5

Hester und Merrit verließen Washington gemeinsam und fuhren in Richtung Bull Run. Die Unmittelbarkeit des Krieges überlagerte selbst die persönliche Tragödie, und vielleicht war es für Merrit wenigstens für ein paar Stunden leichter, an die Arbeit zu denken, die ihr bei den verwundeten Männern bevorstand, als ihre Gedanken mit dem, was in dem Lagerhaushof in London geschehen war, zu belasten.

So schnell es ging, fuhren sie durch die Straßen und dann über die weiten Flächen, über die sich eines Tages die Stadt erstrecken würde, dann überquerten sie über die Long Bridge den Fluss und kamen zu den mittlerweile fast verlassenen Lagern in Alexandria. Die Männer, die sich noch hier aufhielten, waren in früheren Kämpfen im Süden oder Westen verwundet worden oder gehörten zu der großen Gruppe von Soldaten, die an Fieber, Typhus oder der Ruhr litten, Krankheiten, die solche Gruppen von Menschen immer plagten, wenn es keinerlei hygienische Vorkehrungen gab. Hier war es noch schlimmer, als es in kühleren Klimazonen oder bei Männern mit militärischer Ausbildung gewesen wäre. Dies waren unerfahrene Rekruten ohne das geringste Wissen, wie man Vorkehrungen gegen Krankheit, Läuse oder Vergiftung durch verdorbene oder verseuchte Lebensmittel treffen konnte. Jeder Mann war selbst für die Zubereitung seiner Verpflegung verantwortlich, die ihm zugeteilt wurde. Die meisten von ihnen hatten keine Ahnung, wie sie zu rationieren war, damit sie ausreichte, und sie hatten wenig Vorstellung davon, wie man sie zubereitete.

Hester versuchte, möglichst wenig zur Kenntnis zu nehmen. So viel unnötiges Leiden, dessen Gestank sie zu erdrücken drohte, während sie in der stechenden Hitze über den Weg holperten und fast an dem Staub erstickten, den die Wagen vor ihnen aufwirbelten. Sie hörte das Stöhnen ringsum, und in ihr erwachte der Zorn über die Qualen, die sie sich so lebhaft ausmalen konnte, als ob Skutari und das dortige Sterben erst gestern gewesen wäre. Innerlich war sie völlig verkrampft, ihre Muskeln waren angespannt, sodass ihr ganzer Körper schmerzte, während ihr Geist versuchte, sich das Leiden nicht vorzustellen, und doch versagte.

Schweigend saß Merrit neben ihr. Welcher Art ihre Gedanken auch sein mochten, sie sprach sie nicht aus. Ihr Gesicht war weiß, und sie starrte auf den Weg, obwohl Hester den Wagen lenkte. Vielleicht dachte sie an das Schlachtfeld, das vor ihnen lag, fragte sich ängstlich, was ihnen bevorstand, ob sie der Aufgabe auch nur im Entferntesten gewachsen sein würden, ob ihre eigene Tapferkeit groß genug wäre, ihre Nerven ruhig bleiben würden und ihr Wissen angemessen sein mochte. Oder erinnerte sie sich an die wütende Trennung von ihrem Vater, an die Dinge, die sie zu ihm gesagt hatte und die nun nicht mehr zurückgenommen werden konnten? Es war zu spät, um zu sagen, dass es ihr Leid tat, dass sie es nicht so gemeint hatte, oder gar, dass sie ihn trotz ihrer Differenzen liebte, dass ihre Liebe weit größer, lebenslang und Teil ihrer selbst war? Oder dachte sie vielleicht an ihre Mutter und den Kummer, der sie verzehren musste?

Vielleicht fragte sie sich auch, was in jenem Lagerhaus geschehen war und was Lyman Breelands Anteil daran war. Hester konnte nicht glauben, dass sie etwas wusste.

Die Mittagshitze war fast unerträglich. Selbst im Schatten herrschten etwa fünfunddreißig Grad. Wie hoch die Temperatur in der grellen Sonne auf der staubigen Straße sein mochte, konnte Hester nicht einmal schätzen. Sie fuhren den ganzen Tag, hielten nur an, wenn es notwendig war, das Pferd im Schatten unter den Bäumen neben dem Weg ruhen zu lassen und es zu tränken. Sie mussten sorgfältig darüber wachen, dass weder das Pferd noch sie selbst zu viel Wasser zu sich nahmen. Sie sprachen wenig, höchstens über den Verkehr, der sich mit demselben Ziel, das sie hatten, die Straße entlangmühte, oder wie lange die Fahrt noch dauern würde und wo sie sich schließlich niederlassen würden.

Einmal sah Merrit so aus, als wollte sie das Thema Breeland ansprechen. Sie stand auf einem verdorrten Grasfleck und verjagte die winzigen, schwarzen Fliegen, die sie umschwirrten. Aber in letzter Minute änderte sie ihr Vorhaben und sprach stattdessen vom Ausgang der Schlacht.

»Ich nehme an, dass die Union gewinnen wird…« Es klang nicht direkt wie eine Frage. »Was geschieht mit den Verwundeten der Seite, die verliert?«

Es hatte keinen Sinn, sich in Beschönigungen zu ergehen. Binnen Stunden würde die Wahrheit ans Licht kommen. Darauf vorbereitet zu sein, würde wenigstens den lähmenden Schock mildern, wenngleich nicht das Grauen.

»Das hängt davon ab, wie schnell sich das Kampfgeschehen fortbewegt«, erwiderte Hester. »Ist die Kavallerie im Einsatz, dann verlagert sich der Kampf schnell, und die Verletzten werden zurückgelassen. Sie helfen sich gegenseitig, so gut es eben geht. Ist es die Infanterie, dann bewegt sich der Kampf nur so schnell, wie ein Mensch laufen kann. Jeder tut sein Möglichstes, um sich zu retten, andere zu tragen, Wagen, Karren oder sonst etwas zu finden, um diejenigen, die nicht laufen können, zu transportieren.«

Merrit schluckte. Weitere Wagen fuhren an ihnen vorbei und wirbelten hinter sich Staub auf. »Und die Toten?«, fragte sie.

Einen Moment lang flutete die Erinnerung mit solcher Macht über Hester hinweg, dass sich ihr Blick verschleierte und eine Welle des Kummers und der Übelkeit über ihr zusammenschlug. Sie war wieder auf der Krim, stolperte über den Talboden, der nach dem Kampf der leichten Brigade mit den Körpern der Toten und Sterbenden übersät war, die Erde zertrampelt und blutgetränkt, der Geruch von Blut in der Luft, die Geräusche der Todesqualen, die sie umgaben. Sie spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen, spürte die aufwallende Hysterie und Verzweiflung.

»Mrs. Monk!« Merrits Stimme holte sie zurück in die Gegenwart nach Virginia und in den Kampf, der ihnen bevorstand.

»Ja… es tut mir Leid.«

»Was geschieht mit den Toten?« Merrits Stimme bebte, als ob sie im Herzen die Antwort bereits wusste.

»Bisweilen werden sie begraben«, sagte Hester heiser.

»Wenn möglich, macht man das. Aber die Lebenden gehen immer vor.«

Merrit wandte sich ab und ging, um das Pferd zu holen. Es gab keine weiteren Fragen mehr, auf die sie eine Antwort gewünscht hätte, abgesehen von den einfachen, praktischen Fragen, zum Beispiel, wie man ein Pferd anschirrte.

In der Abenddämmerung erreichten sie die kleine Stadt Centreville. Sie bestand lediglich aus einer kleinen, aus Steinen gebauten Kirche, einem Hotel und einigen wenigen Häusern und war etwa sechs oder sieben Meilen vom Bull Run Creek und dem dahinter liegenden Henry Hill entfernt.

Hester war völlig ausgelaugt und sich nur zu deutlich bewusst, wie schmutzig sie war. Sie wusste, Merrit ging es ebenso, nur dass diese weit weniger daran gewöhnt war. Doch das Mädchen wurde von ihrem Enthusiasmus für die Sache der Union angespornt, und wenn sie auch nur einen Augenblick an Lyman Breeland dachte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie begrüßte die anderen Frauen, die gekommen waren, um ihren Anteil an der Arbeit zu leisten und ebenfalls ihre Hilfe anzubieten, oder die wenigen Männer, die von der Armee abkommandiert worden waren, um ärztliche Pflichten zu übernehmen.

Sie hatten bereits die Kirche und einige andere Gebäude in Lazarette verwandelt und die ersten Opfer von früheren, kurzen Gefechten behandelt. Soeben wurden die letzten transportfähigen Männer auf Ambulanzkarren geladen, die sie zur etwa sieben Meilen entfernten Fairfox Station bringen sollten, von wo sie dann nach Alexandria transportiert wurden.

Eine hoch gewachsene schlanke Frau mit dunklem Haar schien das Kommando übernommen zu haben. Es entstand eine angespannte Situation, in der sie und Hester sich gegenüberstanden, als sie unterschiedliche Anordnungen bezüglich der Lagerung der Vorräte gegeben hatten.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, fragte die Frau brüsk.

»Ich bin Hester Monk. Ich war mit Florence Nightingale als Krankenschwester auf der Krim. Ich dachte, ich könnte mich hier nützlich…«

Der Ärger im Gesicht der Frau schmolz dahin. »Ich danke Ihnen«, sagte sie schlicht. »General MacDowells Männer haben den ganzen Tag das Schlachtfeld ausgekundschaftet. Ich glaube, sie werden im Morgengrauen angreifen. Sie können noch nicht alle hier sein, aber bis zum Morgen werden sie es wohl sein, oder wenigstens bald danach.«

»Sie meinen, wenn sie beim ersten Tageslicht angreifen wollen«, sagte Hester ruhig. »Wir sollten uns ein wenig Ruhe gönnen, damit wir dann Kraft haben, zu tun, was nötig sein wird.«

»Glauben Sie…?« Die Frau hielt inne. Einen Augenblick lang machte sich in ihren Zügen die blanke Angst breit, als sie begriff, dass der Krieg nur noch Stunden entfernt war. Dann gewann ihr Mut wieder die Oberhand, und die Entschlossenheit kehrte zurück. Als sie fortfuhr, bebte ihre Stimme kaum noch. »Wir können nicht ruhen, bis wir sicher sind, alles getan zu haben, was in unserer Macht steht. Unsere Männer werden die ganze Nacht durchmarschieren. Wie können sie Vertrauen in uns haben, wenn sie uns schlafend vorfinden?«

»Postieren Sie eine Wache«, erwiderte Hester einfach.

»Idealismus und Moral haben ihren Platz, aber der gesunde Menschenverstand wird uns weiterhelfen. Morgen werden wir unsere ganze Kraft brauchen, glauben Sie mir. Wir werden noch arbeiten, wenn die Schlacht längst verloren oder gewonnen ist. Für uns ist das erst der Anfang. Verglichen mit den Nachwirkungen ist selbst die längste Schlacht kurz.«

Die Frau zögerte.

Merrit betrat den Raum, ihr Gesicht war blass, und ihr Haar hing in Strähnen um ihren Kopf. Sie hatte es sich mit einem in Streifen gerissenen Taschentuch zurückgebunden. Vor Erschöpfung sah sie ganz benommen aus.

»Wir brauchen Ruhe«, sagte Hester. »Müde Menschen machen Fehler, und unsere Fehlentscheidungen könnten Soldaten ihr Leben kosten. Wie heißen Sie?«

»Emma.«

»Im Moment können wir weiter nichts tun. Wir haben Flachs, Heftpflaster, Bandagen, Brandy, Wasserbehälter und Instrumente zur Hand. Jetzt brauchen wir Ruhe, um alles richtig anwenden zu können, und eine ruhige Hand.«

Emma fügte sich. In müder Dankbarkeit aßen sie ein wenig, tranken Wasser aus den Behältern und versuchten, in der Zeit, die von der kurzen Nacht noch übrig war, zu schlafen. Hester lag neben Merrit, und sie wusste, dass das Mädchen nicht schlief. Nach einer Weile hörte sie, dass Merrit leise weinte. Sie berührte sie nicht. Merrit brauchte es, weinen zu können, und dazu war Alleinsein nötig. Hester hoffte, dass diejenigen, die auch noch wach lagen, das Weinen als Angst interpretieren und sie in Ruhe lassen würden.

Monk und Trace war das Gerücht, dass die Schlacht am Sonntag, dem einundzwanzigsten Juli, beginnen sollte, ebenfalls zu Ohren gekommen. Auch hatten sie gehört, dass die letzten Freiwilligen mit Nachschub nach Centreville und in die anderen kleinen Siedlungen in der Nähe von Manassas Junction gezogen waren, bereit, alles zu tun, um zu helfen.

Sie standen auf der Straße direkt vor dem Willard Hotel. Menschen schrien durcheinander. Ein Mann rannte aus dem Foyer und schwenkte seinen Hut durch die Luft. Zwei Frauen klammerten sich weinend aneinander.

»Verdammt!«, rief Trace ungestüm. »Jetzt haben wir keine Chance mehr, Breeland vor dem Kampf zu erwischen! Nun ist es des Teufels Aufgabe, ihn zu finden. Er könnte verwundet werden und in eines der Feldlazarette oder gar hierher zurückgebracht werden.«

»Wir hatten nie eine Chance, ihn vor der Schlacht zu finden«, wandte Monk sachlich ein. »Das Chaos ist unser Verbündeter, nicht unser Widersacher. Und sollte er verwundet werden, müssen wir ihn eben hier lassen. Wird er getötet, dann tut es kaum was zur Sache. Abgesehen davon, dass es schwerer sein wird, den Namen eines Mannes anzuschwärzen, der im Kampf für seine Überzeugungen gefallen ist, welche das auch immer gewesen sein mochten.«

Trace starrte ihn an. »Sie sind ein pragmatischer Hundesohn, was? Unsere Nation ist dabei, sich selbst in Stücke zu reißen, und Sie können so kalt wie einer eurer englischen Sommer bleiben.«

Monk lächelte ihn mit einem schiefen Grinsen an, das seine Zähne entblößte.

»Immerhin besser, als hier den Erstickungstod zu erleiden!«, gab er zurück. »Von einer Erkältung erhole ich mich schneller als von der Malaria.«

Trace seufzte und lächelte zurück, aber seine Lippen bebten, und er war dem Weinen nahe.

Ein Mann stob auf einem Pferd vorbei, schrie etwas Unverständliches und wirbelte eine Staubwolke auf.

Monks Schultern strafften sich. »Unsere beste Chance, Breeland in die Finger zu bekommen, wäre, ihn direkt auf dem Schlachtfeld ausfindig zu machen und dann so zu tun, als wären wir Konföderierte, die einen Offizier der Union gefangen nähmen. Bei dem bunten Kostümfest der Uniformen, das ihr hier veranstaltet, wird ohnehin niemand wissen, wer zu wem gehört! Soweit ich gesehen habe, könnten sich euch vermutlich auch die alten Römer und Griechen anschließen, ohne Aufsehen zu erregen. Ihr habt bereits Schotten mit Kilts und französische Zuaven in jeder Farbe des Regenbogens! Von den Feldbinden um die Hüften, und all dem, was sie auf den Köpfen tragen, angefangen vom Turban bis zum Fez, gar nicht zu reden!«

»Sie sollten eigentlich alle Grau tragen«, sagte Trace kopfschüttelnd. »Und die Union Blau. Gott! Welch ein Durcheinander! Wir werden Freund und Feind gleichermaßen erschießen!«

Monk wünschte sich, ihm irgendeinen Trost anbieten zu können. Wenn hier Engländer gegen eigene Landsleute gekämpft hätten, würde er nicht gewusst haben, wie er es ertragen sollte. Es gab nichts Gutes oder Hoffnungsvolles zu sagen, nichts, was die schreckliche Wahrheit gemildert hätte. Es doch zu versuchen, hätte bedeutet, dass er nichts verstand – oder noch schlimmer: dass es ihn nicht kümmerte.

Sie mieteten sich Pferde – Kutschen oder Wagen waren nicht mehr verfügbar – und ritten durch die Nacht nach Manassas, wobei sie nur einmal kurz abstiegen, um zu rasten. Das Wissen darüber, was vor ihnen lag, ließ nur einen unruhigen Schlaf zu.

Am frühen Sonntagmorgen, kurz vor der Dämmerung, passierten sie Marschkolonnen. Monk erschrak zutiefst, als er die schwitzenden stolpernden Körper sah, einige mit ausgemergeltem Gesicht und jetzt schon um Atem ringend, da die Luft bereits heiß und voller winziger Fliegen war.

Manche Männer warfen sogar ihre Decken und Rucksäcke fort, so dass der Straßenrand von weggeworfenen Ausrüstungsgegenständen übersät war. Später, als der Himmel im Osten blasser wurde und sie sich dem kleinen Fluss näherten, der Bull Run genannt wurde, stolperten oder sanken erschöpfte Männer zu Boden, manche legten sich einfach hin, um wieder ein wenig Kraft zu schöpfen, bevor sie zusammengerufen werden würden, um sich ihre Waffen umzuhängen und dem Feind entgegenzutreten. Viele von ihnen hatten Stiefel und Socken ausgezogen, und ihre Füße waren wund gerieben und bluteten. Monk hatte mindestens einen Offizier gehört, der versucht hatte, das Tempo der Männer zu drosseln, doch sie wurden fortwährend von den hinter ihnen marschierenden Männern bedrängt und hatten keine andere Wahl, als in Bewegung zu bleiben. Er konnte das Verhängnis, das sich über ihnen ebenso unvermeidlich wie die Hitze des folgenden Tages zusammenbraute, bereits erahnen.

Monk fuhr zusammen, als er den scharfen Widerhall einer Kanone hörte, die drei Salven abfeuerte. Er vermutete, dass die Kanone auf der Flussseite stand, auf der er sich befand, und auf die andere Seite hinüberzielte, in die Nähe einer wunderschönen Steinbrücke mit zwei Bögen, die wichtigste Straße über den Bull Run. Es war das Zeichen für den Beginn der Schlacht.

Er sah Trace an, der neben ihm zusammengesunken im Sattel hing; seine Beine waren von Staub bedeckt, und über die Flanken seines Pferdes rann der Schweiß. Dies würde die erste Feldschlacht zwischen der Union und den Konföderierten sein. Nun herrschte unwiderruflich Krieg.

Monk forschte in Trace’ Gesichtszügen, aber er entdeckte keine Wut, keinen Hass, keine Erregung, lediglich eine emotionale Erschöpfung und ein Gefühl, dass es ihm irgendwie nicht gelungen war, den entscheidenden Umstand zu begreifen, der all dies hätte verhindern können. Doch nun war es zu spät.

Wieder versuchte Monk sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn das hier England wäre, wenn diese sanften Hügel und Täler, die von dickichtartigen Wäldern bewachsen und von kleineren Ansiedlungen gesprenkelt waren, die älteren und grüneren Hügelketten wären, mit denen er vertraut war. Im Geiste sah er Northumberland vor sich, die weiten Flächen der kargen Hochmoore, die im späten Sommer von Heidekraut bedeckt waren, die Wolken, die der Wind vor sich herjagte, die Bauernhäuser, die sich in die Auen schmiegten, die Steinwälle, die die Felder voneinander trennten, Steinbrücken wie jene, die sich über den Fluss unter ihnen spannte, die lange Küstenlinie und das helle Meer.

Wäre es sein eigenes Land, das mit sich selbst im Krieg läge, es würde ihn so sehr schmerzen, dass die Wunde nie mehr heilen würde.

Hinter ihnen marschierten weitere Männer heran und nahmen Aufstellung, fertig zum Angriff. Planwagen und Karren standen herum, die zu Ambulanzen umgestaltet worden waren. Sie waren an Zelten mit spitzen Dächern vorübergekommen, die als Feldlazarette dienen würden, an Männern und Frauen mit bleichen Gesichtern, die versuchten, alles zu bedenken, was noch getan werden konnte, um den Verwundeten zu helfen. Für Monk wirkte das alles wie eine Farce. Sollten diese Zehntausende von Männern tatsächlich darauf warten, sich gegenseitig abzuschlachten, Männer, die vom selben Blut abstammten, dieselbe Sprache sprachen, die der Wildnis das Land abgerungen hatten, das denselben Idealen verpflichtet war?

Die Spannung wurde immer größer. Männer liefen planlos umher, wie sie es getan hatten, seit um zwei Uhr nachts der Weckruf ertönt war. Doch in der Dunkelheit war es nur wenigen gelungen, sich zusammenzuscharen, Waffen und Ausrüstung zu holen und sich ordentlich aufzustellen.

In quälender Ungewissheit wartete Hester, seit sie aus der Ferne das Kanonenfeuer vernommen hatte. Merrit sah fortwährend auf die Tür der Kirche, in der sie die ersten Verwundeten erwarteten. Neun Uhr war vorüber. Einige wenige Männer wurden gebracht, einige mussten getragen, andere lediglich gestützt werden. Einem Soldaten schnitt der Feldarzt eine Kugel aus der Schulter, einem anderen holte er sie aus dem Bein. Ab und zu erfuhren sie Neuigkeiten vom Fortgang der Schlacht.

»Wir können die Stone Bridge einfach nicht einnehmen!«, keuchte einer der Verwundeten, der mit einer Hand seinen anderen Arm umklammerte, so dass das Blut durch seine Finger quoll.

»Die Rebellen sind verteufelt stark!« Hester schätzte ihn auf ungefähr zwanzig Jahre, sein Gesicht war grau vor Erschöpfung, seine Augen groß und starr. Der Arzt war soeben mit einem anderen Soldaten beschäftigt.

»Kommen Sie, wir werden Sie verbinden«, sagte Hester sanft, ergriff seinen gesunden Arm und führte ihn zu einem Stuhl.

»Bring mir etwas Wasser«, rief sie Merrit über die Schulter zu.

»Auch etwas zu trinken für ihn.«

»Es müssen Tausende sein!«, fuhr der Mann fort und starrte Hester an. »Unsere Jungs sterben… sie liegen überall auf dem Boden verstreut. Man kann ihr Blut in der Luft riechen. Ich stand auf… auf jemandes…« Er konnte nicht weitersprechen.

Hester wusste, was er sagen wollte. Sie war über Schlachtfelder gelaufen, auf denen zerstückelte Leichen lagen, erstarrt im letzten Grauen, zerrissene, zerfetzte menschliche Wesen. Sie hatte gehofft, dies nie wieder sehen zu müssen und ihren Geist davor schützen zu können. Sie wandte den Blick von seinem Gesicht ab und bemerkte, dass ihre Hände zitterten, als sie den Ärmel abschnitt, um die Wunde freizulegen. Um sie herum war der Arm zerfetzt und blutete stark, aber soweit sie es beurteilen konnte, war der Knochen nicht betroffen, und es handelte sich um keine arterielle Blutung, ansonsten wäre er nicht mehr am Leben gewesen und hätte nicht auf eigenen Beinen in die Kirche wanken können. Das Wichtigste war jetzt, die Wunde sauber zu halten und das Geschoss zu entfernen. Zu oft hatte sie Wundbrand gesehen, und den Geruch würde sie nie mehr wieder vergessen. Er war schlimmer als der Tod, eine lebende Nekrose.

»Das heilt wieder.« Sie wollte überzeugend und beruhigend klingen, seine Furcht dadurch mildern, aber ihre Stimme war zittrig, als ob sie selbst Angst hätte. Ihre Hände arbeiteten automatisch. Sie hatte schon so oft dasselbe getan: vorsichtig mit Pinzetten in das Fleisch gebohrt, immer in dem Versuch, keine Schmerzen zu verursachen, aber auch immer in dem Wissen, dass es die reinste Folter war, in der Wunde nach dem kleinen Stück Metall zu suchen, das die Ursache für die Verletzung war. Und immer hatte sie versucht, sicherzugehen, dass sie alles erwischt hatte. Einige Geschosse zersplitterten und hinterließen gefährliche Metallteile. Sie musste schnell arbeiten, denn Schmerz oder Schock konnten tödlich sein, und sie wollte einen hohen Blutverlust vermeiden.

Während sie arbeitete, verfingen sich ihre Gedanken in einem Netz albtraumhafter Erinnerungen, bis sie die Füße der Ratten hörte, als ob sie erneut von ihnen umgeben wäre, als ob sie über den Boden huschten, ihre fetten Körper die Wände herunterrutschten und sie sich pfeifend untereinander verständigten. Sie konnte die menschlichen Abfälle riechen, ihre Konsistenz auf den Fußbodenbrettern unter ihren Schuhen fühlen. Hinterlassen von Männern, die zu schwach waren, um sich zu bewegen, und deren Körper von Hunger, Ruhr oder Cholera ausgezehrt waren. Sie konnte ihre Gesichter vor sich sehen, die hohlen Augen, in denen das Wissen um den bevorstehenden Tod geschrieben stand. Sie hörte die Stimmen, hörte, wie sie von dem sprachen, was sie liebten, wie sie sich gegenseitig versicherten, dass die Sache es wert gewesen sei, wie sie über ein Morgen scherzten, von dem sie wussten, dass es nie kommen würde, und den Zorn unterdrückten, auf den sie größtes Recht hatten, da sie wegen der Ignoranz und der Dummheit anderer betrogen worden waren.

An einige von ihnen konnte sie sich besonders gut erinnern: An einen blonden Leutnant, der ein Bein verloren hatte und an Wundbrand gestorben war, oder an einen walisischen Jungen, der seine Heimat und seinen Hund geliebt hatte und so lange von beidem sprach, bis man ihn damit neckte und ihm sagte, er solle endlich schweigen. Er war an Cholera gestorben. Es gab noch andere, unzählige Männer, die aus diesem oder jenem Grund den Tod gefunden hatten. Die meisten davon waren tapfer gewesen und hatten ihr Grauen und ihre Panik mit sich selbst abgemacht. Einige hatten aus Scham geschwiegen, für andere war Schweigen die Normalität. Mit jedem Einzelnen hatte sie mitgefühlt.

Sie hatte gedacht, dass die Gegenwart, ihre Liebe zu Monk, all das, wofür sie nun kämpfte, die Menschen, die ihr Leben bereicherten, die Vergangenheit durch Vergessen geheilt hätte.

Aber der Staub, das Blut, der Geruch von Zeltplanen, Wein und Essig, das Wissen um den Schmerz hatte alles mit einer Lebendigkeit zurückgebracht, die sie erschauern ließ und sie verwirrte. Sie war vom Entsetzen mehr erfüllt als diejenigen, für die alles neu war, wie Merrit, die kaum erahnen konnte, was auf sie zukommen würde. Hester rann der Schweiß über den Körper und erkaltete auf ihrer Haut trotz der drückend heißen und stickigen Luft.

Sie hatte panische Angst. Sie konnte es nicht ertragen, nicht noch ein Mal. Sie hatte ihren Anteil erlebt, hatte schon zu viel mit ansehen müssen!

Sie fand das Geschoss und zog es heraus; ihm folgte ein Schwall von Blut. Einen Moment lang erstarrte sie. Sie konnte es nicht ertragen, noch jemanden sterben zu sehen! Das hier war nicht ihr Krieg. Dies war alles kolossal dumm, ein grauenhafter Wahnsinn, der Dunkelheit der Hölle entsprungen. Ihm musste Einhalt geboten werden. Sie sollte hinausrennen, jetzt sofort, und die Männer anschreien, bis sie ihre Waffen niederlegten und in ihren Gesichtern die Gleichheit erkannten, nicht die Unterschiede, und bis sie in den Augen des Feindes das eigene Spiegelbild sahen und sich selbst im anderen entdeckten.

Doch während ihre Gedanken rasten, nähten ihre Finger die Wunde zu, griffen nach Bandagen, Tupfern, verbanden die Wunde und prüften, ob der Verband auch nicht zu eng saß. Dann rief sie nach ein wenig mit Wasser vermischtem Wein. Sie hörte, wie sie den Mann tröstete, ihm erklärte, was er tun und auf welche Weise er seine Wunde versorgen sollte, dass er sich einen neuen Verband anlegen lassen sollte, wenn er Alexandria oder wohin er auch immer transportiert werden würde, erreichte.

Sie vernahm seine Antwort, und seine Stimme war jetzt ruhiger und fester als zuvor. Sie beobachtete, wie er sich auf die Füße mühte, wie er von einer Ordonnanz gestützt davonstakste und sich noch einmal lächelnd umdrehte, bevor er das Zelt verließ.

Weitere Verwundete wurden hereingebracht. Hester half, Bandagen zu holen, sie aufzurollen, Instrumente und Flaschen zu halten, schleppte Gegenstände, stützte Männer und sprach mit ihnen, um ihre Furcht oder ihren Schmerz zu lindern.

Dann trafen Neuigkeiten von der Schlacht ein. Vieles davon sagte Hester und Merrit nichts, da sie die Gegend nicht kannten, ob es aber gute oder schlechte Nachrichten waren, war leicht an den Gesichtern derjenigen abzulesen, die sie überbrachten.

Kurz nach elf Uhr kam der Arzt herein, sein Gesicht war grau und sein Uniformhemd blutverschmiert. Als er Hester sah, blieb er abrupt stehen.

»Was, zum Teufel, treiben Sie da?«, fuhr er sie an.

Sie trat von dem Mann zurück, dessen Wunde sie eben erst fertig verbunden hatte. Dann wandte sie sich an den Arzt und bemerkte die Angst in seinen Augen. Er war nicht älter als dreißig Jahre, und sie wusste, dass nichts in seinem Leben ihn auf das hier vorbereitet hatte.

»Ich bin Krankenschwester«, entgegnete sie gelassen.

»Ich habe schon einmal einen Krieg miterlebt.«

»Schusswunden… Verletzungen?«, fragte er.

»Ja.«

»Auf dem Matthews Hill sind weitere Rebellentruppen eingetroffen«, sagte er, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. »Es werden noch viele Verwundete nachkommen. Wir müssen zusehen, dass wir diejenigen, die bereits versorgt sind, hier herausbekommen.«

Sie nickte.

Er wusste nichts weiter zu sagen. Er scheiterte an Umständen, die jenseits seiner Vorstellungskraft und seiner Fähigkeiten lagen. Er war für jede Hilfe dankbar, sogar für die einer Frau.

Eine Stunde später berichtete ihnen ein Mann mit einem zerschmetterten Arm, der trotz seiner Qualen noch lächelte, dass Sherman den Bull Run überquert hatte und die Rebellen sich auf den Henry Hill zurückzogen.

Daraufhin stießen die anderen verletzten Männer durch zusammengebissene Zähne ein Jubelgeschrei aus.

Hester warf einen kurzen Blick auf Merrit; ihr Kleid war verknittert und blutverschmiert, aber sie lächelte. Einen Moment lang glänzten die Augen des Mädchens, dann wandte sie sich wieder um und reichte dem Arzt weitere Bandagen, der sich kaum die Zeit nahm, aufzusehen, als er die Nachricht hörte.

Während der nächsten Stunde wurden weniger Verletzte gebracht. Der Arzt entspannte sich ein wenig, setzte sich ein Weilchen und trank einen Schluck Wasser. Er lächelte Merrit kläglich an, die eng mit ihm zusammengearbeitet hatte.

»Sieht aus, als ob wir uns nicht schlecht schlagen würden«, meinte er mit einem Anflug von Optimismus.

»Wir werden sie zurückdrängen! Dann wissen sie, was Krieg bedeutet! Das nächste Mal werden sie es sich gut überlegen, was?«

Merrit wischte sich das Haar aus der Stirn und steckte es mit ein paar Haarklammern fest.

»Aber es ist ein hoher Preis, den wir bezahlen, finden Sie nicht?«

Hester konnte in der Ferne immer noch das Geschützfeuer, die Kanonen und die Gewehrschüsse hören. Sie spürte, wie sich Übelkeit in ihr ausbreitete. Sie wollte fliehen, einen Weg finden, um nicht mehr denken und fühlen zu müssen, und zu wissen, dass sie davon betroffen war. Sie konnte gut verstehen, warum Menschen verrückt wurden. Bisweilen, wenn jeglicher andere Fluchtweg abgeschnitten ist, ist es die einzige Möglichkeit, das Unerträgliche zu überleben. Wenn man sich körperlich nicht entziehen und die Gefühle nicht abgetötet werden konnten, dann widersetzte sich der Geist der Realität.

Sie ging ein paar Schritte, bevor sie zu sprechen begann. Wenn sie allerdings zu lange wartete, würde sie es vielleicht überhaupt nicht tun.

»Was sagen Sie?« Der Arzt fuhr zu ihr herum. Er klang ungläubig.

Sie hörte ihre eigene Antwort; sie klang hohl und gespenstisch, als ob jemand anderes gesprochen hätte.

»Sie kämpfen immer noch. Hören Sie das Geschützfeuer nicht?«

»Doch… hört sich an, als wäre es jetzt weiter entfernt … glaube ich«, erwiderte er. »Unsere Jungs schlagen sich tapfer… kaum Verwundete und wenn, dann nur leicht Verletzte.«

»Nein, es bedeutet, dass die Verwundeten nicht gebracht werden«, korrigierte sie ihn. »Oder dass es zu viele Tote gibt. Der Kampf ist zu heftig, um jemandem die Möglichkeit zu geben, sich zu entfernen und sich um Verletzte zu kümmern.« Sie sah die Ungläubigkeit in seinem Gesicht. »Wir müssen gehen und tun, was in unseren Kräften steht.«

Es war Angst, was sie in seinen Augen sah, vielleicht nicht davor, selbst verletzt oder gar getötet zu werden, aber vor dem Schmerz anderer Menschen und der eigenen Unfähigkeit, Hilfe zu leisten. Sie wusste genau, wie sich die Angst anfühlte. Sie hatte sich in ihren eigenen Magen gegraben, und sie fühlte sich krank und schwach. Das Einzige, was noch schlimmer sein konnte, war die Hölle, in der man leben würde, wenn man versagte. Das hatte sie bei Männern erlebt, die sich selbst für Feiglinge hielten, ob nun zu Recht oder Unrecht.

Sie ging zur Tür. »Wir müssen Wasser, Bandagen, Instrumente mitnehmen, alles, was wir tragen können.« Sie versuchte nicht, ihn zu überzeugen. Dies war nicht die Zeit, um viele Worte zu machen. Sie würde gehen. Ob er ihr nun folgte oder nicht.

Draußen traf sie einen Soldaten, der auf einen blutverschmierten Ambulanzkarren stieg.

»Wo fahren Sie hin?«

»Nach Sudley Church«, erwiderte er. »Es liegt ungefähr acht Meilen von hier… näher an der Stelle, an der die Schlacht jetzt tobt.«

»Warten Sie!«, forderte sie ihn auf. »Wir kommen mit!« Schon rannte sie zurück, um Merrit zu holen. Der Arzt war noch mit dem Versuch beschäftigt, die letzten Verwundeten abtransportieren zu lassen.

Merrit kam mit ihr, sie trug so viele Feldflaschen, wie sie nur schleppen konnte. Dann kletterten sie auf den Wagen und machten sich auf den Weg nach Sudley.

Es herrschte eine Hitze wie in einem Backofen. Der pralle Sonnenschein schmerzte in den Augen.

Staub und Pulverwolken markierten deutlich die Stelle, an der die Schacht am heftigsten tobte. Es war auf einer Anhöhe jenseits des Flusses, dessen Verlauf von den Bäumen, die seine Ufer säumten, gut gekennzeichnet war.

Sie brauchten über eine Stunde. Hester kletterte mindestens eine Meile vor dem Lazarett vom Wagen, nahm ein halbes Dutzend Feldflaschen mit und machte sich auf den Weg zu den Männern, die immer noch dort lagen, wo sie gefallen waren.

Sie kam an zerbrochenen Karren und Wagen vorbei, an einigen verletzten Pferden, aber es gab wenig Kavallerie. Im Gras fand sie zertrümmerte Waffen. Eine sah sie, die aussah, als wäre sie explodiert. Einige Schritte weiter lag ihr toter Besitzer, sein Gesicht war schwarz, die Erde um ihn herum dunkel von Blut. Neben ihm lagen weitere Verwundete.

Verständnislos verfluchte sie die Ignoranz und die Inkompetenz, die junge Männer mit Waffen in den Kampf sandte, die alt und schlecht gemacht waren und beim Gebrauch explodierten. Diese Ironie trieb ihr Tränen der Hilflosigkeit in die Augen. War sie sich wirklich sicher, dass es besser wäre, sie würden einwandfrei funktionieren und diejenigen töten, die ihnen vor den Lauf kamen? Gewehre wurden zum Töten, Verstümmeln, Verkrüppeln, Entstellen und zum Verursachen von Schmerz und Furcht gebaut. Das war ihr Zweck.

Das Feuergefecht vor ihr war heftig. Geschosse und Kartätschen, die aus Kanonen abgefeuert wurden, donnerten durch die Luft. Vor dem Hintergrund der verdorrten Grasflächen konnte sie deutlich die blaugrauen Linien der Soldaten sehen, die halb von Staub und Pulverschwaden verdeckt wurden. Schlachtstandarten ragten hoch über sie hinaus und hingen schlaff in der heißen Luft. Es musste bereits nach drei Uhr sein. Sudley war nur ein paar Hundert Meter entfernt.

Sie kam an weiteren zerschmetterten Karren und Wagen vorbei und an weiteren Toten. Die Erde war rot vom Blut. Ein Mann lag halb gegen eine Munitionskiste gelehnt, sein Unterleib war aufgerissen, und seine Eingeweide quollen über seine blutenden Oberschenkel. Unglaublich, aber seine Augen waren offen, und er lebte.

Dies war ihr am meisten verhasst; schlimmer als die Toten waren diejenigen, die das Grauen und die Qualen noch erlebten, die ihr eigenes Blut sahen und wussten, dass sie sterben würden, und machtlos waren, etwas dagegen zu unternehmen.

Sie beugte sich zu ihm hinunter.

»Sie können nichts für mich tun, Ma’am«, hauchte er durch seine trockenen Lippen. »Weiter vorn liegen genügend, denen…«

»Zuerst sind Sie an der Reihe«, sagte sie sanft. Dann senkte sie den Blick auf seine schreckliche Wunde und die Hände, die sich darüber verkrampft hatten.

Vielleicht konnte sie doch noch etwas tun? Nur das äußere Fleisch schien aufgerissen zu sein, die Organe selbst schienen nicht verletzt zu sein. Vor lauter Blut und Schmutz konnte sie kaum etwas sehen.

Sie legte die Feldflaschen zur Seite und griff nach der ersten Bandagenrolle. Dann träufelte sie Wasser und ein wenig Wein auf einen Stoffknäuel, löste seine verkrampften Hände und begann den Schmutz vom bleichen Gewebe seiner Eingeweide zu waschen. Im Geiste versuchte sie, die Verletzung von dem Mann zu trennen, der ihr Tun beobachtete. Sie versuchte, sich auf kleine Details zu konzentrieren, auf die kleinen Erdkrümel, die Sandkörner und die Blutstropfen, darauf, alles sauber zu bekommen und zu versuchen, die Eingeweide wieder in seine Körperhöhle zu schieben.

Eine Weile war sie sich nicht einmal der Hitze bewusst, die auf ihrem Körper brannte, des Schweißes, der über ihr Gesicht rann.

Sie arbeitete so schnell wie möglich. Zeit war knapp. Er musste von hier bis Sudley Church und von dort nach Fairfax oder Alexandria transportiert werden. Sie weigerte sich, daran zu denken, dass sie scheitern könnte, dass er hier in der Hitze und unter dem Donner der Gewehrsalven sterben könnte, bevor sie fertig war. Sie weigerte sich, an die anderen Männer zu denken, die nur einen Steinwurf von hier entfernt lagen und ebenso Schmerzen litten, vielleicht sogar starben, während sie hier kniete, einfach deshalb, weil niemand hier war, der ihnen half. Sie konnte nur eine Sache tun, wenn sie sie gut genug erledigen wollte, um erfolgreich zu sein.

Sie war fast fertig. Noch einen Augenblick.

Das Geschützfeuer in der Ferne wurde heftiger. Sie bemerkte, dass Leute an ihr vorbeiliefen, hörte Stimmen und Schreie und das Rumpeln eines Wagens, der über die trockenen Erdfurchen holperte.

Sie sah zu dem Gesicht des Mannes auf, krank vor Angst, dass er bereits tot sein könnte und sie blindlings weitergearbeitet hatte, weil sie sich weigerte, die Wahrheit anzuerkennen. Einen Moment lang war der Schweiß auf ihrer Haut kalt, dann wieder heiß. Er starrte sie an. Seine Augen waren im Schock in ihre Höhlen zurückgewichen, und der Schweiß auf seinen Wangen war getrocknet, aber er war eindeutig am Leben.

Sie lächelte ihn an und legte ein sauberes Tuch über die schreckliche Wunde. Sie hatte nichts bei sich, womit sie sie nähen hätte können. Sie griff nach der Feldflasche, befeuchtete ein frisches Tuch und hielt es ihm an die Lippen. Dann wusch sie ihm behutsam das Gesicht. Dies diente keinem bestimmtem Zweck, außer ihm Erleichterung zu verschaffen und vielleicht ein wenig Würde zu verleihen, einen Hoffnungsschimmer zu geben und ihm zu versichern, dass er noch nicht aufgegeben worden war und seine Gefühle wichtig und etwas Besonderes waren.

»Jetzt müssen wir jemanden finden, der Sie befördert«, sagte sie. »Sie werden wieder gesund. Ein Chirurg wird die Wunde nähen und sie bandagieren. Es wird eine Weile dauern, bis sie verheilt. Halten Sie sie aber sauber… achten Sie stets darauf.«

»Ja, Ma’am.« Seine Stimme war schwach und sein Mund ausgetrocknet. »Ich danke Ihnen…« Er verstummte, aber der Dank stand in seinen Augen. Nicht, dass Hester ihn gebraucht hätte, ihre Belohnung war ihr Tun und ihre Hoffnung. Sie hatte den Schmerz ein wenig gemildert und – wenn sie Glück hatte – ein Leben gerettet.

Ungelenk erhob sie sich. Dann sah sie sich suchend nach jemandem um, der ihnen helfen konnte. Sie entdeckte einen Soldaten mit gebrochenem Arm, einen anderen mit blutüberströmter Brust, der aber immer noch laufen konnte. Dann erblickte sie Merrit, die auf dem Rückweg von Sudley’s Church war. Schmutzig und blutverschmiert stolperte sie unter dem Gewicht der Feldflaschen dahin. Ab und zu bückte sie sich, um Verwundeten zu helfen oder jemanden anzusehen, um zu erkunden, ob er bereits tot war.

Hester wies den Mann an, sich nicht zu bewegen, unter keinen Umständen, dann raffte sie ihre Röcke zusammen und rannte und stolperte Merrit über die buckligen Grassoden entgegen. Noch im Laufen rief sie ihr zu.

Merrit drehte sich um, ihr Gesicht war von Angst und Erschöpfung verzerrt, dann erkannte sie Hester und lief auf sie zu, indem sie springend die struppigen Grasbüschel überwand.

Hester setzte sie hastig über den Mann mit der Bauchverletzung ins Bild, klärte sie über die Notwendigkeit auf, irgendeine Transportmöglichkeit zu finden, um ihn und so viele andere Verwundete wie nur möglich zur Kirche zu befördern.

»Ja«, erwiderte Merrit und schluckte schwer. »Ja… ich werde…« Sie verstummte. Die Panik in ihren Augen war kaum zu verbergen. All die tapferen Worte waren in einer Situation wie dieser absurd, Belanglosigkeiten aus einem anderen Leben. Auf diese Realität hätte sie nichts vorbereiten können. Merrit wollte, dass Hester erfuhr, was sie fühlte, und begriff, wie sehr sie sich verändert hatte. Hester lächelte sie an, es war ein kläglicher Versuch. Sie hatten keine Zeit, um zu erklären, was sie empfanden. Die Verwundeten kamen zuerst, weitere Prioritäten gab es erst einmal nicht.

»Geh und hole Hilfe«, wiederholte Hester.

Merrit ließ die meisten Feldflaschen zu Boden fallen, straffte ihre Schultern und drehte sich um, um den Auftrag zu erfüllen. Sie stolperte über den unebenen Boden, rappelte sich wieder auf und eilte weiter.

Hester sammelte die Flaschen auf und machte sich auf den Weg, näher an die Schlacht heran. Sie versorgte weitere Verwundete und stieß auf immer mehr Tote. Jenseits des Bull Run wurde ununterbrochen geschossen, und die Luft war erfüllt von Staub und Pulverqualm. Die sengende Hitze trocknete den Mund aus und brannte auf der Haut.

Schließlich ging Hester zur Kirche zurück. Es war ein kleines Gebäude, von Bauernhäusern umgeben und etwa eine halbe Meile vom Bull Run entfernt, und es war zum Hauptsammelpunkt der Verwundeten der Union geworden.

Die Stühle waren aus der Kirche entfernt und davor abgestellt worden. Viele Männer lehnten an den Mauern, lagen unter Bäumen oder unter provisorischen Sonnenschutzdächern. Andere wiederum lagen in der prallen Sonne. Einige hatten keine Verletzungen, litten aber unter der Hitze und dem Flüssigkeitsverlust.

Überall stöhnten Männer und riefen um Hilfe. Einige nur leicht Verwundete versuchten den zwei oder drei Ordonnanzen zu helfen, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Als Hester sich der Tür näherte, kam der Chirurg mit blutverschmiertem Kittel heraus und ließ einen amputierten Arm auf den Haufen anderer Gliedmaßen an der Wand fallen. Ohne sie zu bemerken, drehte er sich um und ging wieder hinein.

Ein Ambulanzwagen holperte über den zerklüfteten Boden und brachte weitere Verwundete.

Hester stieß die hölzerne Tür auf. Im Inneren der Kirche hatte man den Boden mit den Decken belegt, die erübrigt werden konnten. Von einem nahe gelegenen Feld hatte man Heu geholt und auf dem Boden verteilt, damit die Männer darauf liegen konnten. Mehrere Eimer Wasser standen umher, einige mit frischem Wasser, andere rot vor Blut.

In der Mitte des Raumes stand der Operationstisch, daneben lagen auf einem Brett, das man auf zwei Stühle gelegt hatte, die Instrumente. Blutpfützen machten den Fußboden glitschig, und getrocknetes Blut zeichnete sich dunkel vom Boden ab. In der Hitze wurde der Geruch unerträglich. Hester ignorierte die aufsteigende Übelkeit und machte sich an die Arbeit.

Der Kampf am Henry Hill zog sich den ganzen drückend heißen Nachmittag dahin. Zuerst hatten Monk und Trace den Eindruck, die Union würde ihn gewinnen. Das wäre ein vernichtender Schlag für die Konföderierten gewesen. Vielleicht hätte es sogar genügt, um den Konflikt zu beenden. Dann hätte man mit den diplomatischen Verhandlungen beginnen können und wäre möglicherweise gar zu der Übereinkunft gelangt, dass solches Blutvergießen ein zu hoher Preis war, um einem Volk eine Union aufzuzwingen, das bereit war, eher zu sterben, als diese zu akzeptieren.

Doch am späten Nachmittag bekamen die Konföderierten Verstärkung, und am Henry Hill versammelten sich die Soldaten gegen das, was MacDowell aufzubieten hatte. Henry House selbst schien unerreichbar. Monk, der sich am Matthews Hill seitlich in ein Stück Unterholz gekauert hatte und über den Fluss schaute, der sich, wie ihm gesagt worden war, Young’s Branch nannte, sah, dass die konföderierten Truppen die Spitze des Hügels hielten. Unionisten hatten wieder und wieder versucht, ihn mit hoch gehaltenen Standarten zu erstürmen, waren aber jedes Mal zurückgeschlagen worden.

Nur zwanzig Schritte von Monk entfernt waren Soldaten. Das Donnern der Kanonen war ohrenbetäubend. Fortwährend krachten Musketen, und ab und zu pfiff eine Kugel an ihm vorbei und Erde spritzte auf, wenn sie in den Boden schlug. Eine hatte Monks Arm gestreift, so dass nun scharlachrotes Blut hervorquoll. Der Schmerz schockierte ihn, obwohl er gering war, verglichen mit den Todesqualen, die andere erleiden mussten.

»Ich werde diesen Bastard finden!«, schrie Trace über das Getöse hinweg. »Der Ausgang dieser Schlacht interessiert mich einen feuchten Kehricht, aber er entwischt mir nicht…« Bitter zuckte er die Achseln.

»Außer, er ist bereits tot. Dann ist mir der Teufel zuvorgekommen. Aber wenn Gott auf meiner Seite ist, dann werde ich ihn als Erster zu fassen kriegen.« Er legte die Hand über die Augen und starrte von der Stelle, an der er kniete, über den Young’s Branch und hinüber zum Henry Hill. Die Linien der Union erstreckten sich zur Rechten bis zur Chinn Ridge und zur Linken bis zum Henry Hill.

Der Wind drehte sich leicht und wehte Qualmwolken über das Kampfgeschehen. Eine Kanonenkugel pfiff an ihnen vorbei, mähte durch einige Bäume und riss dabei mehrere Äste ab.

Monk fragte sich, warum Trace sich nicht selbst dem Kampf anschloss. Warum war er so versessen darauf, Breeland zu verfolgen und gab dieser Aufgabe den Vorrang? Sie schien ihm das Gleichgewicht geraubt zu haben, er wirkte regelrecht besessen davon. Monk kämpfte nicht. Dies war nicht sein Krieg. Er gab keiner der beiden Seiten den Vorzug. Der Frage der Sklaverei widmete er keine Sekunde lang auch nur einen Gedanken. Er war unwiderruflich dagegen, aber er konnte die Konföderierten verstehen, dass die ökonomische Unterdrückung durch den Norden tatsächlich keinerlei Erleichterung für die Armen brachte. Tief verwurzelte Institutionen konnten nur allmählich verändert werden, und Gewalt schuf hier keine Abhilfe.

Am allerwenigsten verstand er allerdings den leidenschaftlichen Einsatz für die Union des Landes, was er für eine rein intellektuelle Theorie hielt. Ihm gingen die verstümmelten, verkrüppelten, blutenden Männer hier auf diesen staubigen Hügeln nahe. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Unionisten und Konföderierten. Sie alle waren gleichermaßen aus Fleisch und Blut, hatten Leidenschaften, Träume und Ängste. Zum ersten Mal verstand er, was Hester empfinden musste, wenn sie, ohne Unterschiede zu machen, Freund und Feind gleichermaßen betreute und dabei nur an den Menschen dachte.

Er wagte es kaum, an Hester zu denken. Er sah die Verwundeten und Sterbenden um ihn herum und hatte keine Ahnung, wie er ihnen helfen könnte. Der Anblick verursachte ihm Übelkeit. Seine Hände zitterten und seine Beine trugen ihn kaum mehr.

Schwindelig vor Ekel ertrank er fast in dem Abscheu vor dem Geschehen. Wie konnte sie nur einen klaren Kopf behalten und den Schmerz und die grauenhaften Verstümmelungen ertragen? Sie verfügte über eine Stärke, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag.

Philo Trace ließ den Blick über den Hügel vor ihnen schweifen, versuchte anscheinend eine Uniform oder wenigstens die Farben der Schlachtstandarten zu erkennen, um daraus zu schließen, wo Breeland sich aufhalten könnte.

»Würden Sie sich da hineinwagen, um ihn zu suchen?«, schrie Monk ihm zu.

»Ja«, rief Trace, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Jeder Südstaatler kann für die Konföderation und unser Recht, über unser eigenes Schicksal zu entscheiden, kämpfen. Aber ich bin der Einzige, der Breeland nach England zurückbringen und jedermann vor Augen führen kann, wer er ist… wessen ein Waffenkäufer der Union fähig ist, um an Gewehre zu kommen.«

Monk erwiderte nichts. Er verstand ihn, und das jagte ihm einen Schrecken ein. Er hatte schon vorher Verbrechen und Armut erlebt, persönlichen Hass und Ungerechtigkeit. Aber dies hier hatte ein Ausmaß an Ungeheuerlichkeit angenommen, ein nationaler Wahnsinn, vor dem es kein Entrinnen gab.

Drüben auf dem Henry Hill töteten und starben Männer, und keine der beiden Seiten schien Boden zu gewinnen.

Trace machte sich auf den Weg den Abhang hinunter auf Chinn Ridge zu. Monk zog sich zurück.

Auf dem Boden lagen verwundete Männer, von Blut und Schmutz bedeckt, mit verdrehten Gliedmaßen, Seite an Seite mit den Toten. Karren waren umgestürzt, das Holz zersplittert, Gewehrläufe waren verbogen und zielten in den Himmel, Räder waren von den Achsen gebrochen.

Monk tat, was in seiner Macht stand, um zu helfen, doch er verfügte weder über Wissen noch über Fertigkeiten, auf die er sich hätte berufen können.

Er wusste nicht, wie man einen Knochen einrichtete, wie man eine Blutung stillte, wen man bewegen durfte und wem man Schaden zufügte, wenn man ihn bewegte. Die Hitze verbrannte seine Haut und schnürte ihm die Kehle zu, Schweiß blendete seine Augen, und nasser Stoff rieb die Haut über dem Streifschuss an seinem Arm wund. Erbarmungslos brannte die Sonne herunter, alles war voller Fliegen.

Wieder und wieder kletterte er die Böschung zum Fluss hinunter und füllte Feldflaschen auf und trug sie durch den Kugelhagel zurück, um sie den Verwundeten an die Lippen zu halten.

Er trug Männer in die Feldlazarette, wo man mitten auf dem Gras der Hügel tat, was möglich war, um ihre Blutungen zu stillen, Wunden zu bandagieren, Knochen zu schienen.

Um halb fünf Uhr entdeckte er Merrit, die ebenfalls Wasser holte und bei Verwundeten stehen blieb, die fähig waren zu trinken.

Ihre Röcke waren zerrissen, und sie sah erschöpft aus, fast wirkte sie wie eine Schlafwandlerin. Ihr Gesicht war aschfahl und ihre Augen vom unsäglichen Grauen erfüllt. Er war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt erkannte.

Gemeinsam halfen sie einem Mann mit einem schlimmen Beinbruch auf einen Karren, ebenso einem anderen mit einer zertrümmerten Hand, zwei weiteren mit schwer blutenden Brustwunden. Dann zog Monk den Wagen über den unebenen Boden, zerrte sich dabei die Schulter und spürte, wie seine Muskeln schmerzten. Der Streifschuss an seinem Arm schien nicht mehr zu bluten.

Frei laufende und unverletzte Pferde waren weit und breit nicht zu sehen. Er hasste es fast mehr, ein verletztes Tier als einen verletzten Menschen zu sehen. Tiere hatten den Kampf nicht gewählt. Sie waren Lebewesen, die keinen Anteil an Kriegen hatten. Aber er wusste, dass er dies nicht laut aussprechen durfte. Vielleicht hatte auch die Mehrzahl der Männer nicht aus freien Stücken an diesem Krieg teilgenommen.

Er zerrte den Wagen bis zu einer Stelle nur wenige Schritte vor dem Feldlazarett in Sudley Church. Weiter schaffte er es nicht mehr. Er und Merrit halfen den Männern vom Wagen, woraufhin sie sich gegenseitig stützend die letzten Meter weiterschleppten.

Das Gewehrfeuer hinter ihnen schien näher gekommen zu sein, als ob die Rebellen den Henry Hill gehalten hätten und nun in ihre Richtung herunterstürmten.

Im Inneren der Kirche entdeckte er Hester. Augenblicklich erkannte er sie an ihrer aufrechten Haltung, während sie sich flink und gewandt bewegte. Ihr Haar war am Hinterkopf zusammengefasst, und eine dünne Strähne fiel über ihren Rücken. Ihre Röcke waren dreckig, und sogar auf dem Rücken hatte sie einige Blutspritzer und Flecken.

Sein Herz machte einen Sprung. Seine Augen brannten von den Tränen des Stolzes, und in ihm stieg eine derartig heftige Bewunderung auf, dass er sekundenlang nur Augen für sie hatte. Der Rest des Raumes war lediglich eine dunkle Wolke am Rande seines Gesichtsfeldes, andere Menschen existierten plötzlich nicht mehr, nicht die Verwundeten, nicht ein ruhig dastehender Mann in blauer oder grauer Uniform, nicht die fremde Frau, die auf dem Boden kniete.

Hester hatte eine Säge in den Händen und sägte durch den Unterarmknochen eines Mannes. Sie bewegte sich schnell, ohne das geringste Zögern. Es war keine Zeit, um sich ein Urteil zu bilden und die Sache genauer abzuschätzen. Sie musste dies alles schon einmal getan haben. Überall war helles, frisches Blut, auf Beinschienen und Bandagen auf dem Fußboden, es bildete Pfützen, färbte ihre Hände rot und bildete einen dunklen Fleck auf der Uniform über den Oberschenkeln des Mannes. Sein Gesicht war grau, als sei er bereits tot.

Sie fuhr mit der Arbeit fort. Der abgesägte Arm fiel zu Boden, und sie begann, die Blutung der Wunde zu stillen, indem sie einen losen Fleischlappen darüber legte, eine Kompresse so fest darauf presste, dass sie die Blutgefäße zusammendrückte. Während der ganzen Zeit sagte sie kein Wort. Monk beobachtete ihr angespanntes Gesicht, ihre zusammengekniffenen Lippen, den Schweiß, der über ihre Brauen perlte und über ihren Lippen stand. Einmal wischte sie sich das Haar mit dem Handgelenk aus den Augen.

Als sie fertig war und die Blutung gestoppt war, griff sie nach einem Stück Stoff, tauchte es in Wein und hielt es dem Mann sanft an die Lippen.

Seine Augenlider flatterten.

Sie gab ihm noch ein paar weitere Tropfen.

Er öffnete die Augen, wandte den Kopf, um den Blick auf sie zu richten, dann sank er erneut in Bewusstlosigkeit.

Monk hatte keine Ahnung, ober der Mann leben oder sterben würde. Er wusste auch nicht, ob Hester dies einschätzen konnte. Er sah ihr ins Gesicht, konnte es aber nicht ablesen. Sie befand sich in einem Zustand jenseits der Erschöpfung, sowohl körperlich als auch geistig. Sie war sich der Gegenwart anderer kaum bewusst, geschweige denn, dass er hier war, und doch war er von dem Wissen überwältigt, nie zuvor eine dermaßen schöne Frau gesehen zu haben. Sie war ihm völlig vertraut. Er kannte jeden Teil von ihr, hatte sie in den Armen gehalten, sie berührt, doch ihre Seele war etwas Eigenständiges, voller Wunder und unerforscht, etwas, was ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Gleichzeitig erschrak er, weil er die dunklen Gefilde in sich selbst kannte und das Gefühl hatte, sich ihrer und dem, was er in ihr zu sehen glaubte, niemals würdig erweisen zu können. Auch wusste er, dass er niemals die endgültigen Ausmaße seines Hungers ermessen könnte, den er danach verspürte, dass sie ihn ebenso lieben möge und er sich ihrer Liebe uneingeschränkt und vollkommen würdig erweisen könnte.

Hester drehte sich um und entdeckte ihn. Der Augenblick der Versunkenheit war zu Ende. Ihre Blicke trafen sich lange genug, um zu verstehen und Erleichterung zu verspüren. Sie sagte seinen Namen, lächelte und machte sich erneut an die Arbeit.

Er tat, was er konnte, um zu helfen, wobei er sich zunehmend bewusst wurde, dass er über keinerlei entsprechende Fertigkeiten verfügte. Er kannte nicht einmal den Namen der Instrumente oder die Art von Bandagen, die sie brauchte, und all das Blut und der Schmerz flößten ihm Grauen ein. Wie konnte jemand Tag für Tag, wochenlang, jahrelang, damit fertig werden… und trotzdem bei Verstand bleiben?

Er ging wieder nach draußen und entdeckte zu seinem Schrecken, dass sich die Schlacht genähert hatte. Es war nach fünf Uhr nachmittags, und die Streitkräfte der Union hatten den Henry Hill noch nicht einnehmen können – sie waren sogar noch weit davon entfernt. Die Rebellen stürmten den Hügel herunter, und der erbitterte Kampf kam immer näher. Staubwolken verschleierten die Details.

Er lief zurück in die Kirche.

»Der Kampf rückt näher heran!«, rief er schrill. »Wir müssen diese Männer evakuieren!«

Jetzt sah er auch den Chirurgen, bleich, der sich wie im Traum bewegte.

»Geraten Sie nur nicht in Panik«, schnappte er missmutig. »Es scheint näher zu sein, als es ist.«

»Kommen Sie doch und sehen Sie selbst, Mann!«, entgegnete Monk scharf, wobei er hörte, wie seine Stimme sich überschlug und fast außer Kontrolle geriet. »Die Rebellen kommen auf uns zu! Die Truppen der Union haben den Rückzug angetreten!«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, schrie der Arzt.

»Wenn Sie Ihre Hysterie nicht bezähmen können, sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen! Das ist ein Befehl, Mister! Gehen Sie mir aus dem Weg!«

Zitternd vor Angst und Scham ging Monk nach draußen. War er tatsächlich vor Hester in Panik geraten, die in diesem Inferno des Grauens so gelassen blieb?

Er musste sich beruhigen. Seine Beine bebten. Der Schweiß rann seinen Körper entlang. Welch eine Hitze! Es war wie in einem Backofen.

Nein, es war keine Panik. Nicht bei ihm! Aber die Truppen der Union waren in kompletter Auflösung begriffen, rannten auf ihn zu, warfen Waffen und Patronengürtel und alles von sich, was ihre Flucht behinderte.

Blindes Entsetzen trieb sie an.

Monk wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte zurück in die Kirche.

»Sie sind auf dem Rückzug!«, schrie er. »Sie stürmen alle auf die Straße Richtung Washington zu! Packt die Verwundeten und macht, dass ihr hier herauskommt. Jeder, der laufen kann, tue das!«

Hester fuhr herum und starrte ihn an. Ihre Augen waren ruhig und sahen ihn fragend an. Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie ihm Glauben schenkte.

»Raus!«, befahl sie. »Merrit, du bleibst bei mir!« Ihre Augen fixierten immer noch Monk. Sie hatte den Grund ihres Kommens nicht vergessen.

Draußen ertönte aus nächster Nähe ein Kugelhagel.

Als ob es der Beweis gewesen wäre, den er gebraucht hatte, setzte sich der Chirurg endlich in Bewegung. Er drängte sich an ihr vorbei und rannte zur Tür, die anderen folgten ihm auf den Fersen.

Draußen blieben sie abrupt stehen. Eine kleine Abordnung der Kavallerie der Rebellen war nur noch einen Steinwurf entfernt und näherte sich schnell. Eine Kugel pfiff an Hester vorbei und bohrte sich in die Kirchenwand. Holzsplitter schwirrten um sie herum. Einer streifte ihre Hand, und unwillkürlich japste sie nach Luft. Die Rebellen blieben stehen, und der Arzt trat vor, um mit dem Offizier zu sprechen.

»Dies ist ein Feldlazarett«, sagte er mit zitternder Stimme.

»Werden Sie uns freies Geleit gewähren, um unsere Verwundeten zu evakuieren?«

Der Offizier schüttelte den Kopf. »Tun Sie, was Sie können, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.« Er musterte ihn von oben bis unten. »Aber Sie selbst kommen mit uns… nach Manassas Junction.«

Der Arzt bettelte, aber die Rebellen ließen kein Argument gelten. Zehn Minuten später waren sie verschwunden und der Arzt mit ihnen. Monk, Hester, Merrit und die beiden Ordonnanzen blieben allein zurück, um den Verwundeten zu helfen.

Sie trugen Männer zu Karren und waren gerade zum Aufbruch in Richtung Centreville und Washington bereit, als ein Kavallerieoffizier der Union herangeritten kam. Sein Arm hing in einer Schlinge vor seiner Brust, und sein Waffenrock war dunkel vor Blut.

»Ihr müsst Euch westlich halten!«, rief er. »Ihr könnt nicht über den direkten Weg. Die Brücke über den Cub Run River ist blockiert. Auf ihr ist ein Karren umgestürzt, und überall lungern Zivilisten herum, Schaulustige aus Washington, die die Schlacht beobachten wollten, mitsamt Picknickkörben und allem. Jetzt werden sie überrannt, und nichts und niemand kommt mehr durch… nicht einmal mehr die Ambulanzen.« Er winkte mit seinem gesunden Arm. »Ihr müsst in diese Richtung.«

Er riss sein Pferd herum und preschte davon. Schnell verschwand er in den Staub und Rauchwolken.

»Hat die Union nun wahrhaftig verloren?«, fragte Hester mit kläglicher Stimme.

Monk stand neben ihr. In der momentanen Stille konnte er seine Antwort leise genug geben, um kaum von Merrit verstanden zu werden.

»Diese Schlacht, ja, wie es aussieht. Ich weiß allerdings nicht, was weiter geschehen wird.« Er konnte kaum glauben, was der Kavallerist gesagt hatte. »Wer, auf Gottes Erden, würde sich freiwillig dies alles ansehen?«

Doch der Schock, den er auf Hesters Gesicht zu sehen erwartete, zeigte sich nicht. Verwirrt starrte er sie an. Warum war sie nicht entsetzt?

Sie las seine Gedanken.

»Dasselbe passierte auch damals auf der Krim«, sagte sie traurig. »Ich weiß nicht, was das ist… ein Mangel an Vorstellungskraft vielleicht. Manche Menschen können sich nicht in den Schmerz anderer hineindenken. Wenn sie ihn nicht selbst spüren, dann ist er nicht real.« Dann setzte sie sich erneut in Bewegung, sammelte die wenigen Habseligkeiten zusammen, die am allerwichtigsten waren, und reichte jedem, der noch etwas tragen konnte, einige Feldflaschen.

Das Gewehrfeuer kam ständig näher, aber es war jetzt nur noch sporadisch zu hören.

Merrit stand starr vor Schrecken da. In der Ferne konnten sie den eigenartig hohen Schrei der Rebellen hören.

»Wo ist Trace?«, fragte Hester nervös.

Monk traf seine Entscheidung in dem Augenblick, in dem er zu sprechen begann. »Er hat sich in das Kampfgeschehen gemischt. Er ist verteufelt wild darauf, Breeland zu finden, was auch immer passieren mag. Wir werden uns nach Süden wenden müssen, wenn wir hier weg wollen. Nimm Merrit mit. Es wird schwer sein, aber ich denke, den Weg aus diesem Chaos hier zu finden und Breeland in den Reihen seiner eigenen Leute zu erwischen, ist nahezu unmöglich.«

Ihre Stimme versagte einen Augenblick lang. »In diese Richtung?« Sie warf einen Blick in Richtung des Gewehrfeuers. Aber schon während sie noch protestierte, konnte er in ihrem Gesicht lesen, dass sie die Wahrheit in seinen Worten begriff. »Wird es uns gelingen, Trace zu finden?«

Einen Moment lang erwog er, zu lügen. War es seine Verantwortung, sie zu trösten, sowie Stärke und Hoffnung zu zeigen, ungeachtet der Wahrheit? Sie hatten sich gegenseitig noch nie mit bequemen Ausreden verwöhnt. Tatsächlich hatten sie die ersten ein oder zwei Jahre ihrer Bekanntschaft damit verbracht, so schroff und brutal aufrichtig wie nur möglich zu sein. Jetzt weniger als das zu tun, wäre eine Absage an all das gewesen, was es zwischen ihnen an Wertvollem gab, eine schreckliche Herablassung, als wenn sie durch die Heirat mit ihm seine Freundschaft verwirkt hätte.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er mit einem Lächeln, das ein wenig irr und gaunerhaft wirkte.

Ein Funken von Humor – gleichzeitig ein Anflug von Furcht – in ihren Augen war ihre Antwort.

Er wandte sich mit dem sicheren Wissen um, dass sie ihm folgen und Merrit mitbringen würde. Wenn es sein müsste, würde sie sie mitzerren. Doch würde das Mädchen nicht freiwillig mitkommen, Breeland entgegen?

Die Schlacht war zur Flucht geworden, Männer rannten und stolperten in alle Richtungen, die sie vom Kampf weg und auf die Straße zurück nach Washington führen würde.

»Komm!« Hesters Stimme unterbrach seine Gedanken, er spürte ihren Arm auf seinem Ärmel und zuckte zusammen.

Sie warf einen Blick auf seinen Arm.

»Es ist nichts«, beeilte er sich zu sagen. »Nur ein Kratzer.«

Einen Moment lang kniff sie die Augen zusammen.

»William… wie konnten sie es nur so weit kommen lassen? Ich dachte, wir wären die Einzigen, die so… so arrogant stupide sind!«

»Offenbar nicht… arme Teufel«, antwortete er. Sie zog nicht weiter an seinem Arm. Jetzt war er es, der sich zum Gehen wandte, dabei nach ihrer Hand griff und sie hinter sich her zerrte, bis sie aufhörte, sich umzusehen.

Gemeinsam liefen die drei gegen den Strom der Flüchtenden, geradewegs auf die Truppen der Konföderierten zu. Dabei hielten sie ständig Ausschau nach Philo Trace, der sich mit seinem hellen Jackett und der hellen Hose von all dem Blau und Grau abheben musste.

Zweimal rief Monk flüchtenden Unionstruppen den Namen von Breelands Regiment zu. Das erste Mal schenkte ihm niemand Aufmerksamkeit; das zweite Mal deutete jemand wie wild mit dem Arm in eine unbestimmte Richtung. So gut sie es zu beurteilen vermochten, wandten sie sich in die angegebene Richtung.

Der Boden war von Körpern übersät. Den meisten Männern konnte nicht mehr geholfen werden. Einmal hörten sie jemanden schreien, woraufhin Hester so abrupt stehen blieb, dass sie Monk fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.

Ein Mann lag mit zwei zerschmetterten Beinen auf der Erde, unfähig, sich zu bewegen, um sich Hilfe zu suchen. Hester starrte ihn an. Monk wusste, dass sie entsetzt war und gleichzeitig versuchte zu beurteilen, was sie tun konnte, um ihm zu helfen – oder ob er ohnehin sterben würde.

Monk drängte es danach, seinen Weg fortzusetzen und nicht einen Blick auf das Leiden werfen zu müssen, das Blut und die Verzweiflung im Gesicht des Mannes. Aber obwohl ihn der Anblick abschreckte, wusste er doch, dass er unwiderruflich etwas Wunderbares verloren hätte, wenn Hester ihren Weg fortgesetzt hätte. Er hätte sie nicht weniger geliebt, aber die brennende Bewunderung, die er für sie hegte, hätte sich abgekühlt.

Tränen strömten über Merrits erschöpftes Gesicht. Sie war in das Reich der Albträume eingetreten, in dem eine Bewegung kaum mehr als Wirklichkeit wahrgenommen wurde.

Hester beugte sich zu dem Mann hinunter und begann mit ihm zu sprechen, ruhig und mit einer sachlichen Stimme. Sie versuchte, den zerrissenen, zerfetzten Stoff aus den Wunden zu ziehen, damit sie erkennen konnte, wie schwer der Knochen verletzt war.

Monk machte sich auf die Suche nach Gewehren, die flüchtende Männer zurückgelassen hatten. Er nahm zwei davon mit, brach die zersplitterten Schäfte ab und kehrte mit den langen, metallenen Läufen zurück und reichte sie Hester.

»Nun, schließlich sind sie doch noch zu etwas nutze«, sagte sie verbittert, während sie von ihren Röcken Stoffbahnen riss, mit denen sie die Wunden bandagierte und die Läufe als Schienen straff um die Beine band.

Monk hielt den Mann in seinen Armen und drückte ihm die einzige Wasserflasche, die sie noch hatten, sanft an die Lippen.

»Ich danke Ihnen«, flüsterte der Mann heiser. »Vielen Dank.«

»Wir können Sie nicht bewegen«, sagte Hester entschuldigend.

»Ich weiß, Ma’am…«

Es war zu spät, um über eine Lösung nachzudenken. Die konföderierten Soldaten hatten sie erreicht. Lange Musketen richteten sich auf sie, die erst gesenkt wurden, als die Soldaten sahen, dass sie allesamt unbewaffnet waren.

Der Verwundete wurde aufgehoben, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte, was mit ihm geschehen war. Er war ein Kriegsgefangener, aber wenigstens war er am Leben.

»Und wer sind Sie?«, fragte ein Offizier der Konföderierten.

Monk sagte ihm die volle Wahrheit, wobei er Merrit ignorierte. »Wir kamen, um einen Offizier der Union gefangen zu nehmen und ihn nach England zu bringen, wo er sich als Mörder vor Gericht zu verantworten haben wird.«

Merrit widersprach, aber ihre Stimme erstickte in Tränen, und es gab keinen Ort, an den sie sich hätte flüchten können. Durch das Wirrwarr der flüchtenden Unionstruppen konnte sie nicht zurück, und sie hatte keine Ahnung, was sie in Washington erwartete. Niemand wusste das. Ihre ganze Loyalität galt Breeland, und der befand sich irgendwo vor ihr. Und Monk tat alles, um ihn zu finden.

Der konföderierte Offizier dachte einen Augenblick lang nach, dann drehte er sich zu einem Mann um, der ein Stück hinter ihm stand. Anschließend blickte er Monk an.

»Gewiss ist es Ihnen ein großes Bedürfnis, seiner habhaft zu werden, wenn Sie zu einer Zeit wie dieser hierher kommen… oder wussten Sie etwa nichts von dem Krieg?«

»Wir wussten es«, entgegnete Monk grimmig. »Er war Waffenkäufer für den Norden und verhandelte wegen sechstausend erstklassigen Gewehren und einer halben Million Stück Munition. Der Waffenhändler und zwei seiner Männer wurden ermordet und die gesamte Ladung für den Norden gestohlen, obwohl sie den Südstaaten zugedacht war. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Ihrerseits wenig begeistert von ihm wären.«

Der Offizier starrte ihn an, und in seinem müden, von Pulverrauch und Blut verschmierten Gesicht stand das blanke Entsetzen. »Gütiger Herr Jesus!«, sagte er atemlos, während sich sein Blick in der Ferne verlor und auf das Gemetzel auf dem Feld richtete. »Ich hoffe, Sie finden ihn, und wenn Sie es tun, dann hängen Sie ihn hoch.

Versuchen Sie es in dieser Richtung.« Erst jetzt, als der Mann mit seinem Arm in eine Richtung deutete, entdeckte Monk die Bandagen und die heftige Blutung.

Sie dankten ihm und gingen in der angezeigten Richtung weiter. Monk ging voran, Hester einen Schritt hinter ihm. Mit einer Hand hielt sie Merrit fest und zog sie hinter sich her, für den Fall, dass sie in ihrem Entsetzen plötzlich stehen bleiben würde und verloren wäre.

Zuerst fanden sie Trace. Er war wegen seines weißen Hemds und der hellen Hose leichter zu erkennen, eine Kleidung, die keiner der anderen Uniformen glich. Er trug eine Pistole, und auch Monk hatte sich bei einem der Toten eine genommen.

Hier, auf dem anderen Ufer des Bull Run, war es ruhiger. Überall auf dem Boden lagen Tote. Es war immer noch heiß, und es wehte kein Lüftchen. Monk konnte das Surren der Fliegen hören, und er roch den Staub, das Kordit und das Blut.

Eine halbe Stunde später fanden sie Breeland. Er war benommen und sein Arm verkrümmt, als ob er sich die Schulter ausgerenkt hätte. Er war immer noch nicht willens, vielleicht auch unfähig, zu glauben, dass die Schlacht vorüber war und seine Männer geflohen waren. Er versuchte, den Verwundeten zu helfen, war jedoch zu verwirrt, um etwas Vernünftiges zu tun. Er war von konföderierten Truppen umzingelt, schien dies aber nicht zu bemerken. Die meisten Soldaten passierten ihn einfach. Möglicherweise hielten sie ihn für einen Feldarzt. Er trug keine Waffe und stellte keine Bedrohung für sie dar.

Trace stellte sich breitbeinig vor ihn, und die Pistole in seinen Händen zielte auf Breelands Brust.

»Lyman!« Merrit stürzte auf ihn zu. Hester hatte sie immer noch an der Hand gehalten, und die Kraft von Merrits Bewegung riss sie um ein Haar beide zu Boden. Letztlich fiel aber nur Merrit auf die Knie.

»Stehen Sie auf!«, sagte Trace voller Bitterkeit. »Ihm wird nichts geschehen.« Er zeigte auf den Mann, der auf der Erde lag, dann machte er eine Handbewegung in Hesters Richtung. »Sie wird die Blutung stillen, dann kommen Sie mit uns.«

»Trace?« Breeland schien verblüfft zu sein, ihn zu sehen. Er hatte noch keinen Blick auf Merrit geworfen.

Trace’ Stimme klang scharf, er war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Sein Gesicht war von Staub und Blut verschmiert, und Schweiß rann über seine Wangen.

»Dachten Sie etwa, wir würden Sie einfach laufen lassen?«, herrschte er ihn an. »Nach all dem… dachten Sie etwa, einer von uns würde Sie so davonkommen lassen?« Die Pistole in seiner Hand bebte. Einen schrecklichen Moment lang befürchtete Monk, Trace würde Breeland hier und jetzt erschießen.

Breeland war völlig verdutzt. Erst starrte er die Waffe in Trace’ Händen an, dann sah er in dessen Gesicht.

»Wovon sprechen Sie eigentlich?«, fragte er.

Merrit wirbelte zu Hester herum, aus jeder Faser ihres Körpers sprachen Trotz und das Bedürfnis nach Rechtfertigung.

Monk hielt seine Waffe auf Breeland gerichtet. »Stehen Sie auf«, befahl er. »Überlassen Sie es Hester, sich um den Soldaten zu kümmern. Sofort!«

Langsam gehorchte Breeland und stützte vorsichtig seinen verletzten Arm. Er griff nicht nach einer Waffe. Immer noch schien er völlig konsterniert zu sein. Monk war nicht sicher, ob es ihre Fragen gewesen waren, oder, was wahrscheinlicher war, ob für ihn das Unfassbare eingetreten war: Dass nämlich die Union die Schlacht verloren hatte und, was schlimmer war, weit schlimmer sogar, dass ihre Soldaten in Panik geraten waren und die Flucht ergriffen hatten. Dies lag nicht im Bereich dessen, was er sich je hätte vorstellen können. Männer, die für die große Sache eintraten, konnten etwas Derartiges nicht tun.

»Wir fanden Daniel Albertons Leiche und die seiner Wächter«, stieß Monk zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er sich an den Anblick der Toten erinnerte, der jedoch jetzt, inmitten des Gemetzels um ihn herum, fast trivial wirkte. Dennoch gab es einen moralischen Unterschied zwischen Mord und Krieg, auch wenn es keine physischen Unterschiede gab.

Breeland sah sie stirnrunzelnd an und blickte nun zum ersten Mal auch Merrit an. Zu seiner Verwirrung schien noch ein Anflug von Scham zu kommen.

»Papa wurde ermordet«, stieß sie hervor und musste die Worte regelrecht aus dem Mund zwingen. Doch ihre Emotionen waren aufgezehrt, weinen konnte sie nicht mehr. »Sie sind der Meinung, dass du es warst, weil sie deine Uhr im Hof des Lagerhauses fanden. Ich sagte ihnen, du seiest es nicht gewesen, doch sie glauben mir nicht.«

Breeland war fassungslos. Er sah sie der Reihe nach an, als erwartete er, dass wenigstens einer Merrits Worte abstreiten würde. Niemand sprach, nicht ein Auge zuckte.

»Und deswegen kamen Sie hierher?« Seine Stimme war brüchig. »Sie sind den ganzen langen Weg über den Atlantik…?« Er hob seinen gesunden Arm. »Hierher! Weil Sie denken, ich hätte Alberton ermordet?«

»Was haben Sie erwartet, dass wir tun würden?«, fragte Trace bitter. »Dass wir es als Kriegsopfer abtun und vergessen?« Er rieb sich mit dem Handrücken über das Gesicht und wischte den Schweiß aus seinen Augen. »Drei Männer sind tot, von den sechstausend gestohlenen Waffen will ich gar nicht sprechen. Ihre ach so wertvolle Union mag für Sie Rechtfertigung genug sein für diese Tat … für uns ist sie das nicht.«

Breeland schüttelte den Kopf. »Ich habe Alberton nicht umgebracht! Ich kaufte die Waffen rechtmäßig und bezahlte dafür.«

Unerklärlicherweise war es nicht diese Lüge, die Monk zur Weißglut trieb; es war die Tatsache, dass Breeland Merrit noch nicht ein Mal berührt hatte oder ihr gegenüber auf irgendeine andere Art und Weise sein Mitgefühl zum Ausdruck gebracht hatte. Ihr Vater war tot, und er war lediglich davon betroffen, dass man ihn dafür verantwortlich hielt.

»Wir kehren nach England zurück«, konstatierte Monk.

»Sie kommen mit uns und stellen sich der Anklage.«

»Das kann ich nicht! Ich werde hier gebraucht!«, erwiderte Breeland zornig.

»Sie können mit uns nach England zurückkehren, um sich dort vor Gericht zu verantworten, oder ich kann Sie hier und jetzt exekutieren«, sagte Trace mit fast tonloser Stimme. »Dann werden wir eben Merrit mitnehmen, die sich dann allein dem Gericht stellen muss. Sie kann dann ganz England mitteilen, welche noblen Herren die Soldaten der Union sind… sie schießen unbewaffnete Engländer in den Hinterkopf und überlassen es anschließend ihren Töchtern, die Schande auf sich zu nehmen.«

»Das ist eine Lüge!« Jetzt machte Breeland einen hastigen Sprung nach vorn, sein Gesicht war rot vor Zorn.

Trace zielte immer noch mit der Waffe auf ihn. »Dann kommen Sie mit und beweisen Sie es. Mir macht es nichts aus, wenn Sie bezweifeln, dass ich Sie erschießen würde.« Den Rest musste er nicht mehr hinzufügen, es stand ihm ins Gesicht geschrieben, und selbst Breeland, trotz seiner Wut und Bestürzung, hätte ihn nicht missverstehen können. Er trat einen Schritt zurück, drehte sich um und warf einen Blick auf den Bach und die Straße nach Washington. »Sie werden keinen Erfolg haben«, sagte er mit einem schwachen Lächeln, das fast sofort wieder verschwunden war.

»Niemand wird es in dieser Richtung versuchen«, sagte Trace, dessen Verachtung scharf wie ein Peitschenhieb klang. »Ihre braven Bürger der Union haben sich massenweise zu einem Sonntagnachmittagsausflug zusammengerottet, um die Schlacht zu beobachten, und blockieren nun die Straße. Wir werden uns nach Süden durch die Linien der Konföderierten bis Richmond schlagen, dann weiter nach Charleston. Dort wird Ihnen niemand zu Hilfe eilen. Tatsache ist, wenn dort jemand hört, was Sie getan haben, werden Sie sich glücklich schätzen können, wenn Sie es bis zur Küste schaffen. Wenn Sie jedoch der Auffassung sind, einem britischen Gericht Ihre Unschuld beweisen zu können, täten Sie gut daran, anstandslos mitzukommen und niemandem etwas zu sagen. Nordstaatler erfreuen sich in der Konföderation im Moment keiner großen Beliebtheit.«

Breeland warf einen letzten, schmerzlichen Blick auf seine Männer, deren Fluchtweg von Staubwolken markiert wurde, dann brach sein Widerstand in sich zusammen. Er holte tief Luft und folgte Monk. Hester und Merrit gingen nebeneinander her, ein paar Schritte von ihm entfernt, als ob sie sich gegenseitig stützen wollten. Trace folgte am Schluss und hielt immer noch die Waffe in der Hand.