12
Monk und Hester gingen zum Dinner aus und genossen exzellenten pochierten Fisch mit frischem Gemüse und Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Arm in Arm spazierten sie nach dem Essen durch die ruhigen, von Laternen erleuchteten Straßen nach Hause. Zwischen den Dachfirsten und den wenigen noch erhellten Fenstern wölbte sich ein Regenbogen über den Himmel.
»Wir wissen immer noch nicht, wer Daniel Alberton ermordete«, sagte Hester schließlich. Sie hatten den ganzen Abend lang beide davon Abstand genommen, das Thema anzusprechen, aber nun war es nicht länger zu vermeiden.
»Nein«, erwiderte er düster und drückte sie fester an sich. »Wir wissen nur, dass es Breeland nicht war, nicht einmal indirekt. Und Shearer konnte es auch nicht gewesen sein. Wer bleibt uns dann?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Was geschah mit den anderen fünfhundert Flinten?«
Mehrere Minuten lang schwieg Monk und spazierte mit gesenktem Kopf dahin.
»Glaubst du, Breeland nahm auch die und log uns an?«, fragte sie.
»Warum sollte er?«
»Das Geld? Vielleicht war es nicht genug, was er bezahlte?«
»Da es von dem Geld ohnehin keine Spur gibt, scheint es für Diebstahl keinen Grund zu geben«, erklärte er.
Darauf gab es keine Antwort. Wieder gingen sie eine Weile dahin, ohne zu sprechen. Sie trafen ein anderes Paar und nickten höflich. Die Frau war jung und hübsch, und der Mann bewunderte sie ganz offensichtlich. Hester fühlte sich wohl und beschützt, nicht vor Schmerz oder Verlust, aber vor der Qual zerbrechender Illusionen. Sie drückte Monks Arm ein wenig fester.
»Was hast du?«, fragte er.
»Nichts«, erwiderte sie lächelnd. »Hat nichts mit Daniel Alberton zu tun, dem armen Mann. Ich möchte wirklich wissen, was geschah… und ich möchte es beweisen können.«
Er lachte kurz auf und drückte sie fest.
»Ich kann diese Erpressungsgeschichte nicht vergessen«, fuhr sie fort. »Ich glaube nicht, dass das zeitliche Zusammentreffen purer Zufall war. Aus dem Grunde hatte er dich ja zu sich gebeten. Und der Erpresser trat nie mehr wieder auf! Piraten geben doch nicht auf, oder?«
»Aber Alberton ist tot!«
»Das weiß ich! Aber Casbolt ist am Leben! Warum wandten sie sich nicht an ihn? Auch er unterstützte Gilmer mit Geld.«
Sie überquerten die Straße und traten auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf den Bürgersteig, immer noch eine halbe Meile von Zuhause entfernt.
»Die hässlichste Antwort darauf ist, dass sie gar nicht aufgaben«, entgegnete er. »Wir wissen immer noch nicht, was mit dem Prahm geschah, der flussabwärts fuhr, wer ihn steuerte und was er geladen hatte. Gewiss wurde irgendetwas aus den Lagerhallen der Tooley Street herausbefördert. Da sind fünfhundert Flinten, über deren Verbleib wir nichts wissen… das ist genau die Anzahl, die die Piraten gefordert hatten.«
»Denkst du etwa, Alberton hätte sie ihnen doch verkauft?«, fragte sie leise. Dies war ein Gedanke, den sie seit Tagen zu verdrängen versucht hatte. Die Anspannung während der Gerichtsverhandlung hatte ihr dabei geholfen, aber nun konnte sie ihn nicht länger vermeiden. »Warum hätte er das tun sollen? Judith hätte es verabscheut.«
»Vermutlich hatte er die Absicht, es ihr oder auch Casbolt niemals zu erzählen.«
»Aber warum?«, insistierte sie. »Fünfhundert Gewehre … was wären sie etwa wert gewesen?«
»Ungefähr eintausendachthundertfünfundsiebzig Pfund«, antwortete er. Er musste nicht hinzufügen, dass das ein kleines Vermögen bedeutete.
»Du hast doch seine Geschäftsbücher eingesehen«, erinnerte sie ihn. »Könnte es sein, dass er so viel Geld brauchte?«
»Nein. Es ging ihm gut. Natürlich gab es Höhen und Tiefen, aber insgesamt war sein Geschäft sehr profitabel.«
»Tiefen? Willst du damit sagen, dass es Zeiten gab, als niemand Waffen kaufen wollte?«, fragte sie skeptisch.
»Sie handelten ja auch mit anderen Dingen, mit Nutzholz und vor allem mit Maschinen. Aber daran dachte ich nicht. Waffen brachten den größten Gewinn, waren aber auch das Einzige, das ihm schwere Verluste einbrachte.« Sie erreichten den Randstein. Monk zögerte, schaute die Straße entlang und überquerte sie. Sie waren jetzt kurz vor der Fitzroy Street.
»Erinnerst du dich an den dritten chinesischen Krieg, von dem du sagtest, Judith Alberton hätte dir damals an dem ersten Abend in ihrem Haus davon erzählt?«
»Über das Schiff und den französischen Missionar?«
»Nein, nicht den, den danach… der erst letztes Jahr stattfand.«
»Was ist damit?«, fragte sie.
»Es sieht so aus, als hätten sie kurz vorher den Chinesen Waffen verkauft, seien aber wegen des Ausbruchs der Feindseligkeiten nie dafür bezahlt worden. Es war auch keine allzu große Summe, und sie konnten sie binnen weniger Monate wettmachen. Aber das war das einzige schlechte Geschäft. Er hatte es gar nicht nötig, an Piraten zu verkaufen. Trace hatte ihm für die Gewehre, die dann Breeland bekam, dreizehntausend Pfund im Voraus bezahlt, die selbstverständlich zurückbezahlt werden müssen. Breeland behauptet, den gesamten Preis bezahlt zu haben, etwa zweiundzwanzigtausendfünfhundert Pfund. Außerdem war da noch die Munition, die etwa eintausendvierhundert Pfund wert war. Der gesamte Profit wäre ein Vermögen.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum er Waffen im Wert von weiteren eintausendachthundertfünfundsiebzig Pfund an Piraten verkaufen sollte.«
»Ich auch nicht« nickte sie zustimmend. »Aber wo sind sie dann? Und wer tötete Alberton und wer fuhr den Fluss hinunter? Und wo steckt Walter Shearer?«
»Ich weiß es nicht«, gab Monk zurück. »Aber ich habe die Absicht, es herauszufinden.«
»Gut«, sagte sie sanft, während sie um die Ecke gingen und in die Fitzroy Street einbogen.
»Wir müssen es wissen.«
Am nächsten Morgen erwachte Monk sehr früh und verließ das Haus, ohne Hester aufzuwecken. Je eher er begann, desto eher könnte er eine Spur finden, die ihn der Wahrheit näher brachte. Während er die Tottenham Court Road entlangging, vorüber an Obst und Gemüsekarren, die auf dem Weg zum Markt waren, fragte er sich, ob er die Spur vielleicht schon hatte, sie aber nur nicht als solche erkannte. Als er mit einem Hansom über die Brücke fuhr, ging er im Geist noch einmal alles durch, Detail für Detail, und stellte sich darauf ein, seine Ermittlungen ein weiteres Mal bis Bugsby’s Marshes hinunter auszudehnen.
Dieses Mal brachte er die Fahrt eiligst hinter sich und konzentrierte sich mehr auf die Beschreibung des Lastkahns, auf irgendwelche besonderen Merkmale und Eigenschaften, die er vielleicht gehabt hatte. Wenn er auch nur einen Teil des Weges zurückgefahren war, dann musste ihn doch irgendjemand gesehen haben?
Monk brauchte den ganzen Vormittag, um bis Greenwich zu kommen, und erfuhr tatsächlich ein paar Kleinigkeiten über das Schiff. Es war groß gewesen und so schwer beladen, dass es gefährlich tief im Wasser lag. Aus genau diesem Grund war es einem oder zwei Männern aufgefallen, die am Fluss arbeiteten. Sie beschrieben grob seine Ausmaße, aber hätte es besondere Merkmale gehabt, wären sie im Dunkeln nicht erkennbar gewesen.
Von der Morden Wharf aus, gleich hinter Greenwich, fuhr er mit einem Boot über den Fluss zurück, dann ein wenig flussaufwärts zum Cubitt Tower Pier. Sodann fuhr er auf der Straße weiter, vorbei am Blackwall Entrance zum West India Dock. Überall stellte er Fragen bezüglich des Lastkahns. In der Artichoke Tavern kehrte er auf einen Humpen Most ein, aber niemand konnte sich mehr an die Nacht der Morde in der Tooley Street erinnern. Es war schon zu lange her.
Er ging zu den Blackwall Stairs, wo er mit einem Fährmann eine lange Unterhaltung führte, der sich damit beschäftigte, ein Seil zusammenzuspleißen. Seine rauhen Finger arbeiteten flink, gekonnt flocht und zog er mit dem eisernen Haken, was auf eine Art ebenso wunderschön anzusehen war wie bei einer Frau, die Spitze klöppelte. Monk hatte seine Freude daran, zuzusehen. Es weckte schwache Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit, an eine Kindheit an nördlichen Stranden, den Geruch von Salz und die Melodie der Stimmen in Northumbria, an eine Zeit, aus der ihm kaum Erinnerungen geblieben waren, außer den hellen Flecken, die das Sonnenlicht auf eine düstere Landschaft warf.
»Ein großer Schleppkahn«, sagte der Fährmann nachdenklich.
»Ja, ich erinnere mich an die Morde in der Tooley Street. Schlimme Sache, das. Schade, dass sie den nicht erwischt haben, der das getan hat. Aber Gewehre mag ich auch nicht. Die sind für Soldaten und Armeen und so was. Anderswo bringen sie nur Schwierigkeiten.«
»Diejenigen, die für die Armee der Union bestimmt waren, scheinen mit dem Zug nach Liverpool transportiert worden zu sein«, erwiderte Monk, obwohl das jetzt nicht mehr von Belang war, schon gar nicht für den Fährmann.
»Hm.« Der Mann flocht das aufgezwirbelte Ende des Seils in das andere Ende, dann nahm er ein Messer und schnitt die letzten Fasern ab. »Vielleicht.«
»Nein, ganz bestimmt«, versicherte Monk ihm.
»Haben Sie’s gesehen?« Der Fährmann zog die Brauen hoch.
»Nein… aber sie sind angekommen… in Washington, meine ich.«
Der Fährmann gab keinen Kommentar ab.
»Aber es gab noch andere Waffen«, fuhr Monk fort und kniff die Augen zusammen, um sich vor dem Sonnenlicht, das der Fluss reflektierte, zu schützen. Sie befanden sich direkt gegenüber des graubraunen Streifens von Bugsby’s Marshes und der Flussbiegung von Blackwall Point, hinter die man nicht sehen konnte. »Irgendetwas muss mit dem Kahn den Fluss hinuntertransportiert worden sein. Was ich nicht weiß, ist, wohin diese Kisten verschwanden und wohin dieser Kahn fuhr, nachdem er entladen worden war.«
»Hier wird eine Menge illegales Zeug hin und her geschippert«, meinte der Mann. »Meistens kleines Zeug und weiter unten bei Estuary, vor allem hinter Woolwich Arsenal und den Docks auf dieser Flussseite. Unten bei Gallion’s Reach oder Barking Way und weiter.«
»In dieser Zeit hätte der Kahn nicht so weit fahren können«, erwiderte Monk.
»Vielleicht hat er ja irgendwo gewartet?« Der Fährmann beendete seine Arbeit und prüfte sie eingehend. Offenbar war er zufrieden, denn er legte das Seil beiseite und steckte Messer und Haken ein. »Bei Margaret Ness oder Cross Ness vielleicht?«
»Gibt es eine Möglichkeit, das herauszufinden?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie könnten es ja versuchen und fragen, wenn Sie dort jemanden finden. Wollen Sie hinfahren?«
Monk blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Er nahm das Angebot an, kletterte in das Boot und ließ sich im Heck nieder.
Draußen auf dem Wasser war die Luft kühler, und die schwache Brise über der hereinbrechenden Flut trug den Geruch von Salz, Fisch und lehmigen Ufern mit sich.
»Fahren Sie in Richtung Blackwall Point hinunter«, sagte Monk. »Glauben Sie, dort gibt es genügend Deckung für ein seegängiges Schiff, eines, das groß genug ist, um über den Atlantik zu segeln?«
»Hm, das ist eine gute Frage«, meinte der Fährmann nachdenklich. »Hängt davon ab, wo.«
»Warum? Welchen Unterschied macht das?«, fragte Monk.
»Na, an manchen Stellen würde ein Schiff herausragen wie ein wunder Daumen. Sogar aus einer Meile Entfernung würden die Masten klar zu sehen sein. Aber an anderen Stellen, dort zum Beispiel, wo das alte Wrack liegt, wer würde da schon einen oder zwei weitere Masten bemerken? Wenigstens nicht für eine Weile.«
Monk beugte sich begierig nach vorn. »Dann fahren Sie doch an all diesen Stellen vorbei. Dann sehen wir, wie die Strömung verläuft und wo ein Schiff liegen könnte«, drängte er.
Der Fährmann gehorchte, legte sich mit seinem ganzen Gewicht in die Ruder und tauchte sie tief ins Wasser.
»Nicht, dass das was beweisen würde«, warnte er. »Außer natürlich, Sie finden jemanden, der was gesehen hat. Ist schon ’ne Weile her. Müssen schon zwei Monate oder noch mehr sein.«
»Ich werde es versuchen«, beharrte Monk.
»Na gut.« Der Fährmann legte sich mit aller Kraft in die Ruder, und allmählich wurden sie schneller, obwohl sie sich gegen die Strömung bewegten. Sie fuhren um die weite Biegung am Blackwall Reach bis zur Landspitze. Monk betrachtete das schlammige Ufer mit dem niedrigen Schilf, ab und zu schwamm Treibholz vorüber, und alte Vertäuungspfosten ragten wie verfaulte Zähne aus den Wellen heraus. Schlamm glänzte in der Sonne, wechselte sich mit grünen Flecken von Unkraut ab, und hier und da entdeckte er ein Wrack, das tief im Schlamm steckte.
Hinter Blackwall Point lagen die Überreste von alten Frachtkähnen. Es war schwierig, zu sagen, was genau sie ursprünglich einmal gewesen waren, zu wenig war von ihnen übrig geblieben. Es könnte ein Prahm gewesen sein, der durch Fluten und Strömungen zertrümmert worden war, es könnten aber auch zwei gewesen sein. Andere alte Planken und Bretter hatten sich darin verfangen und ragten in bizarren Formationen aus dem Schlamm. Es war ein trostloser Anblick von Verfall und Niedergang.
Der Fährmann ruhte sich, über seine Ruder gebeugt, aus, sein Gesicht war von finsteren Falten durchzogen.
»Was haben Sie?«, fragte Monk. »Ist diese Wasserstraße nicht zu seicht für ein Schiff, das für eine Atlantiküberquerung tauglich ist? Es müsste doch sehr flach im Wasser liegen, andernfalls würde es auf Grund laufen. Hier kann es nicht gewesen sein. Wie sieht es weiter unten aus?«
Der Mann antwortete nicht, er schien in die Betrachtung des Ufers vertieft zu sein.
Monk wurde ungeduldig. »Was ist mit weiter unten?«, wiederholte er. »Hier ist es zu seicht.«
»Ja, ja«, brummte der Fährmann. »Versuche gerade, mich an was zu erinnern. Irgendwas hab ich hier gesehen, genau um die Zeit, um die es geht. Kann mich nur nicht daran erinnern.«
»Ein Schiff?«, fragte Monk zweifelnd. Es hörte sich eher verzweifelt als hoffnungsvoll an.
Ein ein Meter langes Brett trieb an ihnen vorüber auf das Ufer zu; es lag zwei oder drei Fingerbreit unter Wasser, und das eine Ende war zackig abgesplittert.
»Was haben Sie gesehen?«, bohrte Monk ungeduldig nach.
Ein weiteres Stück Wrack stieß gegen das Boot.
»Es waren mehr Wracks als die dort«, antwortete der Fährmann und deutete auf das Ufer. »Sieht jetzt ganz anders aus. Aber warum sollte jemand ein Wrack von hier fortschleppen? Ist doch nichts mehr wert in dem Zustand; das Holz ist verfault, das kann man nicht einmal mehr verheizen. Ist zu nichts mehr gut, außer hier im Weg herumzuliegen.«
»Noch ein…«, begann Monk, aber als sein Auge auf einem weiteren Stück Treibgut hängen blieb, das vorüberschwamm, kam ihm ein höchst kühner Gedanke – verwegen, ungeheuerlich, und er würde wohl kaum zu beweisen sein, doch er würde alles erklären.
»Gibt es hier in der Gegend jemanden, den Sie kennen?« Seine Stimme klang überraschend heiser, der neu erwachte Eifer verlieh ihr einen rauhen Unterton.
Erstaunt sah ihn der Fährmann an, er hatte den Unterton vernommen, ohne zu wissen, worauf er zurückzuführen war.
»Ich könnte mich umhören. Der alte Jeremiah Spatts könnte was gesehen haben. Er wohnt drüben auf der anderen Seite, aber er ist ständig unterwegs. Aber bei dem müssen Sie vorsichtig sein, was Sie fragen. Der will mit der Justiz nichts zu schaffen haben,«
»Dann fragen Sie ihn doch«, sagte Monk, griff in seine Tasche und fischte zwei halbe Kronen heraus, die er dem Fährmann auf der flachen Hand entgegenhielt. »Bringen Sie mir eine ausführliche und aufrichtige Antwort.«
»Das mache ich«, nickte der Mann. »Ihr Geld brauche ich nicht, aber ich will wissen, welche Idee Ihnen eben gekommen ist. Erzählen Sie mir die Geschichte.«
Monk tat es und steckte ihm die zwei halben Kronen trotzdem zu.
Noch am selben Abend suchte Monk Philo Trace auf, der sich glücklicherweise in seiner Unterkunft befand. Er fragte ihn nicht, weshalb er sich noch in London aufhielt, ob er immer noch hoffte, für die Konföderation Waffen kaufen zu können, oder ob er seine Abreise wegen der Gefühle, die er für Judith Alberton hegte, hinauszögerte. Die Verhandlung war vorüber, er hatte weder eine rechtliche noch eine moralische Verpflichtung, hier zu bleiben.
Monk hatte sich daran erinnert, dass Trace erzählt hatte, er wäre für die Marine der Konföderierten getaucht, und darüber wollte er nun dringend mit ihm sprechen.
»Tauchen!«, rief Trace ungläubig. »Wo? Wonach?« Monk erklärte ihm seine Beweggründe und erzählte, was er gesehen hatte.
»Das können Sie nicht allein tun«, sagte Trace, als Monk geendet hatte. »Es ist gefährlich. Ich begleite Sie. Wir müssen uns Anzüge beschaffen. Sind Sie schon einmal getaucht?«
»Nein, aber ich werde es lernen müssen, indem ich es einfach versuche«, erwiderte Monk und bemerkte, wie unwirsch er klang. Er hatte keine Alternative. Einen anderen konnte er nicht schicken, und der Ausdruck in Trace’ Augen verriet, dass er das wusste. Er widersprach nicht.
»Dann erkläre ich Ihnen wohl besser einige der Gefahren und Gefühle, die Sie dabei erleben werden – zu Ihrer eigenen Sicherheit«, warnte er. »Am Fluss entlang muss es auch irgendwo Taucher geben, zur Bergung und um Kais und so weiter zu reparieren.«
»Die gibt es auch«, nickte Monk. »Der Fährmann erzählte es mir. Ich habe bereits Erkundigungen eingezogen. Von Messrs. Heinke können wir uns sowohl Ausrüstung als auch ein paar Männer zur Unterstützung leihen. Sie sind Unterwasseringenieure, ihre Geschäftsräume liegen an der Great Portland Street.«
»Sehr gut.« Trace nickte. »Dann halte ich mich bereit, wann Sie wollen.«
»Morgen?«
»Gewiss.«
Monk hatte Hester von der Idee erzählt, die er auf dem Fluss gehabt hatte, und ihr den Plan erläutert, mit Philo Trace bei Blackwall Point in die Themse hinabzutauchen. Natürlich hatte sie ihn nach allen noch so winzigen Details gefragt, und er hatte ihr beteuert, dass seine Sicherheit gewährleistet sei, und ihr erläutert, was er zu finden hoffte.
Am nächsten Nachmittag verließ er um zwei Uhr das Haus und sagte, er würde Philo Trace und die Männer von Messrs. Heinke am Fluss treffen. Er würde entweder zurückkehren, wenn er etwas entdeckt hatte, oder wenn die steigende Flut weitere Arbeit unmöglich machte. Damit musste sie zufrieden sein. Es schien keine Möglichkeit zu geben, dass sie ihn begleitete. Aus seinem Gesichtsausdruck schloss sie, dass sie nichts gewinnen würde, wenn sie ihn deswegen weiter bedrängt hätte.
Monk fand das bevorstehende Abenteuer des Tauchens außergewöhnlich, aber auch erschreckend. Er traf Trace am Kai, wo sie mit allem ausgestattet werden sollten, was sie für das Wagnis brauchen würden. Bis zu diesem Moment hatte Monk sich darauf konzentriert, was er auf dem Grund des Flusses zu finden erwartete und welche Schlüsse er daraus ziehen würde, wenn sie Erfolg hatten. Doch nun übermannte ihn die Wirklichkeit dessen, was er im Begriff war, zu tun.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Trace mit besorgtem Gesicht. Sie standen Seite an Seite auf den breiten Holzbohlen des Piers, sechs Meter unter ihnen war das graubraune undurchsichtige Wasser, glucksend und sanft wogend, es roch nach Salz, Schlamm und dem eigenartig säuerlichen Odeur der zurückweichenden Flut, die einen Bodensatz wimmelnden Lebens zurückließ. Das Wasser war so voller Schlamm, es hätte sowohl knietief als auch eine Meile tief sein können. Alles, was mehr als einen Fuß unter Wasser lag, war nicht mehr zu erkennen. Es war die Zeit, bevor die Ebbe ihren Tiefstand erreichte und die Flut zurückkehrte, also die beste Zeit zum Tauchen, wenn die Strömung am wenigsten Kraft hatte und das hereindrängende Salzwasser wenigstens eine Sichtweite von einem Fuß gewährleistete.
Monk bemerkte, dass er zitterte.
»Also, mein Herr!«, rief ein Mann mit grau meliertem Haar fröhlich. »Dann wollen wir mal mit Ihnen anfangen!« Er betrachtete Monk mit mäßiger Begeisterung von oben bis unten.
»Wenigstens nicht zu fett. Mir sind sie zwar mager lieber, aber es wird schon gehen mit Ihnen.«
Monk starrte ihn verständnislos an.
»Fette Taucher sind nicht gut«, sagte der Mann und pfiff durch die Zähne. »Die halten in der Tiefe den Druck nicht aus. Ihre Gesundheit macht das nicht mit, die sind fertig. Also, runter mit den Kleidern. Wir haben keine Zeit, hier lange herumzustehen.«
»Was?«
»Runter mit den Kleidern«, wiederholte der Mann geduldig.
»Sie haben doch wohl nicht gedacht, Sie würden voll bekleidet da runtertauchen, was? Wen hoffen Sie denn, da unten zu treffen? Eine Meerjungfrau?«
Ein weiterer Mann war zur Unterstützung gekommen, und Monk sah zu Trace hinüber, der auch von einem gut gelaunten Mann entkleidet und wieder bekleidet wurde, der trotz des warmen Augusttages einen dicken Pullover trug.
Gehorsam schlüpfte Monk aus seinen Kleidungsstücken und behielt nur die Unterwäsche an. Man reichte ihm zwei Paar lange wollene Strümpfe und ein dickes Hemd aus demselben Material, dann eine Kniebundhose aus Flanell, die dazu diente, die anderen Kleidungsstücke zusammenzuhalten. Monk wurde es heiß und er bekam kaum noch Luft. Ihm blieb keine Zeit, um sich die lächerliche Figur vorzustellen, die er abgeben musste, aber mit einem Blick auf Trace stellte er fest, dass er damit nicht allein war.
Der Mann, der ihm beim Ankleiden behilflich war, brachte eine rote Wollmütze zum Vorschein, die er ihm mit so viel Umsicht auf den Kopf setzte, als ob es sich um einen höchst kapriziösen Modellhut handelte.
Eine Schlange von Schleppkähnen fuhr an ihnen vorüber, ihre Besatzungen schauten interessiert herüber und fragten sich, was da vor sich gehen mochte.
»Passen Sie auf!«, sagte Monks Helfer. »Lassen Sie die Mütze gerade, so wie ich sie Ihnen aufgesetzt habe, denn wenn Ihr Luftschlauch blockiert wird, ziehen wir Sie tot wieder hoch. Und jetzt gehen Sie besser die Treppen da runter und steigen auf den Kahn. Den Rest des Anzugs brauchen Sie noch nicht anzuziehen. Er ist grässlich schwer, vor allem, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Passen Sie auf!« Letzteres war eine Warnung für Monk, der einen Schritt tat und dabei mit einem Fuß, der ja nur in Strümpfen steckte, beinahe auf einen Nagel getreten wäre.
Trace folgte ihm die lange Leiter hinunter auf das niedere Boot, das sanft gegen den Pier stieß. Darauf befand sich bereits eine wundersame Ansammlung von Pumpen, Rädern, Taurollen und Schlangen von Gummischläuchen.
Normalerweise hätte Monk in dem schwach schaukelnden Boot leicht die Balance gehalten, aber er war zu verspannt und bewegte sich unnatürlich linkisch. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, was sie wohl von ihm denken würden, wenn sie nichts fänden. Und wer würde diese Expedition bezahlen?
Trace hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck, aber er wirkte gefasst. Wenigstens ließ er keine Befürchtungen erkennen. Hatte er Monks außergewöhnliche Geschichte geglaubt?
Die drei Männer, die ihnen beim Ankleiden geholfen hatten, setzten sich rückwärts an die Ruder und stießen sich vom Kai ab. Dann holten sie zu weiten Ruderschlägen aus und fuhren mit der weichenden Flut flussabwärts bis hinter Bugsby’s Marshes. Niemand sprach. Man hörte keinen Laut außer dem Knarzen der Ruder in den Ruderdollen, dem Plätschern und Glucksen des Wassers.
Der Himmel war halb vom Rauch Tausender von Kaminen bedeckt, die sich rund um die Hafenbecken des nördlichen Flussbereiches befanden. Masten und Kräne zeichneten sich schwarz vor dem Dunst ab. Vor ihnen lagen die hässlichen Untiefen der Sumpfgebiete. Monk hatte den Männern bereits so gut er konnte erklärt, wo er mit der Suche beginnen wollte. Er konnte nur ungenaue Angaben machen und ihm wurde zunehmend klarer, wie groß das Gebiet war, als sie sich dem Blackwall Point und dem Wrack, das er bei seiner früheren Fahrt entdeckt hatte, näherten. Die Männer ruhten sich über ihre Ruder gebeugt aus. Es war fast Stillwasser.
»Also, meine Herren«, sagte einer der Männer. »Wo wollen Sie beginnen?«
Nun war es Zeit, den Rat der Experten einzuholen.
»Wenn jemand einen Lastkahn versenken wollte, so dass kaum eine Chance besteht, dass er entdeckt werden würde, wo würde er das wohl tun?«, fragte Monk. Seine Frage hörte sich lächerlich an.
Über ihnen zogen kreischende Möwen ihre Kreise. Der Wind nahm zu, und das Wasser plätscherte gegen die Seiten des Bootes.
Der Mann, der Monk beim Ankleiden geholfen hatte, beantwortete seine Frage.
»Im Lee einer der Sandbänke«, sagte er, ohne zu zögern.
»Dort ist das Wasser tief genug, um einen Schleppkahn sogar während dem niedrigsten Stand der Ebbe zu verbergen.«
»Was würde einen Prahm zum Sinken bringen?«, fragte Monk ihn.
Der Mann runzelte die Stirn. »Nicht viel, eigentlich. Höchstens Altersschwäche oder zu schwere Ladung.«
»Aber wenn man absichtlich einen versenken möchte?«, hakte Monk nach.
Die Augen des Mannes wurden groß. »Dann schlägt man am besten ein Loch hinein, denke ich. Natürlich unter der Wasserlinie. Nicht in den Boden, der ist aus Ulmenholz gemacht, das ist zu hart. Die Seiten bestehen aus Eichenplanken.«
»Verstehe. Vielen Dank.« Nun wusste er alles, was er brauchte. Jetzt war es nicht mehr länger hinauszuzögern. Er musste in den Anzug schlüpfen und über die Reling in das trübe Wasser. springen.
Noch ein paar Ruderschläge, vielleicht noch weitere fünf Minuten, dann kletterte er mit Hilfe von zwei Männern in den Taucheranzug. Er glich einem sackartigen Kleidungsstück, bei dem Jacke und Hose zusammengenäht waren, und bestand aus zwei Schichten wasserdichten Stoffs, zwischen denen eine Gummischicht eingearbeitet war. Es fühlte sich an, als würde er in einen schweren Sack mit Ärmeln und Hosenbeinen schlüpfen.
Er hatte keine Ahnung gehabt, wie schwierig es war, seine Hände durch die engen Gummimanschetten zu zwängen. Er musste sich die Hände mit einer glitschigen Seife einreiben, dann seine Hände so schmal wie möglich machen, und während einer der Männer die Manschette für ihn dehnte, stieß er die Hand mit solcher Gewalt hindurch, dass er fürchtete, er könnte sich das Fleisch aufreißen. Anerkennend nickte sein Helfer. Falls er den kalten Schweiß auf Monks Gesicht wahrnahm, dann enthielt er sich jedenfalls eines Kommentars.
»Setzen Sie sich!«, ordnete er an und deutete auf die Ruderbank hinter Monk. »Sie müssen die Stiefel anziehen und den Helm aufsetzen. Müssen zusehen, dass alles stimmt.« Er bückte sich und begann mit der Prozedur, ihm die Stiefel mit den enormen Gewichten anzuziehen.
»Wenn die nicht richtig sitzen, verlieren Sie sie da unten in dem Schlamm. Der saugt ganz schön. Wenn Sie die verlieren, sind Sie ein toter Mann.«
Monk spürte, wie sein Magen revoltierte, als er sich die Dunkelheit und den gierigen Schlamm vorstellte. Es kostete ihn seine gesamte Disziplin, gehorsam und bewegungslos sitzen zu bleiben, während ihm der Helm über den Kopf gestülpt und festgeschraubt wurde. Metall wetzte über Metall, bis er dicht war. Das vordere Glas war noch nicht eingesetzt. Monk war von dem enormen Gewicht des Helms überrascht. Der Luftschlauch wurde unter seinem rechten Arm hindurchgeführt und das Ende am Einlassventil festgeschraubt, dann wurde die Brustleitung unter seinem linken Arm hindurchgezogen und gesichert. Zum Schluss kamen der Gürtel und das schwere rasierklingenscharfe Messer, das in die Lederscheide gesteckt wurde. Anschließend band der Mann ein Seil um Monks Taille.
»Hier, halten Sie das fest, und wenn Sie in Schwierigkeiten geraten, ziehen Sie sechs oder sieben Mal daran, dann ziehen wir Sie hoch. Deswegen nennen wir das Ding auch die Lebensleine.« Er grinste. »Das andere Seil, das wir hier an Ihnen befestigt haben, knüpfen wir mit dem anderen Ende an die Leiter – wir wollen Sie ja nicht verlieren – wenigstens nicht, bevor Sie uns bezahlt haben!« Er lachte herzlich und machte sich an die letzten Handgriffe an Monks Helm. »Alles klar, Mann?«, fragte er. Monk nickte, sein Mund war völlig ausgetrocknet.
Er sah auf das braune Wasser um ihr Boot, das sich immer noch träge kräuselte, und hatte das Gefühl, gleich bei lebendigem Leibe begraben zu werden.
Die drei Männer gingen eifrig ihren Aufgaben nach, umsichtig und professionell.
Trace saß in demselben Aufzug auf der anderen Ruderbank. Er lächelte, und Monk lächelte zurück. Er wünschte sich, tatsächlich so viel Zuversicht zu verspüren, wie seine Mimik vorzugeben versuchte.
Einer der Männer stand auf. »Also gut, Leute, lasst uns die Pumpe in Gang setzen.« Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch, und einen Augenblick später spürte Monk, wie die Luft in seinen Helm strömte. Der Mann lächelte. »Hey, funktioniert doch alles bestens! Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, Mann. Denken Sie nur daran, nahe beieinander zu bleiben, und vergessen Sie nicht, wie Sie mit diesem Ventil Ihren Anzug aufblasen, dann geht alles gut.« Er klang nicht mehr ganz so zuversichtlich, als ob er sich im letzten Moment bewusst geworden wäre, welch blutiger Amateur Monk war und welches Risiko er auf sich nahm.
Das Glas wurde in Monks Helm geschraubt, woraufhin er kurz in Panik geriet. Er schnappte nach Luft und sog sie in seine Lungen. Langsam beruhigte sich sein wilder Herzschlag.
»Gut«, sagte der Mann mit gezwungenem Lächeln.
»Jetzt wird es Zeit!«
Monk schleppte sich auf die Leiter zu und dachte bei jedem Schritt, das Gewicht des Helmes würde ihn in die Knie zwingen. Mit ungelenken Bewegungen kletterte er hinunter, und als er bis zur Hüfte im Wasser stand, wurden zwei fünfzig Pfund schwere Bleigewichte an seiner Brust und seinem Rücken befestigt. Er keuchte, als er plötzlich das zusätzliche Gewicht verspürte.
Man reichte ihm eine wasserdichte Laterne mit einer brennenden Kerze darin.
Sein Anzug begann sich leicht aufzublasen, als sich die Luft darin ausdehnte. Jetzt wusste Monk es zu schätzen, dass er ihm viel zu groß zu sein schien.
Trace war vor ihm und fast ganz unter Wasser.
Der Fluss schlug über seinem Kopf zusammen, und binnen weniger Augenblicke war er von Düsternis umgeben. Der einzige Kontakt zu Trace und der Wasseroberfläche bestand in dem Seil, und er versuchte, im Geist die Worte des Mannes zu entwirren: Ruhig bleiben! Nicht in Panik geraten! Daran denken, Sie sind nicht allein. Ziehen Sie am Seil, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten. Wir holen Sie hoch!
Der Druck auf seine Ohren wurde größer. Er schluckte, um ihn auszugleichen. Während sich seine Augen an die Düsternis gewöhnten, verbesserte sich allmählich seine Sicht ein wenig. Er konnte Trace’ Umriss ausmachen, der nun auf ihn zukam und ihn an der Hand nahm. Mit bleiernen Füßen, die den schlammigen Grund gerade eben berührten, folgte Monk ihm.
Er verlor jegliches Zeitgefühl. Es erstaunte ihn, wie schwierig es war, das Gleichgewicht zu halten. Hier unten war die Strömung weit kräftiger, als er es sich vorgestellt hatte, sie riss ihn hierhin und dorthin, sie wirbelte und bildete Strudel, manchmal zerrte sie ihn auf Brusthöhe in diese Richtung und auf Höhe der Oberschenkel und Knie in die entgegengesetzte. Mehr als einmal fiel er und kam nur unter Schwierigkeiten wieder auf die Beine. Und während der ganzen Zeit war er sich bewusst, dass nur ein dünner Schlauch, durch den Luft gepumpt wurde, sein Leben erhielt und ein paar dünne Seile ihn an die Oberfläche ziehen könnten.
Der Grund unter seinen riesigen Stiefeln war leicht ansteigend. Sie waren an der Sandbank. Es war Schwerarbeit, daran hochzuklettern. Monk geriet ins Schwitzen, und doch waren seine Hände und Füße eiskalt. Das trübe Wasser wirbelte um seinen Kopf, es war eine braune Masse, die einem jegliche Sicht raubte.
Die dunkle Gestalt von Trace war immer noch direkt vor ihm, nahe genug, um ihn an der Hand zu fassen, und sie verstärkte den Eindruck der Düsternis nur noch.
Die Zeit kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er sehnte sich nach Licht. Dies war wahrhaftig eine idiotische Idee! Was hatte ihn nur dazu gebracht, zu denken, der Prahm wäre versenkt worden, nur weil er keinen Beweis dafür gefunden hatte, dass er wieder flussaufwärts gefahren war? Und wenn er ihn hier unten finden würde, was wäre dann bewiesen? Lediglich, dass von Anfang an betrügerische Absichten dahintergesteckt hatten. Würde es auch beweisen, wer diese gehabt hatte? Oder wer Alberton ermordet hatte?
Vor ihm lag undurchdringliche Dunkelheit. Wie lange waren sie nun schon hier unten?
Trace führte ihn immer noch, langsam drehte er sich um und winkte mit dem anderen Arm.
Wieder verlor Monk das Gleichgewicht. Er hätte das alles hier Experten überlassen sollen. Doch das konnte er nicht. Er musste es selbst finden, die Wahrheit mit den eigenen Händen berühren, alles mit eigenen Augen sehen, er durfte nichts übersehen und keinen Beweis vernichten.
Trace hielt immer noch Monks Hand, als er mit dem anderen Arm plötzlich auf etwas deutete. Vor ihnen lag tiefere Dunkelheit, dunkler noch als das wirbelnde braune Wasser.
Trace setzte sich wieder in Bewegung, und Monk folgte ihm mit quälender Langsamkeit.
Plötzlich wurden ihm die Füße weggerissen, und er spürte einen harten Ruck an den Seilen. Ungelenk versuchte er, nach unten zu blicken, um zu sehen, woran er hängen geblieben war. Es waren die Planken eines gesunkenen Wracks.
Trace kletterte an einer Seite des Schiffes hoch.
Monk folgte ihm. Die anstrengenden Bewegungen verursachten ihm heftige Muskelschmerzen. Plötzlich schienen die beiden Männer an Deck zu sein, wobei sie leicht rutschten, da der Bug tief im Schlamm steckte. Hand in Hand suchten sie nach der Kabine.
Es war eine langwierige und langsame Untersuchung, aber Schritt für Schritt und Hand in Hand erforschten sie, was sich darin befand.
Es war Trace, der die Kisten entdeckte. Es war unmöglich, festzustellen, wie viele davon an Bord waren, aber während sie sich unendlich langsam bewegten, zählten sie mindestens fünfzig Stück davon. Weit mehr, als Monk erwartet hatte. Mehr als die Lieferung an Breeland.
Aber warum waren sie hier auf dem Grund des Flusses und nicht auf dem Weg hinüber nach Amerika oder in den Mittelmeerraum?
Monk spürte Trace’ Hand auf seiner Schulter. Er konnte kaum etwas sehen. Es gab nicht genügend Licht, um sagen zu können, in welcher Richtung sich die Wasseroberfläche befand.
Er griff nach Trace, zog aber seine Hand wieder zurück, die mittlerweile taub vor Kälte war. Dies war keine Zeit, um leichtsinnig zu werden!
Eine Hand streckte sich ihm entgegen. Dann spürte er den restlichen Körper, eine Schulter oder vielleicht einen Kopf. Er stieß gegen seinen Helm und legte sich über das Glas vor seinen Augen.
Menschliches Haar im Wasser! Trace ertrank!
Monk streckte die Hand aus und griff nach dem Arm, gleichzeitig versuchte er verzweifelt, an dem Seil zu ziehen. Er musste Hilfe holen! Was war nur geschehen?
Der Arm bot keinen Widerstand, und er hatte praktisch kein Gewicht. Allmächtiger Gott! Es war ein einzelner Arm… ein abgerissener Arm, aufgedunsen und fast nackt! Vage konnte er sehen, wo sich seine Finger in das Fleisch gekrallt hatten, als hätte er in weiches Fett gegriffen.
Er spürte, dass ihn ein Brechreiz überkam, beherrschte sich mühsam, um sich nicht übergeben zu müssen. Der restliche Körper lag vor ihm, fast komplett, riesenhaft. Berührte man ihn, zerfiel er.
Durch die Finsternis sah er Trace’ schwankende Laterne. Ein anderer Körper trieb an ihm vorbei und verschwand.
Das ergab keinen Sinn. Wer waren diese Leichen? Monk zwang sich, seinen Ekel zu überwinden und langsam einer der Leichen zu folgen. Absichtlich tastete er umher, bis er den Kopf gefunden hatte. Er leuchtete mit der Laterne darauf, ging noch näher heran und versuchte, nicht auf die unkenntlichen Gesichtszüge zu sehen. Das Einschussloch war noch zu erkennen, in dem weißlichen, halb zersetzten Fleisch auf der Stirn war es kaum mehr zu sehen, aber dafür umso deutlicher auf dem zersplitterten Schädelknochen.
Es schien eine endlose Zeit zu dauern, bis sie, in der engen Kabine umhertapsend, sich gegenseitig immer wieder anrempelnd und an die grässlichen eingeschlossenen Leichen stoßend, zweifelsfrei festgestellt hatten, dass es drei Männer waren, die durch Schüsse getötet worden waren.
Trace kam auf Monk zu, hielt ihn am Arm fest und brachte seinen Helm ganz nahe zu dem Monks. Als er sprach, konnte Monk seine Worte tatsächlich fast normal verstehen.
»Shearer!«, sagte Trace deutlich und schwenkte den anderen Arm mit der Laterne in Richtung einer der Leichen.
Shearer! Natürlich! Wegen dieser abscheulichen Tat hatte niemand Walter Shearer mehr gesehen, seit der Nacht von Albertons Tod. Also war er Alberton doch treu ergeben gewesen. Er war mit dem Prahm hier heruntergefahren und wurde mit den anderen beiden erschossen. Waren sie es gewesen, die die Morde begangen hatten? Warum? Und auf wessen Befehl?
Er machte ein Zeichen, um anzudeuten, dass er verstanden hatte, dann drehte er sich um und tapste aus der schrecklichen Kabine hinaus. Plötzlich blieb er abrupt stehen, da sein Luftschlauch sich auf einmal spannte und fast zu reißen drohte. Namenlose Panik raubte ihm den Atem. Kalter Schweiß brach aus allen Poren. Trace! Aber natürlich! Jetzt würde er hier unten in diesem schmutzigen Wasser sterben, allein mit seinem Mörder! Nie mehr wieder würde er Licht erblicken, frische Luft einatmen und Hester in seinen Armen halten und ihr in die Augen sehen.
Als Monk an jenem Nachmittag das Haus verlassen hatte, versuchte Hester zunächst, sich mit häuslichen Pflichten abzulenken. Mrs. Patrick kam genau zur vereinbarten Zeit um zwei Uhr. Sie war eine kleine zarte Frau mit weißem Haar voller Naturlocken, und sie hatte auffallend blaue Augen. Hester schätzte sie auf etwa fünfzig Jahre. Sie hatte ein markantes Gesicht, wenn auch ein wenig ausgemergelt, und eine muntere Art. Sie sprach mit leicht schottischem Akzent. Hester konnte ihre Aussprache nicht ganz genau zuordnen, aber sie wusste, dass sie nicht von Edinburgh sein konnte. Sie kannte diese Stadt zu gut, um den dortigen Tonfall mit einem anderen zu verwechseln.
Mrs. Patrick, adrett in Weiß gekleidet und eine gestärkte Schürze umgebunden, begann die Küche aufzuräumen und überlegte dann, welche anderen Aufgaben erledigt werden mussten: Der kleine Ofen musste gesäubert und geschwärzt werden, die Wäsche musste gemacht und der Fußboden in der Küche geschrubbt werden, die Speisekammer musste geputzt werden, und sie musste eine Liste erstellen, welche Vorräte zu ergänzen waren. Dann wollte sie die Teppiche hinausschaffen, die Böden wischen, die Teppiche klopfen und wieder auflegen, die Wäsche aufhängen und die trockene Wäsche vom Vortag bügeln.
Und natürlich musste sie das Abendessen vorbereiten.
»Um welche Zeit wird Mr. Monk heimkehren?«, fragte sie, während Hester sich ins Büro zurückgezogen hatte, um nicht im Weg zu stehen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie aufrichtig. »Er ist zum Tauchen gegangen.«
Mrs. Patricks Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wie bitte?«
»Er ist zum Tauchen«, erklärte Hester. »Im Fluss. Ich bin nicht sicher, was er dort zu finden hofft.«
»Wasser und Schlamm«, erwiderte Mrs. Patrick säuerlich.
»Um Himmels willen, warum tut er denn so etwas?« Sie sah Hester aus zusammengekniffenen Augen an, als ob sie den Verdacht hegte, man hätte sie bezüglich Mr. Monks Beruf angelogen. Hester war darauf bedacht, sich Mrs. Patricks Dienste zu erhalten. Seit sie regelmäßig ins Haus kam, war das Leben insgesamt viel angenehmer geworden. »Er versucht immer noch herauszufinden, wer Mr. Alberton in der Mordsache Tooley Street umbrachte«, erklärte sie zögernd.
Mrs. Patricks Augenbrauen waren immer noch hochgezogen und ein wenig schief, und ihr Mund wirkte äußerst skeptisch.
»Es gab noch andere Gewehre«, fuhr Hester fort, nicht sicher, ob sie die Sache verschlimmerte oder zum Positiven wendete.
»Irgendetwas wurde am Hayes Dock auf einem Prahm den Fluss hinunterbefördert. Vielleicht wurden mit der Fracht die Erpresser bezahlt.«
Mrs. Patrick hatte nicht die Absicht gehabt, zuzugeben, dass sie den Fall verfolgt hatte. Sie missbilligte es, über derlei Dinge zu lesen, aber die Worte entschlüpften ihr, bevor sie ihre ganze Bedeutung realisierte. »Deshalb hatten sie ja eigentlich Mr. Monks Dienste in Anspruch genommen, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt«, nickte Hester.
»Wenn Sie mich fragen, diese Erpresser existieren gar nicht.«
Mrs. Patrick strich die Schürze über ihren schmalen Hüften glatt.
»Ich glaube, Mr. Alberton war es selbst, und vermutlich verkaufte er die Flinten an die Piraten!«
»Das würde keinen Sinn ergeben«, erwiderte Hester.
»Wenn es keinen Erpresser gab, hätte er die Gewehre ja verkaufen können, an wen er wollte.«
»An den Höchstbietenden«, sagte Mrs. Patrick düster.
»Geld, merken Sie sich meine Worte, das wird der Grund für alles sein… die Geldgier, sie ist die Wurzel allen Übels.« Mit diesen Worten drehte sie sich um, ging in die Küche und widmete sich erneut ihren Pflichten.
Hester blieb noch eine Viertelstunde sitzen und ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, dann begab sie sich in die Küche und erklärte Mrs. Patrick, dass sie ausgehen würde und nicht sagen konnte, wann sie zurückkehren würde.
»Sie werden doch wohl nicht den Fluss entlanglaufen?«, fragte Mrs. Patrick ein wenig aufgeregt.
»Nein, das mache ich nicht«, versicherte Hester. »Ich werde mir die Sache mit der Erpressung noch einmal überlegen, etwas genauer vielleicht.«
Mrs. Patrick seufzte, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Spüle zu, aber ihre steifen Schultern gaben beredte Auskunft über ihr mangelndes Verständnis und ihre Missbilligung. Sie war sich offensichtlich keineswegs sicher, ob es weise gewesen war, diese Stellung anzunehmen. Zweifellos war sie jedoch höchst interessant, und sie würde sie im Moment auf keinen Fall aufgeben, es sei denn, ihre eigene Sicherheit oder ihre Reputation würden bedroht werden.
Hester machte sich noch einmal auf den Weg zu Robert Casbolt. Sie hoffte, ihn zu Hause anzutreffen. Wenn nicht, würde sie sich einen Termin in seinen Geschäftsräumen geben lassen müssen oder eventuell dort warten, bis er von seinen Geschäften zurückkehrte, die ihn aus dem Haus geführt hatten.
Glücklicherweise war er zu Hause und las. Ein alter Diener teilte ihr mit, Mr. Casbolt freue sich, sie zu sehen, woraufhin er sie nicht in das goldene Zimmer führte, in dem sie schon einmal mit ihm gesprochen hatte, sondern in einen Raum im oberen Stockwerk, der, wenn das überhaupt möglich war, sogar noch hübscher war. Große Flügeltüren öffneten sich auf einen Balkon hinaus, von dem aus man einen wunderschönen Blick auf den Garten hatte, der im Moment voller Blumen war und still in der Sonne lag. Der Raum war gänzlich in weichen Erd und Cremetönen gehalten, außerordentlich beruhigend, und Hester fühlte sich augenblicklich wohl.
Casbolt hieß sie willkommen, lud sie ein, sich in einen der Sessel zu setzen, von dem aus sie über den Garten blicken konnte und neben dem ein herrlicher italienischer Bronzelöwe thronte.
»Das ist ein wundervoller Raum!«, rief sie bewundernd. Der Raum strahlte eine Atmosphäre aus, als wäre er ein Ort weit abseits des gewöhnlichen Lebens.
Er freute sich. »Gefällt er Ihnen?«
»Mehr als das«, sagte sie aufrichtig. »Er ist…
einzigartig!«
»Ja, das ist er«, stimmte er schlicht zu. »Ich verbringe hier meine Zeit, wenn ich allein bin. Wenn ich ausgehe, wird er versperrt. Ich freue mich, dass Sie seine Qualitäten erkennen.«
Nun hoffte Hester fast noch mehr, dass es nicht so war, wie Mrs. Patrick angedeutet hatte, aber sie musste der Wahrheit ins Auge sehen. Wenn Mr. Alberton die Absicht gehabt hatte, auf irgendeine Weise mit den Piraten Geschäfte zu machen, oder ihnen Grund gegeben hatte, darauf zu hoffen, dann hatte sein Tod vielleicht nichts mit dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern war eine Sache des Geldes oder die Rache für den Tod von Judiths Bruder. Da Casbolt ihr Cousin war und sich offenbar sehr um sie sorgte, wusste er es vielleicht oder hatte es zumindest vermutet. Rache wäre verständlich. Unter den gegebenen Umständen hätte möglicherweise jeder Mann danach gedürstet, Gerechtigkeit zu üben, und wäre damit in Bereiche vorgestoßen, die die Polizei nicht erreichen konnte.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Monk?«, fragte Casbolt freundlich. »Ich habe das Gefühl, wir verdanken Ihnen so viel, glauben Sie mir. Sie müssten mir nur einen Gefallen nennen, ich würde ihn Ihnen gerne erweisen.«
»Wir wissen immer noch nicht, wer für die Verbrechen verantwortlich war.« Sie wählte ausweichende Worte und sprach leise. Irgendwie schien es ihr ungehobelt zu sein, in diesem zauberhaften Raum Worte wie Mord zu benutzen, wenn auch Euphemismen verstanden werden würden.
Einen Augenblick lang sah er auf seine Hände hinab. Er hatte schöne Hände, stark und glatt. Dann hob er den Blick.
»Nein, ich fürchte, das werden wir nie erfahren«, antwortete er. »Ich hatte geglaubt, es wäre Breeland selbst gewesen, oder Shearer, durch Breeland angestiftet. Ich bin entzückt, dass Rathbone beweisen konnte, dass Merrit nichts damit zu tun hatte.«
Hester argumentierte: »Merrit ist jetzt in absoluter Sicherheit. Ich habe die Sache sehr eingehend betrachtet und mich gefragt, ob nicht alles auf diesen Erpresserbrief zurückgeht, wegen dem Sie meinen Mann ursprünglich engagiert hatten. Schließlich forderten die Erpresser Waffen als Bezahlung für ihr Schweigen. Und sie haben geschwiegen.«
Er runzelte die Stirn, Unsicherheit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er zögerte einige Augenblicke, bevor er antwortete.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie glauben, Mrs. Monk. Glauben Sie, sie töteten Daniel und stahlen die Gewehre, weil er ihren Forderungen nicht nachgeben wollte? Wurde Breeland lediglich wegen eines unglückseligen zeitlichen Zufalls in die Sache verwickelt? Ist es das, was Sie andeuten wollen?«
Ganz so einfach war es nicht, aber es widerstrebte ihr, ihm zu sagen, was sie befürchtete. Daniel Alberton war sein engster Freund gewesen, und jede Verunglimpfung seiner Person würde auf Judith und auf Merrit abfärben. War die Wahrheit noch wichtig, die detaillierte Wahrheit über die Gründe, wenn sie wussten, wer es getan hatte?
»Wäre das denn möglich?«, fragte Hester ausweichend. Wieder schwieg Casbolt eine Weile, seine Brauen waren nachdenklich zusammengezogen.
Während sie wartete, erkannte sie, wie unwahrscheinlich das alles war. Wenn Waffen so leicht gestohlen werden konnten, warum hätten sie sich dann mit der anspruchsvollen Erpressung aufhalten sollen?
Er beobachtete sie.
»Sie glauben das nicht, nicht wahr?«, sagte er leise. »Sie fürchten, Daniel hätte den Piraten nachgegeben, stimmt das? Sie wissen, dass er in jener Nacht auf dem Hof war … der Grund dafür war vermutlich, dass er sich mit jemandem treffen wollte.«
»Ja«, sagte sie unglücklich. Sie hasste es, das tun zu müssen, aber die Wahrheit stand zwischen ihnen. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, sie zu umgehen.
»Daniel hätte den Piraten niemals Waffen verkauft«, sagte Casbolt kopfschüttelnd, als wollte er die Aussage vor sich selbst bestätigen.
»Aber die Gewehre, die bei Breelands Lieferung fehlten, entsprachen genau der Anzahl, die in dem Erpressungsschreiben gefordert wurden«, erklärte sie.
»Gleichwohl, das hätte er nie übers Herz gebracht – nicht an Piraten!« Seine Stimme verlor allmählich an Überzeugung. Er sprach, um sich selbst zu überzeugen, und das Elend in seinen Augen verriet sein Wissen, dass Hester dies erkannte.
»Vielleicht hatte er keine andere Wahl?«, fragte sie.
»Wegen der Erpressung? Das hätten wir ausgefochten! Ich denke, Ihr Mann hätte bald herausgefunden, wer dahinter steckte. Es musste jemand aus London sein. Woher hätte denn ein Pirat aus dem Mittelmeer von Gilmer gewusst?«
»Wie hätte es jemand anderer wissen können?«, fragte sie so leise, dass er sich nach vorn beugen musste, um sie zu verstehen. Sie spürte die Glut in ihrem Gesicht, und doch waren ihre Hände kalt.
Er starrte sie an. »Wollen Sie damit etwa sagen…
wollen Sie damit sagen, was ich denke…«
Er stolperte über seine Worte. »Nein! Das hätte er niemals getan!«
Genauso wenig wie Breeland wegen der zeitlichen Abläufe schuldig sein konnte, so galt das auch für Casbolt. Sie verabscheute es, ihm wehzutun, aber er war die Person, der sie vertrauen konnte und die sich in einer Lage befand, die Wahrheit herausfinden zu können und darüber vielleicht Stillschweigen zu bewahren.
»Vielleicht brauchte er das Geld?«
Seine Augen weiteten sich. »Das Geld? Ich verstehe nicht. Ich bin mit den Geschäftsbüchern bestens vertraut, Mrs. Monk. Die Finanzen sind mehr als geordnet.«
Schließlich sprach Hester den hässlichen Gedanken laut aus, den sie den ganzen Tag über zu verdrängen und vor sich selbst zu leugnen versucht hatte. »Was, wenn er privat investiert und dabei Geld verloren hätte?«
Casbolt wirkte erschrocken, als ob der Gedanke ihn aufgerüttelt hätte. Er brauchte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzugewinnen.
»In Aktien, meinen Sie?«, fragte er. »Oder etwas Dergleichen? Das halte ich für unwahrscheinlich. Er war nicht im Entferntesten eine Spielernatur. Und glauben Sie mir, ich kannte ihn lange genug, um mir diesbezüglich sicher zu sein.« Er sprach sehr ernsthaft, war immer noch vornübergebeugt. Er hatte die Hände ineinander verschränkt, und seine Knöchel waren weiß.
Hester musste fortfahren, sie musste ihm erklären, was sie meinte. »Nicht Aktien oder Anteile, und ich hatte niemals an Glücksspiel gedacht, Mr. Casbolt. Ich dachte an etwas, was zunächst als sicherer geschäftlicher Handel ohne jegliches Risiko aussah.«
Er sah sie an, seine Augen waren überschattet, und er wartete darauf, dass sie fortfahren würde.
»Wie, zum Beispiel, Waffen an die Chinesen zu verkaufen«, antwortete sie.
Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, und seine Gefühle waren zu tiefgründig, um sie abschätzen zu können. Genau in dem Moment meinte sie, dass er wusste, worauf sie hinauswollte. Er hatte es verborgen, um Alberton zu schützen, möglicherweise noch mehr, um Judith zu schützen. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie sehr aus allem seine Liebe zu ihr sprach und warum er so außergewöhnlich war. Vielleicht würde gar keine Notwendigkeit dazu bestehen, es irgendjemandem zu sagen. Sie mussten auch gar nicht mehr wissen. Rätselhaftigkeit und unbeantwortete Fragen würden besser sein als die Wahrheit.
»Der dritte chinesische Krieg«, führte sie den Gedanken zu Ende. »Wenn er in Waffen investierte, um sie an die Chinesen zu verkaufen, sie auslieferte und die Chinesen sich dann weigerten, zu bezahlen, weil mittlerweile zwischen ihnen und England ein Krieg ausgebrochen war, dann hatte das niemand vorhersehen können. Aber dadurch hätte er doch einen schweren Verlust erlitten… nicht wahr?«
Casbolts Lippen pressten sich aufeinander, aber sein Blick wich dem ihren nicht aus.
»Ja…«
»Wäre das nicht denkbar?«
»Natürlich wäre das denkbar. Aber was ist dann Ihrer Meinung nach in der Nacht geschehen, in der er getötet wurde? Ich verstehe immer noch nicht, wie ein Verlustgeschäft mit den Chinesen damit in Zusammenhang stehen könnte.«
»Doch, das tun Sie«, sagte sie leise. »Was wäre, wenn Breeland nicht nur sagte, was er für die Wahrheit hielt, sondern wenn es wirklich der Wahrheit entspräche? Alberton hätte Philo Trace’ Geld annehmen können, das ihm dieser in gutem Glauben gegeben hatte, dann aber die Waffen an Breeland verkaufen können, die er von Shearer an den Bahnhof liefern ließ. Er hätte dann über zwei Geldbeträge verfügt, die einen beträchtlichen Gewinn bedeutet hätten… mehr als ausreichend, um damit den Verlust mit den Chinesen wettzumachen.«
Casbolt erhob keine Einwände. Sein Gesicht wirkte verletzt, fast als wäre er geschlagen worden.
»Aber wer tötete ihn? Und weshalb?«
»Wer immer die Piraten repräsentierte«, antwortete sie.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Oder es kam zu einer Konfrontation«, fügte sie hinzu, und ihre Stimme drückte Hoffnung aus. »Vielleicht wusste er, wer sie waren, und hatte zugesagt, mit ihnen ins Geschäft zu kommen, weil er plante, irgendeine Form von Gerechtigkeit für Judiths Familie auszuüben.« Bewusst wählte sie das Wort Gerechtigkeit, und nicht Rache.
Er dachte darüber nach. In seinem Gesicht wurde deutlich, dass er all diese Möglichkeiten gegeneinander abwog. Schließlich schien er zu einer Entscheidung zu kommen.
»Wenn Ihre Vermutung richtig ist und Daniel durch den chinesischen Krieg privates Geld verlor, wenn er, wie Breeland behauptet, tatsächlich Waffen an ihn verkaufte und Philo Trace’ Geld behielt, würde dann nicht, wenn Trace dies entdeckt hatte, er derjenige sein, der auf Rache sann – oder aus seiner Sicht Gerechtigkeit? Die Methode der Morde… war eine spezifisch amerikanische, vergessen Sie das nicht. Halten Sie es nicht für wahrscheinlicher, dass Trace in die Tooley Street fuhr, um Daniel deswegen zur Rede zu stellen. Es könnte zu einem fürchterlichen Streit gekommen sein, und Trace könnte die drei Männer umgebracht haben? Ob er allein dort war oder nicht, das werden wir vielleicht nie erfahren. Möglicherweise hatte er Helfer. Er hatte doch sicher Verbündete hier, die ihm geholfen hätten, wenn er die Waffen transportieren hätte müssen, nachdem er sie gekauft hatte. Breeland hatte doch auch Verbündete hier. Vielleicht hatte einer davon die Nachtwächter mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich gegenseitig zu fesseln, den letzten hätte er selbst fesseln können… so in etwa kann ich mir das vorstellen.«
Er sah blass aus und wirkte sehr angespannt. »Trace scheint ein sanftmütiger Mensch zu sein, voller Charme, aber er ist Waffenkäufer für die Armee der Konföderation und kämpft dafür, den Lebensstil des Südens und das Recht auf Sklavenhaltung zu erhalten. Unter seiner unbeschwerten Art verbirgt sich ein zu allem entschlossener Mann, dessen Volk um des eigenen Überlebens willen einen Krieg führt.«
Er zögerte und biss sich kurz auf die Lippe. »Aber da ist noch etwas, Mrs. Monk… die Uhr. Merrit sagte im Gerichtssaal, dass sie nicht wüsste, wo sie sie liegen gelassen hatte, aber sie log. Das wissen wir alle. Sie nahm sie in Breelands Wohnung ab, als sie sich umzog, und sie vergaß sie dort. Irgendjemand war ja in der Wohnung gewesen, bevor Ihr Mann und ich dort eintrafen. Das behauptete jedenfalls der Nachtportier.«
Am ganzen Körper bebend, sah er sie an. »Wenn Trace derjenige war, dann könnte er die Uhr genommen und sie im Hof fallen gelassen haben, um Breeland anzuschwärzen. Was wäre natürlicher?«
Hester spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte und sich ein heißer Schweiß des Grauens über ihre Haut ausbreitete. Monk befand sich allein mit Trace auf dem Grund der Themse, vertraute ihm, und sein Leben hing von Trace’ Erfahrung und Ehre ab.
Sie sprang auf die Füße, ihr Atem ging stoßweise.
»William taucht.«
Fast wäre sie an den Worten erstickt. »Er hat nur Trace bei sich! Sie suchen nach dem Lastkahn, der die Waffen die Themse hinunterbeförderte.« Sie fuhr herum und taumelte auf die Tür zu. »Ich muss zu ihm! Ich muss ihn warnen… ich muss… ihm helfen!«
Casbolt war augenblicklich bei ihr. »Ich werde gehen«, sagte er.
»Ich werde so schnell wie möglich zu ihnen fahren. Sie bleiben hier in Sicherheit. Sie können nichts tun, selbst wenn Sie dort wären. Ich werde die Flusspolizei alarmieren.«
Schon war er an ihr vorbei, berührte leicht ihren Arm, als ob er sie hier festhalten wollte.
»Bleiben Sie hier«, wiederholte er. »Hier sind Sie sicher! Ich hole die Polizei und werde Trace stellen. Monk wird nichts passieren.« Und bevor sie noch etwas einwenden konnte, war er zur Tür hinaus, schloss sie hinter sich, und Hester hörte nur noch seine verhallenden Schritte.
Sie ging in die Mitte des Raumes zurück. Er war wirklich zauberhaft! Am Ende des blassen Kaminsimses aus Marmor hing ein Miniaturportrait. Zunächst hatte sie nicht erkannt, wen es darstellte. Doch nun sah sie, dass es Judith als junge Frau zeigte, als sie etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein mochte. In dem Alter musste sie Daniel Alberton zum ersten Mal begegnet sein. Sie entdeckte ein weiteres Bild, eher eine Skizze, das drei junge Menschen darstellte, die über Felsen kletterten. Judith war dicht neben Casbolt abgebildet, lachend, und Alberton, der ein Stück von ihnen entfernt stand, sah zu ihnen hinüber. Es war offensichtlich, dass Judith und Casbolt das Paar waren und Alberton der Eindringling war.
Auch Trace, der sich so sehr in Judith verliebt hatte, war ein Eindringling. Hatte etwa seine Liebe zu Judith etwas damit zu tun, warum er Alberton ermordet hatte, anstatt ihn nur bewusstlos zu schlagen? Waren sowohl Judith als auch die Waffen das Motiv für den Mord?
Monk war allein mit Trace, möglicherweise war er gerade jetzt mit ihm unter Wasser, und sein Leben hing von der Erfahrung eines Mörders ab.
Aber Casbolt war unterwegs, um Lanyon zu holen und Monk zu retten. Er könnte schon dort eintreffen, bevor… Dort! Ja, wo denn?
Plötzlich erstarrte sie, ihre Gliedmaßen zitterten. Casbolt hatte sie nicht gefragt, wo Monk nach dem Schiff tauchte! Er wusste es!
Alles, was für Albertons private Investitionen im chinesisehen Krieg zutraf, traf ebenso auf Casbolt zu. Er könnte ebenso Geld verloren haben und damit all den Luxus, den Geld ermöglichte! Dieses wunderbare Haus und alles, was darin war, die Bewunderung und den Respekt, der Erfolg stets begleitete. Und Casbolt war an Erfolg gewöhnt. Alles, womit er sich umgab, zeigte, dass er sein ganzes Leben lang an Erfolg gewöhnt gewesen war … nur bei Judith war er ihm verwehrt gewesen. Sie hatte ihm nicht mehr gegeben als die Liebe einer Cousine und einer Freundin, aber niemals Leidenschaft. Dazu standen sie sich zu nahe.
Hester lief zur Tür und drehte den Knauf. Aber sie war verschlossen. Verdammt! Dieser alte Diener musste gesehen haben, wie Casbolt das Haus verließ, und hatte die Tür verschlossen. Sie rüttelte an dem Knauf und rief.
Stille. Sie begann, laut um Hilfe zu schreien.
Entweder war er taub, oder er scherte sich nicht um die Hilferufe. Vielleicht hatte Casbolt ihm aber sogar aufgetragen, sie nicht zu befreien.
Die Uhr! Casbolt hatte sie sicher gesehen, als er mit Monk in Breelands Wohnung ging, um Merrit zu suchen. Er konnte sie leicht eingesteckt haben, ohne dass Monk dies bemerkt hatte. Dann ließ er sie, als sie in der Tooley Street waren, fallen. Kein Wunder, dass er so erschrocken war, als er erfuhr, dass Breeland sie Merrit geschenkt hatte.
So heftig sie konnte, rüttelte sie an der Tür und schrie um Hilfe. Aber ohne Erfolg.
Sie fuhr herum, lief zu den Balkontüren und riss sie auf. Eine Glyzinie rankte sich zum Balkon empor. Würde sie als Halt für ihre Füße ausreichen? Monks Leben hing davon ab! Flink kletterte sie über die Brüstung, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sie sich die Röcke ruinierte. Sie weigerte sich, einen Blick nach unten zu werfen, und begann, sich abwärts gleiten zu lassen, wobei sie sich festklammerte und immer ein Stück hinabkletterte, bis sie den letzten Meter auf den Rasen springen konnte und in einem Grashaufen landete.
Sie stand auf, klopfte sich ab und eilte zur Straße.
Es war alles nur um Geld und um Judith gegangen, nicht um Waffen. Der amerikanische Bürgerkrieg hatte nichts mit alldem zu tun. Die Waffen waren zweimal verkauft worden, und Casbolt hatte sich wenigstens eineinhalb Mal dafür bezahlen lassen. Er hatte Shearer und vielleicht noch einen weiteren Mann angestellt, um die Morde zu begehen, während er sich um ein Alibi für jene Nacht bemüht hatte. Dann hatte man sich, wie Monk vermutet hatte, in der darauf folgenden Nacht unten am Fluss bei Bugsby’s Marshes getroffen, um zu zahlen und bezahlt zu werden.
Sie rannte hinaus, stellte sich mitten in den Verkehr und winkte mit den Armen, wobei sie laut schrie. Ihre Stimme klang hoch und schrill.
Eine Kutsche drosselte das Tempo, um sie nicht zu überfahren. Ein Hansom kam quietschend neben ihr zum Stehen, und der Kutscher fluchte.
Sie rief zu ihm hinauf: »Ich muss zur Polizeiwache an der Bermondsey Street. Das Leben meines Gatten hängt davon ab… bitte!«
Ein älterer Herr saß in dem Hansom. Zuerst war er erschrocken, doch dann sah er die Angst in ihrem Gesicht, nahm ihre zerrissene Kleidung wahr und willigte mit außergewöhnlicher Großzügigkeit ein, ihr die Kutsche zu überlassen. Gleichzeitig streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein.
»Steigen Sie ein, meine Liebe. Kutscher, tun Sie, was die Dame wünscht, und zwar mit der größtmöglichen Eile!« Der Kutscher zögerte nur so lange, bis er sicher war, dass Hester im Wagen saß, dann hob er die Peitsche hoch in die Luft und spornte die Pferde an.
Monk keuchte, dann lockerte sich der Luftschlauch plötzlich, und die Luft strömte wieder um sein Gesicht. Er spürte eine Berührung an der Schulter und versuchte, herumzuwirbeln, aber er war zu langsam, zu ungelenk.
Trace tauchte neben ihm auf, er schüttelte den Kopf und hielt lächelnd den Schlauch in der Hand.
Monk schämte sich für seine Gedanken und seine Panik, vor allem aber war er ganz schwach vor Erleichterung. Er grinste Trace durch das schmutzige Wasser und das dicke Glas hindurch an.
Dann hob er zum Dank die Hand.
Trace winkte zurück und schüttelte immer noch den Kopf, dann deutete er auf die nächstgelegene Kiste.
Monk nahm sein Messer heraus, und gemeinsam stemmten sie den Deckel auf. Es befanden sich Gewehre darin. Er spürte ihre Umrisse.
Trace nahm seine Laterne und hielt sie nur wenige Zentimeter über die Waffen. Jetzt war es möglich, zu erkennen, dass es alte Modelle waren, hauptsächlich Steinschlossgewehre, viele davon völlig nutzlos, himmelweit entfernt von den modernen Enfields, die Breeland gekauft hatte. Sie waren der reinste Schwindel. Eifrig packten sie die obere Schicht aus, darunter befanden sich lediglich Ziegelsteine und Ballastmaterial.
Sie versuchten es noch bei einer zweiten und dritten Kiste. Es war überall dasselbe. Oben lagen einige Gewehre, darunter nur Gewichte.
Schließlich war Monk fast alles klar. Die echten Gewehre waren niemals in der Tooley Street gewesen. Sie waren anderswo gelagert gewesen und von dort zum Bahnhof Euston Square gebracht und in die Güterwaggons des Zuges verladen worden, bevor Shearer in der Mordnacht überhaupt dort auftauchte. Er hatte lediglich Breelands Geld in Empfang genommen. Wo er den Rest der Nacht verbracht hatte, würden sie vielleicht niemals erfahren.
Diese ausrangierten Waffen, die über Ziegel und Ballast geschichtet waren, waren von den Männern gestohlen worden, deren Leichen in der Kajüte am Grund der Themse umhertrieben. Sie hatten den Prahm bis zur folgenden Nacht versteckt, getarnt von den Wracks vor dem Ufer von Bugsby’s Marshes, hatten dann wieder Segel gesetzt, um ein Rendezvous einzuhalten, bei dem sie ihre Waffen übergeben und ihre Bezahlung für die Morde entgegennehmen wollten. Stattdessen hatten sie gemeinsam mit Shearer ein Rendezvous mit ihrem eigenen Tod. Wenn er sich noch einmal eingehend mit der Sache beschäftigte, würde er sicher eine Bestätigung für die genaue zeitliche Abfolge bekommen.
Er legte Trace die Hand auf den Arm, um ihm anzudeuten, dass es Zeit zum Auftauchen war. Sie hatten alles gesehen, was es zu sehen gab. Langsam setzten sie sich in Bewegung. War es also nur Gier gewesen, war es nur darum gegangen, die Waffen zweimal zu verkaufen und dadurch zu mehr Geld zu kommen? Zugegeben, eine Menge mehr Geld.
Er torkelte durch die Finsternis, ertastete sich inmitten von Schlammwolken seinen Weg und wurde von der Strömung hin und her gezerrt, während die Flut zunahm und sie versuchten, sich ihr entgegenzustemmen.
Es schien ein endloser Weg zu sein. Seine Füße schmerzten wegen des Gewichtes seiner Stiefel. Er war hinter einer gläsernen Scheibe gefangen und atmete Luft aus einer Pumpe. Er bemühte sich, sich in Erinnerung zu rufen, was sie ihm gesagt hatten. Benutzen Sie das Auslassventil. Verschaffen Sie sich mehr Auftrieb. Das war schon besser. Leben und Sonnenlicht waren nur noch wenige Faden entfernt, und doch kam es ihm wie eine andere Welt vor. Trace war neben ihm, er bewegte sich flinker, sein Schritt war sicherer. Er schwenkte seine Laterne, führte Monk und drängte ihn voran. Dann ließ er plötzlich die Laterne fallen. Monk sah, wie seine Hände sich um die Stelle krampften, an der sich unter dem Helm sein Hals befinden musste. Sein Gesicht schien sich hinter dem Glas zu verzerren, als ob er keuchte und nach Luft rang.
Dann strafften sich seine Seile, er wurde rückwärts nach oben gezerrt und verschwand in der Düsternis. Monk war plötzlich ganz allein auf sich gestellt.
Wo war das Boot? Er blinzelte nach oben, suchte durch die Sandwolken hindurch, die um ihn herumwirbelten, nach Trace’ Schatten, konnte ihn aber nicht entdecken.
Dann hatte er plötzlich die Sprossen der Leiter gefunden. Er griff danach, zog sich daran hoch, begierig, so schnell wie möglich nach oben ans Licht zu kommen und um aus dem kalten und beengenden Anzug zu steigen. Es schien ewig zu dauern. Er trug noch die Bleigewichte. Über die Seile wurde ihm keinerlei Hilfe angeboten. Sie zogen ihn nicht mehr. Er musste allein hochklettern. Die Anstrengung war grenzenlos.
Endlich durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche, und instinktiv schnappte er nach Luft, bekam aber immer noch lediglich Luft aus der Pumpe. Hände streckten sich ihm entgegen, und als das Wasser abgetropft war und der Helfer die Glasscheibe vor seinen Augen entfernt hatte, erkannte er Robert Casbolt. Ein Schuss ertönte, dann noch einer und ein weiterer. Der Mann, der ihm mit dem Anzug geholfen hatte, krümmte sich, seine Brust war scharlachrot, dann stürzte er ins Wasser.
Die beiden anderen Männer lagen neben der Pumpe und den Ausrüstungsgegenständen, ein anderer lag neben Trace halb auf dem Rücken. Blicklos starrte er nach oben, in seinem Kopf befand sich ein dunkles Loch. Der dritte hing über der rückwärtigen Ruderbank, Blut sickerte durch sein Haar. Philo Trace lag zusammengekrümmt auf dem Boden des Bootes, er war kaum bei Bewusstsein, und sein Helm lag neben ihm.
Casbolt hatte einen Revolver in der Hand, seine Mündung zeigte auf Monk.
»Sie haben da unten etwas gefunden, das Ihnen bewies, dass es Trace war«, sagte er mit einem traurigen Kopfschütteln. »Aber Sie waren nicht schnell genug. Er erschoss sie. Fast wäre er damit auch davongekommen. Wenn Ihre Frau nicht mit der Wahrheit zu mir gekommen wäre und ich hierher geeilt wäre, um zu versuchen, Sie zu retten, dann hätte er auch damit Erfolg gehabt. Tragischerweise bin ich knapp zu spät gekommen…« Er schluckte schwer. »Es tut mir aufrichtig Leid. Alles, was ich wollte, war, Judith zurückzubekommen, so wie es früher war, und genügend Geld, um für sie sorgen zu können. Das war alles, was ich immer wollte.« Er hob den Revolver ein kleines Stück.
Ein Schuss ertönte, dann noch einer. Casbolt taumelte einen Augenblick, dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte in die braune anschwellende Flut.
Ein anderes Boot kam auf sie zu, Lanyon stand am Bug, er hielt eine Pistole in den Händen. Neben ihm stand Hester, aschfahl im Gesicht, der Wind peitschte ihr Haar durch die Luft und blähte ihre zerrissenen und durchnässten Röcke.
Das Boot erreichte die Schaluppe, und Lanyon sprang herüber. Der Ausdruck des Grauens trat in seine Augen, als er die Leichen sah. Es dauerte nur einen Augenblick, dann fasste er sich und trat zu Monk.
Trace hustete und richtete sich ein wenig auf, wobei ihm ein Mitglied der Besatzung des anderen Bootes half.
Hester kletterte von einem Boot in das andere, stolperte auf Monk zu und fiel neben ihm auf die Knie. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, forschte in seinem Gesicht, um zu erfahren, ob er in Ordnung war. Ihre Stimme krächzte und sie atmete heftig und stoßweise.
Er grinste sie an und sah, wie ihr die Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen. Er konnte nur zu gut verstehen, dass man eine Frau so liebte, dass kein anderer Mensch je in seinen Gedanken und seinem Herzen Platz fand. Einen Augenblick lang hätte er fast Mitleid mit Casbolt empfunden. Er hatte Judith sein ganzes Leben lang geliebt. Liebe konnte schmerzhaft sein. Sie verlangte Opfer, die weit größer waren, als man vorhersehen konnte, und sie wurde nicht immer erwidert, geschweige denn verstanden. Aber das entschuldigte Casbolts Taten nicht.
Lanyon nahm Monk den Helm ab.
Hester schlang die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Mit all der Kraft, deren sie fähig war, klammerte sie sich an ihn, bis es ihnen beiden Schmerzen verursachte, aber sie konnte nicht von ihm lassen.