KAPITEL 13

Weder der Polizei noch einem der anderen Männer, die Narraway auf die Fährte von Ayesha Sacharis Diener setzte, gelang es, eine Spur von Tariq El Abd zu finden. Der Sonntag war kalt und windig, als ob auch das Wetter eine bevorstehende Katastrophe gespürt hätte, so wie Pitt. Er saß den ganzen Tag im Hause herum, weil es für ihn nichts Nützliches zu tun gab. Die Verhandlung sollte am nächsten Vormittag weitergehen, und vermutlich würde dann der Diener wieder auftauchen, um vor der Öffentlichkeit die Wahrheit über das Massaker mit all seinen gewalttätigen und entsetzlichen Einzelheiten auszubreiten. Damit wären alle Aussichten dahin, in Ägypten je Frieden zu schaffen. Es würde mit Sicherheit das Ende der englischen Herrschaft und aller Vorteile bedeuten, die das britische Weltreich aus dem Besitz des Suezkanals zog.

Pitt hatte Charlotte berichtet, was er wusste, da es ihm sinnlos erschien, ihr etwas vorzuenthalten. Den einzigen Teil der Geschichte, der mit Gefahren verbunden war, hatte sie schon vor ihm gekannt.

Das sonntägliche Mittagessen, bei dem die Familie stets gemeinsam am Tisch saß, war die förmlichste Mahlzeit der ganzen Woche. Daniel und Jemima erschien es Angst einflößend und aufregend zugleich. Es war fast, als wären sie erwachsen, was sie sich zwar wünschten, denn es gehört zum Leben – aber doch nicht unbedingt so früh!

Nach der Mahlzeit zogen sich Gracie und die Kinder den Mantel an und verließen das Haus zu einem Spaziergang. Pitt setzte sich ans Kaminfeuer und tat so, als ob er läse, blätterte aber kein einziges Mal um, während sich Charlotte ein zu säumendes Laken vornahm. Auf diese Arbeit brauchte sie sich nicht zu konzentrieren, sie konnte sie mechanisch erledigen.

»Was wird er deiner Ansicht nach tun?«, brach sie das lastende Schweigen. »Als Zeuge der Verteidigung auftreten und sagen, dass er Lovat aus Rache getötet hat, weil er bei dem Massaker sämtliche Angehörigen verloren hat, oder etwas in der Art? Und das Gemetzel dann in allen Einzelheiten beschreiben?«

Er hob den Blick zu ihr. »Ich vermute etwas in der Art«, sagte er. Er konnte die Angst in ihrem Gesicht erkennen. Gern hätte er sie mit der Versicherung getröstet, es werde anders ablaufen, vielleicht sogar in der Hoffnung, dass sie etwas dagegen unternehmen konnten, doch gab es da keine Möglichkeit. Er verspürte den Wunsch, sie vor alldem zu bewahren, doch bedeutete es ihm zugleich viel, dass sie gemeinsam an diesem Fall arbeiteten. Sie verstand. Seine Dankbarkeit dafür, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die man nicht mit der Wahrheit konfrontieren darf, oder gar zu denen, die nichts davon wissen wollen, überwältigte ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, wie ein Mann die Einsamkeit ertragen sollte, die das bedeutete. Über ein Kind breitete man schützend die Hände, aber eine Frau war eine Gefährtin, mit der man Seite an Seite durchs Leben ging.

»Sicher wird Mr Narraway den Verteidiger mit den Zusammenhängen vertraut machen«, sagte sie mit fragendem Blick. »Oder ... oder wird der den Mann womöglich selbst in den Zeugenstand rufen?« Die Furcht vor dieser entsetzlichen Möglichkeit ließ sich an ihren Augen ablesen. Ein solcher Gedanke passte nicht im Geringsten zur Behaglichkeit des vertrauten Raumes mit den leicht verwohnten Möbeln, wo die Katzen nahe dem warmen Kamin schliefen.

Konnte es sein, dass sie mit ihrer Annahme Recht hatte? War dem Anwalt, der Ryerson verteidigt hatte, die Rolle des Dieners etwa von Anfang an bekannt gewesen? Pitt hatte nicht die geringste Ahnung. Der Gedanke, dass es sich so verhalten konnte, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Die Rücksichtslosigkeit und Brutalität, von der dieser Plan geprägt war, stand im krassen Gegensatz zu einer aus persönlichen Gründen begangenen Tat, die im Vergleich dazu beinahe verzeihlich war. Sofern diese Vermutung stimmte, hatte man es hier mit einem Abgrund von Verrat zu tun.

Kurz vor drei Uhr klingelte es an der Tür. Da Gracie mit den Kindern noch nicht zurück war, ging Pitt selbst hin. Sobald er Narraways Gesicht sah, wusste er, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste.

»Er ist tot«, sagte Narraway, bevor Pitt den Mund auftun konnte. Verwirrt fragte er: »Wer?«

»Der Diener!«, knurrte Narraway und trat an Pitt vorüber ins Haus. Dabei schüttelte er sich. Obwohl es im Augenblick nicht regnete, wehte ein kalter Wind, und dunkle Wolken schoben sich von Osten her über den Himmel. Angespannt sah er auf Pitt, in seinen Augen lag unübersehbar Beklemmung. »Die Wasserschutzpolizei hat die Leiche unter der London Bridge gefunden. Es sieht so aus, als hätte er Selbstmord begangen.«

Pitt war benommen. Narraways dürre Worte erschütterten ihn. War das die Lösung, oder wurde dadurch alles noch schlimmer?

»Aber warum nur?«, fragte er verständnislos. »Er hatte doch fast schon gewonnen! Morgen früh hätte er alle seine Ziele erreicht gehabt.«

»Und wäre mit dem Strang dafür belohnt worden«, sagte Narraway.

»Sie meinen, er hat die Nerven verloren?«, fragte Pitt ungläubig.

Narraways Gesicht war völlig ausdruckslos. »Das weiß Gott allein.«

»Aber es ergibt keinen Sinn«, begehrte Pitt auf. »Er hatte alles so eingefädelt, dass er nur noch als Überraschungszeuge in den Gerichtssaal zu kommen und der Weltöffentlichkeit über das Massaker zu berichten brauchte.«

Narraway runzelte die Brauen. »Sie haben gestern mit Ayesha Sachari gesprochen. Sie wusste, dass Ihnen nun klar war, wer Lovat getötet hatte ...«

»Selbst wenn sie das El Abd weitergesagt haben sollte«, fiel ihm Pitt ins Wort, »wäre das doch für ihn kein Grund gewesen, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte nicht die geringste Möglichkeit, seine Täterschaft zu beweisen. Er brauchte nur im Zeugenstand zu sagen, dass sie bei dem Massaker Angehörige, Freunde oder einen Liebhaber verloren hatte – wen auch immer – und Lovat erschossen hat, um sich zu rächen. Sie hätte das zehn Mal bestreiten und ihm die Tat zur Last legen können, es hätte ihr nichts genützt, denn es gibt keinerlei Beweise. Mit seinem Tod aber hat er sozusagen ein Geständnis abgelegt, außerdem bleibt das Massaker der Öffentlichkeit nach wie vor unbekannt.«

Sie standen in der Diele und wandten sich um, als sie hörten, wie sich die Wohnzimmertür öffnete. Besorgt sah Charlotte zu ihnen herüber. Sie erkannte Narraway in dem Augenblick, als er sich ihr zuwandte.

»Man hat Miss Sacharis Diener tot aufgefunden«, sagte Pitt.

Fragend sah sie von ihm zu Narraway, als wolle sie feststellen, ob man ihr etwas vorenthielt.

»Alles weist auf einen Selbstmord hin«, fügte Narraway hinzu. »Nur können wir uns keinen Grund dafür denken.«

Sie trat wieder ins Zimmer, und die Männer folgten ihr in die Wärme des Raumes. Pitt schloss die Tür und schürte das Feuer, dann legte er weitere Kohlen auf. Eigentlich war es nicht besonders kalt, aber die Helligkeit der Flammen schien ihm angenehm und wünschenswert.

»In dem Fall gibt es entweder etwas, was wir nicht wissen«, sagte Charlotte und setzte sich wieder zu ihrer Näharbeit auf das Sofa, »oder es war kein Selbstmord, und jemand hat ihn umgebracht.«

Pitt sah zu Narraway hin. »Ich habe im Gespräch mit Miss Sachari das Massaker nicht erwähnt. Falls es ihr vorher nicht bekannt war, weiß sie auch jetzt nichts davon.«

»Sie entschuldigen«, sagte Narraway und setzte sich leicht fröstelnd in Pitts Sessel, der dicht am Kamin stand. »Für so unvorsichtig hätte ich Sie auch nicht gehalten.«

»Welchen Grund könnte jemand haben, den Diener dieser Frau zu töten?«, fragte Charlotte und sah von einem zum anderen. »Niemand wird das für einen Unfall halten, und vermutlich sollte es auch nicht nach einem aussehen.«

»Stimmt, Mrs Pitt«, gab ihr Narraway finster Recht. »Die Tat muss jemand begangen haben, der nicht nur ihn gekannt hat, sondern auch seine Verbindung zum Mord an Lovat sowie den ganzen Plan, in Ägypten zum Sturm zu blasen.« Er sah Pitt an. »Nicht El Abd war der Drahtzieher in den Kulissen. Hinter ihm muss ein anderer gestanden haben, und der hat ihn aus einem uns unbekannten Grund getötet.« Unwillkürlich ballte er eine Hand zur Faust. »Aber warum nur? Und warum ausgerechnet jetzt? Die Leute hatten doch den Sieg in Reichweite!«

Pitt stand dicht vor dem Feuer, als friere auch er.

»Vielleicht hat El Abd der Mut verlassen, und er war nicht mehr bereit auszusagen«, gab er zu bedenken. Noch während er das sagte, merkte er, dass er selbst nicht daran glaubte. »Aber das ergibt auch keinen Sinn. Welchen Grund hätte er dafür gehabt? Er hatte nichts zu verlieren. Es war ja nicht so, als wenn er die Schuld auf sich nehmen wollte – seine Absicht war es lediglich, die Verbindung zwischen Miss Sachari und dem Ermordeten intensiver erscheinen zu lassen, als sie war, damit der Eindruck entstand, dass sie ein einwandfreies Tatmotiv hatte.«

Charlotte sah Narraway fragend an. »Wird das Ryerson helfen? Können Sie jetzt beweisen, dass El Abd der Mörder Lovats war, ohne das Massaker und die Hintergründe erwähnen zu müssen? Er konnte doch eine beliebig große Zahl von Motiven haben, und das schon seit Lovats Zeit in Alexandria ... nicht wahr?«

»Hm«, machte Narraway nachdenklich. »Ja, jetzt müsste es uns möglich sein, Ryerson und Miss Sachari vollständig zu entlasten – vorausgesetzt, wir belassen es dabei, den Tod des Dieners als Selbstmord aufzufassen.«

Ein hässlicher und quälender Gedanke meldete sich bei Pitt, doch er wies ihn von sich.

»Und werden Sie das tun?«, fragte Charlotte.

Pitt sagte nichts.

»Im Augenblick haben wir keine andere Möglichkeit«, gab Narraway zurück.

Charlotte holte Tee. Sie blieben noch etwa eine halbe Stunde lang sitzen, wärmten sich am Feuer und unterhielten sich über die neuesten Nachrichten. Unter anderem war kürzlich Lord Tennyson gestorben, und so überlegten sie, wer wohl sein Nachfolger als Hofdichter würde. Dann stand Narraway auf und ging.

Kaum war er fort, verließ Pitt, der immer unruhiger geworden war, das Haus ebenfalls, ohne Charlotte zu sagen, wohin er ging. So quälend war seine Angst, dass er sie nicht einmal ihr gegenüber hätte in Worte fassen können. Es war, als könnte er ihren Grund vor sich selbst ein wenig länger verbergen, wenn er nicht darüber sprach.

Am Südufer der Themse fuhr er mit dem Pferdeomnibus bis zum Hauptquartier der Wasserschutzpolizei. Der Wachtmeister, der Dienst hatte, teilte ihm mit, in welches Leichenschauhaus man den Toten gebracht hatte. Eine halbe Stunde später stand er an Tariq El Abds Leiche und sah in das angeschwollene, lila verfärbte Gesicht. Der Geruch nach Karbol und Tod würgte ihn im Hals, obwohl er ihm vertraut war. Schon immer war er der Ansicht gewesen, die fleckenlosen Kacheln des Raumes stünden im schreienden Gegensatz zu dessen Verwendungszweck. Der Kopf des Toten lag in einem sonderbaren Winkel, und Pitt konnte deutlich den gekrümmten Abdruck eines Seils erkennen, der sich am Hals bis zu einem Ohr emporzog.

Auf der Suche nach weiteren Spuren bewegte er den Kopf leicht. Er fand eindeutige Hinweise darauf, dass etwas den Mann am Schädel getroffen hatte. Vor seinem Tod?

Hinter sich hörte er Schritte und fuhr rasch herum, als hätte er ein schlechtes Gewissen oder als drohe ihm Gefahr. Sein Herz hämmerte in der Brust, und er bekam nur mit Mühe Luft.

Überrascht sah ihn McDade an.

»Sie sind ja ganz schön überreizt, was? Was wollen Sie denn wissen? Irgendwann in der vergangenen Nacht ist der Tod eingetreten. Über die Uhrzeit lässt sich schwer etwas sagen, weil das Wasser die Körpertemperatur beeinflusst hat.«

»Gezeiten?«, fragte Pitt.

»Habe ich mit einbezogen.« McDade presste die Lippen etwas fester aufeinander. »Mir ist schon seit geraumer Zeit bekannt, dass im Unterlauf der Themse das Wasser mit einfallsloser und vorhersagbarer Regelmäßigkeit steigt und fällt. Doch kann ich nicht sagen, ob ihn die Hecksee eines vorüberfahrenden Schiffs erfasst hat, ob das Wasser für einige Augenblicke höher gestiegen ist, als es im Fluss stand, oder ob er vielleicht ausgerutscht ist und nasser geworden ist, als er wollte.«

»Lässt sich mit Sicherheit sagen, dass er sich selbst erhängt hat?«, fragte Pitt. Obwohl das im Lichte dessen, was sie wussten, zu keinen weiteren Erkenntnissen geführt hätte, hoffte er inständig, McDade werde ihm sagen, dass es sich um Selbstmord handelte.

Ohne zu zögern, erklärte der Polizeiarzt: »Ganz und gar nicht. Er hat ein paar Stöße abbekommen, Blutergüsse unter der Haut, aber das kann ebenso gut unmittelbar vor dem Tod wie gleich danach gewesen sein. Das Blut hatte keine Zeit, sich irgendwo zu sammeln; man sieht kaum Spuren. Eine kleine Platzwunde in der Kopfhaut unter den Haaren, aber es lässt sich nicht sagen, ob das auf einen Schlag zurückgeht, den ihm jemand versetzt hat, oder darauf, dass er heruntergefallen ist. Es gibt ein Dutzend andere Möglichkeiten – das Wasser könnte ihn gegen die Brücke getrieben haben, oder ein vorüberfahrendes Boot, auch ein Stück Holz oder sonstiges Treibgut kann gegen ihn gestoßen sein.« Er zuckte die breiten Schultern. »Möglicherweise ist er ermordet worden, aber ich kann Ihnen nichts sagen, was als Beweis in der einen oder anderen Richtung verwertbar wäre. Tut mir Leid.«

Pitt zog das Laken zurück und betrachtete aufmerksam den Toten. Der Rumpf wies Spuren auf, die die Annahme zuließen, er sei wiederholt an raue Oberflächen gestoßen, wodurch die Haut an mehreren Stellen aufgerissen war. Pitt breitete das Laken wieder über den Toten und wandte sich ab.

»Kümmert sich jemand darum, dass er so beigesetzt wird, wie das sein Glaube verlangt?«, fragte er.

McDades Brauen hoben sich. »Gibt es niemanden, der eine nähere Beziehung zu ihm hat?«

»Nicht, soweit mir bekannt ist. Vermutlich wird das Gericht jetzt zu dem Ergebnis kommen, dass er Leutnant Lovat auf dem Gewissen hat.«

McDade schüttelte den Kopf, sodass sein massiges Kinn ins Zittern geriet. »Sie sagen das, als wären Sie nicht sicher, ob es stimmt«, stellte er fest.

»Bin ich aber«, sagte Pitt. »Nur weiß ich nicht, ob das die ganze Wahrheit ist. Danke.« Er beendete die Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. In McDades Gegenwart fühlte er sich unbehaglich  – dem Mann entging nichts. Auch wollte er noch einmal mit den Leuten von der Wasserschutzpolizei sprechen, nach der genauen Stelle fragen, an der man El Abd gefunden hatte, dem Zustand seiner Kleidung und den Tidenzeiten der vergangenen Nacht. Der Zeitpunkt des Todes war ihm wichtig – im Augenblick eigentlich wichtiger als alles andere, was ihm durch den Kopf ging.

Zwei Stunden später, um Viertel vor neun, war er im Besitz der Antworten. Er stand an der nördlichen Uferstraße und sah nachdenklich auf die schnell steigende Flut, während ihm der Wind den Mantel um die Beine schlug und ihm fast den Schal aus dem Kragen gerissen hätte. Auf der Themse wühlten Schiffe das Wasser auf – darunter Schleppkähne und ein einsamer Ausflugsdampfer, an dessen Deck lediglich ein halbes Dutzend Menschen zu sehen waren.

Bei Tariq El Abd war der Tod zwischen ein und fünf Uhr morgens eingetreten. Genauer konnte man sich bei der Wasserschutzpolizei nicht festlegen. Um diese Zeit lagen die meisten Menschen zu Hause im Bett. Pitt hätte beweisen können, dass er dort war, denn Charlotte wurde immer sofort wach, sobald er aufstand. Bei jemandem, der allein lebte, gab es solche Sicherheit nicht.

Er merkte, wie wenig er über Narraways Privatleben wusste. Offen gestanden hatte er sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Eigentlich wusste er so gut wie nichts über die Vergangenheit des Mannes, dessen Angehörige oder Überzeugungen. Narraway war so verschlossen, dass man es fast als geheimnistuerisch ansehen konnte. Mit Sicherheit wusste Pitt nur eines: Er war seiner Arbeit und der Sache, der er diente, leidenschaftlich ergeben. Außerdem bestand eine persönliche Beziehung zwischen ihm und Ryerson, die ihm tiefen Schmerz verursachte und über die er unter keinen Umständen zu reden bereit war. Genau das quälte Pitt jetzt so sehr, dass er nicht länger darüber hinweggehen konnte. Er musste umgehend handeln. Es blieb gerade genug Zeit, bevor das Gericht wieder zusammentrat – vorausgesetzt, Narraway war zu Hause.

Im selben Augenblick, als Pitt vor dem Haus eintraf, trat Narraway in seinem üblichen tadellosen grauen Maßanzug vor die Tür. Er blieb unvermittelt stehen und fragte mit bleichem Gesicht und weit geöffneten Augen: »Was bringen Sie?« Seine Stimme klang belegt.

Noch nie zuvor hatte sich Pitt so gegen ihn gestellt, ihn kein einziges Mal derart herausgefordert. Er wusste nur allzu genau, wie sehr er von ihm abhing, nicht nur, was seine Arbeit beim Sicherheitsdienst betraf – er war auch auf Anleitung und Schutz angewiesen, während er sich allmählich in seine neue Aufgabe einarbeitete. Aber die Gefühle, die jetzt in ihm tobten, rissen alle Erwägungen dieser Art mit sich fort.

»Drinnen!«, sagte er barsch.

Narraways Züge verhärteten sich. »Ich hoffe um Ihretwillen, dass es wichtig ist, Pitt«, sagte er, wieder ganz Herr der Lage. Die stählerne Kälte war in seine Augen zurückgekehrt.

»Das ist es«, presste Pitt zwischen den Zähnen hervor. Vielleicht wäre es klüger gewesen, trotz des kalten Windes und des feinen Nieselregens alles, was er zu sagen hatte, vor der Haustür zu sagen. Das ging ihm auf, während er Narraway ins Haus folgte und hörte, wie die Tür sich hinter ihnen schloss. Im Arbeitszimmer angekommen, drehte sich Narraway um und fragte: »Nun? Sie haben zehn Minuten. Danach gehe ich, ob Sie fertig sind oder nicht. Die Verhandlung fängt um zehn Uhr an. Ich gedenke, pünktlich da zu sein.« Im Morgenlicht, das durch das große Fenster hereinfiel, wirkte sein Gesicht aschfahl. Um die Augen und den Mund herum sah man die Fältchen, die Schlafmangel und die seelische Anspannung hineingegraben hatten.

»Aber der ganz besondere neue Zeuge ist doch tot«, gab Pitt zu bedenken. »Jetzt braucht man mit Enthüllungen über Ayesha Sacharis Motiv nicht mehr zu rechnen. Der Selbstmord des Dieners ist beinahe so gut wie ein Geständnis.« Er blieb vor der Tür stehen, als wolle er Narraway den Ausgang versperren.

»Ja, beinahe«, knurrte Narraway. »Trotzdem möchte ich den Freispruch mit eigenen Ohren hören. Also schießen Sie schon los.«

»Was glauben Sie, warum sich El Abd das Leben genommen hat?«, fragte Pitt. Er wäre lieber anderswo gewesen als ausgerechnet dort, hätte lieber etwas anderes getan als das, was er jetzt tat. »Er hatte den Erfolg doch greifbar vor sich.«

»Wir wissen, dass er schuldig war«, sagte Narraway, aber in seiner Stimme lag ein winziges Zögern. Vielleicht hätte es niemand außer Pitt gehört.

Pitt sah ihn fest an. »Und mit einem Mal hatte er Angst? Wovor? Dass man ihn auf dem Weg in den Gerichtssaal festnehmen und an der Aussage hindern würde?«

Narraway atmete betont langsam ein und aus. »Worauf wollen Sie hinaus, Pitt? Wir haben keine Zeit für Spielchen.«

Wenn er es jetzt nicht sagte, wäre der Augenblick vorüber, und er müsste für alle Zeiten mit dem Zweifel leben.

»Für uns ist diese Lösung äußerst praktisch«, erwiderte er. »Vermutlich hat das Suez gerettet.« Er hielt Narraways Blick ohne die geringste Unsicherheit stand.

Narrawaywar sehr bleich. »Vermutlich«, stimmte er zu. Wieder lief ein Schatten über sein Gesicht.

»Warum hätte der Mann so handeln sollen?«, fragte Pitt.

»Ich weiß nicht. Es ergibt keinen Sinn«, räumte Narraway ein, der nach wie vor reglos in der Mitte des Raumes stand.

»Wenn ich ihn ...«, sagte Pitt, »oder Sie ...«

Der letzte Tropfen Blut verschwand aus Narraways Gesicht, sodass seine Haut aussah wie graues Papier. »Gott im Himmel! Sie glauben doch nicht etwa, dass ich El Abd umgebracht habe?«

»Und, waren Sie es?«

»Nein«, sagte Narraway rasch. Er stellte Pitt die Gegenfrage nicht. Ihm war klar, dass er seine Frage ernst gemeint hatte und es ihm äußerst schwer gefallen war, sie zu stellen. Der Zweifel, der in ihm nagte, hatte ihn zu sprechen veranlasst. »Sind Sie denn sicher, dass man ihn ermordet hat?«

»Nicht hundertprozentig. Aber ich denke schon«, gab Pitt zurück. »Die Tat ist mit, nun, mit außergewöhnlichem Geschick durchgeführt worden, sodass sich unmöglich sagen lässt, ob er die Verletzungen unmittelbar vor dem Eintritt des Todes oder gleich danach erlitten hat ... Die Ursache kann ebenso gut eine Misshandlung gewesen sein wie ein zufälliges Anstoßen, als er fiel, oder der Anprall eines Bootes, dem er in die Quere kam. Es lässt sich nichts beweisen.«

Wieder legte sich der Schatten auf Narraways Züge. »Wer hätte ihn umbringen sollen, und warum?«

»Jemand, dem das Massaker bekannt ist«, sagte Pitt, »und der bereit ist, alles zu tun, damit die Wahrheit mit allen Folgen, die das mit sich bringen würde, nicht ans Licht kommt. Daher ist er nicht vor einem Mord zurückgeschreckt, und er hätte auch zugelassen, dass man Ryerson hängt.«

Narraway war aufrichtig entsetzt. »Und Sie denken, dass ich Ryerson hängen sehen möchte?«, fragte er mit ungläubiger Stimme.

»Nein«, entgegnete Pitt ehrlich. »Ich nehme an, dass Ihnen das gegen die Natur ginge. Vermutlich würde das Bewusstsein der Schuld Sie lebenslänglich foltern. Trotzdem würden Sie eher zulassen, dass man ihn hängt, als dass die Umstände des Massakers an die Öffentlichkeit gelangen und wir Ägypten verlieren.«

Narraway gab keine Antwort. Das Schweigen zwischen den beiden Männern war wie ein finsterer Abgrund.

»Brauchen Sie nicht die wenigen Minuten auf, die ich noch habe«, sagte Pitt, ohne sich von der Tür zu rühren. Er hatte nicht die Absicht, ihm mit Gewalt zu drohen, war nicht einmal sicher, dass er imstande wäre, sie anzuwenden. Narraway war zwar kleiner und leichter, aber drahtig und zäh, und möglicherweise hatte er in seiner Ausbildung Dinge gelernt, von denen sich Pitt nichts träumen ließ. Vielleicht war er sogar bewaffnet.

Dennoch war Pitt entschlossen, sich erst von der Stelle zu rühren, wenn er eine Antwort hatte. Nicht die Vernunft hielt ihn dort fest, sondern seine Gefühle. Er hatte nicht einmal überlegt, was er tun würde, falls Narraway El Abds Ermordung gestanden hätte.

Einen flüchtigen Augenblick lang brachen einige Sonnenstrahlen durch die Wolken und fielen auf den Fußboden.

»Es hat weder mit Ägypten zu tun noch mit dem Mord an Lovat oder dem Massaker«, sagte Narraway schließlich leise und mit ein wenig krächzender Stimme.

Pitt wartete.

»Verdammt noch mal! Die Sache geht Sie überhaupt nichts an, Pitt«, brach es aus Narraway heraus. »Sie liegt Jahre zurück. Ich ... ich ...« Wieder hielt er inne.

Pitt regte sich nicht.

»Vor gut zwanzig Jahren war ich mit der irischen Frage beschäftigt«, setzte Narraway erneut an. »Ich wusste, dass ein Aufstand geplant war – Gewalttat, Morde ...«

Mit einem Mal überlief es Pitt kalt.

»Ich musste unbedingt wissen, was da gespielt wurde«, fuhr Narraway fort. In seinen Augen, die Pitts Blick standhielten, war zu sehen, dass er sich elend fühlte.

»Ich hatte eine Liebschaft mit Ryersons Frau.« Seine Stimme zitterte. »Es war meine Schuld, dass sie erschossen wurde.«

Pitt hatte mit seiner Vermutung Recht gehabt – es war Schuldbewusstsein. Nur hatte es weder mit Lovat noch mit Ayesha Sachari oder etwas anderem von dem zu tun, was in jüngster Zeit vorgefallen war. Er glaubte ihm, er brauchte gar nicht darüber nachzudenken.

Narraway wartete, beobachtete nach wie vor Pitts Gesicht. Er würde keine Frage stellen.

Ganz langsam nickte Pitt. Er verstand. Mehr noch, er begriff mit einem Mal verblüfft etwas, was nie in Worte gefasst worden war und auch nie wieder zur Sprache kommen würde: Seine Meinung war Narraway wichtig.

»Gehen wir jetzt zum Gericht?«, knurrte Narraway. Er hatte in Pitts Gesicht gesehen, dass er ihm glaubte, und das genügte. Jetzt war die Qual der Anspannung vorüber, und er wollte der Sache ein Ende bereiten. Er hatte eine Schuld zu begleichen und brannte darauf, es endlich zu tun.

»Ja«, sagte Pitt, drehte sich um und ging dem Ausgang entgegen, ohne sich umzusehen, ob ihm Narraway folgte.

 

Im Schwurgerichtssaal von Old Bailey gab es eine ganze Reihe freier Plätze. Für das Publikum hatte der Prozess in den letzten Tagen deutlich an Spannung verloren. Wohl hatten die Zeitungen über Tariq El Abds Tod berichtet, doch da es lediglich geheißen hatte, dass es sich um einen unbekannten Ausländer handele, der offensichtlich Selbstmord begangen hatte, hatte niemand eine Beziehung zum Fall Ryerson hergestellt. Auch wenn das Urteil erst am folgenden Tag ergehen sollte, war allen klar, wie es ausfallen würde. Dem Strafverteidiger, Sir Anthony Markham, blieb die Aufgabe, Erklärungsversuche zu unternehmen und auf begründete Zweifel hinzuweisen. Er musste unbedingt den Anschein erwecken, sein Bestes gegeben zu haben.

Narraway und Pitt traten gerade in dem Augenblick in den Saal, als er sich zu seinem Schlussplädoyer erhob.

Der Richter warf Narraway wegen der Störung einen missbilligenden Blick zu. Er ahnte nicht, wer der Mann war, der da zu spät kam. Für ihn war es einfach jemand, der nicht wusste, was sich gehört.

Pitt zögerte. Zwar waren Markham und Narraway miteinander bekannt, doch wies keinerlei Regung auf dem Gesicht des Verteidigers darauf hin – eher war das Gegenteil der Fall. Markham schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und wandte sich wieder dem Richter zu.

Narraway blieb stehen. Wusste der Verteidiger von der Sache mit El Abd? Falls nicht, würde er begierig nach jedem Strohhalm greifen, der es ihm erlaubte, seinen Mandanten herauszuhauen. Dann fiel Narraway zu seinem Ärger ein, dass er nicht sicher war, ob El Abd als Zeuge der Anklage vorgesehen war, der das perfekte Motiv liefern sollte, oder als Zeuge der Verteidigung, dem die Aufgabe zugefallen wäre, der Angeklagten mildernde Umstände zu verschaffen.

Und wenn der Überraschungszeuge gar nicht El Abd war, sondern jemand anders? Es lief auf dieselbe Frage hinaus, auf die ihnen nach wie vor jede Antwort fehlte: Wer zog hinter den Kulissen die Fäden, wer war für Lovats Tod verantwortlich? Wer war der Mann, der Suez und die östliche Hälfte des Reiches in den Abgrund stürzen wollte? Stand womöglich einer der beiden Anwälte in seinem Sold? Wer hatte El Abd getötet, und warum?

Im Saal hörte man keinen Laut. Pitt sah sich um. Die Zuschauergalerie war zu etwa drei Vierteln gefüllt. Er entdeckte Vespasia. Sie trug einen sehr kleinen, dezenten Hut, möglicherweise aus Rücksicht auf jene, denen sie sonst die Sicht versperrt hätte. Das Sonnenlicht fiel auf ihr blasses Gesicht und blitzte in ihrem silbernen Haar auf. In der Reihe hinter ihr saß Ferdinand Garrick. Er hielt den Blick starr vor sich gerichtet, als warte er gebannt auf das, was sich gleich unten im Gerichtssaal abspielen würde.

Mit trübseliger Miene und erkennbar ohne jedes Interesse saßen die Geschworenen wartend da. Sie hörten nur noch zu, weil es von ihnen erwartet wurde.

Narraway ging auf Markham zu und blieb neben ihm stehen. Pitt folgte ihm mit einem Schritt Abstand.

»Der Tote unter der Themsebrücke war Tariq El Abd, der Diener Ihrer Mandantin«, sagte Narraway so leise, dass Pitt nur jedes zweite Wort mitbekam. »Er hat Leutnant Lovat getötet. Nicht nur hat sie das selbst bestätigt, es deckt sich auch glänzend mit den Ergebnissen unserer Nachforschungen.«

Markham stand regungslos da. »Wie günstig für Miss Sachari ... und natürlich auch für Mr Ryerson«, sagte er mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme. »Und warum hat er ihn getötet? Wissen Sie das etwa ebenfalls?«

»Nein. Es spielt aber auch keine Rolle.« Narraways Stimme war kalt wie Stahl. »Da gibt es viele Möglichkeiten – vielleicht ist der Mann seiner Tochter zu nahe getreten, seiner Schwester oder sogar seiner Frau! Beeilen Sie sich, Mann! Fragen Sie bei der Wasserschutzpolizei nach. Mein Mitarbeiter Thomas Pitt wird den Toten gern für Sie identifizieren.«

Markham warf einen Blick auf Pitt. Dieser nickte.

Markhams Gesicht verfinsterte sich. Er hasste es, gesagt zu bekommen, was er zu tun hatte, ganz gleich, von wem.

»Nun, Sir Anthony, gedenken Sie fortzufahren?«, fragte der Richter leicht verärgert.

Markham sah zu ihm auf, als schiebe er alles beiseite, was Narraway gesagt hatte. »Gewiss, Mylord. Mir sind soeben einige äußerst bemerkenswerte Vorfälle mitgeteilt geworden, die Leutnant Lovats Tod in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern Thomas Pitt in den Zeugenstand rufen.«

»Ich hoffe nur, dass das zur Sache gehört«, mahnte der Richter matt. »Ich dulde in meinem Gericht kein Theater.«

»Die Aussage wird zwar dramatisch sein, Mylord«, erwiderte Markham kalt, »aber bestimmt kein Theater.«

»Fangen Sie schon an«, beschied ihn der Richter.

»Ich rufe Thomas Pitt in den Zeugenstand«, sagte Markham mit lauter Stimme.

Narraway warf Pitt einen kurzen Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und ging die zwei Schritte bis zu einem freien Platz. Pitt durchquerte den Raum und erstieg die Stufen zum Zeugenstand.

Er nannte seinen Namen und seine Anschrift und wartete, dass ihn Markham nach El Abd fragte. Zum ersten Mal wurde er nicht als Polizeibeamter vernommen. Jetzt war er ein Niemand, dem keinerlei Dienstgrad oder berufliche Stellung zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh. Trotzdem war er die Ruhe selbst, da er seiner Antworten sicher war.

»Kannten Sie Tariq El Abd, Mr Pitt?«, fragte Markham.

»Ja.«

»In welcher Eigenschaft?«

»Als Diener Miss Sacharis in Eden Lodge«, gab Pitt zur Antwort. »Es war keine private Bekanntschaft.«

»Aber Sie haben längere Zeit mit ihm gesprochen?«, fasste Markham nach.

»Ja, insgesamt vielleicht eine Stunde.«

»Sie würden ihn also wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn seither gesehen?«

Die Geschworenen rutschten auf ihrer Bank hin und her.

Der Ankläger sprang auf. »Mylord, die Auffassung meines gelehrten Freundes von Dramatik unterscheidet sich grundlegend von der meinen. Noch nie im Leben habe ich etwas so unsagbar Ödes gehört. Welche Bedeutung kann es haben, ob dieser ... Herr ... mit Miss Sacharis Diener die Zeit verplaudert hat oder nicht?«

»Ich habe mit meinen Fragen lediglich festgestellt, dass Mr Pitt imstande ist, Tariq El Abd zu identifizieren, Mylord«, sagte Markham mit dem Ausdruck gekränkter Unschuld. Dann wandte er sich, ohne auf die Entscheidung des Richters zu warten, wieder an Pitt. »Wo haben Sie ihn gesehen, Mr Pitt, und wann?«

»Im Leichenschauhaus«, erwiderte Pitt. »Gestern.«

Man hörte förmlich, wie viele der Anwesenden den Atem anhielten.

Der Richter beugte sich vor und fragte verärgert und mit finsterer Miene: »Wollen Sie damit sagen, dass er tot ist, Mr Pitt?«

»Ja, Mylord.«

»Und was ist die Ursache seines Todes?«

Der Ankläger erhob sich. »Mylord, Mr Pitt hat keinerlei Nachweis medizinischer Kenntnisse geliefert. Er ist nicht befähigt, eine Aussage über die Todesursache zu machen.«

Der Richter wies den Einspruch zurück, doch war ihm klar, dass er das Argument nicht widerlegen konnte. Nach einem wütenden Blick auf den Vertreter der Anklage wandte er sich wieder Pitt zu. »Wo hat man den Mann gefunden?«

»Nach Auskunft der Wasserschutzpolizei unter der London Bridge. Erhängt«, gab Pitt zur Antwort.

»Selbstmord?«, bellte der Richter.

»Ich bin nicht befähigt, darüber eine Aussage zu machen«, erwiderte Pitt.

Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen, dann erhob sich ein nervöses Kichern.

Mit eisiger Miene sah der Richter zu Markham hin. »Sofern der Tod des Mannes etwas mit Ihrem Fall zu tun hat, sollten Sie fortfahren«, sagte er mit kaum verhülltem Groll. Sein Gesicht war gerötet. Er würde es Pitt nie vergessen, dass er die Anwesenden auf seine Kosten zum Lachen gebracht hatte.

»Gewiss, Mylord«, sagte Markham voller Energie. »Ich kann zwar nicht beweisen, dass es sich bei Tariq El Abds Tod um Selbstmord handelt, mir aber auch keine Möglichkeit denken, wie jemand zufällig mit einem Strick um den Hals unter einem der Bogen der London Bridge hängen könnte. Ich bin überzeugt, dass jedes beliebige aus zwölf ehrbaren Männern zusammengesetzte Schwurgericht im Lichte der möglichen Verantwortung dieses Mannes für den Tod von Leutnant Edwin Lovat mehr als einen begründeten Zweifel an der Täterschaft meiner Mandanten hegen wird. El Abd hatte jederzeit Zugang zu der Waffe, mit der Leutnant Lovat getötet wurde. Es war seine Aufgabe, sie zu reinigen! Und er hatte auf jeden Fall Gelegenheit, sie zum fraglichen Zeitpunkt und am fraglichen Ort zu benutzen. Die Gerechtigkeit, ja sogar die Vernunft, gebietet, dass Sie ihn für schuldig befinden! Sein Tod, der nahezu mit Sicherheit durch seine eigene Hand erfolgt ist, würde jede andere Möglichkeit als widersinnig erscheinen lassen.«

Schon war der Ankläger auf den Beinen und rief mit empörter Stimme: »Nicht der Diener der Angeklagten wollte die Leiche beiseite schaffen! Sollte sie Lovat nicht getötet haben – warum hat man sie dann im Garten bei der auf einer Schubkarre liegenden Leiche gefunden? So handelt keine Frau, die schuldlos ist.«

»So handelt eine Frau, die Angst hat«, hielt Markham sogleich dagegen. »Falls Sie einen Ermordeten sähen, neben dem Ihre eigene Waffe liegt, würden Sie da nicht auch versuchen, beide zu verstecken?«

»Ich würde die Polizei rufen!«, gab der Ankläger zurück.

»In einem fremden Land?«, höhnte Markham. »Wollen Sie sagen, dass Sie als Angehöriger einer anderen Rasse mit einer anderen Kultur, als jemand, der eine andere Sprache spricht, so großes Vertrauen in die dortige Justiz hätten?« Er sprach nicht weiter. Die Gesichter der Geschworenen zeigten ihm, dass sie ihn verstanden hatten.

Mit weit ausgebreiteten Armen wandte sich der Ankläger dem Richter zu. »Aber warum, Mylord? Welchen Grund könnte ein ägyptischer Diener haben, mitten in London einen englischen Diplomaten zu ermorden?«

Auf der Galerie entstand Unruhe. Ein elegant gekleideter schlanker Mann mit scharf geschnittenen Zügen hatte sich erhoben. Pitt war wie vom Donner gerührt. Trenchard! Vermutlich hatte er Heimaturlaub.

»Mylord«, sagte der Mann mit Hochachtung in der Stimme. »Ich heiße Alan Trenchard und bin im britischen Konsulat in Alexandria tätig. Ich glaube, dass ich die Fragen des Gerichts zu diesem Punkt beantworten kann, denn ich lebe und arbeite seit über fünfundzwanzig Jahren in Ägypten. Gewisse Dinge allerdings habe ich erst erfahren, nachdem Mr Pitt Alexandria verlassen hat, sodass ich sie ihm nicht sagen konnte, als er dort seine Nachforschungen betrieb.«

Der Richter runzelte die Stirn. »Falls Sir Anthony Sie als Zeugen aufzurufen wünscht, sind wir bereit, Sie im Interesse der Gerechtigkeit anzuhören.«

Markham hatte keine Wahl. Er erklärte Pitts Befragung für beendet, und Trenchard nahm dessen Platz im Zeugenstand ein.

Pitt setzte sich neben Narraway. Eine sonderbare Anspannung überkam ihn, als Trenchard seine Angaben gemacht und beschworen hatte.

Markham hingegen wirkte völlig gelöst. Seine Mandanten, die noch am Vortag mit einer sicheren Verurteilung hatten rechnen müssen, durften auf einmal auf einen Freispruch hoffen. Zwar hatte er selbst nichts dazu beigetragen – es waren einfach Umstände eingetreten, die sich seinem Einfluss entzogen –, doch wollte er das als seine Leistung herausstreichen. Es sollte ein bemerkenswerter Sieg für ihn werden.

»Mr Trenchard«, begann er. »Waren Sie mit Leutnant Lovat bekannt, als er in Ägypten gedient hat?«

»Nicht persönlich«, gab Trenchard zur Antwort. »Ich stehe im diplomatischen Dienst, er hingegen war beim Militär. Möglicherweise sind wir einander begegnet, ohne bewusst Kenntnis voneinander zu nehmen.«

Der Richter runzelte die Brauen.

Die Geschworenen sahen sich gelangweilt im Saal um. Noch waren sie sichtlich nicht gefesselt.

Pitt merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte und die Nägel sich in die Handflächen gruben.

Markham hielt die Augen auf den Zeugenstand gerichtet. »Kannten Sie den Toten, Tariq El Abd?«

»Ich habe viel über ihn gehört – von seinem letzten Arbeitgeber, einem mir gut bekannten Imam vor den Toren Alexandrias«, sagte Trenchard. Er stand sehr aufrecht da und umklammerte die Brüstung so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Pitt spürte, wie ihn eine Welle der Angst überflutete, für die er keinen vernünftigen Grund hätte nennen können. Er sah zur Anklagebank hinüber. Zwar wirkte Ryerson aufmerksam, doch zeigte er keine Gefühle. Noch wagte er nicht zu hoffen. Ayesha Sachari hingegen beugte sich weit vor und sah Trenchard mit vor Verblüffung aufgerissenen Augen an. Entsetzt begriff Pitt, dass sie ihn kannte, und zwar nicht nur dem Namen nach, wie er gesagt hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht.

Allmählich begannen auch die Geschworenen der Sache Aufmerksamkeit zu schenken und bemühten sich, jedes Wort mitzubekommen und möglichst auch etwas zu sehen.

Trotz der Wärme im Saal wurde Pitt im tiefsten Inneren von Eiseskälte erfasst. Ihm fiel ein, dass Trenchard gesagt hatte, er habe eine Ägypterin geliebt, die vor kurzer Zeit bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Gerade als säße er wieder mit schmerzenden Gliedern auf dem Erdboden und hörte das sanfte Plätschern des Nils in der Dunkelheit draußen, hörte er in seinen Gedanken die Stimme Ishaqs, der von seinem Vater, dem Imam, und dessen Alpträumen von Gemetzel und verbrannten Menschenleibern erzählte, von dem Diener, der ihn gepflegt, jedes seiner Worte in sich aufgenommen, all seinen Kummer und die Schuld mitbekommen hatte und der ebenfalls kürzlich gestorben war.

Mit einem Mal blitzte in seinem Bewusstsein ein entsetzlicher Verdacht auf. So musste es sein! Alles passte genau zusammen. Wenn Ayesha Sachari und Trenchards Geliebte ein und dieselbe Frau waren und auch Tariq El Abd und der Diener des Imam ein und derselbe Mann, war alles klar. Trenchard mit seiner schwärmerischen Liebe zu Ägypten wusste, was sie für ihre Heimat empfanden, wusste von dem Massaker und hatte sich die fehlenden Bestandteile der Geschichte nach und nach zusammengestückelt: die vier englischen Soldaten, die Ferdinand Garrick nicht nur deshalb aus Alexandria abkommandiert hatte, weil er sie schützen wollte, sondern auch, weil er – als seinem Land bis zur letzten Faser seines Wesens treu ergebener hoher Offizier – Großbritanniens Besitzungen in Afrika und im Osten bewahren wollte.

Pitt drehte sich zu Narraway um und flüsterte: »Ich vermute, dass er dem Gericht gleich die näheren Umstände des Massakers darlegen wird.« Er hörte, wie seine eigene Stimme bei diesen Worten zitterte. »Vielleicht war es von vornherein seine Absicht, die Zusammenhänge selbst zu enthüllen und damit die Dinge ins Rollen zu bringen. Auf die Weise gibt es niemanden, der ihm in die Parade fahren, die Nerven verlieren oder versagen kann! Er will nicht Ayesha Sacharis Motive darlegen, sondern die ihres Dieners. El Abd war nicht mehr der Drahtzieher, sondern nur der ideale Täter und Sündenbock. Sie hatte die Aufgabe, Ryerson mit in die Sache hineinzuziehen – weil dann sicher war, dass die Öffentlichkeit aufmerksam wird –, und El Abd sollte alle Schuld aufgebürdet bekommen!«

Alles Blut wich aus Narraways Gesicht. »Großer Gott im Himmel«, entfuhr es ihm. »Sie haben Recht ...«

Markham war noch immer dabei, Trenchard zu befragen.

»Was haben Sie über Tariq El Abd erfahren, was für den Tod von Leutnant Lovat von Bedeutung ist?«, fragte er mit gespanntem Unterton. Seine Augen waren geweitet; er war dem Sieg so nahe, dass er ihn bereits schmecken konnte.

»Ich kenne den Grund, aus dem er ihn getötet hat«, sagte Trenchard.

Unwillkürlich erhob sich Pitt halb. Zwar hätte er nicht sagen können, was er tun wollte, um zu verhindern, dass Trenchard weitersprach, doch konnte er das unmöglich zulassen. Bei dem auf seine Enthüllungen folgenden Blutvergießen würde nicht nur Ägypten verloren gehen, auch Britisch-Indien, Burma und die Gebiete weiter östlich würden davon mit in den Abgrund gerissen.

Trenchard sah seine Bewegung und wandte sich ihm mit einem Lächeln zu.

»Der Mann hat sämtliche Angehörige in einem grausigen –«, setzte er an.

Ein lauter Knall ertönte, dem sogleich ein zweiter folgte. Trenchard stürzte rücklings zu Boden.

Gerade, als Pitt herumfuhr, um festzustellen, woher die Schüsse gekommen waren, sah er, wie Ferdinand Garricks Kopf zu explodieren schien, während er selbst langsam zu Boden sank, den Revolver noch in der Hand. Fast im selben Augenblick brach sich das Echo des dritten Schusses im Verhandlungssaal.

Der Richter war wie gelähmt.

Markhams Beine gaben unter ihm nach, und er sank schwerfällig in sich zusammen.

Pitt trat vor, von Narraway gefolgt. Er ging zum Zeugenstand hinüber, wo Trenchard lag. Beide Kugeln hatten ihn in den Kopf getroffen und ihm das halbe Gehirn weggeschossen. Das letzte Kapitel des Massakers war abgeschlossen. Ägypten und dem Osten drohte keine Gefahr mehr.

Nach einem kurzen Blick auf die Leiche drehte sich Narraway um und sah zur Galerie empor, wo alle vor Garrick zurückwichen, der am Boden lag – nur nicht Vespasia. Ohne darauf zu achten, dass sein Blut ihr Kleid befleckte, kniete sie neben ihm und faltete seine Hände. Es war eine völlig sinnlose Geste, aber in ihr lag eine Würde, eine Hochachtung, als hätte sie mit einem Mal in diesem Mann etwas Wertvolles entdeckt; sie sprach von einem Mitgefühl, das über jedes Urteil erhaben war.

Auf der Anklagebank nahm Ryerson Miss Sacharis Hand. Es war alles, was er tun konnte, aber es genügte.

»Ich werde veranlassen, dass für Stephen Garrick gesorgt wird«, sagte Narraway leise. »Ich denke, das schulden wir seinem Vater.«

Pitt nickte, die Augen nach wie vor auf Vespasia gerichtet. »Ja«, sagte er mit tiefer Überzeugung. »Und Martin Garvie wird sich um ihn kümmern.«

Narraway hob den Blick zu Ryerson. Seine Anspannung ließ ein wenig nach, und eine Last in seinem Inneren schien ihm leichter zu werden.