6

Wie er Evan erzählt hatte, konnte Monk erste Ansätze eines Erfolges aufweisen, soweit es die Suche nach den Verantwortlichen für die Vergewaltigungen in Seven Dials betraf. Er wußte allerdings noch nicht genau, ob sie im allgemeinen zu dritt oder zu zweit gewesen waren. Kein Kutscher konnte die drei Männer einigermaßen verläßlich beschreiben. Alles, was Monk zu hören bekam, war ungenau, vage, kaum mehr als ein flüchtiger Eindruck: gebeugte Gestalten im Nebel und in der Kälte der Winternacht, Stimmen in der Dunkelheit, Anweisungen, was ein bestimmtes Ziel betraf, Schatten, die sich hin und herbewegten, eine jähe Verlagerung des Gewichtes in der Kutsche. Einer der Kutscher war sich beinahe sicher, daß eine der Personen an einer Kreuzung ausgestiegen war, als er einmal wegen des Verkehrs hatte stehenbleiben müssen.

Ein anderer hatte gesagt, einer seiner Fahrgäste habe stark gehustet. Einer sei naß gewesen, als habe er sich in der Gosse gewälzt oder sei in ein Wasserfaß gefallen. Einer hatte im Kutschenlicht flüchtig ein blutiges Gesicht gesehen.

Nichts von alledem lieferte den Beweis, daß einer dieser Männer etwas mit dem Verbrechen zu tun hatte, das Monk aufzuklären versuchte.

Am Sonntag, als er wußte, daß er sie daheim antreffen würde, sagte er genau das zu Vida Hopgood. Sie saßen in Vidas rotem Salon vor einem kräftigen Feuer und nippten von einem dunkelbraunen Tee mit so starkem Aroma, daß Monk dankbar für die klebrige Süße des Getränks war, die den Geschmack ein wenig dämpfte. »Das heißt, Sie geben sich geschlagen?« fragte Vida verächtlich, aber er hörte den Anflug von Enttäuschung in ihrer Stimme und sah den Schatten, der sich über ihre Augen legte. Sie war wütend, aber ihre Schultern sackten unter der Last verlorener Hoffnung in sich zusammen.

»Nein, das tue ich nicht!« antwortete er scharf. »Ich erzähle Ihnen lediglich, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe. Das habe ich Ihnen versprochen, wie Sie sich vielleicht erinnern werden?«

»Ja«, stimmte sie widerstrebend zu, aber sie hatte sich ein wenig aufrechter hingesetzt. Vida sah ihn mit schmal gewordenen Augen an. »Sie glauben uns doch, daß die Frauen vergewaltigt wurden, oder?«

»Ja, das glaube ich«, sagte er bestimmt. »Nicht unbedingt alle von denselben Männern, aber zumindest acht von ihnen sind wahrscheinlich von denselben Tätern überfallen worden, und in drei Fällen kann ich vielleicht etwas beweisen.«

»Vielleicht?« fragte sie argwöhnisch. »Was nutzt uns ein ›vielleicht‹? Was ist mit den anderen? Wer hat denn die überfallen?«

»Ich weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle. Wenn wir zwei oder drei Fälle beweisen können, dann wäre das genug, nicht wahr?«

»Ja! Ja, vollkommen.« Sie starrte ihn an und forderte ihn förmlich heraus, sie zu fragen, was sie dann zu unternehmen gedachte.

Monk hatte jedoch nicht die Absicht zu fragen. Er war wütend genug, um sich nicht dafür zu interessieren.

»Ich würde gern mit anderen Frauen sprechen.« Er nahm noch einen Schluck von dem bitteren Tee. Das Aroma war widerlich, aber das Getränk hatte trotzdem eine belebende Wirkung.

»Wozu soll das gut sein?« Vida war mißtrauisch.

»Es gibt immer wieder zeitliche Lücken, in denen meines Wissens nach niemand angegriffen wurde. Stimmt das?«

Sie dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete.

»Nun?«

»Nein, es stimmt nicht. Sie könnten es mal bei Bella Green versuchen. Ich wollte sie nicht in die Sache reinziehen, aber wenn’s sein muß, tue ich es.«

»Warum wollten Sie sie nicht mit hineinziehen?«

»Meine Güte! Warum, zum Teufel, interessiert Sie das? Weil ihr Mann ein alter Soldat ist und weil es ihm furchtbar zusetzen würde, wenn er erführe, daß sie verprügelt wurde und er ihr nicht helfen konnte. Und schlimmer noch, daß sie auf diese Weise das Geld verdienen muß, das er nicht nach Hause bringt. Der arme Kerl hat bei der Schlacht von Alma sein Bein verloren. Jetzt taugt er nicht mehr viel. Ist schlimm verletzt worden, der Mann. Und er war nicht mehr derselbe, als er wieder zurückkam.«

Monk ließ sich seine Gefühle nicht anmerken.

»Gibt es noch andere?«

Vida bot ihm eine zweite Tasse Tee an, und er lehnte ab.

»Gibt es noch andere?« wiederholte er.

»Sie könnten es auch bei Maggie Arkwright versuchen. Wahrscheinlich werden Sie ihr kein Wort glauben, aber das heißt nicht, daß sie nicht die Wahrheit sagen würde. Jedenfalls manchmal.«

»Warum sollte sie mich belügen?«

»Weil ihr Alter ein Dieb ist, von Berufs wegen, meine ich. Und Maggie würde einem Bullen aus Prinzip nicht die Wahrheit sagen.« Vida sah ihn mit grimmiger Belustigung an. »Und wenn Sie glauben, Sie könnten ihr was vormachen, sind Sie dümmer, als ich gedacht hätte.«

»Bringen Sie mich zu den beiden.«

»Ich habe weder Zeit noch Geld zu verschwenden. Machen Sie das alles bloß, um Brot in den Bauch zu kriegen und Ihren Stolz zu hätscheln?« Ihre Stimme wurde lauter. »Tun Sie überhaupt irgendwas Nützliches? Oder werden Sie mir in einem Monat erzählen, Sie wären genauso schlau wie am Anfang und wüßten nicht, wer’s war?«

»Ich werde die Schuldigen finden«, sagte Monk ohne einen Hauch von Belustigung oder Verbindlichkeit. »Wenn Sie nicht zahlen wollen, mache ich es auf eigene Rechnung. Die Informationen gehören allerdings mir.« Er sah Vida mit kühler Nachsicht an, damit sie ihn auf keinen Fall mißverstehen konnte.

»Na schön«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme war jetzt sehr leise und sehr ruhig. »Ich bringe Sie erst zu Bella, dann zu Maggie. Also, geh’n wir. Glauben Sie nicht, Sie könnten den ganzen Tag behaglich vor meinem Feuer sitzen!«

Monk machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern stand auf und folgte ihr aus dem Raum.

Sie gingen schweigend nebeneinander her, und ihre Schritte hatten kein Echo, denn jedes Geräusch wurde augenblicklich vom Nebel verschlungen. Es war kurz nach fünf Uhr. Auf den Straßen waren noch relativ viele Leute unterwegs, einige lungerten in Hauseingängen herum und hatten offensichtlich den Mut zum Betteln verloren oder sahen keinen Sinn mehr darin. Andere glaubten immer noch hoffnungsvoll an einen Verdienst und boten Streichhölzer, Stiefel, Riemen und ähnliche Dinge feil. Wieder andere gingen energisch ihren Geschäften nach, ob sie nun Billigung vor dem Gesetz fanden oder nicht. Taschendiebe und Halsabschneider tauchten hier und da aus dunklen Winkeln auf, nur um sogleich auf leisen Sohlen wieder zu verschwinden. Monk war nicht dumm genug, um irgend etwas bei sich zu tragen, was von Wert war.

Während er Vida Hopgood durch die schmalen Gassen folgte und sich dicht an den Hauswänden hielt, sprangen ihn immer wieder Erinnerungen an, flüchtige Eindrücke, das Gefühl, noch schlimmere Orte als diesen kennengelernt zu haben, noch größere Gefahren, noch offensichtlichere Gewalttätigkeit. Er kam an einem Fenster vorbei, das halb mit Stroh und Papier ausgestopft war, ein lächerlicher Schutz gegen die Kälte. Er wandte sich um, als glaubte er zu wissen, was er dort sehen würde, aber es waren nur verschwommene, gelbliche Gesichter im Kerzenschein, ein bärtiger Mann, eine dicke Frau und beide gleichermaßen bedeutungslos für ihn.

Wen hatte er erwartet? Er spürte lediglich, daß irgendwo eine Gefahr lauerte und daß er sich beeilen mußte. Andere waren von ihm abhängig. Er dachte an schmale Korridore, Tunnel, durch die man auf Händen und Knien kroch, und die ganze Zeit war im Hintergrund das Wissen, daß er mit dem Kopf voran in den Abgrund der Kanalisation unter ihm fallen und ertrinken konnte. Dies war ein beliebter Trick von Dieben und Fälschern, die sich in den großen, von Fäulnis zersetzten Mietshäusern des »Heiligen Landes« versteckten, des unübersichtlichen Viertels zwischen St. Giles und St. George’s. Sie führten Verfolger einen bestimmten Weg entlang, treppauf, treppab und durch gewundene Gassen. Irgendwo gab es immer Falltüren. Es war möglich, daß sich ein Mann eine halbe Meile weit entfernt in Luft aufgelöst hatte, aber genausogut konnte er hinter der nächsten Biegung warten und seinem Verfolger die Kehle aufschlitzen oder eine Falltür öffnen, die in eine Jauchegrube hinabführte. Die Polizei ging nur bewaffnet dorthin und in großen Gruppen und selbst das nur selten. Wenn ein Mann in diesen Elendsquartieren untertauchte, war es durchaus möglich, daß er ein Jahr lang nicht gesehen wurde. Diese Häuser versteckten ihre Brut, und Eindringlinge gingen auf eigene Gefahr hinein.

Wie lange war das nun her? Das Schanklokal »Stunning Joe’s« war nicht mehr da, soviel wußte er. Er war an der Straßenecke vorbeigekommen, an der es sich früher befunden hatte. Zumindest glaubte er, es zu wissen. Das »Heilige Land« selbst war unzweifelhaft erschlossen worden. Die schlimmsten der Mietshäuser waren verschwunden, zusammengestürzt und neu aufgebaut. Die kriminellen Bollwerke lagen in Trümmern, und ihre Macht gehörte der Vergangenheit an.

Woher war diese Erinnerung gekommen, und in welche Zeit reichte sie zurück? Zehn Jahre, fünfzehn? Als er und Runcorn beide neu bei der Polizei und unerfahren gewesen waren, hatten sie Seite an Seite gekämpft und einander den Rücken gedeckt. Sie waren Kameraden gewesen. Sie hatten einander vertraut.

Wann war dieses Vertrauen erloschen? Nach und nach, zehn oder zwanzig kleine Ereignisse, ein allmähliches Auseinandergehen der Neigungen, oder war es ein einziger häßlicher Zwischenfall gewesen? Monk konnte sich nicht erinnern.

Er folgte Vida Hopgood über einen kleinen Innenhof, auf dem ein Brunnen stand. Dann ging es weiter unter einem Torbogen hindurch und über eine überraschend belebte Straße, bis sie in eine weitere Gasse gelangten. Es war schneidend kalt, der Nebel war wie ein eisiges Leichentuch. Monk zermarterte sich das Gehirn, aber es war nichts da, gar nichts, nur die Gegenwart, sein heutiger Groll gegen Runcorn, seine Verachtung für diesen Mann und das Wissen, daß Runcorn ihn haßte und daß dieses Gefühl tief ging und bitter war und ihn beherrschte. Selbst wenn es gegen seine eigenen Interessen ging, gegen seine Würde und all das, was er gern gewesen wäre, brannte dieses Gefühl mit solcher Leidenschaft in ihm, daß er es nicht zu beherrschen vermochte. Es verzehrte sein Urteil.

»Hier! Was ist denn los mit Ihnen?« brach Vidas Stimme in seine Gedanken ein. Ihre Worte rissen ihn zurück nach Seven Dials und lenkten seine Gedanken wieder auf die Vergewaltigung der Fabrikarbeiterinnen.

»Nichts!« entgegnete er scharf. »Wohnt hier Bella Green?«

»Klar tut sie das! Was denken Sie, weshalb ich Sie hergebracht hätte?« Vida hämmerte gegen die baufällige Tür und rief Bellas Namen.

Es vergingen einige Minuten, bevor ein Mädchen öffnete, das zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt sein mußte. Ihr langes Haar war lockig und verfilzt, aber ihr Gesicht war sauber, und sie hatte schöne Zähne.

Vida fragte nach Bella Green.

»Meine Ma hat zu tun«, erwiderte das Mädchen. »Aber sie kommt bald wieder. Wollen Sie warten?«

»Und ob.« Vida ließ sich nicht abweisen, selbst wenn Monk das zugelassen hätte.

Aber sie wurden nicht hereingebeten. Irgend jemand hatte das Kind offensichtlich vor Fremden gewarnt. Es warf die brüchige Tür ins Schloß, und Monk und Vida blieben draußen in der Kälte stehen.

»Die Schenke«, sagte Vida sofort. Das Verhalten des Mädchens hatte sie offensichtlich nicht weiter gekränkt. »Sie ist sicher losgegangen, um Jimmy eine Flasche zu holen. Der Schnaps dämpft den Schmerz. Armer Kerl.«

Monk machte sich nicht die Mühe, nachzufragen, ob der Schmerz körperlicher Natur war oder von der trostlosen Verzweiflung des Geistes rührte. Der Unterschied war rein akademisch, die Last, damit leben zu müssen, dieselbe.

Vida hatte richtig geraten. In der lärmenden, schmutzigen Schenke fanden sie Bella Green. Lachen erfüllte den Raum, auf dem Boden lagen Glasscherben, und die Frauen kauerten sich zusammen, um Wärme zu suchen, statt draußen auf den kalten Straßen zu hocken. Bella Green kam ihnen durch den Schankraum entgegen. Sie hielt eine Flasche im Arm, als sei es ein Kind. Das Getränk bedeutete einige Augenblicke Vergessen für ihren Mann, den sie wahrscheinlich gesund und voller Mut und Hoffnung verabschiedet hatte, als er dem Ruf seines Landes folgte, und der körperlich und seelisch zerbrochen zu ihr zurückgekehrt war, um den langen, verzweifelten Jahren und dem täglichen Schmerz, die vor ihm lagen, entgegenzusehen.

Bella sah Vida Hopgood, und ihr müdes Gesicht zeigte Überraschung und etwas, das sich vielleicht als Verlegenheit deuten ließ.

»Wir müssen dich sprechen, Bella«, sagte Vida und ignorierte die Ginflasche, als hätte sie sie nicht bemerkt. »Ich wollte es ja nicht, wo ich doch weiß, daß du mit deinen eigenen Sorgen genug zu tun hast, aber wir brauchen deine Hilfe.«

»Meine Hilfe!« Bella konnte es nicht verstehen. »Wozu?« Vida drehte sich um und ging auf die Straße hinaus, wobei sie über eine Frau hinwegsteigen mußte, die fühllos für die Kälte auf die Pflastersteine gefallen war. Monk folgte ihnen. Er wußte, wie nutzlos es war, jemanden von der Straße aufheben zu wollen. Wenn sie erst einmal dort lagen, konnten sie zumindest nicht tiefer fallen. Sie würden es kälter und feuchter dort unten haben, aber sie würden sich keine weiteren blauen Flecken mehr zuziehen.

Zu dritt kehrten sie mit schnellem Schritt zu Bellas Behausung zurück. Bella trat sofort ein. Es war kalt, und die Feuchtigkeit war durch die Wände gesickert. In der Wohnung hing ein säuerlicher Geruch, doch verfügte Bella über zwei Räume, was mehr war, als viele Leute hier besaßen. In dem zweiten Raum stand ein kleiner schwarzer Ofen, der eine schwache Wärme abgab. Neben ihm saß ein einbeiniger Mann. Sein leeres Hosenbein hing schlaff über der Kante seines Stuhls. Er war glattrasiert und sein Haar gekämmt, aber seine Haut war so bleich, daß sie grau wirkte, und unter seinen blauen Augen lagen dunkle Schatten.

Monk fühlte sich mit solcher Heftigkeit an Hester erinnert, daß er scharf die Luft einsog. Sie mußte viele Männer wie diesen gekannt und gepflegt haben, mußte sie gesehen haben, wenn man sie vom Schlachtfeld trug, immer noch betäubt von Grauen und Ungläubigkeit. Wenn sie noch nicht begriffen hatten, was ihnen zugestoßen war, was vor ihnen lag, und sich nur fragen konnten, ob sie überleben würden. Männer, die sich mit derselben grimmigen, tapferen Verzweiflung, die sie soweit gebracht hatte, ans Leben klammerten.

Monk mußte den Mann vergessen, der in sich zusammengesunken auf dem Stuhl saß und voller Verzweiflung auf die wenigen Stunden Erlösung wartete, die der Gin ihm schenken würde. Er mußte sich auf die Frau konzentrieren. Vielleicht konnte er dieses Gespräch führen, ohne dem Mann bewußtzumachen, daß seine Frau vergewaltigt worden war. Monk konnte die Sache so ausdrücken, daß sie sich nach einem ganz normalen Überfall anhörte. Es bestand ein großer Unterschied zwischen dem, was man insgeheim zu wissen glaubte, ohne es jemals direkt zuzugeben, und dem, was man auszudrücken gezwungen war, Dingen, von denen auch andere wußten und die deshalb niemals mehr vergessen werden konnten.

»Wie viele Männer waren es?« fragte er leise.

Bella wußte, wovon er sprach, und das Begreifen und die Angst waren deutlich in ihren Augen zu lesen.

»Drei.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja. Zuerst waren es zwei, dann ist ein dritter dazu gekommen. Woher, habe ich nicht gesehen.«

»Wo war das?«

»In dem Hof hinter der Foundry Lane.«

»Um wieviel Uhr?«

»Gegen zwei, jedenfalls soweit ich mich erinnern kann.« Ihre Stimme war sehr leise, und sie blickte kein einziges Mal zu ihrem Mann hinüber. Vielleicht wollte sie so tun, als sei er nicht dort, als wisse er nichts.

»Können Sie sich an irgend etwas erinnern, was diese Männer betrifft? Größe, Statur, Kleidung, Geruch, Stimmen?«

Bella dachte einige Augenblicke nach, bevor sie antwortete. Ein Gefühl der Hoffnung regte sich in Monk, aber vielleicht war das Torheit.

»Einer von ihnen hat irgendwie komisch gerochen«, sagte sie langsam. »Wie Gin, bloß daß es kein Gin war. Irgendwie… schärfer, sauberer.«

»Teer? Kreosot?« fragte er, zum einen, um sie zu zwingen, sich auf die Sache zu konzentrieren, zum anderen, weil er hoffte, auf diese Weise schneller zum Ziel zu kommen.

»Nein, irgendwie noch sauberer. Teer kenne ich. Und Kreosot auch. Es war auch keine Farbe oder so. Und ein Arbeiter war das bestimmt nicht, denn seine Hände waren ganz glatt. Glatter als meine!«

»Ein Gentleman?«

»Ja.«

Vida stieß ein häßliches Schnauben aus, das ihre Meinung zu diesem Thema unmißverständlich klarmachte.

»Sonst noch etwas?« hakte Monk nach. »Der Stoff ihrer Kleider, ihre Größe, Körperbau? Waren die Haare dick oder dünn, hatten sie Schnurrbärte?«

»Keine Schnurrbärte.« Bellas Gesicht war weiß, während sie an dieses Erlebnis zurückdachte, und ihre Augen waren dunkel und leer. Als sie wieder zu sprechen begann, flüsterte sie noch.

»Einer von ihnen war größer als die beiden anderen. Einer war dünn, einer schwerer. Der Dünne war furchtbar wütend, als trüge er einen unbändigen Zorn in sich. Ich denke mir, daß er vielleicht einer von den Verrückten von Limehouse ist, die chinesische Drogen nehmen und nach und nach den Verstand verlieren.«

»Opium macht aber nicht gewalttätig«, entgegnete Monk.

»Die Leute versinken normalerweise in Wachträume und liegen in verräucherten Räumen, statt durch dunkle Gassen zu irren und andere Menschen…« Er hielt gerade noch rechtzeitig inne, bevor er das Wort »vergewaltigen« ausgesprochen hätte, »… andere Menschen zu überfallen. Die Opiumsucht ist eine sehr einsame Angelegenheit. Zumindest was den Geist betrifft, wenn auch nicht den Körper. Diese Männer scheinen zusammengearbeitet zu haben, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.« Ihr Gesicht nahm einen bitteren Zug an.

»Ich hätte gedacht, was sie mir angetan haben, könnte ein Mann auch ganz allein erledigen!«

»Aber so war es nicht?«

»Nein. Die hielten große Stücke auf sich selbst, diese Männer.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Einer hat gelacht. Daran werde ich mich erinnern bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Er hat gelacht, jawohl, direkt bevor er mir das angetan hat.«

Monk schauderte, und es war nicht allein die Kälte des Raumes, die ihn frösteln machte.

»Waren es alte Männer, oder waren sie noch jung?« fragte er weiter.

»Weiß nicht. Vielleicht jung. Sie waren ganz glatt im Gesicht, keine Schnurrbärte, nichts.« Sie berührte ihre eigene Wange.

»Nichts Rauhes.«

Junge Männer, die ausgezogen waren, das erste Mal in ihrem Leben Blut zu schmecken, dachte Monk bei sich. Die Gewalt kosten und den Rausch ihrer eigenen Macht erfahren wollten. Junge Männer, die nicht das Format hatten, in ihrer eigenen Welt etwas Nennenswertes zu leisten. Statt dessen suchten sie hilflose Opfer, die sie beherrschen konnten, denen sie ihren Willen aufzwingen konnten, ohne daß sich jemand ihnen in den Weg stellte. Menschen, die demütigen wollten, statt selbst gedemütigt zu werden.

War es das, was auch Evans junger Mann erlebt hatte? War er mit ein oder zwei seiner Freunde nach St. Giles gekommen, um Erregung zu suchen, den Kitzel der Macht, der für sie in ihrer eigenen Welt unerreichbar war? Und war ihr Verbrechen ausnahmsweise einmal auf überlegenen Widerstand gestoßen? War sein Vater ihm diesmal gefolgt, nur um dieselbe Strafe zu empfangen?

Oder hatte es sich in erster Linie um einen Streit zwischen Vater und Sohn gehandelt?

Das war möglich, aber Monk hatte nicht die geringsten Beweise. Wenn diese Vermutung zutraf, dann hatte zumindest einer der Schuldigen bereits furchtbare Rache erfahren, und Vida Hopgood konnte ihm kaum mehr Schlimmeres antun.

Monk bedankte sich bei Bella Green und sah sich kurz nach ihrem Mann um, um festzustellen, ob es sich lohnte, mit ihm zu sprechen. An dem Ausdruck seiner Augen ließ sich unmöglich erkennen, ob er zugehört hatte. Monk sprach ihn trotzdem an.

»Vielen Dank, daß Sie uns eingelassen haben. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«

Der Mann schlug mit jäher Klarheit die Augen auf, aber er antwortete nicht.

Bella führte sie hinaus. Das Kind war nirgends zu sehen, wahrscheinlich hielt es sich im Nebenzimmer auf. Auch Bella sagte kein Wort mehr. Sie zögerte, als wolle sie um Hoffnung bitten, aber vielleicht wollte sie Monk auch nur danken. Diese Regung lag in ihren Augen, in einer gewissen Weichheit, die eine Sekunde lang dort aufleuchtete. Aber sie blieb still, und Monk und Vida Hopgood traten auf die Straße hinaus, wo sie unverzüglich von dem immer dichter werdenden Nebel verschlungen wurden. Die Luft draußen wirkte jetzt gelblich und war vom sauren Geruch des Rauchs getränkt, so daß sie in der Kehle brannte.

»Nun?« fragte Vida.

»Ich werde es Ihnen sagen, wenn ich soweit bin«, gab Monk zurück. Er wäre am liebsten mit langen Schritten vorangestürmt, denn er war zu wütend, um sich Vidas gemächlicherem Tempo anzupassen, und er fror. Aber er wußte nicht, wo er sich befand oder wo sie hingingen. Er sah sich gegen seinen Willen gezwungen, auf Vida zu warten.

Im nächsten Haus, das sie aufsuchten, war es eine Spur wärmer. Sie kamen in einen Raum, in dem ein Kanonenofen nach abgestandenem Ruß roch, aber dennoch eine recht behagliche Wärme verströmte. Maggie Arkwright wirkte aufgeräumt und gemütlich, mit schwarzen Haaren und rötlicher Haut. Man konnte sich leicht vorstellen, daß sie mit ihrer Teilzeitbetätigung recht ordentlich verdiente. Sie hatte etwas Gutmütiges und war von einem gesunden Aussehen, das durchaus attraktiv wirkte. Monk sah sich in dem Raum um: zwei weiche Sessel, ein Tisch, ein Hocker und eine Holztruhe mit drei gefalteten Decken. Ihn durchzuckte der Gedanke, ob Maggie diese Dinge vielleicht mit den Einkünften ihres Gewerbes bezahlt hatte.

Dann fiel ihm Vidas Bemerkung ein, daß ihr Mann ein schäbiger Dieb war, und ihm klar wurde, aus welcher Quelle ihr relativer Wohlstand entspringen mochte. Der Mann kam einen Augenblick nach ihnen herein. Er hatte ein freundliches Gesicht, und die Runzeln um seine Augen verrieten Gutmütigkeit, aber sein Kopf war glattrasiert, ein Gefängnishaarschnitt, wie Monk sehr wohl wußte. Der Mann war wahrscheinlich erst vor einer Woche oder vielleicht zehn Tagen entlassen worden. Während er in Millwall oder den Coldbath Fields die Gastfreundschaft Ihrer Majestät genoß, hielt Maggie den Haushalt beisammen.

Aus dem Nebenzimmer hörte man plötzlich lautes Gelächter, die schrille Stimme einer alten Frau und das Kichern von Kindern. Es war ein fröhliches Geräusch, arglos und sorgenfrei.

»Was wollen Sie?« fragte Maggie höflich, aber mit einem argwöhnischen Blick in Monks Richtung. Vida war ihr bekannt, aber der Mann hatte eine Aura von Autorität, der sie nicht traute.

Vida erklärte ihr Anliegen, und Stück um Stück entlockte Monk Maggie die Geschichte des Überfalls auf sie. Es war einer der ersten Überfälle gewesen und schien bei weitem weniger brutal geführt worden zu sein als die späteren. Maggies Bericht war farbig, und Monk hielt es für sehr wahrscheinlich, daß sie ihn um seinetwillen ein klein wenig ausschmückte. Ihre Enthüllungen hatten keinen praktischen Wert, abgesehen davon, daß sie ihm von einem weiteren Opfer erzählte, einem Opfer, von dem auch Vida bisher nichts gewußt hatte. Maggie erklärte ihm, wo er die Frau finden könne, aber nicht mehr heute, sondern erst morgen. Heute würde sie betrunken sein und ohne jeden Nutzen für ihn. Sie lachte, als sie das sagte, ein Lachen, in dem spöttische Belustigung mitschwang, aber kaum Unfreundlichkeit.

Als Monk die Frau fand, verkaufte sie an ihrem Stand alle möglichen Haushaltswaren, Töpfe, Schüsseln, Eimer, Zierstücke, Kerzenstöcke und einzelne Krüge oder Wasserbehälter. Einige der Dinge besaßen einen bescheidenen Wert. Sie war nicht mehr jung, vielleicht Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, das ließ sich schwer sagen.

Die Frau betrachtete Monk als möglichen Kunden mit mildem Interesse, da sie zu jenen gehörte, die nie die Hoffnung aufgaben. Das Interesse zu verlieren bedeutete, Geld zu verlieren, und Geld zu verlieren bedeutete den Tod.

»Sind Sie Sarah Blaine?« fragte er, obwohl sie in allen Einzelheiten Maggies Beschreibung entsprach und sich am angegebenen Ort befand. Es wäre ungewöhnlich gewesen, daß eine Frau ihres Berufsstandes einer anderen ihren Platz überließ, und sei es nur für einen Tag.

»Wer will das wissen?« erkundigte sie sich vorsichtig. Dann weiteten ihre Augen sich und füllten sich mit unverkennbarem Abscheu, einer tiefen und bitteren Erinnerung. Sie sog den Atem ein und stieß ihn zischend wieder aus. »Gott! Ich hatte gehofft, ich würde Sie nie wiedersehen, Sie Bastard! Dachte, Sie wären tot! Habe ich so gehört, sechsundfünfzig. Ich bin damals los und habe das ganze ›Grinning Rat‹ auf einen Drink freigehalten. Wir haben getanzt und gesungen, jawohl! Wir haben auf Ihrem Grab getanzt, Monk, nur leider lagen Sie nicht drin! Was ist los? Wollte der Teufel Sie nicht haben? Sogar der wollte Sie nicht in seiner Nähe haben, was?«

Monk war wie vor den Kopf geschlagen. Sie kannte ihn! Das ließ sich unmöglich leugnen. Und warum auch nicht? Er hatte sich nicht verändert. Er hatte immer noch denselben mageren Körper, dieselben harten, ruhigen Augen, die hohen, glatten Gesichtsknochen, dieselbe schöne, präzise Stimme.

Er hatte keine Ahnung, wer sie war oder in welcher Beziehung sie einmal gestanden hatten. Das einzige, was er wußte, war das Offensichtliche, daß sie ihn haßte. Und ihr Haß galt nicht nur der Tatsache, daß er zur Polizei gehörte, sondern hatte auch einen persönlichen Grund.

»Ich bin verletzt worden«, antwortete er wahrheitsgemäß.

»Nicht getötet.«

»Ach nein? Was ‘ne Schande«, sagte sie lakonisch. »Aber was soll’s, beim nächsten Mal haben wir mehr Glück!« Das Leuchten in ihren Augen und die verächtlich geschürzten Lippen ließen keinen Zweifel an der Bedeutung ihrer Worte.

»Na schön, nichts von dem Zeug ist heiß, also verschwinden Sie! Hier gibt’s nichts für Sie zu tun. Und wenn Sie was über jemand wissen wollen, werden Sie von mir nichts erfahren.«

Monk erwog die Frage, ob er ihr erzählen sollte, daß er nicht mehr zur Polizei gehörte, oder ob es nützlich sein konnte, sie in diesem Glauben zu lassen. Der Status eines Polizisten verlieh ihm Macht, eine gewisse Autorität, deren Verlust ihn immer noch schmerzte.

»Die einzigen Leute, über die ich etwas wissen möchte, sind die Männer, die Sie vor einigen Wochen in der Steven’s Alley vergewaltigt und geschlagen haben.«

Er beobachtete ihr Gesicht und quittierte mit einer gewissen Genugtuung die absolute Verblüffung in ihren Zügen, die für einen Augenblick lang alle anderen Gefühle wegwischten.

»Keine Ahnung, wovon Sie reden!« sagte sie schließlich. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, ihr Blick war leer und dennoch von Haß erfüllt. »Mich hat nie einer vergewaltigt! Sie haben sich schon wieder geirrt! Wie verdammt sicher Sie Ihrer Sache doch sind! Mit Ihren schnieken Kleidern hierherzukommen, als wären Sie Lord Muck persönlich, sich wichtig zu machen und dabei von nix ‘ne Ahnung zu haben!«

Monk wußte, daß sie log. Es war nichts, das er in Worte hätte fassen können, keine Frage des Verstandes, sondern des Instinkts. Ungläubigkeit und Verachtung schlugen ihm entgegen.

»Ich habe Sie überschätzt«, sagte er vernichtend. »Ich dachte, Sie würden fest zu Ihresgleichen stehen.« Diese Art von Verläßlichkeit war die einzige Eigenschaft, die ihr mit Sicherheit etwas bedeutete.

Er hatte recht. Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

»Sie sind nicht meinesgleichen, genausowenig wie die Ratten in dem Abfallhaufen da drüben. Vielleicht sollten Sie es mal bei einer von denen versuchen, was? Sie wollen Solidarität mit Ihresgleichen? Vielleicht reden ja die Ratten mit Ihnen, wenn Sie sie hübsch bitten!« Sarah lachte laut über ihren eigenen Witz, aber das Lachen klang brüchig. Sie hatte vor irgend etwas Angst, und als Monk sie ansah, wie sie in ihrem grauschwarzen Umhang mit gebeugten Schultern und von dem eisigen Wind zerzaustem Haar vor ihm hockte, wuchs seine Überzeugung, daß er es war, den sie fürchtete.

Warum? Er stellte doch keinerlei Bedrohung für sie dar.

Die Antwort mußte in der Vergangenheit liegen, in irgendeinem Ereignis, das sie schon einmal zusammengeführt hatte. Es mußte seinen Grund haben, daß sie ein Freudenfest veranstaltete, als sie ihn für tot hielt.

Er hob sarkastisch die Augenbrauen.

»Meinen Sie? Wären die Ratten in der Lage, die Männer zu beschreiben, die Sie geschlagen haben? Sie und all die anderen Frauen, diese armen Teufel, die den ganzen Tag in der Fabrik arbeiten und dann für die wenigen Stunden der Nacht auf die Straßen hinausgehen, um vielleicht ein klein wenig dazuzuverdienen, damit sie ihren Kindern zu essen geben können? Würden die Ratten mir erzählen, wie viele Männer daran beteiligt waren, ob sie alt oder jung waren, wie ihre Stimmen klangen, aus welcher Richtung sie kamen und in welche Richtung sie gingen, nachdem sie die vierzehnjährige Carrie Barker verprügelt und ihrer kleinen Schwester den Arm gebrochen hatten?«

Er hatte sein Ziel erreicht. Sarah sah verletzt und überrascht zu ihm auf. Der Schmerz, den sie empfand, war echt. Für einen Augenblick war ihr Zorn auf ihn vergessen, und ihre Wut richtete sich statt dessen gegen diese Männer, gegen eine Welt der Ungerechtigkeit, in der so etwas passieren konnte. Gegen die ganze Brutalität der Angst und des Elends, die sie alltäglich um sich herum erlebte. Ihr Zorn richtete sich gegen die Gewißheit, daß es keine Vergeltung geben würde und keine Rache.

»Und was schert das alles Sie, Sie elender Dreckskerl? Abschaum, das ist es, was Ihr doch alle seid!« Ihre Stimme klang heiser von Bitterkeit und dem Wissen um ihre eigene Hilflosigkeit, die es ihr nicht einmal möglich machte, ihn zu verletzen. Ihm mehr als einen oberflächlichen Kratzer zuzufügen, der nichts war im Vergleich zu der klaffenden Wunde, die sie langsam tötete. Sie haßte ihn dafür, haßte ihn mit der ganzen Leidenschaft der Vergeblichkeit. »Abschaum! Von den Sünden anderer Leute zu leben… Wenn wir nicht sündigen, sind wir ein Nichts. Sie würden in der Gosse kriechen und anderer Leute Abfälle wegholen – zu mehr würden Sie nicht taugen! Wo Sie doch selber nichts anderes sind als Dreck!« In ihrem Gesicht blitzte so etwas wie Zufriedenheit auf, der Vergleich gefiel ihr offensichtlich.

Ihre Worte waren keiner Entgegnung würdig.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, ich habe es nicht auf gestohlene Kerzenleuchter oder Teekannen abgesehen…«

»Ich habe keine Angst vor Ihnen!« zischte sie, und die Furcht leuchtete aus ihren Augen. Sie haßte ihn nur um so mehr, weil sie genau wußte, daß er sie durchschaute.

»Ich bin nicht mehr bei der Polizei«, fuhr er fort, ohne auf ihre Einwände zu achten. »Ich arbeite privat, für Vida Hopgood. Sie bezahlt mich, und Vida schert es keinen roten Heller, woher Ihre Waren kommen oder wohin sie gehen. Sie will, daß die Vergewaltigungen und die Prügel aufhören.«

Sarah starrte ihn an, als versuche sie, die Wahrheit in seinen Zügen zu lesen.

»Wer hat Sie geschlagen?«

»Ich weiß es nicht, Sie Esel!« sagte sie wütend. »Wenn ich’s wüßte, glauben Sie nicht, daß ich zu dem Mann hingehen würde und ihm die Kehle aufschneiden, diesem Bastard?«

»Es war nur ein einziger Mann?« fragte er überrascht.

»Nein, es waren zwei. Zumindest glaube ich das. Es war so finster wie das Herz einer Hexe, und ich konnte rein gar nichts sehen! Ha! Ich sollte wohl sagen, so finster wie das Herz eines Bullen, wie? Bloß, wer weiß schon, ob ein Bulle überhaupt ein Herz hat? Vielleicht sollten wir mal einen aufschneiden, bloß um nachzusehen?«

»Was ist, wenn er ein Herz hat und es genauso rot ist wie Ihres?« fragte er.

Sie spuckte aus.

»Sagen Sie mir, was passiert ist«, beharrte er. »Vielleicht würde es mir helfen, diese Männer zu finden.«

»Und was, wenn Sie sie finden? Wen schert das schon? Wer wird irgendwas deswegen unternehmen?« fragte sie höhnisch.

»Würden Sie nicht etwas unternehmen, wenn Sie wüßten, wer die Männer waren?« fragte er.

Das genügte. Sarah erzählte ihm alles, woran sie sich erinnern konnte, obwohl er ihr jede Einzelheit mühsam entlocken mußte. Im großen und ganzen, glaubte er, waren ihre Antworten ehrlich. Sie hatten allerdings wenig Nutzen für ihn, abgesehen davon, daß auch Sarah sich an den merkwürdigen Geruch erinnerte, an einen scharfen, alkoholischen Geruch, der sich von allem unterschied, was sie hätte benennen können.

Monk verabschiedete sich und ging weiter, in den Wind hinein, während er in Gedanken sortierte, was Sarah ihm erzählt hatte. Aber gegen seinen Willen beschäftigte ihn mehr und mehr die Frage, was er in der Vergangenheit getan haben mochte, um einen solchen Haß zu verdienen.

Am Abend beschloß er einem Impuls folgend, Hester aufzusuchen. Er suchte nicht nach einem Grund. Es gab keinen. Er hatte ihr nichts zu sagen, es gab nichts, worüber sie hätten reden können. Er wußte nur deshalb, wo sie war, weil Evan es ihm erzählt hatte. Evan hatte auch den Namen Duff und die Ebury Street erwähnt. Mit diesen Informationen war es nicht weiter schwierig für Monk, das richtige Haus zu finden.

Er erklärte dem Mädchen, das die Tür öffnete, daß er mit Miss Latterly bekannt sei und ob er sie vielleicht sprechen könne, falls sie ein paar Minuten erübrigen konnte. Die Antwort, die von Mrs. Sylvestra Duff kam, war überaus großzügig. Sie werde heute abend selbst zu Hause sein, und wenn Miss Latterly dies wünschte, könne sie den ganzen Abend freihaben. Sie habe in der letzten Zeit außerordentlich hart gearbeitet und sich ein wenig Erholung und einen Tapetenwechsel reichlich verdient.

Monk dankte ihr mit einem Gefühl, das der Bestürzung recht nahekam. Es schien, als hätte Mrs. Duff mehr in die Beziehung hineingedeutet, als die Tatsachen es rechtfertigten. Monk wollte nicht den ganzen Abend mit Hester verbringen. Er hatte ihr nichts zu sagen. Tatsächlich war er sich jetzt gar nicht mehr sicher, ob er Hester überhaupt sehen wollte. Andererseits konnte er das jetzt unmöglich sagen, ohne sich lächerlich zu machen oder als kompletter Feigling dazustehen. Man würde ein solches Benehmen auf verschiedenste Weise interpretieren können, und keine dieser Möglichkeiten würde ihm zum Vorteil gereichen.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Hester endlich kam. Vielleicht hatte auch sie nicht den Wunsch, ihn zu sehen? Warum nicht? Hatte sie irgend etwas gekränkt? Sie war in letzter Zeit tatsächlich ein wenig schroff gewesen. Er dachte an ihre gereizten Bemerkungen über sein Benehmen während des Verleumdungsfalles, vor allem, was seine Reise auf den Kontinent betraf. Es schien, als sei sie eifersüchtig auf Evelyn von Seidlitz gewesen, was idiotisch war. Seine vorübergehende Faszination für Evelyn hatte keinerlei Auswirkungen auf ihre Freundschaft, es sei denn, Hester führte sie herbei.

Während er wartete, ging er im Empfangssalon auf und ab, neun Schritte in die eine Richtung, neun Schritte zurück.

Aus der Halle kam ein leises Geräusch.

Er fuhr zur Tür herum, gerade in dem Augenblick, in dem sie eintrat. Hester trug ein dunkelgraues Kleid mit einem weißen Spitzenkragen. Sie sah sehr hübsch aus, sehr feminin, als habe sie sich eigens für diese Gelegenheit besondere Mühe gegeben. Er spürte, wie eine Welle der Panik ihn durchwogte. Dies war kein Gesellschaftsbesuch und hatte gewiß nichts mit Romantik zu tun! Was um alles in der Welt hatte Mrs. Duff ihr erzählt?

»Ich bin nur auf einen Sprung vorbeigekommen!« sagte er hastig. »Ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören! Wie geht es Ihnen?«

Die Röte glühte auf ihren Wangen.

»Recht gut, vielen Dank«, erwiderte sie sarkastisch. »Und Ihnen?«

»Müde. Ich verfolge zur Zeit einen erschöpfenden und ziemlich hoffnungslosen Fall«, antwortete er. »Es wird schwierig werden, die Schuldigen zu finden, und noch schwieriger, das Verbrechen zu beweisen. Und selbst wenn ich Erfolg haben sollte, bin ich nicht sehr zuversichtlich, daß das Gesetz zur Anklage schreiten wird. Störe ich Sie bei irgend etwas?«

Sie schloß die Tür und lehnte sich gegen die Klinke.

»Wenn es so wäre, wäre ich nicht heruntergekommen. Das Mädchen ist durchaus in der Lage, mir eine Nachricht zu überbringen.«

Hester mochte weniger nüchtern aussehen als gewöhnlich, aber sie besaß keinen Funken weiblichen Charme. Keine andere Frau hätte so mit ihm gesprochen.

»Freundlichkeit ist wirklich und wahrhaftig ein Fremdwort für Sie, nicht wahr?« fragte er mit unverhohlener Kritik.

Ihre Augen weiteten sich. »Sind Sie deshalb hierhergekommen? Damit jemand freundlich zu Ihnen ist?«

»Dann hätte ich mich kaum an Sie gewandt, oder?«

Hester ignorierte das. »Was hätten Sie denn gern von mir gehört? Daß ich festes Vertrauen darauf habe, daß Sie wissen, was Sie tun, und daß Ihre Fähigkeiten am Ende triumphieren werden? Daß der Kampf um eine gerechte Sache immer ein guter ist, ob man ihn nun gewinnt oder verliert?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Die Ehre liegt in der Schlacht, nicht im Sieg? Ich bin kein Soldat. Ich habe zu viele Opfer schlecht geplanter Schlachten gesehen, und ich kenne den Preis einer Niederlage.«

»Ja, wir alle wissen, daß Sie den Krieg besser geführt hätten als Lord Raglan«, fuhr er sie an. »Wenn das Kriegsministerium nur die Vernunft besessen hätte, Sie statt seiner mit dem Kommando zu betrauen!«

»Wenn sie willkürlich jemanden von der Straße geholt hätten, hätten sie einen besseren Mann für diesen Posten gehabt«, gab sie zurück. Dann wurde ihr Gesicht ein wenig weicher. »Was ist das für eine Schlacht, die Sie führen?«

»Das würde ich Ihnen lieber an einem etwas behaglicheren Ort erzählen, wo wir ein wenig ungestörter wären«, erwiderte er.

»Hätten Sie Lust, mit mir zu Abend zu essen?«

Wenn seine Einladung eine Überraschung für sie war, verbarg sie es sehr gut. Allzugut! Vielleicht hatte sie genau das erwartet. Gewiß war es nicht das, was er zu sagen beabsichtigt hatte! Aber wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde es die Dinge nur verschlimmern. Monk konnte nicht einmal vorgeben, er glaube, sie sei zu beschäftigt, denn Mrs. Duff hatte ihr für den Abend freigegeben.

»Danke, gern«, sagte sie mit einem Selbstbewußtsein, das er nicht erwartet hatte. Eine Einladung schien sie nicht im mindesten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie drehte sich um und öffnete die Tür, um in den Flur voranzugehen. Dort bat sie den Lakaien um ihren Mantel, dann traten sie und Monk in den bitterkalten Abend heraus. Wieder lag dichter Nebel in der Luft, und die Straßenlaternen waren verschwommene Monde, die von eisigem Nieselregen umringt waren wie von einem Heiligenschein.

Sie brauchten knapp zehn Minuten, um einen Hansom zu finden. Monk erklärte dem Kutscher den Weg zu einem Gasthaus, das er recht gut kannte. Er wollte Hester nicht in ein teures Lokal ausführen, falls sie seine Absichten mißverstand, aber wenn er sie in eine billige Schenke einlud, würde sie denken, er könne sich nichts Besseres leisten und sich möglicherweise erbieten, selbst zu zahlen.

»Also, was ist Ihre Schlacht?« wiederholte sie, als sie Seite an Seite in der Kälte saßen und die Droschke sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.

»Am Anfang ging es einfach nur um einige Frauen in Seven Dials, die um ihren Lohn betrogen wurden«, antwortete er.

»Zuerst war es nicht mehr als eine Prostituierte, deren Dienste in Anspruch genommen wurden, ohne daß der Betreffende hinterher zahlte.«

»Haben sie keine Zuhälter und Bordellwirtinnen, die ihnen helfen, so etwas zu verhindern?« erkundigte sie sich.

Monk zuckte leicht zusammen, aber andererseits hätte er wohl damit rechnen müssen, daß Hester von solchen Dingen wußte. Es gab viele Wahrheiten, vor denen sie kaum abgeschirmt worden war.

»Diese Frauen waren nicht organisiert«, erklärte er. »Es sind überwiegend Fabrikarbeiterinnen betroffen, die tagsüber ihrer Arbeit nachgehen und ab und zu ein klein wenig mehr Geld brauchen.«

»Ich verstehe.«

»Dann wurden sie vergewaltigt. Mittlerweile ist die Sache ausgeufert, und sie werden geschlagen. Mit zunehmender Brutalität.«

Hester sagte nichts.

Monk sah sie von der Seite an. Als sie dicht an einer anderen Kutsche vorbeikamen, fiel das Licht der Droschkenlampen auf Hesters Gesicht. Er sah das Mitleid und den Zorn darin, und plötzlich löste seine Einsamkeit sich auf. All die Stunden des Grolls, des Ärgers und der bitteren Selbstbehauptung schoben sich ineinander, verschmolzen zu den Kämpfen, die sie miteinander geteilt hatten, bis sie schließlich verschwanden und nichts als Verständnis zurückließen. Er fuhr fort, Hester von seinen Bemühungen zu erzählen, Tatsachen über diese Männer zusammenzutragen. Er berichtete von seinen Gesprächen mit Droschkenfahrern und Straßenhändlern, um herauszufinden, woher die Männer gekommen waren.

Schließlich erreichten sie das Wirtshaus. Monk bestellte, ohne daß ihm bewußt geworden wäre, daß er es für sie beide getan hatte, und Hester zog eine kaum merkliche Grimasse, aber sie unterbrach ihn nicht, es sei denn, um eine Erklärung zu bitten, wenn er etwas ausließ oder sich zu irgendeinem Thema zu vage ausdrückte.

»Ich werde sie finden«, kam er schließlich mit harter, unbarmherziger Festigkeit zum Ende. »Ob Vida Hopgood mich dafür bezahlt oder nicht. Ich werde sie aufhalten, und ich werde weiß Gott dafür sorgen, daß sie ihren Preis bezahlen, ob ihnen nun die Gerechtigkeit des Gesetzes oder die der Strafe zuteil wird.« Er wartete einen Augenblick, weil er halb damit rechnete, daß Hester mit ihm streiten würde, daß sie ihm die Heiligkeit des zivilisierten Gesetzes predigen und ihn vor dem Abstieg in die Barbarei warnen würde, falls man sich vom Gesetz abwandte, aus welchem Grund auch immer und wie groß die Provokation auch sein mochte.

Aber Hester ließ mehrere Augenblicke in nachdenklichem Schweigen vergehen, bevor sie antwortete.

Um sie herum hörte man allenthalben das Klirren von Geschirr, Stimmengewirr und Gelächter. Der Geruch von Essen und Bier und feuchter Wolle erfüllten die Luft. Das Licht glitzerte auf den Gläsern und spiegelte sich auf Gesichtern, weißen Männerhemden und den hellen Platten wider.

»Der junge Mann, den ich zur Zeit pflege, ist in St. Giles halbtot geprügelt worden«, sagte sie nach einer ganzen Weile.

»Sein Vater ist totgeschlagen worden.« Sie sah Monk an. »Sind Sie wirklich sicher, daß Sie den richtigen Mann bekommen können? Wenn Sie einen Fehler begehen, läßt sich das nicht wieder gutmachen. Das Gesetz wird die Schuldigen bestrafen, wenn Beweise gegen sie vorliegen, Beweise, die abgewogen und gegeneinander gehalten werden, und jemand wird zu ihrer Verteidigung sprechen. Wenn es nach dem Gesetz der Straße geht, wird es nicht mehr als eine Hinrichtung geben. Sind Sie darauf vorbereitet, Ankläger, Verteidiger und Geschworener gleichzeitig zu sein und die Opfer richten zu lassen?«

»Was, wenn die einzige Alternative Freiheit ist?« fragte er.

»Nicht nur die Freiheit, all die Freuden und Schönheiten des Lebens zu genießen, ohne für vergangenes Unrecht die Verantwortung tragen zu müssen. Sondern die Freiheit, weiterhin Unrecht zu begehen, neue Opfer zu schaffen, immer weiter und weiter, bis jemand ermordet wird, vielleicht eine von den ganz jungen Frauen, vielleicht ein zwölf oder vierzehn Jahre altes Mädchen, das zu schwach ist, um sich überhaupt zu wehren?« Er sah sie durchdringend an und begegnete einem klaren Blick. »Ich kann mich der Verantwortung nicht entziehen. Ich bin ein Geschworener dieses Gerichts, ganz gleich, wozu ich mich entscheide. Auch eine Unterlassung ist ein Urteil. Einfach weiterzugehen, auf die andere Seite überzuwechseln, auch das ist eine Entscheidung.«

»Ich weiß«, pflichtete Hester ihm bei. »Die Gerechtigkeit mag blind sein, aber das Gesetz ist es nicht. Es sieht, wann und wen es will, weil es von Leuten angewandt wird, die sehen, wann und wen sie wollen.« Sie runzelte die Stirn.

Endlich schnitt er das Thema an, das unausgesprochen zwischen ihnen stand. Er wußte es, und er glaubte, daß sie es auch wußte. Bei jedem anderen hätte er den Augenblick einfach verstreichen lassen. Die Frage war zu heikel, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie schmerzlich sein würde, war nur allzu groß. Bei Hester war es fast dasselbe, ob er einen Gedanken für sich behielt oder ihn aussprach.

»Sie sind sicher, daß es nicht Ihr junger Mann und sein Vater oder seine Freunde gewesen sein können? Erzählen Sie mir von ihm.«

Wieder ließ sie einige Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete.

»Nein, ich bin mir nicht sicher«, sagte sie so leise, daß Monk sich vorbeugen mußte, um sie überhaupt verstehen zu können. Er ließ den letzten Rest seines Essens unbeachtet auf dem Teller liegen. »Evan ist mit der Aufklärung des Falls betraut. Ich nehme an, das wissen Sie. Er konnte bisher noch nicht herausfinden, was die beiden eigentlich in St. Giles getan haben. Es ist unwahrscheinlich, daß es sich dabei um etwas handelt, wofür sie unsere Bewunderung verdient hätten.« Hester zögerte, und die Bekümmerung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, daß Rhys Duff etwas Derartiges tun würde. Nicht freiwillig jedenfalls, nicht mit Absicht.«

»Aber sicher sind Sie sich dessen nicht?« fragte Monk hastig. Sie blickte ihm forschend ins Gesicht, weil sie hoffte, dort Trost zu finden, aber vergeblich.

»Nein, ich bin mir nicht sicher. Er hat einen grausamen Zug, der sehr häßlich wirkt. Ich weiß nicht, warum. Sein Zorn scheint sich überwiegend gegen seine Mutter zu richten.«

»Das tut mir leid.« Ohne nachzudenken, griff er nach ihrer Hand auf dem Tisch. Er spürte die Zartheit, obwohl es eine starke Hand war, die er hielt, aber sie war so leicht, daß seine eigenen Finger sie bedeckten.

»Er scheint nichts mit dieser Sache zu tun zu haben«, sagte sie langsam, und Monk hatte das Gefühl, daß sie mehr sich selbst als ihn überzeugen wollte. »Es ist nur… es könnte sein… weil er nicht sprechen kann. Er ist allein.« Hester sah ihn mit einer Intensität an, die den Raum um sie herum und die Menschen darin überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. »Er ist vollkommen allein! Wir wissen nicht, was ihm widerfahren ist, und er kann es uns nicht sagen. Wir können raten, wir können miteinander reden, wir arbeiten an den verschiedenen Möglichkeiten, und er kann uns nicht einmal sagen, an welcher Stelle wir in die Irre gehen, an welcher Stelle unsere Vermutungen lächerlich oder ungerecht sind. Ich kann mir keine größere Hilflosigkeit vorstellen.«

Monk vermochte nicht zu entscheiden, ob er nun aussprechen sollte, was ihm durch den Kopf ging oder nicht. Hester wirkte so verletzt, so betroffen von dem Schmerz, den sie mitansehen mußte.

Aber es war Hester, die hier vor ihm saß, nicht eine Frau, die er schützen mußte, ein sanftes und verletzliches Wesen, das nur mit den weiblichen Dingen des Lebens vertraut war. Hester hatte das Schlimmste schon erlebt, schlimmere Dinge als er selbst.

»Ihr Mitleid mit ihm ändert nichts an den Dingen, derer er sich in der Vergangenheit schuldig gemacht haben mag«, antwortete er ihr.

Sie zog die Hand weg.

Er fühlte sich seltsam verletzt, als habe sie einen Teil ihres Selbst zurückgezogen. Sie war so unabhängig, Sie brauchte niemanden. Sie konnte geben, aber sie konnte nicht nehmen.

»Ich weiß«, sagte sie leise.

»Nein, das tun Sie nicht!« Monk antwortete mit dieser Bemerkung auf seine eigenen Gedankengänge. Sie ahnte nicht, wie arrogant sie war und daß die Art, wie sie anderen etwas gab, eine Form des Nehmens war. Während es, wenn sie einmal genommen hätte, ein Geschenk gewesen wäre.

»O doch, ich weiß es sehr wohl!« Sie war jetzt wütend und wollte sich verteidigen. »Ich glaube nur nicht, daß es Rhys war. Ich kenne ihn! Sie nicht.«

»Und Ihr Urteil ist natürlich unparteiisch?« fragte er herausfordernd. Monk lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Sie sind nicht voreingenommen, nicht einmal eine Spur?«

Ein Paar ging an ihnen vorbei, und die Röcke der Frau streiften Hesters Stuhl.

»Was für eine dumme Bemerkung!« Ihre Stimme klang scharf, ihr Gesicht war gerötet. »Sie sagen, wenn man etwas über eine Sache weiß, ist man zwangsläufig voreingenommen und besitzt kein Urteilsvermögen mehr, während jemand, der nichts weiß, einen klaren Kopf hat und daher ein gerechtes Urteil abgeben kann. Aber wenn Sie nichts wissen, ist Ihr Kopf nicht klar, er ist leer! Wenn es danach ginge, könnten wir auf Geschworene verzichten und brauchten nur jemanden zu fragen, der noch nie von dem Fall gehört hat, und der Betreffende würde eine vollkommen unvoreingenommene Entscheidung treffen!«

»Sie meinen nicht, daß es vielleicht eine gute Idee wäre, auch etwas über die Opfer in Erfahrung zu bringen?« fragte er beißend. »Oder gar über die Verbrechen selbst? Oder ist all das unwesentlich?«

»Sie haben mir gerade erzählt, worum es sich bei den Verbrechen gehandelt hat, und Sie haben von den Opfern gesprochen«, bemerkte sie. Ihre Stimme wurde lauter. »Und jawohl, in gewisser Weise ist das alles für die Beurteilung von Rhys unwesentlich. Die furchtbaren Ausmaße eines Verbrechens haben nichts mit der Frage zu tun, ob eine bestimmte Person schuldig ist oder nicht. Das ist eine elementare Sache. Es betrifft nur die Strafe. Warum tun Sie so, als wüßten Sie das nicht?«

»Jemanden zu mögen oder Mitleid mit ihm zu haben, hat nichts mit der Frage von Schuld oder Unschuld zu tun«, versetzte er, ebenfalls mit lauter gewordener Stimme. »Warum tun Sie so, als hätten Sie das vergessen? Es spielt keine Rolle, wieviel Ihnen an dem Jungen liegt, Hester, Sie können nicht ungeschehen machen, was bereits geschehen ist.«

Ein Mann am Nebentisch drehte sich zu ihnen um.

»Seien Sie nicht so herablassend!« fauchte sie. »Das alles weiß ich sehr gut! Ist es Ihnen nicht mehr wichtig, die Wahrheit herauszufinden? Sind Sie so versessen darauf, irgend jemanden zu Vida Hopgood zu schleppen und zu beweisen, daß Sie dazu imstande sind, jeden Beliebigen zu verdächtigen, ob zu Recht oder zu Unrecht?«

Monk war gekränkt. Es war ein Gefühl, als hätte Hester plötzlich nach ihm getreten. Doch Monk war fest entschlossen, es Hester nicht merken zu lassen.

»Ich werde die Wahrheit aufdecken, sei sie nun bequem oder unbequem«, sagte er kalt. »Wenn es jemand ist, den wir alle mit Freuden verabscheuen können, jemand, dessen Bestrafung uns glücklich macht, um so besser.« Er senkte die Stimme, doch die Heftigkeit, mit der er sprach, wuchs. »Aber wenn es jemand ist, den wir mögen und mit dem wir Mitleid haben, und wenn seine Strafe uns mit ihm in Stücke reißen wird, auch dann werde ich nicht in die andere Richtung sehen und so tun, als sei nichts passiert. Wenn Sie glauben, die Welt sei zweigeteilt, in jene, die gut sind, und jene, die schlecht sind, dann sind Sie schlimmer als eine Närrin. Dann sind Sie eine moralische Schwachsinnige, die sich weigert, erwachsen zu werden.«

Sie stand auf.

»Wären Sie bitte so freundlich, mir einen Hansom zu rufen, damit ich in die Ebury Street zurückkehren kann? Wenn nicht, denke ich, daß ich selbst eine Droschke finden werde.«

Monk erhob sich ebenfalls und verneigte sich sarkastisch, als ihm einfiel, zu welchem Zweck sie eigentlich hergekommen waren. »Es freut mich, daß es Ihnen geschmeckt hat«, erwiderte er schneidend. »Es war mir ein Vergnügen.«

Sie errötete vor Ärger, aber er sah einen Anflug von Dank in ihren Augen aufblitzen.

Schweigend traten sie hinaus in den dichten Nebel auf der Straße. Es war bitterkalt, und die eisige Luft schmerzte in Hals und Nase. Der Verkehr kam nur im Schrittempo voran, und Monk brauchte einige Minuten, um einen Hansom zu finden. Den ganzen Weg zurück in die Ebury Street saßen sie in steifem Schweigen Seite an Seite. Hunderte von Dingen gingen ihm durch den Sinn, aber nichts davon war er mit ihr zu teilen bereit, jedenfalls nicht jetzt.

Sie verabschiedeten sich mit einem einfachen »Gute Nacht«, und er fuhr frierend, wütend und allein in die Fitzroy Street weiter.

Am Morgen kehrte er noch einmal nach Seven Dials zurück, um nach Zeugen zu suchen, die vielleicht irgend etwas im Zusammenhang mit den Überfällen gesehen hatten. Vor allem ging es ihm um Leute, die regelmäßig von anderen Stadtteilen dorthin kamen. Die Droschkenfahrer hatte er bereits alle gefragt, nun versuchte er es bei Straßenhändlern, Bettlern und Vagabunden. In den Taschen hatte er soviel Kleingeld, wie er entbehren konnte. Die Aussicht auf eine kleine Belohnung löste den Leuten oft die Zunge. Es war sein eigenes Geld, nicht das von Vida.

Die ersten drei, die er ansprach, wußten nichts. Der vierte verkaufte Fleischpasteten, heiß und köstlich duftend, wahrscheinlich aber überwiegend aus Innereien und anderen Abfällen hergestellt. Monk kaufte eine Pastete und bezahlte einen überhöhten Preis dafür, ohne jedoch die Absicht zu haben, sie auch zu essen. Er hielt sie in der Hand, während er mit dem Mann redete.

»Haben Sie zufällig irgendwas von zwei oder drei Fremden gehört, die nachts hier herumstreichen?« erkundigte er sich beiläufig. »Gentlemen aus dem Westen der Stadt?«

»Ja«, erwiderte der Händler ohne Überraschung. »Sie haben einige unserer Frauen halbtot geschlagen, diese armen Weiber. Warum fragen Sie danach? Das geht die Bullen nichts an.« Er sah Monk mit ruhiger Abneigung an. »Sie suchen sie noch wegen was anderem, oder?«

»Nein, ich suche sie genau deswegen. Reicht Ihnen das nicht?«

Der Mann machte keinen Hehl aus seiner Verachtung. »Ach ja? Und Sie werden sie dafür in den Bau schicken, wie? Erzählen Sie mir keinen Dreck. Seit wann gibt Ihresgleichen auch nur einen roten Heller darauf, was mit solchen wie uns passiert? Ich kenne Sie, Sie sind schlecht und ein Bastard obendrein. Sie scheren sich doch nicht einmal um Ihresgleichen, ganz zu schweigen von uns armen Teufeln.«

Monk sah dem Mann in die Augen und konnte das Wiedererkennen, das darin aufleuchtete, nicht leugnen. Der Mann sprach nicht von der Polizei im allgemeinen, sondern meinte Monk ganz persönlich. Sollte er nachfragen, nach irgendeiner greifbaren Tatsache der Vergangenheit forschen? Würde es die Wahrheit sein? Würde es ihm helfen? Würde es ihm etwas offenbaren, das er lieber nicht gewußt hätte, etwas Häßliches, Unvollständiges, ohne jede Erklärung?

Wahrscheinlich. Aber vielleicht waren seine bloßen Phantasien noch schlimmer.

»Was meinen Sie damit, ich scherte mich nicht einmal um meinesgleichen?« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten ungesagt gemacht.

Der Mann stieß ein verächtliches Knurren aus.

»Ich habe Sie Ihresgleichen verschaukeln sehen«, antwortete der Händler. »Sie haben ihn einfach auf dem trockenen sitzenlassen, daß er wie ein kompletter Narr dastand. Jawohl.«

Monk wurde kalt, und sein Magen krampfte sich zusammen. Es war das, was er gefürchtet hatte.

»Woher wissen Sie das?« wandte er ein.

»Ich habe sein Gesicht gesehen, und ich habe Ihres gesehen.« Der Händler verkaufte eine weitere Pastete und tastete nach einem Dreipennystück, um seinem Kunden herauszugeben. »Er hat nicht damit gerechnet. Sie haben ihn kalt erwischt, den armen Hund.«

»Wie? Was habe ich getan?«

»Was ist los mit Ihnen?« Der Mann sah ihn ungläubig an.

»Sie wollen gleich zweimal Ihren Spaß an der Sache haben, wie? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Sie zwei zusammen gekommen sind, und irgendwie haben Sie ihn aufs Kreuz gelegt. Er hat Ihnen vertraut, und am Ende saß er im Dreck. Ich schätze, es war seine eigene Schuld. Er hätt’s besser wissen müssen. Stand Ihnen ja ins Gesicht geschrieben. Ich hätte Ihnen nicht mal so weit getraut, wie ich spucken kann!«

Das war häßlich und unverbrämt, und es entsprach wahrscheinlich der Wahrheit. Monk hätte sich gern eingeredet, daß der Mann log, hätte gern irgendeinen Ausweg für sich gesucht, aber er wußte, daß es keine Hoffnung gab. Die Kälte breitete sich bis in seinen Magen aus und von dort bis in die Brust.

»Was ist nun mit diesen Männern, die Sie gesehen haben?« fragte er. Seine Stimme klang hohl. »Wollen Sie nicht, daß jemand sie aufhält?«

Das Gesicht des Mannes verdüsterte sich. »Natürlich will ich das. Und wir werden’s auch tun. Ohne Ihre Hilfe!«

»Bisher sind Sie aber nicht weit damit gekommen«, bemerkte Monk. »Ich bin nicht mehr bei der Polizei. Ich arbeite in diesem Fall für Vida Hopgood. Alles, was ich herausfinde, sage ich ihr.«

Das Staunen des Mannes war offenkundig.

»Warum? Die Polizei hat Sie rausgeworfen, wie? Gut! Ich schätze, dieser Bursche hatte am Ende doch die besseren Karten!« Er lächelte, und gelbe Zähne wurden sichtbar. »Es gibt also doch noch so was wie Gerechtigkeit.«

»Sie wissen nicht, was zwischen uns vorgefallen ist!« verteidigte Monk sich. »Sie wissen nicht, was er mir vor diesem Zwischenfall angetan hat!« Es klang kindisch, selbst in seinen eigenen Ohren, aber es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Nur sehr wenig ließ sich jemals zurücknehmen.

Der Mann lächelte. »Was er Ihnen angetan hat? Ich halte Sie für’n erstklassiges Schwein, aber ich würde darauf wetten, daß Sie jeden besiegen!«

Ein Schaudern überlief Monk, das sowohl der Angst als auch dem Stolz entsprang, einem perversen, schmerzlichen Stolz, der ein wenig von den Trümmern anderer Dinge ablenkte.

»Dann helfen Sie mir, diese Männer zu finden. Sie wissen, was sie getan haben. Sorgen Sie dafür, daß Vida Hopgood erfährt, wer diese Leute sind, um sie aufzuhalten.«

»In Ordnung.« Die Miene des Händlers entspannte sich ein wenig, und die Wut schmolz. »Ich schätze, wenn jemand diese Männer finden kann, dann Sie. Ich weiß nicht viel, sonst hätte ich die Sache selbst in die Hand genommen.«

»Haben Sie sie gesehen, oder haben Sie eine Ahnung, wer sie sein könnten?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe eine Menge Herren gesehen, die nicht hierhergehören, aber für gewöhnlich weiß man doch, was die hier wollen. Sie gehen in die Bordelle oder die Spielhöllen, oder sie verhökern irgendwas, das sie in ihrem eigenen Bezirk nicht zu verhökern wagen.«

»Beschreiben Sie sie!« verlangte Monk. »Die anderen interessieren mich nicht. Erzählen Sie mir alles, was Sie über diese Männer wissen. Wo und wann Sie sie gesehen haben, wieviel es waren, wie sie angezogen waren, und alles andere, was Ihnen einfällt.«

Der Mann dachte einige Augenblicke lang genau nach, bevor er antwortete. Seine Beschreibung bestätigte, was Monk bereits über den Körperbau der Schuldigen gehört hatte, und wieder sagte jemand, daß es manchmal drei Männer, manchmal nur zwei gewesen waren. Der Händler hatte nur eine einzige wirklich neue Information beizusteuern: daß die Männer sich in den Außenbezirken von Seven Dials trafen, als seien sie aus verschiedenen Richtungen gekommen, aber wenn sie gingen, hatte er sie immer nur gemeinsam weggehen sehen.

Es ließ sich nicht länger vermeiden, daß Monk seine Theorie auf die Probe stellte. Er hätte es bei weitem vorgezogen, das nicht zu tun, denn er fürchtete, daß diese Theorie der Wahrheit entsprach, und er hätte es sich anders gewünscht. Hester benahm sich natürlich sehr töricht, trotzdem wollte er ihr nicht weh tun. Es würde ihr aber weh tun, wenn sie zu der Einsicht gezwungen wäre, daß Rhys Duff zu den Vergewaltigern gehört hatte.

Monk brauchte den ganzen Tag, ging von einer grauen und bitterarmen Straße in die nächste, fragte, schmeichelte, drohte, aber als der Abend dämmerte, hatte er andere gefunden, die die Männer direkt nach einem der Überfälle gesehen hatten, und zwar nur wenige Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Sie waren derangiert gewesen und ein wenig aus dem Gleichgewicht, und einer von ihnen war mit Blut gezeichnet gewesen, als einen Augenblick lang der Schein der Kutschlampen eines vorbeifahrenden Hansom sein Gesicht erhellte.

Es war nicht das, was Monk sich gewünscht hatte. Dieses Wissen brachte ihn unausweichlich einer Tragödie näher, von der er beinahe sicher war, daß sie Rhys Duff betreffen mußte. Dennoch erfüllte ihn eine Art von Jubel, das Wissen um seine Macht und der Geschmack des Sieges belebten ihn. Er bog um eine Ecke und gelangte auf eine breitere Straße. Monk mußte von dem schmalen Gehsteig über den Rinnstein hinwegsteigen, als ihm plötzlich einfiel, daß er genau dasselbe schon einmal getan hatte, mit demselben Gefühl des Triumphs angesichts dessen, was er erfahren hatte.

Damals war es Runcorn gewesen. Monk konnte nicht sagen, worum es sich gehandelt hatte, aber einige Männer hatten ihm etwas erzählt, was er wissen mußte, und sie hatten Angst vor ihm gehabt, so wie sie auch jetzt Angst vor ihm hatten. Rückblickend war es kein angenehmes Wissen, die mißtrauischen Augen, der Haß darin und die Niederlage, weil er stärker und klüger war und sie es wußten. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, diesen Menschen weh getan zu haben. Erst jetzt, in der Erinnerung, bezweifelte er, daß er wirklich richtig gehandelt hatte. Er schauderte und beschleunigte seinen Schritt. Es gab kein Zurück mehr.

Monk hatte jetzt genug, um zu Runcorn zu gehen. Die weiteren Untersuchungen gehörten in die Hand der Polizei. Das würde auch Vida Hopgood schützen und der Lynchjustiz vorbeugen, vor der Hester ihn gewarnt hatte. Wenn sie es so machten, würde es eine Verhandlung geben und Beweise.

Monk hielt eine Droschke an und nannte die Adresse des Polizeireviers. Runcorn würde zuhören müssen. Es war zu viel passiert, als daß er es hätte ignorieren können.

»Prügel?« fragte Runcorn skeptisch, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und zu Monk aufblickte. »Klingt nach häuslichen Sachen. Sie sollten es besser wissen, als damit zu uns zu kommen. Die meisten Frauen ziehen ihre Klagen ohnehin zurück. Außerdem hat ein Mann das Recht, seine Frau in einem vernünftigen Maß zu züchtigen.« Runcorn verzog die Lippen, und eine Mischung aus Ärger und Belustigung trat in seine Züge. »Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Ihre Zeit auf eine verlorene Sache zu vergeuden. Sie schienen mir nie einer von denen zu sein, die gegen Windmühlen kämpfen…« Er ließ den Satz in der Luft hängen, und zahllose unausgesprochene Dinge schwangen in seinen Worten mit. »Sie haben sich verändert! Mußten wohl ein bißchen von Ihrem hohen Roß heruntersteigen, wie?« Er kippte seinen Stuhl leicht nach hinten. »Wenn Sie jetzt schon für die Armen und Verzweifelten arbeiten…«

»Die Opfer von Vergewaltigung und Überfällen sind oft verzweifelt«, sagte Monk so beherrscht, wie er nur konnte, aber er hörte den Zorn in seiner Stimme.

Runcorn reagierte sofort. Erinnerungen an eine Vielzahl alter Streitigkeiten wurden wach. Sie spielten so viele Szenen aus der Vergangenheit noch einmal durch, Runcorns Nervosität, seine Halsstarrigkeit, seine Verärgerung, Monks Wut und Verachtung und seine schnelle Zunge. Einen Augenblick lang hatte Monk das Gefühl, als sei er aus sich selbst herausgetreten, ein Zuschauer, der zwei Männer beobachtete. Sie waren dazu verurteilt, dieselbe sinnlose Tragödie wieder und wieder auf die Bühne zu bringen.

»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt«, bemerkte Runcorn schließlich. Er beugte sich vor, ließ die Stuhlbeine herunterkrachen und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Schreibtisch. »Sie werden nie beweisen, daß irgendwelche Männer bei einer Prostituierten Gewalt angewendet haben. Die Frau hat sich bereits verkauft, Monk! Sie mögen das durchaus mißbilligen!« Runcorn zog seine lange Nase kraus, als wolle er Monk nachahmen, obwohl weder in dessen Stimme noch in dessen Gedanken Verachtung gelegen hatte. »Sie mögen diese Art und Weise, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, für unmoralisch und für verdammenswert halten, aber Sie werden die Prostitution niemals abschaffen. Sie mag gegen Ihr Feingefühl verstoßen, aber ich versichere Ihnen, daß sehr viele Männer, die Sie vielleicht als Gentlemen bezeichnen, nach Haymarket gehen. Vornehme Herren, deren Gesellschaft Sie mit Ihrer hochnäsigen Art und Ihrem feinen Getue so gerne suchen. Diese Männer gehen nach Haymarket und sogar in Bezirke wie Seven Dials, wo sie Frauen benutzen und für das Privileg zahlen.«

Monk öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, aber Runcorn redete unerbittlich weiter und ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Vielleicht wollen Sie das nicht gern wahrhaben, aber es ist an der Zeit, daß Sie einige Ihrer vornehmen Herrschaften so sehen, wie sie wirklich sind.« Runcorn hieb mit dem Finger auf seinen Schreibtisch ein. »Sie verheiraten sich mit Frauen, die ihren gesellschaftlichen Ambitionen dienlich sind, die sie auf Händen tragen können, wenn sie mit ihresgleichen speisen und tanzen. Sie schmücken sich gern mit einer kühlen, anständigen Ehefrau.« Er stieß immer wieder mit dem Finger auf die Tischfläche, und sein Gesicht war voller Hohn. »Eine tugendhafte Ehefrau, die nichts von den Vergnügungen des Fleisches weiß, die die Mutter ihrer Kinder sein soll, die Wächterin über all das, was gut und sicher ist, erbaulich und moralisch sauber. Aber wenn es um die Befriedigung ihrer Gelüste geht, wollen sie eine Frau, die sie nicht persönlich kennen, die nichts von ihnen erwartet als eine Entlohnung für geleistete Dienste. Eine Frau, die nicht entsetzt ist, wenn sie einige Vorlieben offenbaren, die ihre vornehmen Gattinnen abstoßen und ängstigen würden. Sie wollen die Freiheit, alles zu sein, was ihnen gerade in den Sinn kommt! Und dazu gehören vielleicht eine Menge Dinge, die Sie nicht billigen würden, Monk!«

Monk beugte sich über den Schreibtisch und sah sein Gegenüber mit zusammengebissenen Zähnen an, bevor er ihm seine Antwort hinschleuderte.

»Wenn ein Mann eine Ehefrau will, die er nicht befriedigen und nicht genießen kann, dann ist das sein Pech«, gab er zurück.

»Und es ist eine Scheinheiligkeit von ihm ebenso wie von ihr. Aber es ist kein Verbrechen. Wenn er sich dagegen mit zwei Freunden zusammentut, nach Seven Dials kommt und dann die Fabrikarbeiterinnen vergewaltigt und verprügelt, die nebenbei ein wenig Prostitution betreiben, das ist ein Verbrechen. Und ich habe die Absicht, dem einen Riegel vorzuschieben, bevor noch ein Mord daraus erwächst.«

Wut und Überraschung verdunkelten Runcorns Gesicht, aber diesmal war es Monk, der ihn nicht zu Wort kommen ließ. Der sich immer noch auf seinen Schreibtisch stützte und auf ihn herabblickte. Runcorns früherer Vorteil zu sitzen, während Monk stand, hatte sich nun ins Gegenteil verkehrt. Sie waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt.

»Ich dachte, Sie würden sich dem Gesetz so weit verpflichtet fühlen, daß Sie ebenso empfinden wie ich!« fuhr Monk fort.

»Ich hatte erwartet, daß Sie mich fragen würden, was ich weiß, und daß Sie dankbar für meine Informationen wären. Was Sie von mir persönlich halten, spielt keine Rolle.« Er schnippte mit den Fingern. »Sind Sie nicht Manns genug, das zu vergessen, bis die Männer gefaßt sind, die Frauen vergewaltigen und verprügeln, um ihr »Vergnügen«, wie Sie es ausdrücken, zu suchen? Und nicht nur Frauen, sondern auch Mädchen, die noch halbe Kinder sind? Hassen Sie mich genug, um Ihre Ehre zu opfern, nur damit Sie mir diese Sache abschlagen können? Haben Sie wirklich soviel von sich selbst verloren?«

»Verloren?« Runcorns Gesicht war zu einem stumpfen Purpurrot angelaufen, und er rückte noch näher an Monk heran.

»Ich habe gar nichts verloren, Monk. Ich habe eine Stellung. Ich habe ein Zuhause. Ich habe Männer, die mich respektieren. Einige von ihnen mögen mich sogar. Was mehr ist, als Sie je von sich behaupten könnten! Ich habe nichts von alledem verloren!« In seinen Augen leuchteten Anklage und Triumph, aber seine Stimme schwoll immer weiter an, und in seinen Worten schwang eine Schärfe mit, die die alten Wunden verriet. In seinem Gesicht lagen weder Ruhe noch Zufriedenheit.

Monk spürte, wie er sich versteifte. Runcorn hatte mit seiner Erwiderung ins Schwarze getroffen, und sie wußten es beide.

»Ist das Ihre Antwort?« fragte er sehr leise, während er einen Schritt nach hinten machte. »Ich erzähle Ihnen, daß Frauen in dem Bezirk, in dem Sie die Verantwortung für das Gesetz tragen, vergewaltigt und geschlagen werden, und Sie antworten, indem Sie alte Streitereien mit mir wieder aufleben lassen, weil Sie mich als Rechtfertigung brauchen, um in die andere Richtung zu sehen? Sie mögen die Stellung haben und das Geld dazu und die Sympathie einiger Ihrer Untergebenen… Glauben Sie, Sie hätten auch nur den geringsten Anspruch auf Respekt, wenn jemand Sie so reden hören würde? Ich hatte ganz vergessen, warum ich Sie verachte, aber Sie haben mich wieder daran erinnert. Sie sind ein Feigling, und Sie setzen Ihre persönlichen, schäbigen Abneigungen über Ihre Ehre.«

Monk richtete sich auf und straffte die Schultern. »Ich werde jetzt zu Mrs. Hopgood gehen und ihr erzählen, daß ich Ihnen meine Beweise bringen wollte, daß Sie aber so versessen auf Ihre persönliche Rache an mir waren, daß Sie sich diese Dinge nicht einmal angehört haben. Es wird herauskommen, Runcorn. Glauben Sie nicht, das sei eine Sache zwischen Ihnen und mir, denn das ist es nicht! Unsere Abneigung gegeneinander ist schäbig und unehrenhaft. Diese Frauen werden verletzt, vielleicht wird die nächste getötet, und es wird unsere Schuld sein, denn wir konnten nicht zusammenarbeiten, um diese Männer aufzuhalten.«

Runcorn erhob sich, und er war weiß um die Lippen. Auf seiner Haut glänzte Schweiß.

»Wagen Sie es nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu tun habe! Und versuchen Sie nicht, mich mit Drohungen zu irgend etwas zu zwingen. Bringen Sie mir einen einzigen Beweis, den ich vor Gericht benutzen kann, und ich verhafte jeden Mann, auf den er hindeutet! Bisher haben Sie mir nichts erzählt, das auch nur die geringste Bedeutung gehabt hätte! Und ich vergeude keine Männer, bevor ich weiß, daß es wahrscheinlich ein Verbrechen gegeben hat und daß eine gewisse Chance auf eine Strafverfolgung besteht. Eine einzige anständige Frau, die vergewaltigt wurde, Monk! Eine einzige, die eine Aussage machen will, die ich benutzen kann.«

»Wen wollen Sie eigentlich verurteilen?« konterte Monk.

»Den Mann oder die Frau, den Vergewaltiger oder das Opfer?«

»Beide«, erwiderte Runcorn und senkte plötzlich die Stimme.

»Ich habe es mit der Wirklichkeit zu tun. Haben Sie das vergessen, oder tun Sie nur so, weil es auf diese Weise leichter ist? Es ist ein höchst moralischer Standpunkt, den Sie beziehen, aber er ist im Grunde scheinheilig, und das wissen Sie auch.«

Monk wußte es tatsächlich. Es machte ihn wütend. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Es gab Zeiten, in denen er die Menschen, beinahe alle Menschen, für ihre willige Blindheit haßte. Es war eine Ungerechtigkeit, eine brennende, brutale, selbstgefällige Ungerechtigkeit.

»Haben Sie irgend etwas in der Hand, Monk?« fragte Runcorn, diesmal ruhiger und ernster.

Monk, der immer noch stand, sagte ihm alles, was er wußte, und woher er es wußte. Er erzählte, mit welchen Opfern er gesprochen hatte, und brachte die verschiedenen Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge, um zu zeigen, daß die Angriffe immer gewalttätiger geworden waren, daß die Verletzungen bei jedem Mal schlimmer wurden und die Brutalität wuchs. Er berichtete Runcorn, wie er die Männer zu bestimmten Hansonfahrern zurückverfolgt hatte. Er gab ihm möglichst widerspruchsfreie Beschreibungen der Täter.

»Also schön«, sagte Runcorn schließlich. »Ich gebe Ihnen recht, daß es sich um Verbrechen handelt. Daran zweifle ich gar nicht. Ich wünschte, ich könnte etwas dagegen unternehmen. Aber lassen Sie Ihren Zorn doch lange genug beiseite, um Ihrem Gehirn zu erlauben, klar zu denken, Monk. Sie kennen das Gesetz. Wann haben Sie je erlebt, daß ein Gentleman für eine Vergewaltigung verurteilt worden wäre? Die Geschworenen werden unter den Grundbesitzern rekrutiert. Wenn sie kein Land haben, können sie nicht Geschworener sein! Es sind alles Männer. Können Sie sich vorstellen, daß irgendein Schwurgericht des Landes einen Mann aus den eigenen Reihen dafür verurteilt, daß er einige Prostituierte aus Seven Dials vergewaltigt hat? Sie würden die Frauen einem schrecklichen Martyrium aussetzen – für nichts und wieder nichts.« Monk antwortete nicht.

»Finden Sie heraus, wer die Männer sind, wenn Sie das können. Unbedingt«, fuhr Runcorn fort. »Und sagen Sie es Ihrer Klientin. Aber wenn sie die Männer aus dem Bezirk dazu aufwiegelt, die Verantwortlichen anzugreifen oder sogar zu töten, dann werden wir einschreiten. Mord ist eine andere Sache. Wir werden Nachforschungen anstellen, bis wir die Schuldigen gefunden haben. Ist es das, was Sie wollen?«

Runcorn hatte recht. Er erstickte beinahe an der Notwendigkeit, das zugeben zu müssen.

»Ich werde herausfinden, wer diese Männer sind«, sagte Monk beinahe unhörbar. »Und ich werde es beweisen. Aber nicht Vida Hopgood und auch nicht Ihnen! Ich werde es Ihrer eigenen verfluchten Gesellschaft beweisen! Ich werde Sie ruinieren!« Und mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ging zur Tür hinaus.

Es war dunkel draußen, und es schneite, aber er bemerkte es kaum. Sein Zorn loderte zu heiß, als daß bloßer Eiswind ihn hätte mäßigen können.