9
Zum ersten Mal seit seiner Heirat widerstrebte es Monk, nach Hause zu gehen, und obwohl er es fürchtete, ging er umgehend dorthin. Er wollte keine Zeit zum Nachdenken haben. Es gab keine Möglichkeit, zu vermeiden, Hester zu sehen, ihrem Blick zu begegnen und die erste Lüge zwischen ihnen aufzubauen. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft hatten sie heftig miteinander gestritten. Er hatte sie für voreingenommen, spitzzüngig und kaltherzig gehalten, eine Frau, deren ganze Leidenschaft der Verbesserung anderer galt, ob sie dies nun wollten oder nicht.
Und sie hatte ihn für selbstsüchtig, arrogant und in hohem Maße grausam gehalten. Heute Morgen noch hätte er darüber gelächelt, wie glücklich sie gemeinsam waren. Und nun quälte ihn ein Schmerz wie ein gerissener Muskel, eine Pein, die alles umfasste und alle Freuden verblassen ließ.
Er schloss die Tür auf und drückte sie hinter sich wieder ins Schloss.
Sie war da, sofort, ließ ihm keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen. All die vorher zurechtgelegten Worte verflogen.
Sie missverstand ihn, dachte, es hätte etwas mit seinen Ermittlungen am Fluss zu tun.
»Du hast etwas Hässliches entdeckt«, sagte sie schnell.
»Was ist es? Hat es mit Breeland zu tun? Aber auch wenn er schuldig ist, bedeutete es doch noch nicht, dass Merrit das auch ist.«
In ihrer Stimme lag so viel Überzeugung, dass er wusste, sie fürchtete, sich irgendwie geirrt zu haben und Merrit hätte doch einen Anteil an dem grausamen Geschehen gehabt.
Es war die perfekte Chance, ihr zu erzählen, was er tatsächlich entdeckt hatte, schrecklicher, als sie es sich je hätte vorstellen können, aber über sich und nicht über Breeland. Er konnte es nicht. Aus ihr strahlte eine innere Schönheit, die zu verlieren er nicht riskieren konnte. Er erinnerte sich ihrer in Manassas, als sie sich über den schwer blutenden Soldaten beugte und sich seiner Wunden annahm, ihm den Lebenswillen zurückgab und seine Schmerzen teilte.
Was würde sie von einem Mann halten, der Geld verdient hatte, indem er sich an den Profiten aus dem Sklavenhandel bereichert hatte? Nie im Leben hatte er sich einer Sache mehr geschämt, wenigstens nicht, soweit er sich erinnern konnte. Noch hatte er je mehr Angst davor gehabt, was ihn sein Verhalten kosten könnte. Er erkannte, dass sie das Wertvollste war, was er je gehabt hatte.
»William! Was ist mit dir?« In ihrer Stimme und in ihren Augen lag Furcht. »Was hast du herausgefunden?«
Sie machte sich um Merrit und vielleicht auch um Judith Alberton Sorgen. Sie konnte ja nicht erraten, dass ihr eigenes Leben und Glück bedroht war, und nicht das der Albertons.
Die Wahrheit steckte wie ein Kloß in seinem Hals.
»Nichts Endgültiges.« Er schluckte. »Ich konnte nichts finden, was bezeugen würde, dass der Lastkahn die Themse wieder hinaufgefahren wäre. Ich habe auch keine Ahnung, wem er gehörte. Vielleicht gehörte er jemandem, der ihn verliehen hatte, vielleicht wurde er aber auch jemandem gestohlen, der es nicht wagt, den Diebstahl anzuzeigen, denn möglicherweise stahl er ihn ja selbst.«
Er wünschte sich, sie berühren zu können, die Wärme ihres Körpers, ihre ungeduldige Reaktion auf seine Berührung zu spüren, doch der Abscheu vor sich selbst hielt ihn zurück und umzingelte ihn wie ein übles Laster.
Sie zog sich zurück, in ihrem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Verletztheit.
Dies war der erste Vorgeschmack der überwältigenden Einsamkeit, die ihm bevorstand; es war wie das Verblassen der Sonne in der Abenddämmerung.
»Hester!« Sie sah auf.
Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er konnte der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Er hatte keine Zeit gehabt, sich die passenden Worte zurechtzulegen.
»Ich denke, Shearer könnte derjenige gewesen sein, der Daniel Alberton ermordete.« Es war eine lahme Bemerkung, die das ersetzte, was ihm durch den Kopf ging. Und es war wohl kaum als große Offenbarung zu bezeichnen.
Sie wirkte ein wenig verwirrt. »Nun, das würde die sonderbare Zeit der Zugfahrt erklären, nehme ich an«, sagte sie. »Eine Verschwörung zwischen Breeland und Shearer also, von der Merrit nichts ahnte? Vielleicht waren sie und Breeland schon früher am Abend auf dem Hof des Lagerhauses, und sie hatte bereits die Uhr dort verloren?« Dann überzog sich ihr Gesicht mit einem sorgenvollen Ausdruck. »Aber warum hätten sie dorthin gehen sollen? Das ergibt doch keinen Sinn. Und warum war Daniel Alberton zu jener nächtlichen Stunde überhaupt dort?« Sie runzelte die Stirn. »Hatte es etwas mit Merrits Flucht von Zuhause zu tun, was meinst du? Dann war er vielleicht immer noch dort, als Shearer kam, um die Waffen zu stehlen?« Sie schüttelte den Kopf.
»Hört sich nicht sehr wahrscheinlich an, nicht wahr?«
Nein, das tat es tatsächlich nicht. Irgendein wichtiger Fakt fehlte noch. Er musste sich konzentrieren, um die Fragen ernst zu nehmen.
»Bist du hungrig?«, fragte sie, und ihre Augen leuchteten auf.
»Ja«, log er, in der Vermutung, dass sie sich mit der Zubereitung des Abendessens Mühe gegeben hatte. Jetzt, da er darüber nachdachte, kam ihm der warme würzige Duft zu Bewusstsein, der aus der Küche drang.
Sie lächelte. »Frische Wildpastete und Gemüse.« Sie sah aus, als wäre sie mit sich selbst sehr zufrieden. »Ich fand heute eine Haushaltshilfe. Sie ist Schottin. Ihr Name ist Mrs. Patrick. Sie ist ein wenig hitzig, aber sie ist eine hervorragende Köchin und bereit, wochentags immer nachmittags für drei Stunden zu kommen, was sehr gut ist, denn die meisten Dienstboten möchten entweder eine Ganztagsstelle oder gar nichts. Manche möchten sogar im Haus wohnen.« Sie betrachtete sein Gesicht. »Sie nimmt eine halbe Krone pro Woche. Denkst du, das können wir uns leisten?«
Er dachte nicht einmal daran, auszurechnen, was sie das im Monat kosten würde. »Wunderbar! Ja. Wenn du sie magst, dann mache die Sache fest.«
»Danke!« Ihre Stimme hob sich. »Ich bin dir sehr dankbar dafür.« Sie berührte ihn nur flüchtig, aber darin lag eine Intimität, eine Vertrautheit, die seinen Puls zum Rasen brachte und die ihm wegen seiner Täuschung Schmerz bereitete. Er wusste nicht, wie er damit leben sollte. Eine Stunde, einen Tag – vielleicht würde er lernen, es für eine gewisse Zeit zu vergessen. Vielleicht würde er nie erfahren, welche Geschäfte er mit Taunton gemacht hatte, ob er Arrol Dundas betrogen hatte oder nicht oder was ihn dazu getrieben hatte. Vielleicht war es einfach nur Gier gewesen, die Sehnsucht nach der Allmacht des Erfolges. Möglicherweise gab es ja auch einen mildernden Umstand – wenn er es doch nur wusste!
Er folgte ihr in die Küche, in der es angenehm kühl war, da die hinteren Fenster offen standen, dennoch duftete es nach den köstlichen Aromen gekonnt gewürzter Speisen. Unter anderen Umständen wäre es eine perfekte Mahlzeit gewesen, und es kostete ihn seine ganzen Verstellungskünste, seine ganze Selbstbeherrschung, so zu tun, als würde er sie genießen.
Hester war sich der innerlichen Qualen ihres Mannes nicht bewusst. Sie hielt sein Verhalten für nichts weiter als die Frustration über einen Fall, den er nicht verstand und der ihn dazu brachte, sich vor ihr zurückzuziehen, weswegen sie beschloss, sobald wie möglich ihre eigenen Ermittlungen anzustellen.
Als er am nächsten Morgen das Haus verließ, um sich auf die Suche nach weiteren Informationen über Shearer zu machen, hatte sie sich entschieden, was sie tun wollte. In ihrem besten Kleid aus blassem blau grauem Musselin machte sie sich auf den Weg, um Robert Casbolt zu besuchen. Sie zweifelte nicht daran, von ihm empfangen zu werden, da er für Judith Alberton und Merrit die tiefste Achtung hegte. Er würde sicher wissen, wie verzweifelt die Situation war, und sich, ungeachtet seiner Verpflichtungen, Zeit nehmen, um zu helfen.
Sie wusste, wo er wohnte, da er es an jenem ersten Abend beim Dinner erwähnt hatte. Kurz nach neun Uhr morgens kam sie an und reichte dem Butler ihre Karte, auf deren Rückseite sie in respektvollen Formulierungen geschrieben hatte, dass sie es als äußerst wichtig erachtete, in Merrit Albertons Interesse so zeitig wie möglich mit ihm zu sprechen.
Sie musste nur fünfzehn Minuten warten, dann wurde sie in einen herrlichen Salon geführt, der durch seine warmen Farben auffiel. Die Wände waren mit Eichenholz vertäfelt, und vor dem großen steinernen Kamin, der zu dieser Jahreszeit halb hinter einem Tapisserieschirm verborgen war, lag ein roter Perserteppich. Das Sofa und die Stühle waren Einzelstücke, einige davon mit Samt, andere mit Brokat und einer davon mit honigfarbenem Leder bezogen, aber insgesamt vermittelte der Raum den Eindruck größter Behaglichkeit. Es gab zwei hohe Stehlampen unterschiedlicher Größe, aber beide hatten Messingfüße und weite achteckige Schirme mit goldenen Fransen.
Casbolt war lässig, aber ganz offensichtlich mit Umsicht gekleidet. Sein Leinenhemd war makellos, und seine weichen Hausstiefel waren poliert und glänzten.
»Wie schön, dass Sie kommen, Mrs. Monk«, sagte er ernst. »Nachdem Sie bereits so viel für uns getan haben! Judith erzählte mir, Ihr Mann würde immer noch fast Tag und Nacht arbeiten, um Merrits Unschuld zu beweisen. Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen? Wenn ich irgendetwas wusste, glauben Sie mir, dann hätte ich es gesagt.«
Sie hatte sich bereits genauestens zurechtgelegt, was sie sagen wollte.
»Ich habe mir sehr viel Gedanken gemacht über die Angelegenheit, wegen der Mrs. Alberton ursprünglich die Dienste meines Mannes in Anspruch genommen hatte«, sagte sie, nachdem sie den angebotenen Platz eingenommen, aber jegliche Erfrischung abgelehnt hatte, die er ihr anbot.
Er schien erschrocken, als wäre er sich der Bedeutung ihrer Worte nicht sicher. Er setzte sich ihr gegenüber auf die Kante eines Stuhls, lehnte sich aber nicht zurück. Er wirkte alles andere als entspannt.
»Wer immer den Versuch unternahm, sich die Waffen durch Erpressung zu beschaffen, mag auch noch einen Schritt weiter gegangen sein, meinen Sie nicht?«, begann sie.
Sein Gesicht erhellte sich, dann runzelte er erneut die Stirn.
»Fand Mr. Monk denn einen Hinweis darauf, dass Breeland doch unschuldig ist? Der Umstand, dass er die Waffen in seinem Besitz hatte, schließt doch diese Möglichkeit sicherlich aus?«
»Natürlich ist er in die Sache verwickelt«, stimmte sie zu.
»Und vielleicht sehen wir alle mehr, als wirklich da ist, weil wir uns so sehnlichst wünschen, Merrit möge unschuldig sein. Wir versuchen, uns eine Lösung vorzustellen, die sie aus dem Geschehen ausschließt…«
»Natürlich!«, nickte er. Sein Gesicht hatte einen verzweifelten Ausdruck, als ob der Optimismus seiner Stimme sich nicht mit seiner Überzeugung deckte. Hester fragte sich, ob er eine Seite Merrits kannte, die ihnen verborgen geblieben war, und er aus diesem Grund zögerte. Dann lächelte er. »Ich bin der Meinung, dass Merrit vermutlich von Breeland benutzt wurde. Sie ist jung und verliebt. In einer solchen Situation sieht man nicht immer klar. Und all ihre Erfahrungen, die sie bisher gemacht hat, machte sie mit ehrwürdigen Menschen.« Er sah auf den üppigen Teppich auf dem Fußboden hinunter, dann hob er schnell den Blick.
»Ich weiß, sie stritt sich heftig mit ihrem Vater, aber glauben Sie mir, Mrs. Monk, Daniel Alberton war ein vollkommen ehrenhafter Mann, dessen Wort jeder völlig vertrauen konnte und der sich niemals zu einer Grausamkeit oder einer von Gier getriebenen Handlung hätte hinreißen lassen. Sie war wütend auf ihn, aber ihre Worte waren übereilt und voller hitziger Gefühle. In ihrem Herzen weiß sie, ebenso wie ich, dass er ein so guter Mann war, wie es ihn auf Erden nur geben kann.«
Sie sah ihn unverblümt an. »Was wollen Sie mir damit sagen, Mr. Casbolt? Dass sie sich Falschheit nicht vorstellen konnte und Breeland sie daher mit Leichtigkeit verführen konnte? Oder dass sie ihren Vater zu sehr liebte, um an seinem Tod mitschuldig zu sein, ungeachtet der Wut, die sie an jenem Abend auf ihn gehabt hatte?«
»Ich nehme an, ich versuche, beides zu sagen, Mrs. Monk.« Ein trauriger, selbstironischer Ausdruck trat in sein Gesicht. »Vielleicht auch, dass ich mir große Sorgen über den Ausgang dieser Tragödie mache und alles tun würde, um der Familie weiteren Schmerz zu ersparen.«
Sie konnte nicht umhin, sich der Intensität seiner Gefühle bewusst zu werden. Der Raum war erfüllt von dem Wissen um Furcht, Grauen und der Pein der Einsamkeit. In dem Moment erhaschte Hester einen flüchtigen Blick auf Casbolts Beziehung zu den Albertons und seine lebenslange Liebe und Hingabe, die er für seine Cousine hegte. Sie war jedoch nicht hier, um Mitgefühl oder Ermutigung anzubieten.
»Könnte Breeland an dem Erpressungsversuch beteiligt gewesen sein?«, fragte sie. »Er war ja bereit, alles zu tun, um an die Waffen zu kommen, und er ist ein Mann, dessen Glaube an die Sache alles zu rechtfertigen scheint. Er würde es als Beitrag zum Erhalt der Union und zur Sklavenbefreiung interpretieren.«
Casbolts Augen wurden fast unmerklich größer. »Daran hatte ich noch nicht gedacht, aber das ist möglich. Nur, woher hätte er von Gilmer und Daniel Albertons Freundlichkeit ihm gegenüber erfahren sollen?«
»Auf unterschiedlichste Arten«, erwiderte sie.
»Irgendjemand wusste ja ganz offensichtlich davon.«
»Aber zu dem Zeitpunkt war er doch erst seit wenigen Wochen in England.«
»Woher wissen Sie das?«
Langsam atmete er ein. »Tatsächlich weiß ich es nicht mit Bestimmtheit!«
»Und er könnte Verbündete gehabt haben. Was immer die Wahrheit sein könnte«, erklärte sie, »es sieht so aus, als sei Breeland mit einem Sonderzug nach Liverpool gefahren und konnte daher Alberton gar nicht getötet haben. Und Merrit war bei ihm, was sie ebenfalls ausschließt, dem Himmel sei Dank.«
Er beugte sich nach vorn. »Sind Sie sicher? Mrs. Monk, bitte, bitte wecken Sie bei Judith nur dann Hoffnungen, wenn es absolut keinen Zweifel gibt… Sie verstehen, alles andere wäre eine unerträgliche Grausamkeit.«
»Natürlich. Ich verstehe. Aus eben diesem Grund kam ich zu Ihnen und nicht zu ihr«, fügte sie hastig hinzu.
»Und weil ich mit Ihnen offen über Mrs. Alberton sprechen kann. Aber glauben Sie denn, dass der ganze Erpressungsversuch mit dem Diebstahl der Waffen in Verbindung steht – ob es nun ein erfolgloser Versuch von Breeland oder gar von Mr. Trace gewesen sein mochte?«
Seine Augen wurden groß.
»Trace? Ja… könnte sein. Er ist… verschlagen genug … für so etwas.« Er runzelte die Stirn. »Aber auch wenn es so wäre, wie würde das Merrit helfen? Und um aufrichtig zu sein, Mrs. Monk, das ist alles, was mir Sorgen bereitet. Mir geht es nicht um Gerechtigkeit. Ich hoffe, meine Worte schockieren Sie nicht. Daniel war mein Freund, und ich will, dass seine Mörder dafür bestraft werden, aber nicht auf Kosten weiteren Kummers für seine Witwe und Tochter. Er war seit meiner Jugend mein bester Freund, und ich kannte ihn sehr gut. Ich glaube, dass das Wohlergehen seiner Familie ihm weit mehr am Herzen gelegen hätte als die Rache für seinen Tod. Und so würde es auch jetzt noch sein.« Er sah sie ernst an und suchte in ihren Augen nach Verständnis.
Sie versuchte sich vorzustellen, was sie an Judiths Stelle empfinden würde. Würde sie sich vorrangig um Monks Rache sorgen, oder würden die Sicherheit und das Glück ihres Kindes an erster Stelle stehen? Würde sie selbst ermordet werden, würde sie wollen, dass Monk Vergeltung übte?
Die Antwort auf ihre Frage kam umgehend. Nein, sie würde Schutz für die Lebenden wollen. Die Zeit würde für die Gerechtigkeit Sorge tragen.
»Ich sehe, dass Sie mich verstehen«, sagte er leise. »Das habe ich erwartet.« Seine Stimme klang weich und erleichtert. Er konnte seine Gefühle nicht verbergen, und vielleicht wollte er es auch gar nicht.
Aber sie konnte nicht davon ablassen, die Wahrheit erfahren zu wollen und das Problem zu überdenken, bis sie es gelöst haben würde. Danach würde sie dann entscheiden, wem sie es offenbaren wollte und welche Entscheidungen zu treffen sein würden.
»Ich frage mich, warum die Erpresser die Waffen zu Baskin and Company liefern lassen wollten anstatt direkt zu sich selbst? Sind Sie der Meinung, Mr. Alberton hatte irgendeinen Grund, warum er sie weder der einen noch der anderen Seite der amerikanischen Kriegsgegner verkaufen wollte?«
Er verstand genau, was sie meinte. »Ich kenne keinen. Aber das würde auf jemanden hindeuten, der mit seiner Familiengeschichte nicht vertraut war. Jemand, der ihn kannte, würde niemals auf den Gedanken kommen, dass er Geschäfte gemacht hätte, aus denen, wie indirekt auch immer, Piraten Profit erzielt hätten. Deshalb haben Sie sicher Recht damit, dass es vermutlich eher ein Amerikaner war als ein Engländer.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Dennoch sehe ich nicht, inwiefern dies Merrit helfen könnte. Tatsächlich verstehe ich auch nicht, wie uns das der Wahrheit näher bringen sollte. Was wir brauchen, ist etwas, das beweist, dass Merrit keinerlei Kenntnis hatte von Breelands Absichten, Daniel Schaden zuzufügen. Entweder das oder, dass sie es zwar wusste, aber unfähig war, etwas dagegen zu tun, dass sie selbst bedroht wurde oder auf irgendeine Art handlungsunfähig war.«
»Das könnte sie nicht beweisen, da es ganz offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht«, erklärte sie.
»Sie ist freiwillig mit ihm gegangen und ist immer noch bereit, ihn zu verteidigen. Sie glaubt an seine Unschuld.«
»Sie glaubt es, weil sie muss.« Er schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Ich kenne Merrit seit ihrer Geburt. Sie ist fast wie ein eigenes Kind für mich. Ich weiß, dass sie leidenschaftlich und willensstark ist, und wenn sie sich einer Sache oder einer Person verschreibt, dann tut sie das mit ganzem Herzen, aber nicht immer lässt sie sich dabei von Weisheit lenken. Ich habe sie erlebt, als sie ihre Liebe für Pferde entdeckte, als sie entschlossen war, Nonne und später Missionarin in Afrika zu werden, und als sie für den Hausarzt der Familie schwärmte, einen sehr netten jungen Mann, der sich ihrer Zuneigung keineswegs bewusst war.«
Belustigung und Zärtlichkeit erhellten seine Züge.
»Gnädigerweise verging Letzteres ohne Folgen und Peinlichkeiten.«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin der Meinung, das ist alles Teil des Erwachsenwerdens. Ich erinnere mich an einige turbulente Gefühle meinerseits, bei denen ich erröte, wenn ich heute daran denke, und von denen ich sicherlich niemandem erzählen werde.«
Hester hätte dasselbe tun können, den Vikar eingeschlossen, von dem sie Monk erzählt hatte. Sie hatte ebenfalls Zeiten durchgemacht, in denen sie überzeugt gewesen war, niemand würde sie lieben oder ihre Gefühle verstehen, am allerwenigsten ihre Eltern.
»Trotzdem«, beharrte sie, »der Erpressungsversuch ist ja nun nicht zu leugnen. Wenn es weder Breeland noch Trace war, dann muss es jemand anderes gewesen sein. Könnte es Mr. Shearer, der Unterhändler, gewesen sein?«
Casbolt erschrak. »Shearer? Warum…?« Er starrte sie eindringlich an. »Ja, könnte sein, Mrs. Monk. Das ist ein sehr unangenehmer Gedanke, aber er ist keineswegs abwegig. Shearer, der als Zwischenhändler für Piraten agierte, und als das nicht funktionierte, schlug er sich auf Breelands Seite!« Seine Stimme wurde lauter. »Und wenn Breeland selbst den armen Daniel nicht töten konnte, vielleicht war es dann Shearer? Es scheint sicher zu sein, dass Shearer London nach Daniels Tod verlassen hat. Ich habe ihn seit den letzten Tagen vor der Mordnacht nicht mehr zu sehen bekommen. Das würde eine Menge erklären… und das Beste wäre, es würde Merrits Glauben an Breelands Unschuld erklären.«
Das Zimmer um sie herum schien zu glühen. Eine Vase mit goldenen sommerlichen Rosen glänzte bernstein und apricotfarben und spiegelte sich auf der polierten Tischplatte, auf der sie stand. Eine grazile Pferdestatue schmückte einen Alkoven.
»Armer Daniel«, sagte er leise. »Er vertraute Shearer. Er war ehrgeizig, achtete ständig auf seinen Vorteil, und von allen Männern am Fluss war er derjenige, der am härtesten verhandelte, wenn es um die Transportkosten ging, und das, glauben Sie mir, besagt eine ganze Menge. Aber Daniel hielt ihn für loyal, und ich muss gestehen, dasselbe gilt für mich.« Seine Lippen verzerrten sich zu einer bitteren Grimasse. »Aber ich nehme an, man wird am schlimmsten von jenen betrogen, von denen man es am wenigsten erwartet.«
Eine andere Idee kreuzte Hesters Gedanken, eine, der sie am liebsten nicht nachgegangen wäre, aber sie ließ sich jetzt nicht mehr beiseite schieben.
»Haben Sie Kontrolle darüber, wer die Waffen kauft, Mr. Casbolt?«
»Rechtlich gesehen nicht, aber ich nehme an, effektiv habe ich das. Hätte Daniel etwas getan, was ich inakzeptabel gefunden hätte, hätte ich es verhindern können. Warum fragen Sie? Er tat niemals etwas dergleichen, nicht einmal etwas, was nur im Entferntesten fragwürdig gewesen wäre.«
»Hätten Sie die Waffen an Piraten verkauft?«
»Nein.« Wieder begegnete er ihrem Blick mit Offenheit und Eindringlichkeit. »Und wenn Sie glauben, Daniel hätte das getan, dann irren Sie sich. Judith hätte das niemals ertragen nach dem, was ihrem Bruder zugestoßen ist. Noch hätte ich das unterstützt. Auch Daniel hätte das niemals getan, auch wenn sie es nie erfahren hätte. Glauben Sie mir, er hasste Piraten genauso wie wir.« Einen Moment lang senkte er die Lider. »Es tut mir Leid, wenn ich brüsk klinge, Mrs. Monk, aber Sie kannten Daniel nicht, andernfalls hätten Sie nicht gefragt. Was sie Judiths Bruder antaten, war grauenhaft. Daniel hätte ihnen nicht die Luft zum Atmen gewährt, geschweige denn ihnen Musketen verkauft, damit sie ihre Verbrechen fortsetzen könnten. Ich hätte das auch nicht zugelassen, wie sehr sie mir auch gedroht oder welchen Preis sie mir auch angeboten hätten.«
Hester glaubte ihm, aber sie konnte nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob Daniel Alberton den Verkauf vielleicht so dringend nötig gehabt hatte, um den Verkauf insgeheim zu tätigen, in der Hoffnung, Judith würde niemals davon erfahren.
Durch den Krieg in Amerika schienen Waffen Mangelware geworden zu sein, und es wurden Höchstpreise dafür verlangt. Hester wusste, dass Menschen angesichts ihres bevorstehenden Ruins zu Verzweiflungstaten fähig waren, nicht so sehr wegen des Verlustes materieller Güter, sondern wegen der Scham über den geschäftlichen Misserfolg.
»Ich danke Ihnen, Mr. Casbolt. Sie waren sehr freundlich, mir so viel von Ihrer Zeit zu gewähren.«
»Mrs. Monk, bitte verfolgen Sie diesen Gedanken nicht weiter. Ich kannte Daniel Alberton besser als irgendein anderer Mensch, in mancherlei Beziehung vielleicht sogar besser, als es seine Frau tat. Nichts in der Welt hätte ihn dazu bringen können, Waffen an Piraten zu verkaufen, am wenigsten an die im Mittelmeer. Sie kennen Judith. Sie müssen einen Eindruck bekommen haben, welch bemerkenswerte Frau sie ist, wie… wie…« Sein Gesicht offenbarte, dass er keine Worte fand, die die Qualitäten beschreiben könnten, die er in ihr sah. »Daniel betete sie an!«, sagte er, wobei seine Stimme bebte. »Lieber hätte er sein Leben im Schuldenkerker ausgehaucht, als ihr Vertrauen durch einen derartigen Handel zu enttäuschen.
Er war ein höchst ehrenhafter Mann… und sie liebte ihn dafür. Er… es fällt mir sehr schwer, das zu sagen, Mrs. Monk.« Er schüttelte den Kopf bei seinen Worten.
»Er war keiner großen Leidenschaft fähig, besaß vielleicht auch nicht die größte Intelligenz oder immense Vorstellungsgaben… aber er war ein Mann, dem man alles und jedes, was man besaß, anvertrauen konnte. Spürten Sie das nicht selbst, sogar in der kurzen Zeit, als Sie ihn erlebten?« Sein Lächeln war schmerzverzerrt, und seine Qualen schienen den Raum zu erfüllen. »Oder meine ich nur, Sie hätten in wenigen Stunden das erkennen müssen, was ich in einem halben Leben erkannt habe?«
Sie schämte sich für ihre Gedanken, so wie sie sich auch dafür schämte, sich erlaubt zu haben, sie so freimütig geäußert zu haben.
»Ich denke, es wird sich als so absurd herausstellen, wie Sie es sagen.« Nicht die Worte an sich, aber ihr Tonfall ließ es wie eine halbe Entschuldigung klingen. »Vielleicht würden wir zu einer Lösung kommen, wenn wir Mr. Shearer fänden.«
Für einen Augenblick zeichnete sich eine sonderbare Bitterkeit auf seinem Gesicht ab, dann war sie wieder verschwunden.
»Ich zweifle nicht daran, dass das wahr ist. Wer weiß schon, welche Begierden einen Mann dazu treiben, jene zu betrügen, die ihm Vertrauen schenken? Bitte, tun Sie einfach etwas, um Merrit zu retten, Mrs. Monk, um Judiths willen. Das ist etwas, was ich nicht kann.« Er schluckte. »Ich verfüge nicht über das Geschick. Ich kann mich auf vielerlei Arten um sie kümmern und um die geschäftlichen Angelegenheiten, ich kann dafür sorgen, dass sie versorgt ist und stets den Respekt der Gesellschaft genießen wird. Aber…«
»Selbstverständlich«, versprach Hester hastig und erhob sich.
»Ich werde es auch um Merrits willen tun. Während wir auf dem Schlachtfeld waren, arbeiteten wir eine Zeit lang Seite an Seite. Ich habe ihre Tapferkeit kennen gelernt. Und ich habe sie ins Herz geschlossen.«
Er entspannte sich ein wenig. »Ich danke Ihnen«, sagte er leise und erhob sich nun ebenfalls. »Ich bete zu Gott, Monk möge Shearer finden oder wenigstens einen Beweis für seine Rolle in dem Verbrechen.«
Als sie mit Monk über ihre Überlegungen sprach, fand er die Idee abstoßend, Alberton könnte insgeheim Waffen an Piraten verkauft haben, dennoch war er verpflichtet, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Sie bemerkte das schmerzerfüllte Zucken in seinem Gesicht, als sie bei Mrs. Patricks exzellent gekochtem Abendessen saßen, welches ein Rhabarberkuchen krönte, dessen Teig auf der Zunge zerschmolz.
Sie sah die Düsternis in seinen Zügen, die sie auch am vorangegangenen Abend bemerkt hatte, und sie fragte sich, ob ihn eben diese Angst bereits geplagt hatte und er es nur nicht hatte aussprechen wollen. Er hatte Alberton instinktiv gemocht, mehr als die meisten anderen Klienten, und sein Tod hatte ein Gefühl des Verlustes und der Wut hinterlassen. Aber es gab keinen Weg, den Gedanken beiseite zu schieben. Nur die Wahrheit konnte ihn bannen … vielleicht.
»Was sagte Casbolt?«, fragte er.
»Er leugnete die Möglichkeit und behauptete, Alberton hätte Judith angebetet und wäre lieber in den Schuldenkerker gegangen, als mit Piraten Geschäfte zu machen.« Zögernd hielt sie inne.
»Aber…«, hakte er nach.
»Aber er war Albertons engster Freund und könnte es nicht ertragen, zu glauben, Alberton hätte Judith auf diese Weise hintergangen oder dass Alberton weniger ehrenhaft gewesen sein könnte, als er annahm. Er ist sehr loyal. Und …« Die Erinnerung an Casbolts Gesicht in dem wunderschönen sonnendurchfluteten Raum und an die Intensität der Gefühle, die seinen Körper erbeben ließ, als er auf der Kante seines Stuhles saß, entlockte ihr ein schwaches Lächeln. »Außerdem ist er selbst Judith ziemlich ergeben. Er würde alles tun, um sie vor weiterem Kummer zu schützen.«
»Eine Lüge eingeschlossen, um Albertons Schuld zu verbergen?«, drang er in sie.
»Das denke ich wohl«, gestand sie freimütig, nachdem sie ihre Worte abgewogen und als der Wahrheit entsprechend eingestuft hatte. »Er würde dies sicherlich auch tun, um den Ruf des toten Freundes zu schützen, auch um Judiths willen. Ich kann das verstehen, wenngleich ich nicht weiß, ob ich selbst es tun würde oder nicht.«
Monk riss die Augen auf. »Auf Kosten der Wahrheit? Du?!«
Sie sah ihn an, versuchte, in seinen Gesichtszügen zu lesen, jedoch nicht in der Absicht, ihre Antwort zu ändern.
»Ich weiß es nicht. Nicht alle Antworten müssen ausgesprochen werden. Manche sollten verschwiegen werden. Nur weiß ich nicht, welche.«
»Oh, doch, das tust du wohl.« Über sein Gesicht legte sich ein dunkler Schatten. »Das sind jene, die den Unschuldigen zum Leiden verurteilen und die zwischen den Menschen Mauern der Lügen errichten, auch wenn es Lügen des Schweigens sind.«
Sie verstand die Tiefe der Gefühle nicht, die in seinen Worten zum Ausdruck kam. Es war, als wäre er wütend auf sie, wie er es in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft gewesen war, als er sie für heuchlerisch, ja sogar für kaltherzig gehalten hatte. Vielleicht hatte sie sich damals tatsächlich noch vor vielem verschlossen und hatte vorschnell verurteilt, was sie nicht verstand und wovor sie Angst hatte. Aber doch jetzt nicht mehr!
Sie wusste nicht, wie sie die Barriere durchbrechen sollte. Sie konnte sie nicht greifen, nicht erfassen, aber sie wusste, dass sie existierte. Mit welchen Worten hatte sie diese Barriere nur geschaffen? Warum kannte er sie nicht besser, um sie so missverstehen zu können? Oder warum liebte er sie nicht genügend, um die Barriere selbst zum Einsturz zu bringen?
»Ich kenne die Wahrheit nicht«, sagte sie leise und starrte auf den Tisch. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es mit Shearer zu tun hatte, ob er die Gewehre nun den Piraten, Trace, Breeland oder gar jemand anderem verkaufte, der sie erwerben wollte.«
»Ich kann Shearer nicht ausfindig machen«, sagte Monk mit ausdrucksloser Stimme. »Niemand hat ihn seit den Tagen vor den Morden gesehen.«
»Sagt das nicht schon eine Menge aus?«, fragte sie.
»Wäre er nicht auf irgendeine Art in die Sache verwickelt, wäre er dann nicht immer noch hier? Würde er dann nicht alles tun, um zu helfen und vielleicht seine eigene Position in dem Geschäft zu stärken? Er könnte ja hoffen, eine Art Geschäftsführer zu werden.«
Er stieß seinen Stuhl zurück, stand auf und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu marschieren.
»Das ist nicht genug«, sagte er grimmig. »Du siehst es, und ich sehe es auch, aber wir können uns nicht auf die Geschworenen verlassen. Breeland hatte die Waffen. Er hatte die Finger im Spiel. Es mag wohl sein, dass er Shearer dazu überredete, die Morde zu begehen, vielleicht für den Preis der Gewehre, was ausreichend wäre, um eine Menge Männer zu bestechen. Ich gestehe, es ist mir einerlei, ob Breeland dafür am Galgen endet. Einen anderen Mann zu bestechen, ihn zu Betrug und Mord zu verleiten, ist eine noch größere Sünde, als das alles selbst zu tun. Aber das würde Merrit nichts nützen, weil es nicht beweist, dass sie nichts über seine Machenschaften wusste.«
»Aber…« Schon wollte sie ihm widersprechen, doch dann erkannte sie mit niederschmetternder Klarheit, dass er Recht hatte. Nicht nur wäre es wenig wahrscheinlich, dass die Geschworenen ihr glauben würden, da sie Breeland so nahe stand, freiwillig mit ihm gekommen war und zudem ihre Uhr im Hof des Lagerhauses verloren hatte, sondern sie würde es zudem in ihrer irregeführten Loyalität zu ihm auch noch leugnen.
»Jedermann hat seine dunklen Flecken«, sagte er in die Stille hinein. »Menschen, die du zu kennen glaubst, sind zu Gewalt und Gemeinheit fähig, was schwer zu akzeptieren und unmöglich zu verstehen ist.« In seiner Stimme schwang Zorn mit und ein Schmerz, den sie nur zu deutlich vernahm. Sie wünschte, ihn fragen zu können, worauf er gestoßen war und ihr nicht mitteilen konnte, aber der Haltung seines Körpers und seinem Gesichtsausdruck entnahm sie, dass er es ihr nicht sagen würde.
Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Küche zu tragen. Sie würde nicht noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen, wenigstens nicht heute Abend.
Monk ging früh zu Bett. Er war müde, aber weit mehr als das wollte er vermeiden, mit Hester zu sprechen. Er hatte sich selbst ausgeschlossen, und nun wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.
Am Morgen erwachte er früh und ließ Hester schlafend zurück. Wenigstens dachte er, dass sie noch schliefe. Aber er war nicht sicher. Er schrieb eine hastige Notiz, in der er ihr mitteilte, er würde noch einmal an den Fluss gehen, um die Sache mit den Waffen und dem Geld zu überprüfen sowie alles in Erfahrung zu bringen, was er über die Firma herausfinden konnte, die mit den Piraten in Verhandlung gestanden hatte. Dann verließ er das Haus. Er würde irgendwo etwas essen, wenn ihm danach wäre, irgendwo an der Straße. Es gab genügend Bettler, die Sandwiches und Pasteten verkauften. Die große Masse der arbeitenden Bevölkerung hatte keine Möglichkeit, zu Hause zu kochen, und aß ständig auf der Straße. Er wollte es nicht riskieren, Hester aufzuwecken. Sie hätte ihn in der Küche vorgefunden, dann wäre er zu Erklärungen gezwungen gewesen oder hätte diese ganz offensichtlich vermeiden müssen, und er war nicht bereit, so großen Schmerz zu ertragen.
Von dem Moment an, als er im Hospital aufgewacht war, war seine Vergangenheit ein unbekanntes Terrain gewesen, das zu viele dunkle Flecken und zu viele hässliche Überraschungen bereithielt. Er hätte die Klugheit und die Selbstbeherrschung haben sollen, um seine Gefühle besser im Griff zu haben. Damals hatte er gewusst, dass die Ehe nichts für ihn war. Liebe und all ihre Verwundbarkeiten waren für jene bestimmt, die ein komplikationsloses Leben führten, die sich selbst kannten und deren dunkelste Winkel der Seele lediglich die gewöhnlichen Neidgefühle waren, die unbedeutenden Akte des Distanzierens, die jedermann kannte. Er war nicht auf jemanden wie Hester vorbereitet gewesen, die von ihm Gefühle forderte, die er weder bezwingen noch kontrollieren und letztendlich nicht einmal leugnen konnte.
Er verließ das Haus, schloss leise die Haustür und eilte die Fitzroy Street entlang und bog in die Tottenham Court Road ein. Es blieb ihm keine andere Wahl, als diese Erpressung näher zu untersuchen. Seine Abneigung dagegen war keine Entschuldigung, tatsächlich nötigte sie ihn sogar, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um sie auf Fakten hin zu überprüfen, und, wenn möglich, sie sogar zu widerlegen.
Es war zu früh, die Erlaubnis einzuholen, Albertons Finanzen einsehen zu dürfen. Rathbone würde sich zu dieser Stunde noch nicht in seinem Büro in der Vere Street befinden. Aber wie dem auch sei, Monk konnte wenigstens eine Mitteilung hinterlassen, in der er um die notwendige Ermächtigung ansuchte.
Anschließend wollte er sich um Baskin and Company kümmern, die als Zwischenhändler für die Waffen der Piraten genannt worden waren.
Zu dieser frühen Stunde herrschte bereits reger Verkehr auf dem Fluss. Die Gezeiten richteten sich nicht nach der Bequemlichkeit der Menschen, und so waren Dockarbeiter, Kahnführer und Schiffsmakler längst bei der Arbeit. Er sah Kohlenträger, die unter der Last ihrer schweren Säcke tief gebeugt gingen und nur mit großer Mühe das Gleichgewicht hielten, wenn sie aus den tiefen Laderäumen kletterten. Männer schrien sich gegenseitig etwas zu, und das Kreischen der Möwen, die in der Hoffnung, einen Fisch zu ergattern, niedrig kreisten, erfüllte die Luft. Das Klirren der Ketten und das helle Scharren von Metall auf Metall übertönte das allgegenwärtige Rauschen und Klatschen des Wassers.
»Nie davon gehört«, antwortete der erste Mann fröhlich, als Monk ihn nach der Firma fragte. »Hier in der Nähe ist sie jedenfalls nicht. Hey! Jim! Je was von Baskin and Company gehört?«
»Nicht hier in der Gegend!«, erwiderte Jim. »Tut mir Leid, Kumpel!«
Und so ging es weiter bis hinunter nach Limehouse und um die Flussbiegung bei der Isle of Dogs und auch auf der anderen Flussseite in Rotherhithe. Er war überzeugt gewesen, dass ihm, wenn überhaupt, die Fährmänner Auskunft geben würden, aber die drei, die er fragte, hatten den Namen nie gehört.
Um die Mitte des Nachmittags gab er auf und kehrte zur Vere Street zurück, um zu sehen, ob Rathbone die notwendige Erlaubnis erhalten hatte, Albertons Konten einzusehen.
»Es gab keine Schwierigkeiten«, sagte Rathbone stirnrunzelnd. Er empfing Monk in seinem Büro und sah so frisch und makellos aus wie immer. Monk, der den ganzen Tag die Docks auf und ab gelaufen war, war sich des Unterschieds zwischen ihnen wohl bewusst. Rathbone hatte keine Schatten in seiner Vergangenheit, die von Wichtigkeit gewesen wären. Sein gelassenes, fast arrogantes Benehmen war auf die Tatsache zurückzuführen, dass er sich selbst kannte, besser als die meisten Menschen. Er verfügte über ein derart unerschütterliches Selbstvertrauen, dass er kein Bedürfnis verspürte, andere zu beeindrucken. Dies war ein Charakterzug, den Monk bewunderte und um den er den anderen beneidete.
Monk konzentrierte sich auf die Gegenwart. »Sehr gut!«
»Was erwarten Sie zu entdecken?« Rathbone wirkte neugierig und vielleicht eine Spur besorgt.
»Nichts«, erwiderte Monk. »Aber ich muss sichergehen.«
Rathbone lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Warum haben Sie mich nicht gebeten, die Konten einzusehen?«
Monk lächelte dünn. »Weil Sie vielleicht die Antwort nicht wissen wollen.«
Einen Moment lang blitzte Belustigung in Rathbones Augen auf. »Oh! Dann gehen Sie wohl besser allein. Aber lassen Sie mich vor Gericht bloß nicht in einen Hinterhalt laufen.«
»Das werde ich nicht«, versprach Monk. »Ich glaube immer noch, dass Shearer es war, der die Morde beging.«
Rathbone zog die Brauen hoch. »Allein?«
»Nein. Ich glaube, dazu bedurfte es mehr als einen Mann. Die Opfer wurden gefesselt, bevor sie erschossen wurden. Aber er könnte sich irgendwie Hilfe verschafft haben. Jedenfalls lebte und arbeitete er in einer Umgebung, in der er genügend Männer finden konnte, die für einen angemessenen Lohn bereit sind, einen Mord zu begehen. Der Preis für die Waffen würde genügen, um neun angemessen große Häuser zu erwerben. Ein kleiner Prozentsatz des Profits hätte ausgereicht, um alle möglichen Arten von Hilfe zu erhalten.«
Rathbones aristokratische Miene drückte seine ganze Verachtung aus.
»Ich nehme an, wir haben keinen Hinweis darauf, wo Shearer sich momentan aufhält?«
»Keinen. Er könnte überall sein, hier oder auf dem europäischen Festland. Er könnte sich auch in Amerika aufhalten, was zwar im Moment nicht der beste Aufenthaltsort ist, außer er plant, im Waffenhandel noch mehr Geld zu machen.« Er überlegte, ob er die Erpressungsgeschichte und sein Scheitern, Baskin and Company ausfindig zu machen, erwähnen sollte, und entschloss sich dagegen. Vielleicht machte es Rathbone die Sache leichter, wenn er nichts davon wusste.
»Das mag wohl sein«, sagte Rathbone nachdenklich, während er sich zurücklehnte, die Fingerspitzen gegeneinander legte und die Ellenbogen auf die Armlehnen stützte. »Er könnte mit Breelands Geld irgendwo weitere Waffen gekauft haben, wenn es zutrifft, was Breeland sagte. Im Waffenhandel gibt es äußerst düstere Gefilde, und er ist ein Mann, der mehr darüber weiß als die meisten anderen.«
Dies war ein Gedanke, der Monk noch nicht in den Sinn gekommen war, weshalb er sich über sich selbst ärgerte. Seine Konzentration auf die Vergangenheit und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf die Gegenwart kosteten ihn die Schärfe seiner logischen Denkfähigkeit. Aber es war seine zweite Natur, dies vor Rathbone zu verbergen.
»Das ist ein weiterer Grund, warum ich Albertons Bücher einsehen möchte«, sagte er.
Rathbone runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht, Monk. Ich halte es für besser, wenn Sie mir mitteilen, was Sie entdecken. Ich kann es mir nicht leisten, überrascht zu werden, wie sehr ich das, was die Bücher offenbaren, auch verabscheuen mag. Bis jetzt hat noch niemand Alberton in irgendeiner Art und Weise beschuldigt, aber ich weiß, dass die Anklage durch Horatio Deverill vertreten wird. Er ist ein ehrgeiziger Schurke, der nicht umsonst den Spitznamen ›Teufel‹ trägt. Er ist unberechenbar, kennt keine Loyalitäten und wenig Vorurteile.«
»Kurbelt sein Ehrgeiz nicht auch seine Indiskretion an?«, fragte Monk skeptisch.
Rathbone zog die Mundwinkel nach unten. »Nein. Er hat keine Chance auf einen Sitz im Oberhaus, und das weiß er.
Er lechzt nach Ruhm, danach, zu schockieren und beachtet zu werden. Er sieht gut aus und Frauen halten ihn für attraktiv.« Der Anflug von Belustigung spielte um seine Lippen. »Die Art von Frauen, deren Leben sorgenfrei ist und die es als eine Spur zu langweilig empfinden. Und die der Meinung sind, Gefahr würde ihnen die Aufregung vermitteln, vor der sie ihr Rang und ihr Geld beschützen sollten. Ich nehme an, der Typ ist Ihnen bekannt?«
»Ihnen etwa?« Wie eine innerliche Hitzewelle übermannte Monk die Erkenntnis, warum Rathbone gelächelt hatte. Monk selbst trug diese Gefahr in sich, und er wusste es und hatte es oft genug ausgenutzt. Es war eine Spur von Leichtsinn, von Ungewissheit, der Anflug von Leid, der Wunsch, eine andere Wirklichkeit kennen zu lernen, in der man aber nicht gefangen sein wollte. Langeweile barg in sich eine andere Form der Zerstörung.
Er erhob sich. »Dann bringen wir besser alles in Erfahrung, was möglich ist, ob gut oder schlecht«, sagte er knapp. »Wenn ich etwas entdecke, das ich nicht verstehe, schicke ich Ihnen eine Nachricht, und Sie können mir einen Buchhalter schicken.«
»Monk…«
»Nur, wenn ich einen brauche«, sagte Monk von der Tür her. Er hatte nicht die Absicht, Rathbone von seinen Tagen als Handelsbankkaufmann zu erzählen, und er wusste sehr wohl, wie eine Bilanz zu lesen war und wonach man zu suchen hatte, wenn man Unterschlagung oder eine andere Art von Unaufrichtigkeit vermutete. Er wollte seine ganze Vergangenheit aus seinen Gedanken ausblenden, vor allem aber alles, was mit Arrol Dundas zu tun hatte.
Bis weit in die Nacht hinein überprüfte Monk Albertons Geschäftsbücher. Alberton und Casbolt hatten mit einer Vielzahl von Gütern gehandelt, meist mit beträchtlichem Gewinn. Casbolt verfügte offenbar über ein enormes Wissen, wo man Waren zum besten Preis erstehen konnte, und Alberton hatte gewusst, wo man diese mit hohem Gewinn veräußern konnte. Einen großen Teil des Transportproblems hatten sie Shearer überlassen und ihn gut dafür bezahlt. Besah man sich die Beziehung genauer, so zeigten die Kontobewegungen, dass das Vertrauen zwischen den drei Männern fast zwanzig Jahre zurückreichte. Sogar mit seinen Kenntnissen, die mit erschreckender Klarheit zurückkamen, während er las, subtrahierte und addierte, fand Monk nichts, was auch nur im Entferntesten auf Unehrlichkeiten hingedeutet hätte.
Doch als er um fünfundzwanzig Minuten vor ein Uhr nachts den letzten Ordner schloss, hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass die Waffen, die sich die Unterhändler der Piraten durch Erpressung verschaffen wollten, grob überschlagen etwas über tausendachthundert englische Pfund wert waren. Für die Waffen aus dem Lagerhaus, für die sich nach Albertons Tod und dem Diebstahl keine Belege fanden, war keine Bezahlung eingegangen, die sich in den Büchern wiedergefunden hätte. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte sich in Albertons Besitz kein Geld befunden und im Lagerhaus hatte man auch keines gefunden. Wenn überhaupt Geld den Besitzer gewechselt hatte, dann hatte es derjenige mitgenommen, der in jener Nacht die Tooley Street verlassen hatte, oder Breeland hatte es Shearer am Euston-Square-Bahnhof übergeben, wie er es behauptet hatte.
Morgen würde Monk noch einmal mit Breeland sprechen.
Als Hester aufwachte, fand sie Monks Nachricht. Danach empfand sie ein zunehmendes Gefühl des Verlustes. Fast war sie dankbar, dass Merrits und Breelands Prozess schon in nächster Zukunft drohte. Dadurch hatte sie weniger Zeit, sich mit Fragen und Ängsten zu quälen, was sich zwischen ihr und Monk geändert hatte.
Düstere Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen, ob er möglicherweise die eheliche Bindung bereute, ob er sich in einer Falle fühlte, gefangen von den Erwartungen, der ständigen Gesellschaft eines anderen Menschen und den Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit.
Aber die Veränderung mit ihm war zu plötzlich eingetreten, um Sinn zu ergeben. Vorher hatte nichts darauf hingedeutet, tatsächlich war eigentlich das Gegenteil der Fall gewesen. Mrs. Patrick zu finden, war ein Glücksfall gewesen. Er verschaffte Hester die Freiheit, sich ihrem Anliegen – den medizinischen Reformen – zu widmen, ohne ihre häuslichen Pflichten zu vernachlässigen. Außerdem war Mrs. Patrick unbestreitbar die bessere Köchin.
Hester zwang sich, die Gedanken aus ihrem Kopf zu bannen, und kleidete sich in weiches Grau, eine ihrer Lieblingsfarben, dann machte sie sich auf den Weg, um Mrs. Alberton einen Besuch abzustatten. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie sie fragen wollte oder zu erfahren hoffte, aber Judith war der einzige Mensch, der genau wusste, was mit ihrem Bruder und dessen Familie geschehen war, und Hester hatte immer noch das Gefühl, dass der Erpressungsversuch im Zentrum des Verbrechens stand, ob es nun von Shearer, Breeland oder möglicherweise gar von Trace begangen worden war, Letzteres ein Gedanke, von dem Hester aus tiefstem Herzen wünschte, er möge nicht wahr sein. Sie hatte Trace ins Herz geschlossen. Der Umstand, dass er aus dem Süden stammte und seine Landsleute die Sklavenhaltung guthießen, war ein Zufall, den Geburt und Kultur mit sich brachten. Das hatte nichts mit dem Charme des Mannes und dem Vergnügen zu tun, das sie in seiner Gesellschaft empfand. Sie spürte, dass er bereits begann, den moralischen Konflikt zu begreifen. Vielleicht war dies aber etwas, was sie nur zu glauben wünschte, aber bis sie durch Beweise gezwungen sein würde, anders zu denken, wollte sie dies als gegeben ansehen.
Es mochte ein Zufall sein, dass die Morde und der Diebstahl so kurz nach der Erpressung erfolgt waren, bei der mit den Waffen das Schweigen erkauft werden sollte, aber das glaubte sie nicht. Es musste eine Verbindung geben. Wenn sie sie nur ausfindig machen könnte!
Judith schien erfreut, sie zu sehen. Selbstverständlich empfing sie keine gesellschaftlichen Besuche und trug angemessene Trauerkleidung, aber sie war vollkommen gefasst, und welchen Kummer sie auch verspüren mochte, sie verbarg ihn hinter einer Maske der Würde und Herzlichkeit, was Hesters Aufgabe schwieriger machte und sie noch aufdringlicher erscheinen ließ.
Trotzdem würde nur die Wahrheit von Nutzen sein, denn Merrits Situation war verzweifelt. Die Verhandlung war auf den Beginn der folgenden Woche festgesetzt.
»Wie nett von Ihnen, mich zu besuchen, Mrs. Monk«, hieß Judith sie willkommen. »Bitte erzählen Sie mir, was es Neues gibt…«
Hester hasste Lügen, aber in den vielen Jahren der Krankenpflege hatte sie gelernt, dass manches Mal, wenigstens für eine gewisse Zeit, Halbwahrheiten nötig waren. Manche Wahrheiten blieben sogar besser für immer unter Verschluss. Jetzt war die Fähigkeit wichtig, die Schlacht zu schlagen, ohne die Hoffnung ersterben zu lassen.
»Ich habe nie geglaubt, dass Merrit etwas damit zu tun hatte«, gab sie zurück und folgte Judith in einen kleinen Raum, der sich zum Garten hin öffnete und in Grün und Weiß gehalten und zu dieser Stunde des Tages von der Morgensonne durchflutet war.
»Doch ich fürchte, es ist unvermeidlich, dass Mr. Breeland involviert war, wenngleich vielleicht nur indirekt.«
Judith starrte sie an, und in ihren Augen lag keine Furcht, nur Verwirrung.
»Wenn nicht Mr. Breeland, wer dann?«
»Es scheint sehr wahrscheinlich, dass es Mr. Shearer war. Es tut mir Leid.« Sie wusste nicht, warum sie sich entschuldigte, nur dass sie es bedauerte, Alberton könnte von einem Mann betrogen worden sein, dem er so lange und so tief vertraut hatte. Dieser Umstand würde den Schmerz noch vergrößern.
»Shearer?«, fragte Judith. »Sind Sie sicher? Er ist ein harter Mann. Aber Daniel sagte stets, er wäre vollkommen vertrauenswürdig.«
»Haben Sie ihn seit Mr. Albertoris Tod gesehen?«
»Nein. Aber ich habe ihn ohnehin nur ein oder zwei Mal getroffen. Er kam kaum jemals in unser Haus.« Sie musste nicht hinzufügen, dass sie gesellschaftlich nicht auf einer Ebene standen und daher nicht miteinander verkehrten.
»Niemand hat ihn seither zu Gesicht bekommen«, fuhr Hester fort. »Wenn er unschuldig wäre, würde er doch sicher hier sein, um zu helfen, seine Arbeit im Geschäft fortzusetzen, und jegliche Unterstützung anbieten, deren er fähig wäre? Würde er nicht ebenso bedacht darauf sein wie wir, den Verantwortlichen zu stellen?«
»Bestimmt«, erwiderte Judith leise. »Ich nehme an, die Antwort auf unsere Fragen wird schrecklich sein, wie auch immer sie ausfallen mag. Es war töricht, zu glauben, sie würde… es würde etwas… Erträgliches sein… jemand, bei dem es einem leicht fällt, ihn zu hassen und ihn dann zu vergessen.«
Es gab nichts, was Hester hätte sagen können, um diese Worte abzumildern. Sie wandte sich der anderen Sache zu, die es zu erforschen gab. »Mrs. Alberton, Ihr Gatte und Mr. Casbolt erhielten einen sehr hässlichen Brief, der sie aufforderte, die Waffen einer Firma zu liefern, die bekanntermaßen als Zwischenhändler auftritt und sie an höchst unerwünschte Partner verkauft.«
Judiths Gesicht zeigte keinerlei Verständnis für den Grund von Hesters Frage.
»Sie lehnten ab, aber sie erbaten die Hilfe meines Mannes, um herauszufinden, wer diese Forderung gestellt hatte. Der Brief war anonym und beinhaltete Drohungen.«
»Drohungen?«, rief Judith hastig. »Haben Sie die Polizei informiert? Sicher sind sie es, die für alles verantwortlich sind…«
»Aber es ist Mr. Breeland, der die Waffen hat, die gestohlen wurden.«
»Oh, ja, natürlich. Es tut mit Leid. Aber warum fragen Sie dann nach diesen Leuten?«
Wieder begnügte Hester sich mit einer Halbwahrheit.
»Ich bin nicht ganz sicher. Ich habe nur das Gefühl, dass das zeitliche Zusammentreffen und der Umstand, dass es in beiden Fällen um Waffen ging, bedeuten könnte, dass hier ein Zusammenhang besteht. Wir müssen alles in Erfahrung bringen, was nur möglich ist.«
»Ja, ich verstehe. Wie kann ich Ihnen helfen?« Judith zeigte keinerlei Unentschlossenheit. Aufmerksam beugte sie sich über den Tisch.
Hester hasste es, das Thema anzuschneiden, aber hier ging es um einen lange zurückliegenden Verlust, den man ansprechen musste, um vielleicht einen neuen zu vermeiden.
»Ich glaube, Sie haben Ihren Bruder unter sehr schmerzlichen Umständen verloren…«
Sie sah, wie Judith zusammenzuckte und die Farbe aus ihren Wangen wich. Doch Hester machte keinen Rückzieher. »Bitte erzählen Sie mir wenigstens die wichtigsten Teile der Geschichte. Ich frage nicht leichtfertig.«
Judith senkte die Lider. »Ich bin Halbitalienerin. Ich denke, Sie wussten, dass ich keine reine Engländerin bin. Mein Vater stammte aus dem Süden, aus der Gegend um Neapel. Ich hatte nur einen Bruder, Cesare. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Er und seine Frau, Maria war ihr Name, liebten das Segeln.«
Ihre Stimme klang gepresst, und sie sprach leise. »Vor sieben Jahren wurde ihr Schiff vor der Küste Siziliens von Piraten geentert. Seine ganze Familie wurde getötet.« Sie schluckte krampfhaft. »Ihre Leichen wurden gefunden… später. Ich…« Sie schüttelte den Kopf. »Daniel fuhr damals nach Italien. Ich nicht. Er wollte mir keine Details erzählen. Ich fragte… aber ich war froh, dass er ablehnte. Seinem Gesicht entnahm ich damals, dass es grauenhaft gewesen sein musste. Bisweilen träumte er… ich hörte ihn in der Nacht aufschreien, dann wachte er auf, und sein Körper war völlig verkrampft. Aber er weigerte sich stets, mir zu erzählen, was mit ihnen passiert war.«
Hester versuchte, sich die Last des Grauens vorzustellen, das Alberton begleitet hatte, und die Liebe, die er für seine Frau empfunden hatte und die ihn nach Sizilien geführt und dann all die Jahre hatte schweigen lassen. Und doch hatte er immer noch mit Waffen gehandelt! Hatte er es getan, weil er der Meinung war, dass sie auch für gute Zwecke eingesetzt wurden, um für gerechte Belange zu kämpfen, die Schwachen zu verteidigen oder ein Gleichgewicht zwischen Ländern herzustellen, die andernfalls zu dominierend geworden wären?
Oder war es schlichtweg das einzige Geschäft, von dem er etwas verstand, oder das profitabelste? Vermutlich würden sie es niemals erfahren. Sie wünschte sich, glauben zu können, es sei einer der ersten Gründe gewesen.
»Wie lange war er fort gewesen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Fast drei Wochen«, antwortete Judith.
»Damals kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich vermisste ihn schrecklich, und natürlich hatte ich Angst um ihn. Aber er war entschlossen, alles zu tun, um die Piraten ausfindig zu machen und bestraft zu wissen. Er hörte von ihnen, aber sie entwischten ihm immer wieder. Und die Polizei hatte keinerlei Interesse daran, sie zu finden.« In ihre Augen trat der Ausdruck der Liebe und der flüchtige Schatten des Kummers. »Italien, das bedeutet Kultur, Sprache, große Kunst und eine bestimmte Lebensart, aber Italien ist keine Nation. Eines Tages mag es das werden, wenn Gott es so will, aber diese Zeit ist noch nicht angebrochen.«
»Ich verstehe.«
Judith lächelte. »Nein, das tun Sie nicht. Sie sind Engländerin, verzeihen Sie mir, aber Sie haben keinerlei Ahnung davon. Auch Daniel hatte die nicht. Er tat alles in seiner Macht Stehende, und als er erkannte, dass die Piraten einfach irgendwo in den Hunderten von Meilen, die die Küste lang ist, und zwischen Tausenden von Inseln zwischen Konstantinopel und Tanger verschwinden konnten, kehrte er nach Hause zurück, zornig, geschlagen, aber bereit, für mich und Merrit zu sorgen und es Gott zu überlassen, Gerechtigkeit walten zu lassen, in welcher Art auch immer.«
Hester konnte dem nichts hinzufügen. Natürlich war es denkbar, dass Alberton am Mittelmeer mit Waffenkäufern Kontakt aufgenommen hatte, mit Piraten oder wem auch immer, Kämpfern für oder gegen die Vereinigung Italiens. Aber sie hatte keine Möglichkeit, das herauszufinden. Vielleicht wusste es Judith auch nicht, aber vermutlich würde sie es auch nicht zugeben.
»Woher wussten Sie von der Erpressung?«, fragte Judith und unterbrach Hesters Gedanken.
»Mr. Casbolt erzählte es mir.« Hester merkte, dass dies einer weiteren Erklärung bedurfte. »Ich erbat seine Hilfe bezüglich seiner Kenntnisse über Mr. Breeland und das Waffengeschäft im Allgemeinen. Er berichtete mir von dem Druck, Waffen an die Piraten zu verkaufen, und warum Mr. Alberton dem niemals nachgegeben hätte, wie groß die Bedrohung und wie hoch der Preis auch gewesen sein mochten.«
Judiths Gesicht entspannte sich, sie lächelte. »Er hatte immer Verständnis. Er kannte Daniel bereits vor mir, wussten Sie das? Sie waren hier in England Schulfreunde gewesen, und eines Sommers brachte er Daniel mit nach Italien. Dort verliebten wir uns ineinander.« Einen Moment lang senkte sie die Lider. »Ohne Roberts Hilfe wusste ich nicht, ob ich Mr. Rathbones Forderungen für Merrits Vertretung begleichen könnte, und das wäre mehr, als ich ertragen könnte.« Schnell hob sie den Kopf, ihre Augen waren groß und nackte Angst stand darin.
»Mrs. Monk, glauben Sie, er wird sie retten können? Die Zeitungen sind so sicher, dass sie schuldig ist. Ich hatte keine Ahnung, wie verletzend das geschriebene Wort sein kann… dass sich Menschen, die einen gar nicht kennen, so leidenschaftlich sicher sein können, wie man ist und was man im Herzen verspürt. Ich gehe nicht aus dem Haus, im Moment jedenfalls nicht, aber ich weiß nicht, wie ich dazu fähig sein soll, wenn die Zeit gekommen ist. Wie soll ich Menschen gegenübertreten, wenn jeder, dem ich auf der Straße begegne, glauben mag, meine Tochter sei des Mordes schuldig?«
»Ignorieren Sie sie«, empfahl Hester. »Denken Sie ausschließlich an Merrit. Jene, die noch einen Funken von Anstand im Leib haben, werden sich schämen, wenn sie ihren Irrtum entdecken. Die anderen sind es nicht wert, mit ihnen zu diskutieren, und außerdem können Sie gegen sie ohnehin nichts ausrichten.«
Judith saß bewegungslos auf dem Stuhl. »Werden Sie da sein?«
»Ja.« Die Entscheidung musste nicht erst getroffen werden.
»Ich danke Ihnen.«
Hester blieb noch eine halbe Stunde aus reiner Freundschaft zu Judith. Sie sprachen von nichts Wichtigem und vermieden es, über den Fall, über Liebe oder Verlust zu sprechen. Judith führte sie durch den Garten, der voller lebhafter Farben war, jetzt, da die Rosen zu ihrer zweiten Blüte ansetzten. Sogar im Schatten war es warm, und der schwere Duft der Blüten war wie ein Traum, der in hartem Kontrast zu dem Verhandlungsbeginn am Montag stand. Für lange Zeit wechselten sie kein Wort. Plattitüden wären eine Beleidigung gewesen.
Am Samstag machte Monk sich auf den Weg, Breeland zu besuchen. Er hatte nicht genügend herausgefunden, um Rathbone Hoffnung zu machen, die über alle Zweifel erhaben war, oder um neue Fragen aufzuwerfen. Er würde während der Verhandlung weitersuchen, aber er begann zu fürchten, dass es keinen Beweis für Merrits Unschuld gab. Es könnte damit enden, dass alles auf die Frage hinauslaufen würde, welches Urteil die Geschworenen über Merrit fällen würden.
Es gab eine ganz bestimmte Frage, die er Breeland stellen wollte. Die Antwort darauf würde ihm keinen Schaden zufügen, also zögerte Monk auch nicht, sie zu stellen.
Breeland wurde in einen kleinen quadratischen Raum geführt. Er wirkte blasser und magerer als das letzte Mal, als Monk ihn gesehen hatte. Um die Augen herum war sein Gesicht eingefallen, und die Wangen wirkten hohl, sodass die angespannten Muskeln hervortraten. Er blieb steif stehen und sah Monk unwillig an.
»Ich habe bereits alles gesagt, was ich zu sagen habe«, begann er, bevor Monk etwas gesagt hatte. »Sie brachten mich zurück, um mich vor Gericht zu stellen und meine Unschuld zu beweisen. Ich nehme an, Ihr Freund Rathbone wird seine Pflicht tun, obwohl ich wenig Vertrauen in seinen Glauben an meine Unschuld habe. Ich vertraute Ihnen, Monk, aber nun befürchte ich, dass mein Vertrauen fehl am Platz war. Ich denke, Sie wären erfreut, mich hängen zu sehen, solange nur Miss Alberton freigesprochen wird und Sie Ihr Honorar für ihre Rettung erhalten. Sollte ich Ihnen Unrecht tun, entschuldige ich mich. Ich hoffe, es ist so.«
Monk betrachtete das glatte, fein gemeißelte Gesicht, in dem er kein Gefühl, keine Furcht, keine Schwäche, keinerlei Zweifel an dem eigenen Mut erkannte, das Martyrium zu ertragen, das nur noch zwei Tage entfernt war. Er hätte ihn bewundern sollen, stattdessen erfüllte ihn Breelands Haltung mit Angst. Er war nicht sicher, ob Breelands Verhalten übermenschlich oder unmenschlich war.
»Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, erwiderte er mit unterkühlter Stimme. »Natürlich wünsche ich mir den Freispruch für Miss Alberton, und ich gebe zu, dass es mich einen feuchten Kehricht schert, ob Sie hängen oder nicht… vorausgesetzt, Sie sind schuldig… ob Sie die Schüsse nun selbst abgaben, tut nichts zur Sache. Wenn Sie Shearer oder jemand anderen bestachen, um die Morde für Sie auszuführen, dann ist das für mich dasselbe.
Wenn Sie das nicht taten und Sie mit alldem nichts zu tun hatten, dann werde ich mich für Sie ebenso einsetzen, wie ich es für jeden anderen tun würde.«
In Breelands Gesicht zuckte Belustigung auf, ein Anflug von Ironie. Plötzlich schoss Monk der Gedanke durch den Kopf, dass Breeland sich selbst als Held oder Märtyrer verstand. Menschliche Schwächen und Albernheiten lagen jenseits seines Begriffsvermögens. Vor Monks geistigem Auge entstand das Bild einer endlosen Wüste des Lebens ohne Lachen und all den Nebensächlichkeiten, die dem Leben den richtigen Rhythmus geben und als Maß für die geistige Gesundheit dienen.
Arme Merrit.
Er schob die Hände in die Taschen. »Wie viele Waffen kauften Sie?«, fragte er beiläufig. »Die genaue Anzahl bitte.«
»Genau?«, wiederholte Breeland und hob die Brauen.
»Auf das Gewehr genau? Ich habe sie nicht gezählt. Dazu war keine Zeit. Ich nahm an, jede Kiste wäre voll. Alberton war ein sturer Mensch mit bürgerlichen Ansichten und keinerlei moralischem oder politischem Verständnis, aber seine finanzielle Integrität zog ich nie in Zweifel.«
»Für wie viele Waffen haben Sie bezahlt?«
»Für sechstausend Stück. Und ich bezahlte ihm den abgesprochenen Preis pro Gewehr.«
»Das Geld übergaben Sie Shearer?«
»Das sagte ich bereits.« Breeland runzelte die Stirn. »Für den Betrag könnte man an jeder beliebigen Ecke Londons mehrere Straßenzüge mit Häusern mit vier Schlafzimmern bauen. Mir scheint es ganz offensichtlich zu sein, dass Shearer Alberton hinterging, ihn und die Nachtwächter erschoss und es so aussehen ließ, als wäre es ein Soldat der Union gewesen, woraufhin er mir die Waffen verkaufte und mit dem Geld verschwand. Ich bin unschuldig, und Rathbone wird fähig sein, das zu beweisen.«
Monk erwiderte nichts. Breeland hatte vollkommen Recht. Monk kümmerte es nicht, ob er am Galgen enden würde oder nicht… wenigstens nicht im Augenblick.