11
Im Zeugenstand war Monk wütend gewesen, aber als sich das Gericht auf den folgenden Tag vertagt hatte und die Hitze des Wortwechsels verflogen war, änderten sich seine Gefühle. Hester hatte Judith Alberton begleitet. Casbolt hatte sich ihnen zunächst angeschlossen, aber vielleicht hatte ihn ein Gefühl der Schicklichkeit davon abgehalten, sie zum Hause der Albertons zu begleiten.
Ein anderer, weit hässlicherer Gedanke drängte sich Monk ungebeten auf – dass er nämlich vermutete, Alberton selbst könnte in den Verkauf der zusätzlichen fünfhundert Gewehre an die Piraten verwickelt gewesen und von ihnen betrogen worden sein. Monk hätte es nicht ertragen, Judith dies zu sagen. Er wollte nicht gezwungen sein, zu lügen, auch wusste er nicht genügend, um ihr zweifelsfrei etwas mitteilen zu können. Vielleicht hatte Alberton ja die Absicht gehabt, es ihr für immer zu verheimlichen.
Wie weit versucht man Menschen zu beschützen, die man liebt? Was ist Schutz, was ist Unterdrückung und was die Verweigerung des Rechtes, eine eigene Entscheidung zu treffen? Solchen Schutz hätte er selbst zutiefst verabscheut. Er hätte es als Erniedrigung angesehen, die ihn zu weniger als einem Gleichgestellten gemacht hätte.
Die Sonne über der Stadt wurde bereits schwächer, aber die Luft war immer noch heiß. Das schräg fallende Licht war dunstig, und der Staub wirbelte in Wolken von den Pflastersteinen hoch.
Monk hatte vom Zeugenstand aus Breeland beobachtet und sich gefragt, welche Emotionen sich unter der kalten Oberfläche verbergen mochten. Er war nie fähig gewesen, in seinem Gesicht zu lesen, außer vielleicht auf dem Schlachtfeld bei Manassas. Dort waren ihm seine Leidenschaft, seine Hingabe und seine Desillusionierung offen ins Gesicht geschrieben gewesen. Aber Breeland war ein Man, der sich total in sich selbst zurückzog. Er schien sich ständig getrieben zu fühlen, von seinem Ideal zu sprechen, Amerika von der Sklaverei zu befreien, aber welche persönlichen und menschlichen Gefühle er auch immer verspüren mochte, er war nicht fähig, diese zu zeigen. Es war fast so, als ob das ganze Feuer seiner Leidenschaften in seinem Kopf brennen würde, nicht jedoch in seinem Herzen.
War dies eine Flucht vor wirklichen Gefühlen, eine Art Gewähr, dass das Objekt seiner Liebe niemals etwas von ihm erbeten würde, das er nicht beherrschen oder lenken und vor dem er sich nicht schützen konnte?
Aber Liebe war anders. Sie erlaubte keine Wahl zwischen Geben und Nehmen. Und genau das bemerkte Monk in den Augen von Philo Trace, wenn dieser Judith Alberton ansah. Trace hegte keine Hoffnung, von ihr mehr als Freundschaft erwarten zu können, und vielleicht hätte er ihr auch dann nicht seine Hilfe entzogen, wenn sie ihm die Freundschaft verweigert hätte. Doch das war irrelevant. Ihm war keine Niederträchtigkeit im Denken, kein Eigennutz, wenigstens nicht, soweit Judith betroffen war, nachzuweisen.
Monk überquerte die Straße und setzte seinen Weg fort, passierte eine Muffinverkäuferin, die er kaum wahrnahm.
Er hatte niemals die Absicht gehabt, sich in Hester zu verlieben. Sehr früh in ihrer Bekanntschaft hatte er erkannt, dass sie die Macht hatte, ihn zu verletzen und von ihm eine Tiefe der Bindung zu verlangen, die er nicht zu geben bereit war. Während seines ganzen Lebens, wenigstens der Zeit, an die er sich erinnern konnte, hatte er einen solchen Verlust an Freiheit zu vermeiden gesucht. Und doch hatte er sie verloren. Hester hatte es geschafft, ihm die Freiheit zu nehmen, ob er es nun wollte oder nicht.
Doch das war nicht wahr. Er hatte sich aus freien Stücken dazu entschlossen, die Fülle des Lebens zu umarmen, anstatt nur eine Nebenrolle zu spielen und sich selbst vorzumachen, die Kontrolle zu bewahren, obwohl alles, was er tat, nur dazu diente, sich weiteren Erfahrungen zu verschließen und vor sich selbst davonzulaufen.
Er winkte den nächsten Hansom heran und nannte dem Kutscher seine Adresse in der Fitzroy Street. Er konnte seine Entscheidung nicht rückgängig machen, was immer sie auch kosten möge.
Er war bereits fast eine Stunde zu Hause, als Hester heimkehrte.
Sie sah müde und verängstigt aus. Sie zögerte, bevor sie ihre Jacke ablegte, die aus Leinen war und von dem staubigen Graublau, das sie so gern hatte. Ihre Augen forschten besorgt in den seinen.
Er wusste, was sie so sehr belastete, mehr als ihre Angst um Judith oder Merrit Alberton. Es war sein ausweichendes Verhalten während der letzten paar Tage, die Distanz, die er zwischen ihnen geschaffen hatte. Nun musste er eine Brücke bauen, mit welchem Ergebnis auch immer.
»Wie geht es ihr?« Seine Worte klangen belanglos. Genausogut hätte er irgendetwas anderes sagen können. Ausschlaggebend war jedoch, dass er ihr dabei in die Augen sah. Sie bemerkte den Unterschied. Es war fast, als hätte er sie mit der gewohnten Vertrautheit berührt.
»Sie hat Angst um Merrit«, antwortete sie. »Ich hoffe, Oliver kann eine ebenso schlagkräftige Beweisführung vorbringen wie Deverill. Und ich wünschte, Breeland würde Merrit einmal berühren. Sie sieht so verloren aus dort oben.« Wieder waren es nicht die Worte, die wichtig waren. Es war die Weichheit ihres Mundes, die Tatsache, dass sie nicht ein Mal blinzelte, als sie ihn ansah.
»Er glaubt an seine Sache«, sagte er. »Er sieht zwar das Leid einer Million Sklaven und das moralische Unrecht ihres Daseins, die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten – aber er wagt es nicht, einen Blick auf die Einsamkeit und die Bedürfnisse eines einzigen menschlichen Wesens zu werfen, das ihn braucht. Das ist zu… persönlich, zu intim und geht ihm zu sehr unter die Haut.«
Sie löste die Nadel, die ihren Hut befestigte, und nahm ihn ab, aber sie ließ Monk nicht aus den Augen. Sie wusste, er war noch nicht bei dem Punkt angelangt, den er eigentlich ansprechen wollte.
»Liebt er Merrit?«, fragte sie.
»Ist das von Belang?«
Sie stand bewegungslos vor ihm. Sie wusste nicht, warum, in ihren Augen lag Verblüffung, aber sie spürte, dass er aus anderen Gründen fragte, als seine bloßen Worte vermuten ließen, und dass dies eine persönliche Frage war.
»Zumindest zum Teil«, sagte sie vorsichtig. »Die Anliegen, für die er kämpft, sind auch von Belang.«
»Und Philo Trace?«, fuhr Monk fort. »Er liebt Judith. Ich nehme an, du hast das bemerkt?«
Ein Lächeln spielte um ihren Mund und erlosch wieder.
»Natürlich habe ich es gesehen. Es ist so offensichtlich, dass sogar sie selbst es bemerkte. Warum?«
»Und macht es ihr etwas aus, dass er ein Südstaatler ist und für die Sklavenstaaten kämpft?«
Ihre Augen wurden groß. »Ich habe keine Ahnung. Warum fragst du? Magst du ihn? Ich jedenfalls mag ihn.«
»Aber du verabscheust doch die Sklavenhaltung…«
Tief in ihren Augen zog ein Schatten auf. Sie wusste, er hatte immer noch nicht das ausgesprochen, was ihm auf der Seele brannte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, was es war. Würde ihre Leidenschaft erlöschen? Würden dies die letzten Sekunden sein, die sein Blick auf ihr ruhen und die unverhohlene Zärtlichkeit in ihrem Gesicht und die Aufrichtigkeit wahrnehmen würde? Würde er die Minuten ausdehnen, sie hinauszögern, damit er sie nie vergaß?
»Ja«, stimmte sie zu.
»Ich erfuhr etwas über mich selbst, als ich zum Fluss ging, um nach Shearer zu suchen.« Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie verstand. Sie sah seine Furcht. Sie kannte die Finsternis bereits. Niemals hätte sie diese schreckliche, alles überflutende Furcht am Mecklenburg Square vergessen können, die ihn fast vernichtet hatte. Es war ihr Mut gewesen, der ihn zum Kampf bewogen hatte.
Nun trat sie auf ihn zu, blieb direkt vor ihm stehen, so nahe, dass er den Duft ihres Haares und ihrer Haut wahrnehmen konnte.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte sie mit kaum wahrnehmbarem Beben der Stimme.
»In einer der Transportfirmen war ich kein Unbekannter. Der Mann erwartete, ich sei reich…« Dies zu sagen war genauso schwierig, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Augen ließen keine Ausflüchte oder Beschönigungen zu. Wenn er jetzt log, würde er niemals wieder das zurückbekommen, was er verloren hatte.
»Als Polizist?« Ihr Gesicht war weiß, ihre Stimme klang gepresst. Er wusste, sie dachte an Bestechlichkeit. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie diese Möglichkeit ausschließen.
»Nein!«, rief er hastig. »Davor noch. Als ich als Bankkaufmann arbeitete.«
Sie verstand nicht. Es war Zeit, unmissverständliche Worte zu finden, Worte, die nicht falsch aufgefasst werden konnten und vor denen man nicht fliehen konnte.
»Es sieht so aus, als habe ich mit Männern Geschäfte betrieben, die ihr Geld durch Sklavenhandel gemacht hatten… und es scheint, als hätte ich davon gewusst.« Er musste alles sagen. Jetzt würde es leichter fallen, als später noch einmal auf das Thema zurückzukommen. »Ich verhandelte im Auftrag von Arrol Dundas, meinem Mentor. Ich weiß nicht, ob ich ihm sagte, woher das Geld kam… oder nicht. Vielleicht täuschte ich ihn auch.«
Einen Moment lang schwieg sie. Die Zeit blähte sich zur Ewigkeit auf.
»Verstehe«, sagte sie schließlich. »Warst du deswegen … während der letzten paar Tage… so weit fort?«
»Ja…« Er wollte sie wissen lassen, wie sehr er sich schämte, er musste es sie wissen lassen, aber Worte waren zu banal. Keines hatte genügend Gewicht für das Ausmaß seiner Reue, nun, da er es zugelassen hatte, seine Ehre zu verlieren. Er hatte seinen eigenen Wert gemindert.
Sie lächelte, aber ihre Augen waren voller Traurigkeit. Sie streckte ihre Hand aus und berührte seine Wange. Es war eine zärtliche Geste. Sie machte nicht vergessen, was er getan hatte, aber sie ordnete es der Vergangenheit zu.
»Du hast oft genug zurückgeschaut«, sagte sie ruhig.
»Wenn du daraus Gewinn gezogen hast, ist das nun vorüber.«
Er hätte sie gerne geküsst, wäre ihr gerne so nahe gewesen, wie Menschen dies nur sein können, hätte sie gerne an sich gedrückt und ihre Stärke gespürt, aber er hatte die Kluft zwischen ihnen geschaffen, und nun war sie es, die sie überbrücken musste, andernfalls würde er niemals sicher sein, ob sie dies wünschte oder er es ihr aufgedrängt hatte.
Sie sah ihn noch einen Augenblick lang an, schätzte seine Gedanken ab, dann war sie zufrieden. Sie lächelte, legte die Arme um ihn und küsste seine Lippen.
Erleichterung überflutete ihn, nie zuvor war er für etwas dankbarer gewesen. Aus ganzem Herzen erwiderte er ihre Zuneigung.
Als am Morgen die Verhandlung fortgesetzt wurde, begann Rathbone mit seiner Verteidigung. Er stellte ein Selbstvertrauen zur Schau, das seinen wirklichen Gefühlen nicht im Entferntesten entsprach. Immer noch gab es keine Spur von Shearer und kein Anzeichen dafür, wohin er gegangen war. Natürlich, mit seinen Verbindungen zum Transportwesen konnte er überall in Europa, ja, in der ganzen Welt untergetaucht sein.
Aber Geschworene zogen eine Person vor, die sie sehen konnten und deren Schuld ihnen vor Augen geführt worden war, nicht eine vernünftige Alternative, die nichts weiter als ein Name war.
Rathbone musste den Schaden, den Deverill angerichtet hatte, reparieren, vor allem den emotionalen Eindruck, den dieser in den Köpfen der Juroren erzeugt hatte. Er begann, indem er Merrit in den Zeugenstand rief. Er beobachtete sie, während sie durch den Gerichtssaal schritt. Jeder im Saal war sich ihrer Nervosität bewusst, die sich in der Blässe ihres Gesichts, in dem kleinen Stolpern, als sie den Zeugenstand erklomm, und in dem Beben ihrer Stimme, als sie den Eid leistete, zeigte.
Wieder hatte Hester neben Judith Platz genommen. Monk hatte seine Aussage gemacht und nun die Möglichkeit, sich wieder der Suche nach Informationen über Shearer zu widmen und nach allem, was beweisen würde, dass er es allein gewesen war, der den Raub und die Morde geplant hatte, um die Waffen an Breeland verkaufen zu können, ohne dass dieser von den Umständen erfahren würde.
Rathbone begann, Merrit durch ihre Geschichte zu führen, wobei er mit den Ereignissen des Tages begann, an dem die Morde verübt worden waren. Er wollte das Thema ihrer früheren Bekanntschaft mit Breeland nicht anschneiden, für den Fall, Deverill wollte versuchen, daraus den Anschein zu konstruieren, Breeland hätte ihr nicht wegen ihrer selbst den Hof gemacht, sondern nur, um sie dazu zu verführen, ihm bei dem Kauf der Waffen zu helfen.
An Hesters Seite sitzend, hatte Judith sich nach vorn gebeugt. Ihre Hände, die in schwarzen Spitzenhandschuhen steckten, waren in ihrem Schoß ineinander geschlungen. Sie lauschte jedem Wort, beobachtete Gestik und Mimik ihrer Tochter. Hester wusste, sie suchte nach einem Sinn, nach Hoffnung, und kämpfte gleichzeitig gegen ihre Angst an.
Auf der anderen Seite neben Judith bot Casbolt, der seine Aussage ebenfalls schon gemacht hatte, stillschweigende Unterstützung an.
Er war zu klug, um tröstende Worte auszusprechen, die ohne jegliche Bedeutung gewesen wären. Alles hing nun von Rathbone und Merrit ab.
»An jenem Abend hatten Sie mit Ihrem Vater einen Streit«, sagte Rathbone und sah zu Merrit im Zeugenstand hinauf. »Worum ging es… genau?«
Sie räusperte sich. »Es ging darum, dass er die Waffen an die Konföderierten verkaufen wollte anstatt an die Union«, antwortete sie. »Ich dachte, er hätte einen Weg finden müssen, die Verpflichtung zu lösen, an Mr. Trace zu verkaufen, obwohl er dies versprochen hatte. Er hätte Mr. Trace das Geld zurückbezahlen müssen, das dieser als Anzahlung hinterlegt hatte.«
»Hatte Ihr Vater denn das Geld noch?«, fragte Rathbone neugierig.
»Ich…« Es war offensichtlich, dass sie darüber nie nachgedacht hatte. »Ich… ich weiß es nicht. Ich vermutete…«
»Dass er mit diesem Geld die Waffen nicht bezahlt hatte?«, fragte er. »Aber er stellte die Gewehre doch nicht selbst her?«
»Nein…«
»Dann könnte es doch sein, dass er das Geld nicht mehr hatte.«
»Nun… ich nahm an, ich dachte, er hätte sie bereits bezahlt.«
Unabsichtlich warf sie einen Blick auf Casbolt, während sie sprach, dann wandte sie sich wieder Rathbone zu.
»Aber wenn er noch Schulden gehabt hätte –, dann bin ich sicher, er hätte einen Weg gefunden, wenn Lyman… wenn Mr. Breeland ihm die volle Summe bezahlt hätte – wozu er in der Lage gewesen war –, dann wäre doch alles, was mein Vater noch schuldig gewesen wäre, bezahlt gewesen, nicht wahr?« Sie sprach voller Vertrauen, sicher, die Lösung gefunden zu haben.
»Falls Breeland das Geld gehabt hatte«, stimmte Rathbone zu.
Hester wusste, was Rathbone tat – er demonstrierte den Geschworenen Merrits Vertrauen, ihre Naivität und ihren offenkundigen Glauben, dass das Geschäftsgebaren ihres Vaters legal gewesen war. Noch wusste sie nicht, wie er Breeland vom Vorwurf der Betrügerei befreien würde.
»Aber Mr. Breeland verfügte über das Geld!«, rief Merrit eindringlich. »Er übergab es doch am Bahnhof Mr. Shearer, als er den Empfang der Waffen quittierte.«
»Haben Sie das gesehen?«, fragte Rathbone.
»Nun… nein. Ich saß bereits im Waggon. Aber Mr. Shearer hätte die Waffen doch nicht aus der Hand gegeben, ohne das Geld zu erhalten, nicht wahr?« Letzteres war als Herausforderung, nicht als Frage gemeint.
»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, nickte Rathbone lächelnd. »Aber wenden wir uns wieder der Auseinandersetzung mit Ihrem Vater zu. Sie beschuldigten ihn, die Sklaverei zu favorisieren, ist das richtig?«
Sie sah beschämt aus. »Ja. Ich wünschte, ich hätte diese Dinge nicht gesagt, aber damals glaubte ich daran. Ich war schrecklich wütend.«
»Und Sie waren der Meinung, Lyman Breeland wollte die Waffen einer höchst ehrenhaften Sache wegen kaufen, weit ehrenhafter als das Anliegen von Mr. Trace?«
Ihr Kopf fuhr in die Höhe. »Ich wusste es. Ich war in Amerika. Ich habe diese schreckliche Schlacht mit eigenen Augen gesehen. Ich sah…« Sie schluckte. »Ich sah, wie viele Männer getötet wurden. Ich hatte nie gedacht, dass es so schrecklich sein würde. Bis man eine Schlacht gesehen, gehört und gerochen hat… kann man sich keine Vorstellung davon machen, was das wirklich bedeutet. Bis dahin wissen wir nicht, was unsere Soldaten für uns erleiden.«
Im Saal erhob sich bewunderndes, fast ehrfürchtiges Gemurmel.
Rathbone erlaubte den Geschworenen gerade lang genug, Merrits Zerknirschung wahrzunehmen, um nicht den Anschein zu erwecken, als würde er dies absichtlich inszenieren, dann fuhr er fort.
»Nach dem Streit, wo gingen Sie da hin, Miss Alberton?«
»Ich ging hinauf in mein Schlafzimmer und packte einige persönliche Dinge – Toilettenartikel, ein Kleid zum Wechseln –, dann verließ ich das Haus«, erwiderte sie.
»Ein Kleid zum Wechseln?« Er lächelte. »Trugen Sie nicht ein Abendkleid?«
»Ein Dinnerkleid«, korrigierte sie ihn. »Aber natürlich keines, das für eine Reise tauglich gewesen wäre.«
Deverill sah übertrieben gelangweilt aus. »Euer Ehren …«
»O doch. Dies ist von Wichtigkeit«, sagte Rathbone lächelnd. Er wandte sich wieder an Merrit. »Und dann machten Sie sich auf den Weg zu Breelands Wohnung?«
Sie errötete leicht. »Ja.«
»Das muss ein äußerst gefühlsbetonter Moment für Sie gewesen sein, der Mut und Entschlossenheit erforderte.«
»Euer Ehren!«, protestierte Deverill erneut. »Wir bezweifeln die außergewöhnliche Tapferkeit Miss Albertons keineswegs. Ein Versuch, unsere Sympathie zu wecken –«
»Dies hat nichts, aber auch gar nichts mit Sympathie oder Tapferkeit zu tun, Euer Ehren«, unterbrach Rathbone ihn. »Es sind rein praktische Gründe.«
»Ich bin froh, das zu hören«, erwiderte der Richter trocken.
»Fahren Sie fort.«
»Ich danke Ihnen. Miss Alberton, was taten Sie, als sie in Mr. Breelands Wohnung ankamen?«
Sie wirkte verwirrt.
»Unterhielten Sie sich? Aßen Sie etwas? Oder vertauschten Sie ihr Kleid mit dem, das Sie mitgebracht hatten?«
»Oh… natürlich unterhielten wir uns eine Weile, dann trat er eine Weile vor die Tür, damit ich mich umziehen konnte.«
Deverill murmelte verhalten vor sich hin.
»Und die Uhr?«, fragte Rathbone. Plötzlich herrschte absolute Stille im Saal.
»Ich…« Ihr Gesicht war weiß.
Deverill war kurz davor, erneut zu unterbrechen. Rathbone überlegte, ob er Merrit daran erinnern sollte, dass sie geschworen hatte, die Wahrheit zu sagen, aber er fürchtete, sie würde die Wahrheit als niedrigen Preis dafür ansehen, Breeland nicht die Treue zu brechen.
»Miss Alberton?«, hakte der Richter nach.
»Ich erinnere mich nicht«, sagte sie und sah Rathbone an.
Er wusste, dass sie log. In jenem Moment hatte sie sich mit aller Deutlichkeit erinnert, aber sie wollte es nicht zugeben. Hastig wechselte er das Thema.
»Hatte Mr. Breeland Sie erwartet, Miss Alberton?«
»Nein. Nein, er war sehr überrascht, mich zu sehen.« Röte überzog ihr Gesicht. Sie war sich der Tatsache voll bewusst, dass sie uneingeladen gekommen war. Als Hester ihr Unbehagen bemerkte, schien es ihr, als hätte Breeland sie nicht auf eine Weise empfangen, wie das ein Liebhaber getan hätte, sondern eher wie ein junger Mann, der höchst überrascht gewesen war und sich nun der Verpflichtung gegenübersah, seine Pläne zu ändern. Sie hoffte, dieser Eindruck ginge nicht unbemerkt an den Geschworenen vorüber.
Rathbone stand elegant auf der freien Fläche vor der Richterbank, er hatte den Kopf leicht gebeugt, und das Licht glänzte auf seinem blonden Haar.
Hester sah Breeland an. Auch er schien verlegen zu sein, obwohl es nicht leicht war, seine Gründe zu erraten.
»Ich verstehe. Und nachdem Sie sich begrüßt hatten, Sie ihm Ihr Kommen erklärt hatten und er Ihnen erlaubt hatte, Ihre Kleider zu wechseln, was taten Sie dann?«, fragte Rathbone.
»Wir beratschlagten darüber, was wir tun sollten«, erwiderte sie. »Muss ich Ihnen genau berichten, was wir sprachen? Ich bin nicht sicher, ob ich mich an alle Einzelheiten erinnere.«
»Das ist nicht nötig. Waren Sie während der ganzen Zeit über zusammen?«
»Ja. Es war gar nicht so lange. Kurz vor Mitternacht kam ein Bote mit einer Depesche, die besagte, dass mein Vater seine Meinung geändert hatte und Lyman die Waffen nun doch verkaufen wollte. Wir sollten umgehend mit dem Geld zum Bahnhof am Euston Square kommen.«
»Wer schrieb die Depesche?«
»Shearer, der Unterhändler meines Vaters.«
»Gewiss überraschte Sie das! Schließlich war Ihr Vater noch wenige Stunden zuvor unerbittlich gewesen und hatte es als unmöglich bezeichnet, seine Meinung zu ändern. Schließlich war es eine Ehrensache«, sagte Rathbone.
»Ja, natürlich war ich überrascht«, stimmte sie zu. »Aber ich war zu glücklich, um es in Frage zu stellen. Für mich bedeutete es, dass er die Ideale der Union doch noch anerkannt hatte und sich auf die richtige Seite schlug. Ich dachte, vielleicht… vielleicht hätten ihm meine Argumente doch etwas bedeutet…«
Rathbone lächelte wehmütig. »Also fuhren Sie mit Mr. Breeland zum Bahnhof?«
»Ja.«
»Würden Sie die Reise bitte für uns beschreiben, Miss Alberton?«
Schritt für Schritt und in ermüdenden Details tat sie dies. Das Gericht vertagte sich bis nach der Mittagspause und nahm dann die Verhandlung wieder auf. Um die Mitte des Nachmittags, als sie ihren Bericht beendete, musste jeder, der ihren Ausführungen immer noch aufmerksam folgte, das Gefühl haben, die Zugreise nach Liverpool selbst unternommen zu haben, selbst in einer Pension übernachtet und sich dann auf einem Dampfer eingeschifft zu haben, um den Atlantik zu überqueren.
»Ich danke Ihnen, Miss Alberton. Nur um sicherzugehen, dass wir Sie nicht missverstanden haben: Befand Mr. Breeland sich während der Todesnacht Ihres Vaters zu irgendeinem Zeitpunkt einmal nicht in Ihrer Gesellschaft?«
»Nein, nie.«
»Sahen Sie denn Ihren Vater noch einmal, nachdem Sie Ihr Zuhause verlassen hatten, oder begaben Sie sich irgendwie in die Nähe des Lagerhauses an der Tooley Street?«
»Nein!«
»Oh… eine Sache noch, Miss Alberton…«
»Ja, bitte?«
»Sahen Sie Shearer am Bahnhof Euston Square mit eigenen Augen? Ich nehme an, Sie kennen ihn zumindest vom Sehen?«
»Ja. Ich sah ihn ganz kurz, als er mit einem der Schaffner sprach.«
»Verstehe. Ich danke Ihnen.« Damit wandte er sich zu Deverill um und lud ihn ein, fortzufahren.
Deverill dachte eingehend nach, vielleicht eher, um Rathbone auf die Folter zu spannen, als um eine tatsächliche Entscheidung zu treffen. Merrit hatte bereits klar gemacht, dass sie Breeland bis zum Letzten verteidigen würde, und je mehr sie dies tat, desto mehr gewann sie die Achtung der Geschworenen, ob sie ihr nun glaubten oder nicht. Sie glaubten nicht, dass sie log, höchstens vielleicht bezüglich der Uhr in Breelands Wohnung, aber es konnte gut sein, dass die Geschworenen Merrit für ein getäuschtes und von einem Mann ausgenutztes, junges Mädchen hielten, der ihrer nicht würdig war. Deverill würde die Geschworenen nur verlieren, wenn er diesen Umstand vor der Öffentlichkeit noch mehr betonte.
Es war eine harte Nacht. Die Anspannung machte es schwierig, zu schlafen, trotz der Erschöpfung. Monk war den ganzen Tag flussauf und flussabwärts gelaufen und hatte die Absicht, das auch am folgenden Tag zu tun, entschlossen, irgendetwas zu finden. Hester fragte ihn nicht nach eventuellen Fortschritten, denn sie musste sich um Judiths willen die Hoffnung erhalten.
Am Freitag rief Rathbone Lyman Breeland in den Zeugenstand. Dies war der gefährlichste Zug der ganzen Verteidigungsstrategie, aber ihm blieb keine Wahl. Breeland nicht aussagen zu lassen, hätte seine Befürchtungen nicht nur Deverill demonstriert, sondern, was viel wichtiger war, auch den Geschworenen. Deverill hätte gewusst, sich diese Unterlassung in seinem Schlussplädoyer zu Nutze zu machen.
Am meisten wünschte Rathbone sich, Merrit in den Köpfen der Juroren von Breeland separieren und für sie eine getrennte Verhandlung erreichen zu können, doch das war unmöglich. Er hatte bereits zu oft auf die Uhr Bezug genommen. Er hatte es akzeptiert, Breeland zu verteidigen, also musste er nun seinen Fähigkeiten entsprechend das Beste tun.
Mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf stand Breeland im Zeugenstand und schwor, die Wahrheit zu sagen. Sodann nannte er seinen Namen und Rang in der Armee der Union.
Rathbone fragte ihn nach den Tatsachen seiner Reise nach England und den Gründen dafür. Er fragte nicht, warum er bereit war, für sein Anliegen eine derartig lange Reise auf sich zu nehmen, denn er wusste, Breeland würde es ihnen ohnehin spontan und mit einer Leidenschaft berichten, die niemandem entgehen würde, ob er ihm nun glaubte oder nicht.
»Sie wurden also bei Daniel Alberton in der Hoffnung vorstellig, die Waffen, die Sie brauchten, erwerben zu können?«, fragte Rathbone, wobei er Breeland in die Augen sah und ihn dazu bewegen wollte, seine Antworten knapp zu halten. Dass sie zudem respektvoll klingen würden, lag jenseits seiner Hoffnungen, trotz seiner Bemühungen, Breeland davon zu überzeugen, dass es ihn das Leben kosten konnte, wenn er alle gegen sich aufbrachte. Mangelnder Respekt konnte das Zünglein an der Waage bedeuten. Breeland hatte schlicht erwidert, er sei unschuldig, und das sollte genügen.
Rathbone hatte schon früher mit Märtyrern zu tun gehabt. Sie waren anstrengend und hatten selten Verständnis für Vernunftgründe. Sie betrachteten die Welt nur aus einem einzigen Blickwinkel und hörten nicht auf Argumente, die sie nicht zu hören wünschten. In mancherlei Hinsicht war ihre Hingabe bewunderungswürdig. Vielleicht war es auch der einzige Weg, gewisse Ziele zu erreichen, aber solche Leute zogen stets eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Rathbone hatte keineswegs die Absicht, Merrit Alberton von Breeland zerstören zu lassen.
Breeland stimmte mit unerwarteter Knappheit zu, dass er Alberton tatsächlich in der Hoffnung aufgesucht hatte, die Waffen erwerben zu können. Als er auf Widerstand gestoßen war und erfahren hatte, dass der Grund dafür eine Verpflichtung Philo Trace gegenüber war, hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um Alberton von der moralischen Überlegenheit der Sache der Union zu überzeugen.
»Und während dieser Zeit lernten Sie Miss Alberton kennen?«
»Ja«, stimmte Breeland zu, wobei endlich der Anflug von Warmherzigkeit über sein Gesicht huschte. »Sie ist ein Mensch von höchster Ehrenhaftigkeit, und sie ist des größten Mitgefühls fähig. Sie verstand das Anliegen der Union und verschrieb sich ihm augenblicklich.«
Rathbone hätte sich gewünscht, er hätte eine romantischere Ausdrucksweise benutzt, dennoch lief es besser, als er erwartet hatte. Er musste umsichtig vorgehen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass Breelands Emotionen einstudiert wären.
»Sie entdeckten also, dass Sie die wichtigsten Wertmaßstäbe und Überzeugungen miteinander teilten?«
»Ja. Meine Bewunderung für sie war größer, als ich erwartet hatte, sie für eine so junge Frau verspüren zu können, die mit der Wirklichkeit der Sklavenhaltung und all ihrer Übel nicht vertraut war. Sie verfügt über eine außergewöhnliche Gabe, Mitgefühl zu empfinden.« Bei diesen Worten wurde sein Gesicht weich, und zum ersten Mal spielte so etwas wie ein Lächeln um seine Lippen.
Rathbone stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Mienen der Geschworenen entspannten sich. Endlich sahen sie den Menschen in dem Mann, einen verliebten Mann, mit dem sie sich identifizieren konnten, nicht nur den Fanatiker.
Er sah nicht zu Merrit hinüber, aber er konnte sich ihre Augen und ihr Gesicht vorstellen.
»Aber trotz allem konnten weder Sie noch Miss Alberton etwas tun, um Mr. Albertons Meinung zu ändern«, fuhr Rathbone fort. »Mr. Alberton ließ sich nicht dazu bewegen, sein Wort Mr. Trace gegenüber zu brechen und stattdessen Ihnen die Gewehre zu verkaufen. Warum wandten Sie sich nicht einfach an einen anderen Lieferanten?«
»Weil er die besten und modernsten Flinten hatte, die augenblicklich verfügbar sind, und noch dazu in großer Anzahl. Ich konnte es mir nicht leisten, länger zu warten.«
»Ich verstehe. Welche Konsequenzen resultierten daraus, Mr. Breeland?«
Breeland klang leicht überrascht.
»Keine. Ich gestehe, ich war sehr wütend wegen seiner Blindheit. Er schien unfähig, einsehen zu können, dass weit wichtigere Dinge auf dem Spiel standen als der geschäftliche Ruf eines einzigen Mannes.« Der schroffe Unterton hatte sich wieder in seine Stimme geschlichen, und er richtete seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Rathbone. Merrit schien aus seinen Gedanken verschwunden zu sein. Er lehnte sich über die Brüstung des Zeugenstandes. »Er war ein Mann ohne Visionen, was ich ihm auch von den Übeln der Sklaverei erzählte.« Er machte eine abwertende Handbewegung. »Und all die ehrenwerten Herren haben keine Ahnung, wie sehr es an der menschlichen Seele nagt, wenn man einmal gesehen hat, wie menschliche Wesen mit weniger Würde behandelt werden, als sie ein anständiger Mann seinen Rindern zugesteht.« Seine Stimme bebte vor aufflammendem Zorn, und sein Gesicht glühte. Rathbone verstand sehr wohl, warum Merrit sich in ihn verliebt hatte. Was er weniger verstehen konnte, war, welche Art von Zärtlichkeit oder Geduld Breeland ihr entgegenbringen würde, ob er ihr Lachen, Toleranz oder Freude im Alltag schenken würde, welche Dankbarkeit für Kleinigkeiten, und vor allem, ob er bereit sein würde, Schwächen zu verzeihen und Verständnis für die Bedürfnisse des Alltagslebens zu haben.
Aber Rathbone war Mitte vierzig und Merrit war sechzehn Jahre alt. Vielleicht dauerte es noch Jahre, bevor sie den Wert solcher Dinge erkennen würde. Im Moment war Breeland ein Held, und einen solchen wünschte sie sich. Sie kannte seine Schwächen und liebte ihn dafür umso mehr. Seine Grenzen sah sie nicht.
»Wir haben vernommen, dass Sie in der Todesnacht von Mr. Alberton einen Streit mit ihm hatten und ihm beim Abschied sagten, Sie würden Ihr Ziel am Ende doch erreichen, ungeachtet dessen, was er tun würde. Was meinten Sie damit, Mr. Breeland?«
»Nun, dass das Anliegen der Union gerecht sei und am Ende über Ignoranz und Eigeninteresse triumphieren würde«, erwiderte Breeland so kurz und bündig, als ob die Antwort ohnehin für jedermann offensichtlich hätte sein müssen. »Es war keine Drohung, sondern einfach die Darstellung der Wahrheit. Ich habe Mr. Alberton kein Leid zugefügt, Gott ist mein Zeuge.«
Rathbone ließ seine Stimme gleichmütig, fast sachlich klingen, als ob er Breelands Zurückweisung einer Schuld und die Leidenschaft, mit der er dies vorgebracht hatte, nicht gehört hätte.
»Wohin gingen Sie, als Sie Mr. Albertons Haus verließen?«
»Zurück zu meiner Wohnung.«
»Allein?«
»Natürlich.«
»Trafen Sie mit Miss Alberton irgendwelche Verabredungen, dass sie Ihnen folgen sollte?«
Breeland öffnete den Mund, um instinktiv zu antworten, dann änderte er seinen Entschluss. Vielleicht erinnerte er sich an Rathbones Warnung bezüglich der Sympathie der Geschworenen.
»Nein«, sagte er feierlich. »Ich hatte nicht den Wunsch, mich zwischen Miss Alberton und ihre Familie zu stellen. Meine Absichten ihr gegenüber waren stets ehrenhaft.«
Rathbone wusste, dass er sich auf gefährlichem Boden bewegte, der voller Fallgruben war. Er wünschte, er könnte die Frage vermeiden, aber sie nicht zu stellen, wäre so auffallend gewesen, dass er damit eher Schaden angerichtet hätte.
»Sie begaben sich also in Ihre Wohnung, Mr. Breeland. Hatten Sie, aus irgendwelchen Gründen, die Uhr von Miss Alberton zurückgenommen, die Sie ihr als Andenken geschenkt hatten?«
Breeland antwortete, ohne zu zögern. »Nein.« Sein Blick war unerschrocken.
Rathbone hatte nicht die Absicht gehabt, die Geschworenen anzusehen, aber wider Willen warf er doch einen Blick auf sie. Er sah die Kälte auf ihren Gesichtern. Sie glaubten Breeland, dennoch mochten sie ihn nicht. Auf irgendeine subtile Art hatte er zwischen sich und Merrit eine Kluft geschaffen. Merrits Loyalität galt ihm, Breelands Loyalität galt seinen Überzeugungen. Nicht das, was er gesagt hatte, hatte die Misstöne erzeugt, sondern auf welche Weise er es gesagt hatte, und vielleicht auch das, was er nicht gesagt hatte.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie die Uhr in die Tooley Street gekommen sein könnte?«, fragte Rathbone.
»Überhaupt keine«, erwiderte Breeland. »Außer, dass sie weder von Miss Alberton noch von mir selbst dort fallen gelassen werden konnte. Sie kam gegen halb neun in meiner Wohnung an und blieb mit mir dort, bis wir sie gemeinsam kurz vor Mitternacht verließen, als Mr. Shearer die Nachricht schickte, Mr. Alberton hätte seine Meinung geändert und wäre nun einverstanden, die Waffen doch an die Union zu verkaufen. Wir fuhren gemeinsam zum Bahnhof am Euston Square und von dort nach Liverpool.« In wenigen Sätzen fasste er die ganze Geschichte zusammen und überließ dadurch Rathbone weniger Fragen, als dieser eigentlich hatte stellen wollen. Da aber sein Bericht spontan und sicher vorgebracht wurde, war es vielleicht besser, als wenn Rathbone ihn von Antwort zu Antwort geführt hätte.
»Waren Sie von der Nachricht Mr. Shearers überrascht?«, begann Rathbone und war sich augenblicklich bewusst, dass Deverill auf die Füße sprang.
»Ich entschuldige mich, Euer Ehren«, fügte er schnell hinzu. »Von der Nachricht, die angeblich von Mr. Shearer kam?«
»Ich war erstaunt«, gab Breeland zu.
»Aber Sie zogen sie nicht in Zweifel?«
»Nein. Ich kannte die Gerechtigkeit meines Anliegens. Ich glaubte, Alberton hätte sie letztendlich auch erkannt und dass die Befreiung der Sklaven weit wichtiger war als das Geschäftsgebaren und der ehrenhafte Ruf eines einzigen Mannes. Ich bewunderte ihn dafür.«
Im Saal herrschte vollkommenes Schweigen. Rathbone hatte das Gefühl, als ob sich Dunkelheit über ihn senkte. Nur mit Mühe gelang es ihm, Atem zu holen. In wenigen Minuten hatte Breeland seine Philosophie dargelegt und ihnen eine Gleichgültigkeit dem Einzelnen gegenüber vor Augen geführt, die wie ein eiskalter Atemzug war, eine Straße, deren Ende man nicht ahnen konnte.
Rathbone sah die Geschworenen an und erkannte, dass sie die ganze Bedeutung von Breelands Worten noch nicht erfasst hatten, im Gegensatz zu Deverill. In seinen Augen glänzte der Sieg.
Rathbone hörte seine eigene Stimme in dem hohen Saal, als ob sie nicht zu ihm gehörte; sie hallte sonderbar von der Decke wider. Er musste fortfahren, musste bis zum letzten Wort weitermachen.
»Zeigten Sie die Nachricht Miss Alberton?«
»Nein. Dazu bestand keine Veranlassung. Es war wichtig, so schnell wie möglich meine wenigen Habseligkeiten zu packen und abzufahren. Er hatte uns sehr wenig Zeit gelassen, um zum Bahnhof zu kommen.« Breeland war sich der Veränderung keineswegs bewusst. An ihm hatte sich nichts verändert, weder die Haltung seiner Schultern noch sein Griff um die Brüstung oder das Selbstvertrauen, das in seiner Stimme lag. »Ich berichtete ihr, was darin stand, und sie war überglücklich… natürlich.«
»Ja… natürlich«, wiederholte Rathbone. Detail für Detail führte er Breeland durch die Fahrt zum Bahnhof, ließ sich den Bahnhof und die Schaffner beschreiben, dann Shearer, den Zug und all die Passagiere in dem Waggon, in dem sie saßen. Seine Beschreibung deckte sich so haargenau mit der Merrits, dass er einen Moment lang wieder Hoffnung schöpfte. All die Ereignisse und Menschen waren als dieselben erkennbar, die auch sie erlebt und gesehen hatte, und doch war alles mit ausreichend unterschiedlicher Auffassungsgabe wiedergegeben und mit anderen Worten beschrieben worden, so dass es eindeutig war, dass er Merrit nicht nachgeahmt hatte oder sie ihre Beschreibung abgesprochen hatten.
Er bemerkte sogar, dass einige der Geschworenen nickten und sich in ihren Mienen Objektivität und Zustimmung abzeichnete. Vielleicht hatten auch sie einmal eine Zugreise von London nach Liverpool unternommen und erkannten den Wahrheitsgehalt von Breelands Worten.
Am Nachmittag führte Rathbone Breeland durch die Reise über den Atlantik und sprach über seinen kurzen Aufenthalt in Amerika.
Deverill unterbrach ihn mit der Frage, ob all dies denn relevant sei.
»Ich bezweifle nicht, Euer Ehren, dass Mr. Breeland die Waffen für die Armee der Union erwarb oder dass er unwiderruflich an seine Sache glaubt. Es ist nicht schwierig, zu verstehen, warum ein Mann in seinem oder einem anderen Land wünscht, die Sklaverei abschaffen zu können. Auch bezweifeln wir nicht, dass er in Manassas tapfer kämpfte, wie viele andere es auch taten.« Er senkte die Stimme. »Dass er bereit war, für den Sieg der Union jeden Preis zu bezahlen, ist uns auf tragische Weise klar, denn dass er Menschen dafür opferte, das ist der Kern unserer Anklage.«
»Es ist nicht mein Ziel, das zu beweisen«, argumentierte Rathbone wohl wissend, dass er nicht die ganze Wahrheit sagte und Deveril! dies sehr genau wusste. »Ich will nur zeigen, dass er Miss Alberton stets ehrenhaft behandelte, und zwar in aller Offenheit, obwohl Mr. Monk und Mr. Trace in Washington waren. Er tat dies, weil er sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatte und daher kein Grund zur Furcht bestand.«
Deverill lächelte. »Ich entschuldige mich. Sie waren so weit vom Thema abgekommen, dass ich Ihr Ziel nicht erkannte. Bitte fahren Sie fort.«
Rathbone war nahe daran zu scheitern, und sie wussten es beide. Aber er konnte jetzt nicht zurück. Er ließ Breeland über seine Konfrontation mit Monk und Trace auf dem Schlachtfeld berichten und über seine Zustimmung, mit ihnen nach England zurückzukehren.
»Sie leisteten also keinen Widerstand?«
»Nein. Die eigentliche Schlacht in Amerika können viele Männer schlagen. Aber nur ich kann hier für meine Tätigkeiten geradestehen und für die moralische Seite unseres Anliegens kämpfen, indem ich Sie hier in England von der Gerechtigkeit unserer Sache und der Ehrenhaftigkeit unseres Verhaltens überzeuge. Ich erwarb in aller Offenheit Waffen und bezahlte einen fairen Preis dafür. Der einzige Mensch, den ich täuschte, war Philo Trace, und das ist das Schicksal des Krieges. Er hatte von mir nichts anderes erwartet, ebenso wie ich von ihm. Wir sind Feinde, wenngleich wir uns höflich begegnen, wenn wir uns in London zufällig treffen. Schließlich sind wir keine Barbaren.«
Er räusperte sich. »Ich habe keine Angst, mich vor Gericht für meine Taten zu verantworten, und ich möchte, dass Sie mein Volk als das Volk von gerechten und tapferen Männern ansehen, das es ist.« Er hob sein Kinn leicht an und blickte vor sich hin.
»Die Zeit wird kommen, dass Sie zwischen Union und Konföderation wählen müssen. Dieser Krieg wird nicht enden, bevor nicht die eine Seite die andere zerstört hat. Ich werde alles geben, was ich habe, mein Leben, meine Freiheit, wenn nötig, um sicherzustellen, dass es die Union sein wird, die den Sieg erringt.«
Rathbone sah zu Merrit hoch und bemerkte den Stolz in ihrem Gesicht, aber auch, dass es sie Mühe kostete. Er meinte auch, einen dunkler werdenden Schatten der Einsamkeit an ihr zu sehen.
Aus dem rückwärtigen Teil des Gerichtssaales ertönte leichtes Beifallsgemurmel, dem sofort Einhalt geboten wurde.
Deverills Lächeln wurde breiter, aber es lag eine gewisse Unsicherheit darin. Er wollte, dass die Geschworenen glaubten, er sei zuversichtlich und würde eventuell etwas bemerken, das sie nicht wahrgenommen hatten. Es war ein Spiel des gegenseitigen Bluffs.
Auch Rathbone beherrschte es, und im Moment war der Bluff alles, was ihm noch geblieben war.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Menschen gibt, der Ihre Gefühle nicht teilt«, sagte er betont deutlich.
»Das entspricht nicht unserer Art, und wir alle trauern um Ihr Land und hoffen aus tiefster Seele, dass sich eine bessere Lösung findet als das Abschlachten ganzer Armeen und der Ruin eines Landes. Wir streben nicht danach, einem unschuldigen Mann die Freiheit zu nehmen, der seinem Volk in einem derartigen Zwist dient.« Er verbeugte sich leicht, als ob es der Kampf gegen die Sklaverei wäre, um den es hier ging.
Doch sein Erfolg war kurzlebig. Deverill erhob sich, um Breeland ins Kreuzverhör zu nehmen. Großspurig stolzierte in die Mitte des Saales und begann mit einer ausladenden dramatischen Geste.
»Mr. Breeland, Sie sprechen mit großer Leidenschaft über die Sache der Union. Niemand hier im Saal könnte Ihre Hingabe missverstehen. Entspräche es denn der Wahrheit, zu sagen, dass Ihnen dieses Anliegen wichtiger ist als alles andere?«
Breeland sah ihn geradewegs an und sagte stolz: »Ja, so ist es.«
Deverill dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube Ihnen, Sir. Ich bin nicht sicher, ob ich mich so rückhaltlos einsetzen könnte…«
Rathbone wusste, was als Nächstes kommen würde. Er erwog, ihn zu unterbrechen, um die Geschworenen einige Momente lang abzulenken, indem er erklärte, dass das, was Deverill gesagt hatte, wohl kaum als Frage gelten konnte und daher auch für den Fall nicht relevant war. Aber das hätte nur bedeutet, das Unvermeidliche hinauszuschieben.
»Ich glaube…«, fuhr Deverill fort und drehte sich zur Seite, um Merrit anzusehen, »ich glaube, eher als die Gerechtigkeit meines Anliegens zu verteidigen und meine eigene Unschuld darzulegen, wäre ich versucht gewesen, meine Liebe für eine junge Frau zu beteuern, die alles aufgegeben hatte – Heim, Familie, Sicherheit, ja sogar ihr eigenes Land –, um mir in ein fremdes Land zu folgen, das gegen sich selbst Krieg führt. Und ich hätte meine Energie darauf verwendet, alles zu tun, um zu gewährleisten, dass sie nicht für meine Verbrechen am Galgen enden würde – im Alter von sechzehn Jahren… noch kaum zur Frau geworden, am Beginn ihres Lebens…«
Die Wirkung war vernichtend. Breeland wurde dunkelrot. Man konnte nur vermuten, welche Wut und Scham ihn verzehrten.
Merrit war weiß geworden. Vielleicht würde sie nie mehr in ihrem Leben mit solch schrecklichem Verständnis und gleichzeitig solch immenser Demütigung konfrontiert werden.
Judith neigte langsam den Kopf, als ob ein Gewicht zu schwer auf ihr lastete, um es noch länger ertragen zu können.
Philo Trace’ Lippen waren von Mitleid verzerrt, dem er weder durch eine Berührung noch durch Worte Ausdruck verleihen konnte.
Auch Casbolts Augen ruhten auf Judith.
Die Geschworenen waren hin und her gerissen, ob sie Merrit ansehen sollten oder nicht. Einige wollten ihr Ungestörtheit gewähren, indem sie den Blick abwandten, als ob sie jemanden unabsichtlich bei einer intimen Handlung ertappt hätten. Andere starrten Breeland mit unverhohlener Verachtung an. Zwei von ihnen sahen Merrit mit tiefstem Mitgefühl an. Vielleicht hatten sie selbst Töchter in ihrem Alter. In ihren Gesichtern war keinerlei Missbilligung zu erkennen.
Rathbone zwang sich, daran zu denken, dass er sowohl mit der Verteidigung Merrits als auch mit der Breelands betraut war. Er durfte aus der Situation keinen Vorteil ziehen und Breeland an den Galgen bringen, um Merrits Freispruch zu erreichen, obwohl er sich im Moment genau das wünschte.
Deverill musste dem nichts mehr hinzufügen. Wie die Fakten auch immer sein mochten, auch die, an denen nicht zu rütteln war, er hatte jedes Gefühl der Barmherzigkeit im Keim erstickt.
Die Juroren würden Breeland verurteilen wollen, nicht wegen Mordes, aber wegen des Umstandes, dass er nicht lieben konnte.
Während Rathbone im Gerichtssaal kämpfte, versuchte Monk Shearers Aktionen in der Nacht von Albertons Tod und während der Tage vorher nachzuvollziehen. Die einzige Möglichkeit, für Breeland einen Freispruch zu erzielen, würde sein, einen Beweis zu finden, dass er nicht mit Shearer gemeinsame Sache gemacht hatte. Der Zeitpunkt des Streites in Albertons Haus, der Überbringung der Nachricht in Breelands Wohnung und der Ankunft am Bahnhof Euston Square machten seine Anwesenheit in der Tooley Street unmöglich, aber sie bewiesen nicht, dass er nicht entweder Shearer bestochen hatte, die Morde zu begehen, oder wenigstens mit ihm gemeinsame Sache gemacht und daraus einen Vorteil gezogen hatte.
Wieder begann er in der Tooley Street mit der Befragung der Lagerhausarbeiter. Es war ein warmer Tag, Windböen jagten kleine Staubwirbel über die Pflastersteine.
»Wann sahen Sie Shearer zum letzten Mal?«, fragte Monk den Mann mit dem sandfarbenen Haar, mit dem er schon einmal gesprochen hatte.
Konzentriert zog der Mann sein Gesicht in Falten. »Bin nicht ganz sicher. Zwei Tage vor der ganzen Tragödie war er mal hier. Versuche, mich zu erinnern, ob er auch an dem Tag hier war. Aber ich glaube nicht. Eigentlich bin ich ziemlich sicher, weil wir eine schöne Ladung Teakholz hier hatten, und das war nichts, wofür wir ihn gebraucht hätten. Weiß nicht, wo er war, aber vielleicht weiß Joe es. Ich frag ihn mal.« Damit ließ er Monk in der Sonne stehen und machte sich auf die Suche nach Joe.
»Er war in Seven Sisters«, sagte er, als er zurückkam, »Fuhr rauf, um einen Kerl wegen einer Ladung Eichenholz zu befragen. Verstehe nicht, was das mit Flinten zu tun haben soll.«
Auch Monk sah hier keinen Zusammenhang, doch er hatte die Absicht, jeden von Shearers Schritten zu verfolgen. »Kennen Sie den Namen der Firma in Seven Sisters?«
»Bratby und irgendwas, glaub ich«, erwiderte Bert.
»Große Firma, hat er gesagt. Muss an der High Street oder zumindest direkt daneben sein. Was soll das mit dem Tod des armen Mr. Alberton zu tun haben? Bratby handelt mit Eiche und Marmor und so was, nicht mit Waffen.«
»Ich möchte nur wissen, was Shearer tat, nachdem er dort war«, erklärte Monk unverblümt. Es hatte keinen Sinn, Ausflüchte zu erfinden. »Er war um halb ein Uhr nachts am Euston Square, um Breeland die Waffen zu übergeben, und seither hat ihn niemand mehr gesehen, das ist sicher.«
»Wo ist er also?«
»Das wüsste ich zu gerne. Wie sieht er denn aus?«
»Shearer? Ziemlich gewöhnlicher Kerl, wirklich. Ungefähr Ihre Größe, ein bisschen kleiner vielleicht, glaub ich. Nicht mehr viele Haare, eher dunkel. Hat grüne Augen, das ist wirklich besonders an ihm, und einen Leberfleck auf der Wange, ungefähr hier.« Er demonstrierte es, indem er mit seinem Finger auf seinen Wangenknochen tupfte. »Und er hat ’ne Menge Zähne.«
Monk dankte ihm und verabschiedete sich nach einigen weiteren Fragen, die nichts Wichtiges ergaben. Die nächsten eineinhalb Stunden verbrachte er in einem Hansom, der ihn nach Seven Sisters brachte. Er fand die Firma Bratby & Allan direkt neben der Hauptstraße.
»Mr. Shearer?«, fragte der Angestellte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, den kennen wir, ziemlich gut sogar. Um was handelt es sich denn, wenn ich fragen darf?«
Monk hatte sich die Antwort schon bereitgelegt. »Ich fürchte, er ist seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen worden, und wir machen uns Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen ist«, sagte er ernst.
Der Angestellte wirkte nicht sehr betroffen. »Schade um ihn«, sagte er lakonisch. »Nehme an, dass Leute, die am Fluss arbeiten, öfter mal in einen Unfall geraten. Bin nicht sicher, wann er das letzte Mal hier war, aber ich kann in den Büchern nachsehen, wenn Sie möchten.«
»Ja, bitte.«
Der Mann steckte sich den Bleistift hinters Ohr und ging, um nachzusehen. Kurz darauf kehrte mit einem Aktenordner zurück. »Hier«, sagte er und legte ihn auf den Tisch. Mit einem verschmierten Finger deutete er auf ein Blatt, und Monk las. Nun war es ziemlich klar, dass Shearer am Tag vor Albertons Tod bis zum späten Nachmittag bei Bratby & Allan gewesen war, um die Verkaufsbedingungen von Bauholz und die Möglichkeiten, es nach Süden in die Stadt Bath zu transportieren, zu verhandeln.
»Um welche Zeit ging er hier fort?«, fragte Monk.
Der Angestellte dachte einen Moment lang nach. »Es war halb sechs Uhr, wenn ich mich recht erinnere. Ich vermute, Sie möchten jetzt wissen, wohin er anschließend gegangen ist?«
»Wenn Sie es mir sagen können?«
»Das kann ich nicht, aber ich könnte Ihnen einen Tipp geben.«
»Dafür wäre ich dankbar.«
»Nun, er ist sicher zu einem Fuhrunternehmen gegangen, das hier in der Nähe ist. Klingt doch vernünftig, oder nicht?« Der Mann freute sich über seine Kombinationsfähigkeit.
Monk bleckte seine Zähne. »In der Tat.«
»Und da gibt es nicht viele, die bis Bath fahren«, fuhr der Mann fort. »Ich würde Cummins and Brothers versuchen, die sind nur ein Stück weiter die Straße hinunter.« Er deutete nach links. »Dann gibt es in der anderen Richtung noch B. and J. Horner’s. Das größte ist natürlich Patterson, das heißt aber nicht, dass sie die Besten sind und Shearer sie am liebsten mag. Er duldet keine Mätzchen, nein, der nicht. Ist ein harter Mann, aber fair… mehr oder weniger.«
»Was ist also das beste Unternehmen?«, fragte Monk geduldig.
»Cummins and Brothers«, erwiderte der Mann, ohne zu zögern. »Teuer, aber verlässlich. Sie sollten nach Mr. George fragen, er ist der Boss, und Mr. Shearer spricht immer nur mit dem Chef. Wie gesagt, harter Knabe, aber cleverer Geschäftsmann.«
Monk dankte ihm und ließ sich den Weg zu den Geschäftsräumen von Cummins Brothers genau beschreiben. Dort angekommen fragte er nach George Cummins und musste eine halbe Stunde warten, bis er in ein kleines, äußerst komfortables Büro gebeten wurde. George Cummins saß hinter seinem Schreibtisch, das Licht schien durch sein dünnes weißes Haar, und sein Gesicht war von freundlichen Runzeln durchzogen.
Monk stellte sich ohne Umschweife vor und erklärte ihm aufrichtig, weshalb er ihn aufsuchte.
»Shearer?«, sagte Cummins überrascht. »Verschwunden, sagten Sie? Kann nicht behaupten, dass ich das erwartet hätte. Er schien in bester Stimmung zu sein, als er das letzte Mal hier war. Erwartete sich einen schönen Profit von einer tollen Sache. Hatte irgendetwas mit Amerika zu tun, glaube ich.«
Monk spürte, wie sein Interesse aufflackerte. Er versuchte, sich zu beherrschen, um sich vor allzu großen Hoffnungen zu schützen und sich davor zu bewahren, die Umstände in eine Richtung zu drängen, die ihm gelegen gekommen wäre.
»Hat er sich näher dazu geäußert?«
Cummins Augen wurden schmaler. »Warum? Welchen Geschäften gehen Sie eigentlich nach, Mr. Monk? Und warum wollen Sie wissen, wo Shearer ist? Ich betrachte ihn als Freund, schon seit Jahren. Ich spreche nicht mit irgendjemand über ihn, bis ich weiß, warum.«
Monk konnte ihm die Wahrheit nicht sagen, das hätte womöglich Beweise, die Cummins liefern konnte, zerstört. Er musste dennoch aufrichtig sein, gleichzeitig aber ausweichend antworten, etwas, das er bestens gelernt hatte.
»Das Geschäft mit dem Amerikaner ist schlecht gelaufen, wie Sie vielleicht wissen«, erwiderte er ernsthaft. »Seither scheint niemand mehr Shearer gesehen zu haben. Ich bin ein privater Ermittler und stehe in Mrs. Albertons Diensten, die sich Sorgen macht, dass auch Mr. Shearer etwas zugestoßen sein könnte. Er war viele Jahre lang ein treuer Mitarbeiter ihres verstorbenen Gatten. Sie fühlt sich verantwortlich, sicherzustellen, ob er am Leben und bei guter Gesundheit ist und keiner Hilfe bedarf. Und natürlich wird er auch sehr vermisst, gerade jetzt.«
»Verstehe«, nickte Cummins. »Ja, natürlich.« Er runzelte die Stirn. »Offen gesagt verstehe ich es selbst nicht, dass er sich nicht blicken lässt. Ich gestehe, Mr. Monk, dass ich mir jetzt auch Sorgen mache. Als ich ihn weder sah noch von ihm hörte, nahm ich an, er sei in irgendeiner Handelsangelegenheit auf Reisen. Gelegentlich reist er auf den Kontinent.«
»Wann sahen Sie ihn zum letzten Mal?«, drängte Monk.
»Genau.«
Cummins dachte einen Augenblick lang nach. »Es war am Abend, bevor Mr. Alberton ermordet wurde. Aber ich nehme an, das wissen Sie bereits und sind deshalb hier. Wir sprachen über den Transport von Nutzholz nach Bath. Wie ich schon sagte, war er in bester Stimmung. Wir nahmen das Dinner gemeinsam ein, im Hanley Arms, neben der Omnibusstation an der Hornsey Road.«
»Um welche Zeit brachen Sie auf?«
Cummins wirkte besorgt. »Was, um Himmels willen, denken Sie bloß, Mr. Monk?«
»Ich weiß es nicht. Also, um welche Zeit?«
»Es war spät. Ungefähr elf Uhr. Wir… wir speisten ziemlich ausgiebig. Er sagte, er würde in die Stadt zurückfahren.«
»Wie? Mit einer Droschke?«
»Mit dem Zug vom Bahnhof in Seven Sisters aus. Er liegt am unteren Ende der Straße, in der sich das Hanley Arms befindet, noch ein kleines Stück weiter.«
»Wie lange dauert die Fahrt?«
»Um diese Nachtstunde? Es sind nicht viele Haltestellen: Holloway Station, durch den Copenhagen-Tunnel dann zu King’s Cross. Knapp eine Stunde. Warum? Ich wollte, Sie würden mir sagen, was Sie denken!«
»Hat Sie jemand zusammen gesehen, der bezeugen könnte, wann Sie gegangen sind?«
»Wenn Sie wollen, fragen Sie doch den Wirt des Hanley Arms. Warum?« Cummins Stimme klang jetzt schrill vor Sorge.
»Weil ich glaube, dass er um halb ein Uhr nachts auf dem Bahnhof Euston Square war«, antwortete Monk und erhob sich.
»Was bedeutet das?«, fragte Cummins und stand ebenfalls auf.
»Das bedeutet, dass er nicht in der Tooley Street gewesen sein kann«, erwiderte Monk.
Cummins erschrak. »Dachten Sie etwa, er wäre dort gewesen?
Gütiger Gott! Sie… Sie dachten doch wohl nicht, er wäre das gewesen? Nicht Walter Shearer! Er war ein hartgesottener Mann, wollte immer den besten Preis erzielen, aber er war ein sehr loyaler Angestellter. Oh, nein…« Er hielt inne. Er sah in Monks Gesicht, dass es nicht notwendig war, mehr zu sagen.
»Es war der Amerikaner!«, schlussfolgerte er.
»Nein, der war es nicht«, entgegnete Monk. »Ich weiß nicht, wer, zum Teufel, es getan hat! Könnten Sie Ihre Aussage beschwören?«
»Natürlich! Das werde ich! Es ist die reine Wahrheit!«
Monk überprüfte die Aussage bei dem Wirt des Hanley Arms, bekam die Antwort, die er erwartet hatte, und außerdem die Bestätigung der Wirtin. Dann verfolgte er Shearers Spuren zum Euston Square, woraufhin ihm noch zweiunddreißig Minuten blieben, für die er keinen Zeugen hatte. Aber niemand hätte in dieser Zeit nach Süden in die Tooley Street fahren, drei Männer ermorden und sechstausend Gewehre verladen können. Er könnte allerdings am King’s Cross ausgestiegen und von dort zum Euston Square gegangen sein und eine Wagenladung voller Waffen in Empfang genommen haben, die dort für ihn abgestellt worden war und bereits auf ihn wartete.
Noch am selben Abend berichtete er all das Rathbone.
Am Morgen bat Rathbone das Gericht, sich für eine ausreichend lange Zeit zu vertagen, bis der Wirt des Hanley Arms herbeigerufen werden konnte. Dies wurde ihm zugestanden.
Bis zum frühen Nachmittag waren alle Zeugenaussagen gemacht, und sowohl Deverill als auch Rathbone hatten ihre Schlussplädoyers gehalten. Niemand wusste, wer Alberton und die zwei Wächter in der Tooley Street ermordet hatte, aber es war ziemlich klar, dass es weder Breeland noch Shearer in Breelands Auftrag oder mit dessen Wissen gewesen sein konnte. Rathbone vermochte nicht zu sagen, wie Breelands Uhr auf den Hof gekommen war, und er konnte nicht erklären, wie die Waffen aus der Tooley Street zum Bahnhof Euston Square gekommen waren, dennoch kehrten die verwirrten und unzufriedenen Geschworenen aus der Beratung zurück und verkündeten das Urteil: Nicht schuldig.
Judith erlitt vor Erleichterung einen Schwächeanfall. Ihr genügte die pure Tatsache, dass Merrit von der drohenden Todesstrafe befreit war.
Hester stand in dem überfüllten Korridor vor dem Gerichtssaal und beobachtete Merrit, die zunächst zögerlich auf ihre Mutter zuging.
Philo Trace stand etwa zwölf Schritte von ihnen entfernt zur Linken. Er wollte sich dem Kreis nicht anschließen, aber es war ihm anzusehen, wie wichtig es ihm war, dass Judith glücklich werden würde.
Robert Casbolt stand näher bei ihr, er hatte ein blasses Gesicht und war von dem emotionalen Aufruhr der Verhandlung völlig erschöpft, doch nun war er, wenngleich nicht entspannt, so doch nicht mehr dazu gezwungen, für Merrits Rettung zu kämpfen.
Lyman Breeland stand abseits. Es war unmöglich, aus der Blässe seines Gesichts zu schließen, was er dachte. Er war frei, aber weder sein Charakter noch seine Passion waren auf Verständnis gestoßen, so wie er es sich gewünscht hatte. Wenigstens war er sensibel genug, die Qual zu spüren, von der sie nun alle befreit waren. An dieser Wiedervereinigung der Familie hatte er keinen Anteil. Ihnen blieb die Trauer, der Zorn, all das, was unausgesprochen bleiben musste und nicht einmal gedacht werden durfte.
Merrits Augen füllten sich mit Tränen. Vielleicht war es der Anblick ihrer Mutter in der schwarzen Trauerkleidung, der jegliche Farbe und Vitalität abhanden gekommen war, aufgesogen zunächst von dem schrecklichen Tod ihres Gatten und dann von der Angst um ihre Tochter.
Judith breitete ihre Arme weit aus.
Still trat Merrit vor, und sie fielen sich in die Arme. Merrit begann zu schluchzen, ließ all dem Schrecken und Schmerz freien Lauf, den sie während des letzten Monats, seit Hester ihr vom Tod ihres Vater berichtet hatte, so verzweifelt unter Kontrolle gehalten hatte.
Philo Trace kniff einige Male krampfhaft die Augen zusammen, dann drehte er sich um und ging.
Robert Casbolt blieb.
Rathbone trat aus der Tür des Gerichtssaals und lächelte. Horatio Deverill war ein paar Schritte hinter ihm, er wirkte immer noch überrascht, schien dem Kollegen aber nichts nachzutragen. Beide gingen an Breeland vorüber, scheinbar ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen.
»Haben Sie das absichtlich getan?«, fragte Deverill und schüttelte Rathbone die Hand. »Ich dachte wirklich, ich hätte Sie, wenn schon nicht auf Grund der Fakten, so doch, weil ich es mir vorgenommen hatte. Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich nicht irgendwie durch einen Taschenspielertrick zu Fall gebracht wurde.«
Rathbone lächelte nur.
Merrit und Judith lösten sich aus der Umarmung, und Judith dankte Rathbone mit vollendeter Höflichkeit, woraufhin sie sich ein paar Schritte entfernten. Merrit wandte sich zu Hester um.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise. »Sie und Mr. Monk haben viel mehr für mich getan, als ich es jemals in Worte fassen könnte.« Immer noch zeichneten sich auf ihrem Gesicht Verwirrung und Niedergeschlagenheit ab.
Hester wusste, warum. Der Sieg des Freispruchs war schwer überschattet von dem desillusionierenden Erlebnis, dass Breeland sich von ihr zurückgezogen hatte. Nun, da die unmittelbare Gefahr gebannt war, musste sie zu einer Entscheidung kommen. Sie waren nicht länger durch äußere Umstände aneinander gekettet. Plötzlich war es eine Frage der freien Entscheidung. Dass sie überhaupt eine Entscheidung treffen musste, war schmerzlich genug, und ihr Elend war offensichtlich.
»Es war ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, nicht wahr?«, erwiderte Hester ebenso leise. Sie wollte nicht, dass jemand ihre Unterhaltung mithörte, und da um sie herum viele Unterhaltungen geführt wurden, war es nicht schwierig, sich in das Meer der Stimmen zu mischen.
Merrit antwortete nicht. Sie konnte sich immer noch nicht dazu überwinden, zu sagen, dass ihre Sicherheit zerronnen war. Der Feldzug war ruhmreich gewesen, aber es war nicht wirklich Liebe, reichte nicht für eine Ehe aus.
»Es tut mir Leid«, sagte Hester aus tiefster Seele. Auch sie hatte Träume betrauert und kannte den Schmerz.
Merrit senkte die Lider. »Ich verstehe ihn nicht«, hauchte sie.
»Er hat mich nie geliebt, nicht wahr? Nicht so, wie ich ihn liebte.«
»Er liebt dich vermutlich so innig, wie er es vermag.« Hester zerbrach sich den Kopf, um die Wahrheit zu begreifen.
Merrit sah auf. »Was soll ich tun? Er ist ein ehrenwerter Mann. Ich wusste immer, dass er nicht schuldig war! Nicht nur, dass er nicht selbst dort gewesen war, sondern auch, dass er Shearer nicht dazu überredet hatte, es zu tun.«
»Bist du sicher, dass er die Gewehre nicht genommen hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie mit Blut befleckt waren?«, fragte Hester.
Merrit schluckte. »Nein…«, flüsterte sie. »Er hält die Sache für wichtig genug, um alle Mittel zu rechtfertigen, die ihr dienen könnten. Ich… Ich glaube nicht, dass ich seine Auffassung teilen kann. Ich kann sie nicht nachempfinden. Vielleicht ist mein Idealismus nicht stark genug. Ich habe nicht diese großartige Vision. Vielleicht bin ich auch nicht so gut wie er…« Letzteres war fast eine Frage. Das Flehen um eine Antwort lag in ihren Augen. Sogar jetzt war sie noch überzeugt, der Fehler läge bei ihr, dass sie es sei, der ein gewisser Edelmut fehlte, der sie befähigen würde, die Dinge so zu sehen wie er.
»Nein«, sagte Hester entschieden. »Nur die Masse zu sehen und das Individuum zu vernachlässigen, das ist kein Edelmut. Du verwechselst emotionale Feigheit mit Ehre.« Während sie sprach, wurde sie sich ihrer Sache immer sicherer. »Zu tun, was du für richtig hältst, ist gut, selbst wenn es schmerzt, deiner Pflicht nachzugehen, selbst wenn es auf Kosten einer Freundschaft oder gar einer Liebe geht. Es ist edelmütig und eine große Vision, natürlich. Aber sich der persönlichen Beziehung zu entziehen, der Güte und der Liebe, um sich stattdessen dem Heidentum einer allgemeinen Sache zu widmen, wie wichtig sie auch sein mag, das ist eine Art von Feigheit.«
Merrit schien immer noch zu zweifeln. Zum Teil verstand sie, aber sie hatte nicht die Worte gefunden, um es sich selbst klarzumachen. Sie runzelte die Stirn und kämpfte darum, die Erkenntnis endgültig zu akzeptieren, vor der sie seit Tagen versucht hatte, die Augen zu verschließen.
»Ich könnte niemanden lieben, der mich über seine Überzeugungen stellen würde. Ich meine… ich könnte ihn lieben, aber nicht mit ganzem Herzen, nicht wie ich es mir wünschen würde.«
»Das könnte ich auch nicht«, stimmte Hester zu und sah die momentane Erleichterung in Merrits Augen, bevor die Verwirrung zurückkehrte. »Ich möchte, dass er tut, was er für richtig hält, egal, wie weh es tut. Das ist der Unterschied.«
Merrit bebte und war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Ich… ich dachte wirklich… aber man kann nicht so leicht loslassen, nicht wahr?«
»Nein.« Hester berührte zärtlich ihren Arm. »Natürlich nicht. Aber mit ihm zu gehen, die ganze Zeit etwas vorzutäuschen und zuzusehen, wie die Wirklichkeit immer unerträglicher wird, ich glaube, das wäre noch schwieriger.«
Breeland kam auf sie zu. Er sah ein wenig verlegen aus, unsicher, was er nun sagen sollte, da die Anspannung gewichen war. Er hatte die Waffen, seine Unschuld hatte sich erwiesen und er war freigesprochen. Vielleicht bemerkte er die Distanz um ihn herum nicht einmal.
Judith drehte sich um, um sie zu beobachten, aber sie blieb, wo sie war.
»Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, die Sie unseretwegen auf sich genommen haben, Mrs. Monk«, sagte Breeland steif.
»Ich bin sicher, Sie taten es, weil Sie es für richtig hielten, trotzdem sind wir dankbar.«
»Sie irren sich«, sagte Hester und erwiderte seinen Blick. »Ich hatte keine Ahnung, ob es richtig oder falsch war. Ich tat es, weil ich um Merrit besorgt war. Ich hoffte, sie würde unschuldig sein, und daran glaubte ich, solange ich konnte, weil ich es wollte.
Glücklicherweise kann ich jetzt immer noch an ihre Unschuld glauben.«
»Das ist die Art von Begründung, die einer Frau freisteht, nehme ich an«, sagte er mit leichter Missbilligung.
»Aber sie ist zu gefühlsbetont.« Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Ich will nicht unfreundlich sein.«
Er wandte sich an Merrit. »Vielleicht möchtest du noch eine Weile bei deiner Mutter bleiben, bevor wir nach Washington zurückkehren. Ich könnte noch mindestens eine Woche bleiben, aber dann sollte ich mich wieder meinem Regiment anschließen. Ich habe sehr wenig verlässliche Nachrichten, was zu Hause geschieht. Wenigstens ist nun meine Ehre wiederhergestellt, und England wird wissen, dass die Offiziere der Union rechtschaffen handeln. Es kann gut sein, dass man mich noch einmal hierher schickt, um weitere Waffen zu kaufen.«
Es folgte ein Moment des Schweigens, bevor Merrit mit ruhiger Stimme zu ihrer Antwort ansetzte, aber es war offensichtlich, dass es ihre ganze Willenskraft kostete.
»Ich bin sicher, deine Ehre ist wiederhergestellt, Lyman, und dass das für dich das Wichtigste ist, was passieren konnte. Ich bin ebenso sicher, dass du es verdienst. Dennoch möchte ich nicht mit dir nach Washington zurückkehren. Ich danke dir für das Angebot. Ich bin sicher, dass du mir damit eine große Ehre erweist, aber ich bin nicht der Meinung, dass wir einander glücklich machen würden, daher kann ich nicht annehmen.«
Er begriff nicht, was sie gesagt hatte. Es war ihm unverständlich, dass sie sich von dem jungen Mädchen, das ihn so ergeben angebetet hatte, zu der jungen Frau entwickelt hatte, die nun eine überlegte Entscheidung fällte, die seine Zurückweisung bedeutete.
»Du würdest mich sehr glücklich machen«, sagte er stirnrunzelnd. »Du verfügst über alle Qualitäten, die sich ein Mann nur wünschen kann, und überdies hast du dich in Situationen größter Bedrängnis bewährt. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Frau zu finden, die ich mehr anbete als dich.«
Merrit atmete tief durch. An ihrem Gesicht erkannte Hester, dass sie zu einem endgültigen Entschluss gekommen war.
»Liebe ist mehr als Bewunderung, Lyman«, sagte Merrit und schnappte nach Luft. »Liebe bedeutet, sich um jemanden zu kümmern, ob er auf dem Irrweg oder auch auf dem richtigen Weg ist. Liebe bedeutet, die Schwächen des anderen zu schützen, ihn zu behüten, bis er die Stärke wiedererlangt hat. Liebe bedeutet, die kleinen und die großen Dinge miteinander zu teilen.«
Er sah wie betäubt aus, als hätte sie ihn geschlagen und er hätte keine Ahnung, weshalb.
Dann verbeugte er sich ganz langsam, drehte sich um und stolzierte davon.
Sie schien zu würgen, holte Luft, als wollte sie ihn zurückrufen und schwieg dann doch.
Judith kam auf sie zu, legte die Arme um sie und ließ sie weinen. Es war ein inniges heftiges Schluchzen, das das Ende eines Traumes bedeutete und doch bereits die Spur von Erleichterung in sich barg.