird man ihnen nicht verzeihen.«

»Schnappen Sie sich diese Mistkerle, Monk«, sagte sie langsam, und zum ersten Mal hielt sie mit ihrer Arbeit inne, und das Klappern der Nadeln verstummte. »Sie sind ein schlauer Teufel, Sie werden sie für uns finden. Wir werden Sie nicht vergessen.«

»Wo sind diese beiden Überfälle gewesen, die beiden in St. Giles?«

»Der erste am Fisher’s Walk und der zweite in Ellicitt’s Yard.«

»Uhrzeit?«

»Kurz nach Mitternacht, beide Male.«

»Daten?«

»Drei Tage vor dem Mord in der Water Lane und in der Nacht vor Heiligabend.«

»Vielen Dank, Wee. Sie waren mir eine große Hilfe. Sind Sie sicher, daß Sie mir die Namen nicht nennen wollen? Es würde mir helfen, wenn ich mit den Opfern selbst reden könnte.«

»Ja, ich bin sicher.«

Am folgenden Tag ging er zu Evan, und mit ein wenig Überredung konnte er ihm Kopien der Bilder von Rhys Duff und seinem Vater abschwatzen. Voller Neugier betrachtete er die Gesichter. Es war das erste Mal, daß er sie sah, und keiner der beiden Männer entsprach seinen bisherigen Vorstellungen. Leighton Duff hatte ausgeprägte Züge, eine kräftige, breite Nase, klare Augen, die blau oder grau und von einem inneren Leuchten waren, und vermittelte insgesamt den Eindruck scharfer Intelligenz. Rhys sah vollkommen anders aus als sein Vater, und das Gesicht des jungen Mannes verwirrte Monk. Dies war das Gesicht eines Träumers. Seine dunklen Augen lagen unter geschwungenen Brauen, seine Nase war schön geformt, wenn auch eine Spur zu lang, der Mund empfindsam, ja sogar verletzlich.

Aber es war nur eine Zeichnung und wahrscheinlich nach dem Zwischenfall angefertigt, und der Maler hatte sich vielleicht von seinem Mitgefühl leiten lassen.

Monk steckte beide Zeichnungen in die Tasche, bedankte sich bei Evan und machte sich in leichtem Nieselregen wieder auf den Weg nach St. Giles.

Auf dem Fisher’s Walk fragte er Straßenhändler, Hausierer, Bettler und jeden anderen, der ihm Rede und Antwort zu stehen bereit war, ob einer der beiden Männer ihnen bekannt vorkomme.

Er brauchte nicht lange, um jemanden zu finden, der Rhys identifizierte.

»Ja«, sagte der Mann, kratzte sich am Kopf und schob dabei seine Mütze zur Seite. »Ja, den hab ich ein oder zweimal hier rumhängen sehen, vielleicht auch öfter. Ziemlich groß, was? Ein gutaussehener Herr. Sprach ein ordentliches Englisch wie die Leute oben im Westen. War allerdings schlecht angezogen. Ich schätze, er hatte gerade eine Pechsträhne.«

»Schlecht angezogen?« fragte Monk schnell. »Was genau meinen Sie damit?« War es Rhys, oder war es nur jemand gewesen, der ihm ein wenig ähnlich sah?

»Na ja, eben nicht wie ein Herr«, erwiderte der Mann und sah Monk ernsthaft an, als zweifle er an dessen Intelligenz. »Ich weiß, wie ein Herr auszusehen hat. Er hatte zwar einen Gehrock, aber nichts Besonderes. Kein Pelz am Kragen, kein Zylinder, kein Stock. Wenn ich so drüber nachdenke, fällt mir ein, daß er überhaupt keinen Hut aufhatte.«

»Aber es war dieser Mann? Sind Sie sicher?«

»Klar, bin ich mir sicher! Denken Sie, ich wüßte nicht, was ich sehe, oder halten Sie mich für einen Lügner?«

»Es ist wichtig, daß Sie sich sicher sind«, sagte Monk mit Bedacht. »Könnte sein, daß das Leben eines Menschen davon abhängt.«

Der Mann lachte ein schallendes, atemloses Lachen.

»Sie sind mir ja ‘ne tolle Nummer! Aber daß Sie auch ein Witzbold sind, das habe ich noch nie gehört. Ich hab nur gehört, Sie wären ein cleverer Bursche, dem man besser nicht krumm kommt. Sie sind ein Schuft, aber meistens fair, auch wenn Sie einem Kerl genug Seil geben, um sich daran aufzuhängen – und Sie sehen zu, während er es tut. Sie lassen ihn in die Falle laufen, wenn er Ihnen ein Unrecht getan hat.«

Monk spürte, wie die Kälte über seine Haut kroch. »Es war nicht komisch gemeint«, sagte er mit einer Stimme, die seltsam gepreßt klang. »Ich meinte nicht, daß jemand an einem Seil hängt, sondern daß es bei der Antwort um sein Leben geht.«

»Na schön, aber wenn Sie diese Bastarde, die die Frauen drüben in Seven Dials vergewaltigt haben, nicht hängen wollen, was wollen Sie dann von ihnen? Wollen Sie sie bloß haben, weil sie feine Herren sind? Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Ich habe noch nie gehört, nicht mal von Ihrem schlimmsten Feind, daß Sie irgend jemanden fürchten oder bevorzugen würden, egal aus welchem Grund.«

»Nun, das ist wohl immerhin etwas. Ich werde die Männer nicht hängen, weil ich es nicht kann. Aber ich wäre glücklich, wenn ich es könnte.« Monk war sich nicht sicher, ob das stimmte. Glücklich war vielleicht nicht das richtige Wort, aber er wäre jedenfalls damit einverstanden gewesen. Er wußte, daß Hester anders dachte, aber das war unwichtig… Nun. jedenfalls beinahe unwichtig.

»Wenn er es war«, sagte der Mann, der nun ein wenig zitterte, da sie schon ziemlich lange an der Straßenecke standen und er langsam zu frieren begonnen hatte. »Ich hab ihn drei-, vielleicht viermal hier gesehen. Immer am Abend.«

»War er allein, oder war er mit anderen zusammen?«

»Zweimal war er mit anderen hier. Einmal allein.«

»Wer waren die anderen? Beschreiben Sie sie! Haben sie ihn jemals mit Frauen gesehen, und was waren das für Frauen?«

»Moment mal! Moment mal! Einmal war er mit einem älteren Mann hier, kräftiger Typ und piekfein angezogen, wie ein Herr. Er war richtig wütend und hat ihn angebrüllt…«

»Wer hat wen angebrüllt?« unterbrach Monk ihn.

»Sie haben natürlich beide gebrüllt.«

Monk zog das Bild von Leighton Duff aus der Tasche. »War das der Mann, oder hätte er es sein können?«

Der andere betrachtete die Zeichnung einige Sekunden lang und schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Ich glaube nicht. Warum? Wer ist das?«

»Das spielt keine Rolle. Haben Sie ihn gesehen, den älteren Mann?«

»Nicht, daß ich wüßte. Sieht für mich aus wie’n paar andere Männer, die ich mal gesehen habe.«

»Und beim zweiten Mal? Mit wem war der junge Mann beim zweiten Mal zusammen?«

»Mit einer Frau. Jung, vielleicht sechzehn oder so. Sie sind zusammen in einer Gasse verschwunden. Was danach war, weiß ich nicht, aber ich kann’s mir denken.«

»Vielen Dank. Sie wissen wohl nicht zufällig den Namen der Frau oder wo ich sie finden kann?«

»Sah für mich aus wie Fanny Waterman, aber das heißt nicht, daß sie es war!«

Monk konnte sein Glück kaum fassen. Er versuchte, seinen Triumph nicht allzusehr in seiner Stimme durchklingen zu lassen.

»Wo kann ich sie finden?«

»Black Horse Yard.«

Monk war zu erfahren, um nach einer Hausnummer zu fragen. Er würde dort hingehen und sich einfach erkundigen müssen. Er gab dem Mann eine halbe Krone, eine gewaltige Belohnung, deren Höhe er wahrscheinlich später bedauern würde, und machte sich dann auf den Weg zum Black Horse Yard.

Er brauchte zwei Stunden, um Fanny Waterman zu finden, und ihre Antworten stürzten ihn in völlige Verwirrung. Sie erkannte Rhys ohne Zögern.

»Ja. Na und?«

»Wann?«

»Weiß nicht. Vielleicht drei oder viermal. Was geht das Sie an?« Fanny war ein zartes, mageres Mädchen, kaum hübsch zu nennen, aber mit einem Gesicht, das hinter der Aufsässigkeit Intelligenz und auch Humor verriet, und unter anderen Umständen hätte sie durchaus eine Art von Charme besitzen können. Sie war jedenfalls wortgewandt, und ihr Gang und die Art, wie sie den Kopf hielt, ließen Arroganz ahnen. Es war keine Spur von Selbstmitleid in ihrem Benehmen zu entdecken. Sie schien Monk mit derselben Neugier zu begegnen wie er ihr.

»Warum wollen Sie das wissen, hm? Was hat er Ihnen getan? Wenn er das Gesetz gebrochen hat, werde ich ihn nicht verpfeifen.«

»Er hat Ihnen nicht weh getan?«

»Mir weh getan? Was ist los mit Ihnen? Natürlich hat er mir nicht weh getan! Warum sollte er auch?«

»Hat er Sie bezahlt?«

»Warum wollen Sie das wissen?« Fanny legte den Kopf schräg und sah Monk mit großen, dunkelbraunen Augen an.

»Sie sehen den Leuten gern zu, was?« In ihrer Stimme lag ein Anflug von Verachtung. »Das wird Sie aber was kosten!«

»Nein, Sie irren sich«, entgegnete er scharf. »Eine Reihe von Frauen sind vergewaltigt und geschlagen worden, die meisten in Seven Dials, aber einige auch hier. Ich will die Männer haben, die dafür verantwortlich sind.«

»Donnerwetter!« sagte sie voller Ehrfurcht. »Nun, mir hat niemand was getan. Er hat bezahlt, was vereinbart war, und ohne zu murren.«

»Wann war das? Bitte, versuchen Sie, sich zu erinnern.« Sie dachte einen Augenblick lang nach.

»War es vor oder nach Weihnachten?« drängte er. »Neujahr?«

»Es war dazwischen«, sagte sie, als wäre es ihr plötzlich wieder eingefallen. »Dann war er nach Neujahr noch mal hier. Warum? Können Sie mir nicht sagen, was das alles soll? Sie glauben doch nicht, daß er es war, oder?«

»Was glauben Sie denn?«

»Niemals!« Sie legte den Kopf auf die Seite. »War er’s? Ehrlich?«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung. Bevor diese Typen in der Water Lane um die Ecke gebracht worden sind, habe ich ihn länger nicht gesehen. Und danach waren überall Bullen. Das ist nicht gut fürs Geschäft.«

Monk nahm das Bild von Leighton Duff aus der Tasche.

»Haben Sie diesen Mann jemals gesehen?« Sie betrachtete die Zeichnung. »Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Den hab ich nie gesehen. Wer ist das? Ist das der Bursche, den sie totgeschlagen haben?«

»Ja.«

»Hm, ich habe Rhys – so heißt er – mit anderen Herren gesehen, aber der da war nicht dabei. Er hatte einen jungen Burschen bei sich, genauso jung wie er. Sah wirklich gut aus. Er nannte sich ›König‹ oder ›Prinz‹ oder so was. Der andere hieß Arthur.«

»War es vielleicht Duke – Herzog?« Monk spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. Das war es, hier hatte er jemanden gefunden, der die drei zusammen gesehen hatte und sogar ihre Namen kannte.

»Ja, stimmt! War er wirklich ein Herzog?«

»Nein. Das ist nur eine Abkürzung für Marmaduke!«

»Oh, wie schade. Ich fände es lustig, wenn ich einen Herzog gehabt hätte. Na egal, was? Wenn sie die Hosen runterlassen, sind sie doch alle gleich.« Fanny lachte, als wäre sie ehrlich erheitert über die Scheinheiligkeit der Gesellschaft.

»Und sie haben Sie alle bezahlt?« hakte Monk noch einmal nach.

»Nein… dieser Duke war ein unangenehmer Typ. Er hätte mich geschlagen, wenn ich ihn gedrängt hätte, also habe ich es bleiben lassen. Ich habe einfach genommen, was ich kriegen konnte.«

»Hat er Sie geschlagen?«

»Nein. Ich weiß, wann ich mich in acht nehmen muß und wann nicht.«

»Haben Sie ihn in der Nacht des Mordes gesehen?«

»Nein.«

»Keinen von ihnen.«

»Nein.«

»Verstehe. Vielen Dank.« Monk nahm einen Schilling aus der Tasche, alles, was er an Kleingeld noch übrig hatte, und gab ihn ihr.

Dann setzte er seine Suche fort. Wie er vermutet hatte, hatte es sich bereits herumgesprochen, wen er suchte und warum. Ausnahmsweise einmal traten ihm die Leute weniger widerwillig entgegen. Ein oder zweimal wurde ihm sogar freiwillig Hilfe angeboten. Aber er wollte wenigstens noch einen weiteren Beweis. Hatte es in jener Nacht ein Opfer gegeben? Hatte Leighton Duff sie gefunden, bevor sie zugeschlagen hatten oder danach? Gab es überhaupt noch irgendwelchen Spielraum zu bestreiten, was Monk in Erfahrung gebracht hatte?

Monk brauchte einen ganzen Tag, aber dann hatte er sie endlich gefunden, eine Frau Anfang Vierzig, immer noch hübsch trotz ihrer Müdigkeit und ihres ständigen Hustens. Man hatte ihr den Wangenknochen gebrochen, und sie humpelte schwer. Außerdem hatte sie üble Prellungen davongetragen. Ja, die Männer hätten sie vergewaltigt, aber sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren, und das habe ihre Angreifer anscheinend erzürnt. Sie habe jedoch Glück gehabt. Die Männer seien gestört worden.

»Erzählen Sie es niemandem!« flehte sie ihn an. »Ich werde meine Arbeit verlieren!«

Er wünschte, er hätte ihr dieses Versprechen geben können.

»Nur wenige Minuten, nachdem sie sich von Ihnen abgewandt hatten, haben sie einen Mord begangen«, erklärte Monk ihr mit grimmiger Stimme. »Sie brauchen nicht zu sagen, daß Sie vergewaltigt wurden. Sie können schwören, Sie seien die Straße entlanggekommen und die Männer hätten Sie überfallen. Das wird genügen.«

»Wirklich?« Sie sah in zweifelnd an.

»Ja«, sagte er fest. »Wo ist es passiert?«

Ihre Stimme war heiser, ihr Gesicht bleich. »Gleich hinter der Water Lane.«

»Vielen Dank. Das wird genügen. Ich verspreche es.«

Es genügte tatsächlich. Monk würde damit zu Evan gehen. Er konnte die Sache nicht länger für sich behalten. Er hielt handfeste Beweise für den Mord an Leighton Duff in der Hand. Wenn Rhys und seine Freunde in St. Giles zu Prostituierten gegangen waren, was sich inzwischen nicht mehr leugnen ließ, und wenn ihre Besuche dort im Laufe der Monate immer gewalttätiger geworden waren, dann schien es mehr als wahrscheinlich zu sein, daß Leighton Duff das herausgefunden hatte und dieses eine Mal seinem Sohn nach St. Giles gefolgt war. Diese Vermutung gründete Monk auf die Tatsache, daß es ihm nicht möglich gewesen war, jemanden zu finden, der Leighton Duff erkannte. Leightons Erscheinen in St. Giles war ein hinreichendes Motiv für den Streit, der daraufhin entbrannt war, die Auseinandersetzung, die so weit gegangen war, daß sie nur noch mit dem Tod des Menschen enden konnte, der wußte, was Rhys getan hatte… und der sein Vater war. Ob Arthur und Marmaduke Kynaston zugegen gewesen waren oder nicht und welche Rolle sie bei dem Ganzen gespielt hatten, würde noch bewiesen werden müssen.

Monk mußte zu Evan gehen.

Als erstes aber wollte er es Hester sagen. Sie sollte das alles nicht erst erfahren, wenn Evan kam, um Rhys zu verhaften. Es war schrecklich für Monk, es ihr sagen zu müssen, aber es würde noch schlimmer sein, wenn er das Thema mied. Der Mann auf der Straße, der ihm Fannys Namen genannt hatte, hatte ganz recht gehabt. Nicht einmal seine schlimmsten Feinde konnten ihm Feigheit nachsagen.

Es war bereits spät, als Monk in der Ebury Street ankam. Ein bleicher Mond hing an einem frostklaren Himmel, und im Osten verschlangen die Wolken das schwache Licht und versprachen noch mehr Schnee.

Der Butler öffnete die Tür und erklärte, daß er sich erkundigen werde, ob Miss Latterly Monk empfangen könne oder nicht. Zehn Minuten später stand Monk in der Bibliothek neben einem kleinen Feuer, als Hester eintrat. Sie schloß die Tür hinter sich zu und sah ihn mit angstvollen, fragenden Augen an.

»Was gibt es Neues?« fragte sie ohne jede Einleitung. »Was ist passiert?«

Hester wirkte so grimmig und verletzlich, daß er sich schmerzlich danach sehnte, sie vor dem Wissen um diese Dinge zu beschirmen, aber das war unmöglich. Er konnte sie belügen, aber damit würde er eine gewaltige Kluft zwischen ihnen aufreißen, und in wenigen Stunden, in ein oder zwei Tagen höchstens, würde Hester es ohnehin erfahren. Sie würde hier sein und die Verhaftung miterleben. Das Entsetzen, das Gefühl, verraten worden zu sein, würde sie dann nur um so schwerer treffen.

»Ich habe jemanden gefunden, der Rhys mit Arthur und Duke Kynaston zusammen in St. Giles gesehen hat«, sagte Monk leise. Er hörte das Bedauern in seiner Stimme. Sie klang rauh, als schmerze seine Kehle. »Es tut mir leid. Ich muß damit zu Evan gehen.«

Hester schluckte, und ihr Gesicht war weiß. »Damit ist noch nichts bewiesen!« Sie wehrte sich gegen das Unausweichliche, und sie wußten es beide.

»Nicht, Hester!« bat er. »Rhys war da, zusammen mit zwei Freunden. Die Beschreibungen passen genau auf die drei. Wenn Leighton Duff über ihr Tun im Bilde war oder einen Verdacht hatte und wenn er Rhys gefolgt ist, um ihn zur Rede zu stellen oder zu verhindern, daß es wieder geschah, dann hatten sie ein mehr als ausreichendes Motiv, um ihn zu töten. Vielleicht hat er sie sogar gefunden, gleich nachdem sie an jenem Abend eine Frau überfallen hatten. In diesem Falle hätten sie keine Chance gehabt, irgend etwas zu leugnen.«

»Es… es könne Duke gewesen sein oder Arthur…« Hesters Worte verloren sich. Ihr Tonfall und ihr Blick verrieten, daß sie selbst nicht glaubte, was sie da sagte.

»Sind die beiden verletzt?« fragte er sanft, obwohl er die Antwort bereits in ihrem Gesicht gelesen hatte.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Es gab nichts mehr zu sagen. Hester starrte ihn an. Die Tatsachen umfingen sie wie ein Netz aus Eisen, unausweichlich, unentrinnbar. Sie suchte nach jeder nur denkbaren anderen Möglichkeit, und er beobachtete sie dabei, sah, wie sie jedesmal aufs neue scheiterte. Sie hatte keine echte Hoffnung mehr, und langsam erstarb sogar ihre Entschlossenheit.

»Es tut mir leid«, sagte er behutsam. Er überlegte, ob er hinzufügen sollte, wie sehr er sich einen anderen Ausgang seiner Ermittlungen gewünscht hatte, wie angestrengt er nach anderen Antworten Ausschau gehalten hatte, aber sie wußte es bereits. Solche Erklärungen waren zwischen ihnen nicht notwendig. Beide verstanden nur allzugut den dumpfen Schmerz des Wissens, dem man sich stellen mußte.

»Haben Sie schon mit Evan gesprochen?« fragte sie, als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte.

»Nein. Ich werde es ihm morgen sagen.«

»Ich verstehe.«

Monk stand da, ohne sich zu bewegen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, es gab keinen Trost, nichts. Dennoch wäre er gern bei ihr geblieben, um zumindest den Schmerz mit ihr zu teilen, auch wenn er ihn nicht lindern konnte. Manchmal war Teilen alles, was einem noch blieb.

»Vielen Dank, daß Sie es mir zuerst gesagt haben.« Sie lächelte ein wenig schief. »Ich denke…«

»Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen«, sagte er mit jähem Zweifel. »Vielleicht wäre es einfacher für Sie gewesen, wenn Sie es nicht gewußt hätten? Dann wäre Ihre Reaktion ehrlich gewesen. Sie hätten heute nacht nicht wach liegen und darüber nachdenken müssen, daß Sie es wissen, während die anderen in diesem Haus noch nichts ahnen. Ich…«

Sie schüttelte sachte den Kopf.

»Ich habe ehrlich geglaubt, es sei das beste so«, fuhr er fort.

»Vielleicht habe ich mich geirrt. Ich war mir sicher, aber jetzt bin ich es nicht mehr.«

»Es wäre in beiden Fällen hart gewesen«, antwortete Hester und sah ihn mit demselben Freimut an, wie sie es in der Vergangenheit in ihren besten Stunden getan hatte. »Jetzt, da ich es weiß, werden die heutige Nacht und der Tag morgen schwer sein. Aber wenn Evan dann wirklich kommt, werde ich mich gewappnet haben, und ich werde die Kraft haben zu helfen, statt von meinem eigenen Entsetzen gelähmt zu sein. Ich werde nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie ich es leugnen kann, werde keine Argumente oder Fluchtmöglichkeiten ersinnen müssen. Es ist am besten so. Bitte, Sie dürfen nicht daran zweifeln.«

Monk zögerte einen Augenblick und fragte sich, ob sie sich einfach zusammennahm und Stärke heuchelte, um seine Gefühle zu schonen. Dann sah er sie abermals an und wußte, daß das nicht stimmte. Sie verstand ihn auf eine Art und Weise, die auch diesen einzigartigen Fall überbrückte und ein Teil all der Triumphe und Katastrophen war, die sie je miteinander erlebt hatten.

Er ging auf sie zu, beugte sich ganz behutsam vor und küßte sie auf die Schläfe. Dann legte er seine Wange an ihre, und sein Atem bewegte leise eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte.

Schließlich wandte er sich ab und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Wenn er es getan hätte, hätte er vielleicht einen Fehler begangen, der sich nie wieder gutmachen ließ, und so weit war er noch nicht.