KAPITEL 11

Als Pitt das Haus verließ, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. In Bedlam! Sofern Ferdinand Garrick seinen Sohn Stephen tatsächlich in diese Irrenanstalt hatte einweisen lassen, deren bloßer Name bei jedem, der ihn hörte, Schrecken hervorrief, musste er dafür einen sehr triftigen Grund gehabt haben. War der junge Garrick etwa geisteskrank? In seiner Personalakte beim Militär hatte sich kein Hinweis darauf gefunden. Ganz im Gegenteil waren ihm darin neben Mut und körperlicher Tüchtigkeit auch Initiative und geistige Beweglichkeit bescheinigt worden. Er war von den vier jungen Offizieren möglicherweise der vielversprechendste gewesen.

Mit großen Schritten strebte Pitt der Tottenham Court Road entgegen. Dort winkte er einer Droschke, stieg ein und nannte dem Kutscher Narraways Anschrift.

Sofern Garrick geistesgestört war, musste man sich fragen, was der Grund dafür sein konnte. Etwa der Alkohol- und Opiummissbrauch? Warum aber hatte er angefangen, im Übermaß zu trinken und eine Substanz zu rauchen, die Empfindungen und Wahrnehmungen verzerrte?

Oder hatten die jungen Männer in Ägypten etwas erlebt, was schicksalhaft in ihr weiteres Leben eingegriffen hatte? Yeats war durch seine tollkühne Verwegenheit ums Leben gekommen, Sandeman hatte sich bei Seven Dials in eine Art Exil zurückgezogen, und Lovat war einem Mord zum Opfer gefallen. Hatte Ferdinand Garrick seinen einzigen Sohn nach Bedlam geschickt, um ihn zu schützen? Aber wer trachtete ihm nach dem Leben? Etwa die Ägypterin? Sofern das der Fall war – warum nur, um alles in der Welt?

Auch wenn ihm dieser Gedanke in keiner Weise behagte, konnte er ihn nicht länger von sich weisen. Man musste sich den Fakten stellen, wie sie waren.

An seinem Ziel angekommen, stieg er aus, entlohnte den Kutscher und eilte durch den leichten Nebel, der in Fetzen umherwirbelte, über den nassen Gehweg. Seine Schritte riefen kein Echo hervor, alles klang gedämpft. An der Tür betätigte er den als Löwenkopf gestalteten Klopfer.

Ein grauhaariger Diener öffnete und trat, nachdem er ihn begrüßt hatte, beiseite, um ihn einzulassen. Weder brauchte er zu fragen, was Pitt wollte, noch, ob es dringend sei, denn die Antwort auf beide Fragen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Diener ging voraus durch das Vestibül, klopfte kurz an die Tür des Arbeitszimmers und öffnete.

»Mr Pitt, Sir«, kündigte er den Besucher an.

Narraway saß in einem Lehnsessel und hatte seine in Hausschuhen steckenden Füße auf einen Hocker gelegt. Auf einem Tischchen neben ihm stand ein Teller mit belegten Broten und ein Kristallglas mit Rotwein.

»Ich hoffe in Ihrem ureigenen Interesse, dass Sie nicht mit leeren Händen kommen!«, sagte er mit vollem Mund.

Der Diener zog sich zurück und schloss die Tür.

Pitt rückte sich den anderen Sessel zurecht und nahm Narraway gegenüber Platz.

Mit leisem Seufzen wies dieser auf eine Flasche Bordeaux, die auf der Anrichte stand. »Bedienen Sie sich. Gläser stehen im Schrank.«

Pitt stand auf, und während er den dunklen Wein eingoss, sah er zu, wie sich das Licht auf dessen Oberfläche und auf dem Glas spiegelte.

»Meine Frau hat herausbekommen, wo sich Martin Garvie und Stephen Garrick aufhalten«, sagte er.

Narraway bekam einen Hustenanfall. Offenbar hatte er sich verschluckt. Er beugte sich vor und griff nach dem Weinglas.

Zufrieden lächelte Pitt vor sich hin. Genau so hatte er sich das vorgestellt.

Mit einem Räuspern lehnte sich Narraway wieder zurück. »Tatsächlich?« , fragte er mit etwas weniger bissiger Stimme, als wenn er das Brot nicht in den falschen Hals bekommen hätte. »Es kommt mir ganz so vor, als wären Sie nicht Manns genug, Ihre Frau zu zügeln! Werden Sie mir sagen, wo die beiden sind, oder muss ich das erraten?«

Mit einem Glas in der Hand kehrte Pitt an seinen Platz zurück. Erst als er wieder saß, gab er Narraway Antwort. Ohne auf den Vorwurf einzugehen, den er erhoben hatte, sagte er: »Sie war noch einmal bei Sandeman.« Er schlug die Beine bequem übereinander und nippte an dem Wein. Er war ausgezeichnet, allerdings hatte er von Narraway auch nichts anderes erwartet. »Sie hat ihn dazu gebracht, ihr zumindest einen Teil der Wahrheit mitzuteilen. Garvie hat ihm anvertraut, dass es Garrick ausgesprochen schlecht geht. Er deliriert und leidet unter entsetzlichen Alpträumen. Sandeman ist so gut wie sicher, dass man ihn und seinen Kammerdiener nach Bedlam gebracht hat.« Ohne auf das Entsetzen in Narraways Gesicht zu achten, fuhr er fort: »Da Garvie ganz offensichtlich keine Möglichkeit hatte, seine Angehörigen zu benachrichtigen, muss man annehmen, dass er sich unter Umständen unfreiwillig dort aufhält. Das passt zu allen uns bekannten Tatsachen. Die Frage ist nur, ob Garricks Alpträume auf seinen Opiummissbrauch zurückgehen, auf eine Geisteskrankheit oder, was sehr viel schwerer wiegen würde, auf etwas, was während seiner Dienstzeit in Ägypten vorgefallen ist. Und –«

»Schon gut, Pitt!«, sagte Narraway scharf. »Sie können sich die Einzelheiten sparen.« Er erhob sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung, das angebissene Brot noch in der Hand. »Yeats ist tot, Lovat ermordet, Sandeman in der Gegend von Seven Dials untergetaucht, und jetzt sieht es ganz so aus, als ob Garrick im Irrenhaus wäre, von Alpträumen gemartert, die ihn um den Verstand gebracht haben.« Er nahm sein Glas und leerte es. »Wir sollten hingehen und feststellen, ob wir etwas Vernünftiges aus ihm herausbringen können.« Er sah auf das Glas in Pitts Hand.

Dieser war nicht bereit, einen so guten Tropfen stehen zu lassen. Zwar war es schade, den Bordeaux nicht zu genießen, aber dazu blieb jetzt keine Zeit mehr. Also leerte er das Glas und stellte es auf den Tisch.

An der Haustür schluckte Narraway das letzte Stück Brot herunter und nahm seinen Mantel vom Haken.

Mit großen Schritten eilten sie zum Ende der Straße und hielten dort eine Droschke an. Narraway warf dem Kutscher nur ein Wort zu: Bedlam.

Die Droschke fuhr an. Keiner der beiden Männer sagte etwas. An Ort und Stelle würde sich die Antwort auf die Frage, auf welche Weise sie Garrick aus der Anstalt herausholen wollten, von selbst ergeben.

Die Fahrt war ziemlich lang. Erst als sie über die Brücke von Westminster fuhren, von der aus man sehen konnte, wie der Schein der Straßenlaternen entlang der Uferstraße den Nebelschleier durchbrach und sich im Wasser der Themse spiegelte, brach Narraway das Schweigen.

»Befolgen Sie alles, was ich sage, und halten Sie sich bereit, notfalls rasch zu handeln«, wies er Pitt an. »Weichen Sie mir nicht von der Seite. Wir müssen unbedingt darauf achten, dass man uns nicht trennt. Unternehmen Sie auf keinen Fall spontan etwas, ganz gleich, was geschieht. Und lassen Sie sich nicht von Ihren Empfindungen beeinflussen, wie menschlich oder lobenswert auch immer sie sein mögen.«

»Ich war schon früher einmal in Bedlam«, gab Pitt knapp zurück. Bewusst unterdrückte er jede Erinnerung daran.

Als sie das jenseitige Ende der Brücke erreichten und die Droschke am Südufer der Themse die kleine Anhöhe emporfuhr, vorüber an der Eisenbahnlinie, die zum Waterloo-Bahnhof führte, warf Narraway einen Blick auf Pitt. An der Christuskirche bogen sie nach rechts ab in die Kennington Road, wo sich der gewaltige Komplex der Bethlehem-Irrenanstalten vor dem Nachthimmel abzeichnete.

Die Droschke hielt. Narraway forderte den Kutscher auf zu warten. Mit den Worten: »Sie bekommen den gleichen Betrag noch einmal, wenn Sie hier sind, sobald ich Sie brauche«, gab er ihm einen Sovereign, eine Goldmünze im Wert von einem Pfund. Finster fügte er hinzu: »Sollten Sie nicht hier sein, sorge ich dafür, dass Sie Ihre Lizenz verlieren. Warten Sie so lange, wie es nötig ist. Es kann rasch gehen, es kann aber auch mehrere Stunden dauern. Falls ich bis Mitternacht nicht zurück bin, gehen Sie mit dieser Karte zur nächsten Polizeiwache und holen ein halbes Dutzend uniformierte Beamte.« Er gab dem Mann, der jetzt mit großen Augen und erkennbar beunruhigt dasaß, seine Karte.

Dann überquerte er den Gehweg und schritt, von Pitt dicht gefolgt, die Stufen zum Haupteingang empor. Sogleich stellte sich ihnen ein Wachmann höflich, aber entschlossen in den Weg. Narraway teilte ihm mit, er handele im Auftrag der Regierung. Es gehe um die Sicherheit des Landes und er sei im Besitz einer Vollmacht der Königin, seine Aufgabe an jedem beliebigen Ort zu erfüllen. Einer der Insassen der Anstalt verfüge über dringend benötigte Informationen und er müsse unverzüglich mit ihm sprechen.

Pitt wurde bei der Vorstellung schwindlig, wie groß das Risiko war, das sie da auf sich nahmen. Er hatte als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Charlotte Recht hatte und Garrick sich hier befand. Sofern sie sich irrte und er in einer anderen Anstalt untergebracht war – beispielsweise in Spitalfields oder einer privaten Einrichtung –, würde ihm Narraway das nie verzeihen. Verblüfft ging ihm auf, dass er ihm geradezu blind vertraut hatte, und noch mehr wunderte ihn das, als ihm klar wurde, dass er letzten Endes auf Charlottes Angaben hin handelte.

»Ja, Sir. Und um wen handelt es sich?«, fragte der Mann. »Um einen jungen Herrn, der in der ersten Septemberwoche am frühen Morgen mit seinem Kammerdiener hier eingetroffen ist. Möglicherweise leidet er unter Delirien, Alpträumen und den Nachwirkungen von Opium. Sie können zu diesem Zeitpunkt keinesfalls mehr als einen solchen Fall aufgenommen haben.«

»Kennen Sie seinen Namen denn nicht, Sir?«, erkundigte sich der Mann mit finsterer Miene.

»Selbstverständlich kenne ich den«, blaffte ihn Narraway an. »Aber woher soll ich wissen, unter welchem Namen man ihn hergebracht hat? Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Mann! Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass ich im Auftrag Ihrer Majestät in vertraulichen Staatsangelegenheiten hier bin. Muss ich noch deutlicher werden?«

»Nein, nein, Sir. Ich ...«, stammelte der Wärter. Er wandte sich rasch um, schlurfte durch den Vorraum und bog dann in den ersten breiten Gang zur Rechten ein. Narraway und Pitt folgten ihm auf dem Fuße.

Pitts Mund war wie ausgedörrt, und er musste immer wieder schlucken, während sie durch leere Gänge mit fensterlosen Wänden schritten. Zu beiden Seiten waren alle Türen verschlossen. Er hörte unterdrücktes Stöhnen und lautes Gelächter, das sich immer mehr steigerte, bis es in einem irren Kreischen endete. Er wollte diese Eindrücke aus seinem Kopf vertreiben, brachte es aber nicht fertig.

Schließlich erreichten sie das Ende des Gebäudeflügels. Während der Mann nach den Schlüsseln an seinem Gürtel tastete, schien er zu zögern und blickte sich nervös nach Narraway um.

Dieser sah ihn eisig an, worauf der Mann mit dem Schlüssel ungeschickt an der Tür hantierte. Pitt spürte Narraways Ungeduld fast körperlich. Er wäre nicht im Geringsten erstaunt gewesen, wenn er dem Wärter den Schlüssel entrissen hätte.

Endlich gelang es diesem, die Tür aufzuschließen. Pitt hatte mehr oder weniger damit gerechnet, Schreie zu hören, und sich innerlich darauf eingestellt, dass ein Irrer an ihm vorbei das Freie zu gewinnen versuchte. Doch als sich die Tür öffnete, sah er lediglich zwei Strohsäcke am Boden. Auf dem einen hockte eine Gestalt, deren Gesicht in einer grauen Wolldecke verborgen war, aus der die Haare wirr hervorstanden.

Auf dem anderen Strohsack setzte sich ein Mann langsam auf und sah sie mit Augen an, in denen Angst und eine Art Verzweiflung lag, als erhoffe er sich vom Leben nichts mehr außer Qualen. Er wirkte durchaus wie jemand, der sich im Vollbesitz seiner Verstandeskräfte befindet.

»Wie heißen Sie?«, fragte Narraway und trat halb vor den Wärter, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf das Strohlager zuging. Seine Stimme klang fest, aber nicht schroff. Es war lediglich eine Aufforderung, ihm zu antworten.

»Martin Garvie«, sagte der Mann mit belegter Stimme. Seine Augen flehten, man möge ihm glauben, und die Angst, die darin lag, schnitt Pitt wie ein Messer in die Seele.

Mit maskenhaft starrer Miene holte Narraway tief Luft. Als er erneut sprach, zitterte seine Stimme leicht. »Und vermutlich ist das Ihr Herr, Stephen Garrick?« Damit wies er auf das elende Geschöpf, das nach wie vor auf dem anderen Strohsack kauerte.

Garvie nickte und sagte sogleich in bittendem Ton: »Tun Sie ihm nichts, Sir. Er meint es nicht böse. Er kann nicht anders. Er ist krank! Bitte ...«

»Ich habe nicht die Absicht, ihm etwas anzutun«, sagte Narraway und schluckte, als bekomme er nicht genug Luft. »Ich bin gekommen, um Sie beide an einen besseren Ort zu bringen ... wo Sie in größerer Sicherheit sind.«

»Das geht nicht, Sir!«, begehrte der Wärter auf. »Ich riskiere meine Stelle, wenn ich –«

Narraway fuhr herum. »Wenn Sie sich mir in den Weg stellen, riskieren Sie Ihren Hals!«, fuhr er ihn an. »Falls Sie darauf bestehen, kann ich gern warten, bis die Polizei hier ist, aber ich verspreche Ihnen, dass es Ihnen Leid tun wird, wenn Sie mich dazu zwingen. Stehen Sie nicht herum wie ein Holzklotz, sonst sperrt man Sie hier auch noch ein!«

Möglicherweise unter dem Eindruck der letzten Drohung begann der Mann vor Angst zu beben. »Nein, Sir! Ich schwöre, ich bin ein gesetzestreuer Bürger! Ich –«

»Schon gut«, schnitt ihm Narraway das Wort ab. Dann wandte er sich an Pitt. »Heben Sie ihn auf und helfen Sie ihm hinaus.« Er wies auf Garrick, der sich nicht geregt hatte, als sei die ganze Szene nicht bis in sein Bewusstsein gedrungen.

Pitt erinnerte sich an Narraways Aufforderung, ihm in allem zu gehorchen, und trat an das Lager. »Lassen Sie mich Ihnen aufhelfen, Sir«, sagte er freundlich und bemühte sich, wie ein Dienstbote zu sprechen, eine vertraute Gestalt, von der keinerlei Gefahr ausgeht. »Sie müssen aufstehen«, drängte er, schob dem Mann die Hände unter die Achseln und versuchte die völlig leblose und entsprechend schwere Gestalt emporzuheben. »Kommen Sie, Sir«, wiederholte er und zog mit aller Kraft.

Der Mann stöhnte, als leide er entsetzliche Qualen, und Pitt hielt inne.

Im nächsten Augenblick war Garvie neben ihm und beugte sich über seinen Herrn. »Er will Ihnen helfen, Sir«, sagte er eindringlich. »Er bringt uns an einen besseren Ort. Kommen Sie, rasch! Sie müssen aufstehen! Wir sind dann in Sicherheit!«

Garrick stieß einen erstickten Schrei aus, krümmte sich, riss die Arme hoch und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, als wolle er sich vor etwas schützen. Das kam für Pitt so überraschend, dass er nach hinten taumelte und gegen Garvie stieß. Er spürte Narraways Ungeduld nahezu körperlich.

»Bitte, Mr Stephen!«, sagte Garvie. »Wir müssen hier fort! Rasch, Sir!«

Das schien die gewünschte Wirkung zu haben. Wimmernd vor Angst stand Garrick unsicher auf, schwankte heftig, stolperte dann aber, von Garvie und Pitt gestützt, durch die Tür an Narraway und dem Wärter vorüber und machte sich auf den Weg durch den langen Gang.

Pitt wandte sich einmal um, um sich zu vergewissern, dass Narraway ihnen folgte. Dabei sah er, wie dieser etwas auf eine Karte schrieb und sie dem Wärter gab. Gleich darauf hörte er seine raschen Schritte hinter sich.

Pitt und Garvie strebten dem Ausgang entgegen, wobei sie den nahezu willenlosen Garrick halb trugen und halb zerrten. Mehr als einmal blieb Pitt stehen, weil er nicht wusste, ob es nach links oder rechts weiterging, bis ihm Narraway die Richtung wies. Angespannt lauschte er auf jedes Geräusch. Als er eine Tür zufallen hörte, fuhr er so heftig herum, dass Garrick fast zu Boden gestürzt wäre.

Knurrend beschleunigte Narraway den Schritt. Pitt fasste erneut nach Garrick, und sie umrundeten die letzte Ecke. In der Vorhalle standen zwei Wärter, bei deren Anblick Pitt instinktiv den Schritt verhielt, doch Garrick, der sie wohl nicht wahrgenommen hatte, schlurfte einfach geradeaus, sodass Garvie nichts anderes übrig blieb, als weiterzugehen, wollte er ihn nicht fallen lassen.

Rasch fasste Pitt wieder Tritt.

Die Wärter nahmen drohend Aufstellung. »He, Sie da! Wohin wollen Sie?«, rief einer von ihnen.

»Weiter!«, zischte Narraway hinter Pitts Rücken und wandte sich dann den Männern zu.

Pitt fasste Garrick fester und schob ihn mit beschleunigtem Schritt zur Tür hinaus, die Treppe hinab und geradewegs auf die wartende Droschke zu. Er hoffte inständig, dass Narraway mit den beiden Wärtern drinnen fertig wurde und bald herauskam, denn er wusste nicht, wohin Garrick und Garvie gebracht werden sollten.

Vor der Droschke blieb Garrick unvermittelt stehen. Er zitterte am ganzen Leib und stieß die Hände vor, als wolle er einen Angriff abwehren. Garvie legte ihm sanft, aber mit unwiderstehlicher Kraft die Arme um den Leib und hob ihn mit Pitts Hilfe in den Wagen. Ohne auf das Geschehen zu achten, blickte der Kutscher starr vor sich hin, als hinge sein Leben davon ab, dass er nichts sah und nichts hörte.

Pitt hielt Ausschau nach Narraway. Er sah keine Spur von ihm.

Jetzt begann Garrick um sich zu schlagen, vor Angst zu wimmern und zu schluchzen.

Pitt sprang in die Droschke, um zu verhindern, dass er davonlief oder Garvie in seinem Delirium verletzte. »Es ist alles in Ordnung, Sir«, sagte er eindringlich. »Hier sind Sie in Sicherheit! Niemand wird Ihnen etwas tun!« Die Worte blieben so wirkungslos, als hätte er sie in einer fremden Sprache gesagt.

Garvie vermochte seinen Herrn nicht länger zu bändigen. Im Schein der Straßenlaternen wirkte sein Gesicht bleich. In seinen Augen standen Panik und Hilflosigkeit. Wenn Narraway nicht bald kam, mussten sie ohne ihn abfahren.

Die Sekunden vergingen.

»Fahren Sie los, einmal um die Anstalt herum und wieder hierher zurück!«, rief Pitt dem Kutscher zu. »Vorwärts!«

Die Droschke ruckte so kräftig an, dass alle drei Fahrgäste gegen die Rücklehne geschleudert wurden. Einen Augenblick lang konnte Garrick vor Benommenheit nicht reagieren. Pitts Gedanken jagten einander, während er überlegte, wohin er ihn bringen könnte. Hoffentlich war Narraway da, wenn sie den Eingang wieder erreichten! Der einzige Ort, an dem er auf Hilfe und Geheimhaltung hoffen konnte, war sein Haus in der Keppel Street. Was aber konnten er und Charlotte mit einem Irren tun, der im Delirium tobte? Und wie mochte es um Garvie stehen?

Wohl hatte Narraway dem Kutscher gegenüber die örtliche Polizeiwache genannt, doch hielt Pitt das für einen Bluff. Ganz davon abgesehen, besaß er keinerlei Vollmacht, die er hätte vorweisen können, sodass damit zu rechnen war, dass man sie alle drei nach Bedlam zurückbrachte. Zwar käme Narraway dadurch frei, doch wäre die Situation damit schlimmer als zuvor, denn dann wäre die Verwaltung der Anstalt gewarnt.

Vermutlich blieb ihm tatsächlich nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren und Narraway vorerst seinem Schicksal zu überlassen.

Inzwischen hatten sie den Anstaltskomplex einmal umrundet und befanden sich wieder vor dem Eingang. Niemand war auf dem Gehweg zu sehen. Pitts Herz sank, ein kalter Schauer überlief ihn, und er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

»Zur Keppel Street!«, rief er dem Kutscher zu. »Ganz sacht und langsam.« Er spürte, wie der Wagen in der Kurve schwankte, als sie erst in die Brook Street und bald darauf in die Kennington Road einbogen, von wo es zurück zur Brücke von Westminster ging.

Die Fahrt erschien Pitt wie ein Alptraum. Mittlerweile war der Nebel so dicht geworden, dass die Pferde nur noch im Schritt gehen konnten. Allerdings hielt der Kutscher damit niemanden auf, denn es herrschte keinerlei Verkehr. Stephen Garrick ließ sich nach vorn sinken, weinte und stöhnte abwechselnd, als läge er im Sterben und litte unter Höllenpein. Hin und wieder versuchte ihn Garvie zu trösten, was ihm aber nicht gelang, und die Mutlosigkeit in seiner Stimme zeigte an, dass ihm die Vergeblichkeit seines Tuns bewusst war.

Verzweifelt überlegte Pitt, was er tun könnte, falls Narraway nicht bald auftauchte. Er malte sich immer entsetzlichere Bilder von dessen Geschick aus. Hatte man ihn wegen Entführung eines Insassen festgenommen oder ihn dort behalten, weil man ihn für verrückt hielt, und ihn in eine der Zellen mit den gepolsterten Wänden gesperrt? Oder hatte man ihm ein starkes Beruhigungsmittel gegeben, damit er endlich aufhörte zu behaupten, er sei bei klarem Verstand?

Jetzt lag die Themse hinter ihnen, und die Fahrt ging nordostwärts weiter. Einerseits wollte Pitt, dass sie möglichst schnell ihr Ziel erreichten, damit er bald in der Wärme und der Helligkeit seiner vertrauten Umgebung eintraf und zumindest Charlotte ihm helfen konnte. Auf der anderen Seite konnte es ihm nicht langsam genug gehen, damit Narraway eine Gelegenheit hatte, sie einzuholen und die Dinge wieder in die Hand zu nehmen.

Inzwischen befanden sie sich auf einer verkehrsreichen Straße. Gedämpft drangen das Klirren von Pferdegeschirr und der trübe Schimmer von Kutschenlaternen durch den Nebel, und undeutlich spiegelten sich Bewegungen in blank geputztem Messing.

Mit einem Mal richtete sich Garrick auf und schrie, als müsse er um sein Leben fürchten. Pitt erstarrte, dann ergriff er den Arm des Mannes und drückte ihn auf den Sitz zurück. Dabei wankte der Aufbau der Droschke so sehr, dass die eisenbeschlagenen Räder auf den glatten Pflastersteinen ins Rutschen gerieten und die Pferde, von Panik getrieben, im Galopp voranstürmten. Doch bald hatte der Kutscher die Gewalt über die Tiere zurückerlangt, und schon nach hundert Metern zockelte die Kutsche so gemächlich dahin wie zuvor.

Pitt versuchte, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Er hielt Garrick fest, der inzwischen unzusammenhängende Wortfetzen vor sich hin brabbelte, ohne im Geringsten auf Garvies Beruhigungsversuche zu reagieren.

Schließlich hielt der Kutscher an und teilte ihnen mit lauter und vor Angst zitternder Stimme mit, sie seien in der Keppel Street angekommen und sollten sein Fahrzeug so rasch wie möglich verlassen.

Weil Pitt so lange mit angespannten Muskeln gesessen hatte, war er völlig steif, sodass er beim Aussteigen fast zu Boden gestürzt wäre. Anschließend war er Garrick behilflich. Dieser ließ sich, scheinbar willenlos, auf das Pflaster sinken, sprang dann aber unvermutet auf die Füße und begann erstaunlich flink davonzulaufen. Sprachlos und starr sah Garvie das mit an, offenbar unfähig, sich zu rühren.

Pitt setzte dem Flüchtigen nach, doch war dieser schon ein ganzes Stück voraus. Gerade als Garrick die Straße überqueren wollte, ruderte er auf einmal haltlos mit den Armen in der Luft und stürzte dann mit dem Gesicht nach vorn auf das Pflaster. Es war so dunkel und neblig, dass Pitt den Grund dafür nicht erkennen konnte.

Kaum hatte er ihn erreicht, als er sich auf ihn warf. Garrick winselte wie ein verwundetes Tier, hatte aber entweder nicht die Kraft oder nicht den Willen zu kämpfen. Als Pitt ihn ziemlich unsanft vom Boden aufhob, sah er im Schlagschatten vor sich einen Mann stehen. Er setzte zu einer Erklärung der Situation an, da erkannte er zu seiner großen Erleichterung Narraway. Einen Augenblick lang versagte ihm die Stimme, und er stand einfach am ganzen Leibe zitternd da, ohne allerdings Garrick loszulassen.

»Nun denn«, sagte Narraway knapp. »Wenn wir hier schon vor Ihrer Haustür sind, dürfte es das Beste sein, hineinzugehen und miteinander zu reden. Mrs Pitt würde uns doch sicher eine Tasse Tee machen? Zumindest Garvie sieht aus wie jemand, der eine Stärkung brauchen kann.«

Wortlos folgte Pitt der eleganten Gestalt zur Haustür, schloss auf und trat vor Narraway ein.

Anfangs waren Charlotte und Gracie sprachlos vor Überraschung, dann aber verdrängte Mitgefühl das Entsetzen.

»Sie sind ja fast erfror’n!«, sagte Gracie aufgebracht. »Was is denn passiert?« Sie ließ den Blick von Garrick zu Martin Garvie und zurück schweifen. »Ich hol schnell ’n paar Decken. Setz’n Se sich schon mal!« Eilends verschwand sie durch die Tür.

Während Pitt Garrick auf einen der Stühle drückte, ließ sich Garvie auf einen anderen fallen, als könnten ihn seine Beine mit einem Mal nicht mehr tragen.

Charlotte schob den Kessel in die Mitte des Herdes und bat Pitt, das Feuer wieder in Gang zu bringen. Narraway beachtete niemand.

Gracie kehrte mit Wolldecken auf den Armen zurück. Nach kurzem Zögern legte sie Garrick eine davon um den zitternden Leib, dann wandte sie sich mit einer weiteren an Garvie. »Ich werd Tilda sag’n, dass Ihn’n nix fehlt«, sagte sie mit zweifelndem Ton in der Stimme. »Verletzt sind Se jed’nfalls nich, wie ich seh.«

Unvermittelt traten Garvie Tränen in die Augen. Er setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort heraus.

»Is schon in Ordnung«, sagte Gracie rasch. »Ich sag’s ihr. Was die sich freu’n wird, dass wir Se gefund’n ha’m!« Sie schloss sich mit ein, obwohl sie vermutete, dass Narraway nichts von ihrer Beteiligung an der Sache wusste. Das störte sie nicht weiter; ihr genügte das Bewusstsein, dass sie Tellman dazu gebracht hatte, der Sache nachzugehen. Unauffällig sah sie zu Narraway hinüber. Ihr Blick war so misstrauisch, als wäre er ein unbekanntes Insekt, von dem man nicht wissen konnte, ob es giftig war – zwar ganz interessant, aber man hielt sich besser fern, so gut es ging, solange man nichts Näheres wusste.

Charlotte, die den Tee machte, erkannte an Narraways Augen, dass ihn Gracies Verhalten zu belustigen schien. Sie hätte ihm nicht zugetraut, dass er die Wesensart der jungen Frau achtete. Dann merkte sie, dass er sie seinerseits unauffällig musterte, und spürte in seinem Blick sonderbarerweise etwas, was sie verlegen machte. Rasch wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu, goss dampfenden Tee in sechs Becher und rührte Zucker hinein. Einen füllte sie nur zur Hälfte, gab kalte Milch hinzu, damit das Getränk nicht zu heiß war, und brachte ihn Garrick, der stumpf vor sich hin starrte.

Sie hob den Becher an seine Lippen und neigte ihn ein wenig, damit er trinken konnte. Geduldig wartete sie, bis er erst einen Schluck und dann einen weiteren nahm.

Nachdem ihr Gracie eine Weile dabei zugesehen hatte, folgte sie ihrem Beispiel und half Garvie, doch fiel es diesem sehr viel leichter als seinem Herrn, selbstständig zu trinken.

So vergingen mehrere Minuten, in denen niemand sprach. Schließlich brach Narraway das Schweigen. Er rechnete damit, dass es unter Umständen die ganze Nacht dauern konnte, bis er von Garrick etwas Verwertbares erfuhr. Garvie hingegen brannte förmlich darauf zu sagen, was er wusste.

»Wie sind Sie in die Irrenanstalt von Bethlehem gekommen, Mr Garvie?«, fragte er unvermittelt. »Wer hat Sie dort hingebracht?«

Es kostete Garvie Mühe zu sprechen. Dunkle Ringe unter den Augen in seinem kalkweißen Gesicht zeigten, dass er übermüdet war. »Mr Garrick ist krank, Sir. Ich bin mitgegangen, damit er jemand hatte, der sich um ihn kümmerte. Ich konnte ihn unmöglich allein lassen, Sir.«

Narraways Gesichtsausdruck änderte sich nicht im Geringsten. »Und warum haben Sie nicht wenigstens Ihrer Schwester mitgeteilt, wohin Sie gegangen sind? Sie war krank vor Angst um Sie.«

Schweiß trat auf Garvies Stirn, und er drehte sich halb beiseite, als wolle er zu Garrick hinsehen, dann aber wandte er sich erneut Narraway zu. Mit kläglicher Stimme sagte er: »Damals habe ich nicht gewusst, wohin man uns bringen würde.« Er sprach so leise, dass man ihn kaum hörte. »Ich hatte angenommen, dass wir aufs Land fahren würden und ich ihr dann schreiben könnte. Nie im Leben wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass unser Ziel ... Bedlam sein könnte.« Er sagte den Namen der Anstalt, als sei er ein Fluch, den man in der Hölle hören und gegen ihn kehren könnte.

Endlich setzte sich auch Narraway hin. Pitt blieb schweigend stehen.

»War Mr Garrick geistesgestört, als Sie angefangen haben, für ihn zu arbeiten?«, fragte er.

Garvie zuckte zusammen. Vielleicht fürchtete er, sein Herr könnte sie hören.

»Nein, Sir«, sagte er empört.

Narraway lächelte geduldig, und Garvie errötete, ließ sich aber zu keiner weiteren Erklärung herbei.

»Was ist mit ihm geschehen? Ich muss das wissen. Möglicherweise schwebt er in Lebensgefahr.«

Es entging keinem von ihnen, dass Garvie nicht gegen diese Äußerung aufbegehrte. Charlotte sah den Ausdruck von Unsicherheit und Zweifel auf Narraways Zügen. Ein Blick auf Pitt zeigte ihr, dass auch er verstand.

Garvie zögerte.

Pitt trat vor. »Ich bringe Mr Garrick in einen Raum, wo er sich eine Weile hinlegen und ausruhen kann.«

»Bleiben Sie bei ihm«, sagte Narraway mit Nachdruck.

Pitt gab keine Antwort. Es gelang ihm, Garrick mit beträchtlicher Mühe auf die Füße zu bringen, dann führte er ihn mit Gracies Hilfe aus der Küche.

»Was ist mit ihm geschehen, Mr Garvie?«, wiederholte Narraway seine Frage.

Der Kammerdiener schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Sir. Er hat immer ziemlich viel getrunken. Alles ist im Laufe der Zeit schlimmer geworden, als wenn in ihm etwas übergekocht wäre.«

»In welcher Hinsicht wurde es schlimmer?«

»Er hatte grauenhafte Träume.« Garvie erschauderte. »Viele feine Herren, die trinken, träumen schlecht, aber nicht so wie er. Er hat mit weit aufgerissenen Augen im Bett gelegen und laut geschrien. Es ging um Blut ... und Feuer ... das an seiner Kehle brannte, sodass er keine Luft kriegte.« Garvie zitterte. »Ich musste ihn dann schütteln und laut rufen, damit er zu sich kam. Danach hat er geweint wie ein kleines Kind. So was hab ich noch nie erlebt.« Sein Blick flehte Narraway an, ihn nicht weiter zu bedrängen.

Charlotte war die Szene zuwider, doch wusste sie, dass es unerlässlich war, die Befragung fortzuführen.

Zögernd sah Narraway sie an. Entschlossen erwiderte sie den Blick. Sie würde den Raum auf keinen Fall verlassen.

Er nahm es hin und wandte sich erneut an Martin Garvie.

»Ist Ihnen bekannt, welches Ereignis diese Träume ausgelöst haben könnte?«

»Nein, Sir.«

Narraway entging die leichte Unsicherheit nicht, mit der Garvie das sagte. »Aber Sie wissen, dass da etwas war?«

Garvies Stimme war nahezu unhörbar. »Ich glaube, Sir.«

»War Ihnen Leutnant Lovat bekannt, der in Eden Lodge umgebracht wurde? Oder Miss Sachari?«

»Die Dame kenne ich nicht, Sir, aber ich weiß, dass mein Herr und Mr Lovat miteinander bekannt waren. Als die Nachricht von dem Mord bekannt wurde, hat ihm das mehr zugesetzt als alles, was ich bis dahin bei ihm erlebt hatte. Ich ... ich glaube, darüber hat er den Verstand verloren.« Es fiel ihm schwer, das zu sagen, und es war ihm erkennbar unangenehm. Zwar war es allen bekannt, trotzdem sah er darin einen Vertrauensbruch gegenüber seiner Herrschaft.

Mitgefühl blitzte in Narraways Augen auf, ehe er scheinbar ungerührt fortfuhr: »Dann dürfte es wohl an der Zeit sein, dass wir mit Mr Garrick sprechen und genau feststellen, was ihn so quält.«

»Nein, Sir!« Martin war aufgesprungen. »Bitte ... er ist doch ...«

Narraway brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

Charlotte nahm sacht seinen Arm. »Wir müssen es wissen«, sagte sie. »Das Leben eines Menschen hängt davon ab. Sie können uns helfen –«

»Vielen Dank, Mrs Pitt«, schnitt ihr Narraway das Wort ab. »Die Sache wird äußerst schmerzlich sein. Es ist nicht nötig, dass wir Sie damit belasten.«

Mit der Andeutung eines höflichen Lächelns sah Charlotte zu ihm hin. »Ihre Rücksicht auf meine Gefühle ehrt Sie.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war kaum spürbar. »Aber da ich die Geschichte bereits gehört habe, ist sie für mich weniger überraschend als für Sie. Ich bleibe.«

Erstaunlicherweise ließ er es dabei bewenden. Gemeinsam mit Garvie suchten sie das Wohnzimmer auf, wo Pitt und Gracie ein Auge auf den halb bewusstlos auf dem Sofa liegenden Stephen Garrick hatten.

Es kostete sie die ganze Nacht, diesem Wrack von einem Menschen die entsetzliche Wahrheit zu entlocken. Mitunter ließ er sich aufsetzen und sprach nahezu zusammenhängend, brachte vollständige Sätze heraus. Dann wieder lag er zitternd und schweigend da, zusammengekrümmt wie ein Kind im Mutterleib. Wenn er sich auf diese Weise in sich selbst zurückzog, hatte nicht einmal Garvie Zugang zu ihm.

Charlotte nahm ihn in die Arme, wenn er weinte, und wiegte ihn, während das Schluchzen seinen Körper erschütterte.

Voll Stolz sah ihr Pitt zu. Unwillkürlich musste er an die wohlbehütete junge Dame denken, die sie gewesen war, als er sich in sie verliebt hatte. Das Mitgefühl, das sie hier zeigte, ließ sie noch schöner erscheinen, als er sie sich je erträumt hatte.

Aus Garricks Worten ergab sich, dass die vier jungen Offiziere beinahe gleich zu Anfang ihrer Stationierung in Ägypten Freundschaft miteinander geschlossen hatten. Da sie aus einem ähnlichen familiären Hintergrund kamen und ähnliche Interessen hatten, war es kein Wunder, dass sie den größten Teil ihrer dienstfreien Zeit miteinander verbrachten.

Zur Tragödie war es gekommen, als sie erfuhren, dass ein von den Christen verehrter Schrein am Ufer des Nils auch den Moslems heilig war.

Da diese Menschen ihrer Ansicht nach Christus leugneten, hatten sie eines Abends unter dem Einfluss des Alkohols beschlossen, den Schrein in den Augen der Moslems zu entweihen, damit ihn keiner von ihnen je wieder betrat. So hatten sie voll religiösem Eifer ein Schwein entwendet und inmitten des Heiligtums abgestochen, wobei sie das Blut des Tieres überallhin verspritzten. Da den Moslems Schweine als unrein gelten, durften sie sicher sein, diese auf alle Zeiten von dort vertrieben zu haben, denn sie würden fortan Ekel vor dieser Stätte empfinden.

An dieser Stelle seines Berichts bekam Garrick einen solchen Tobsuchtsanfall, dass es nicht einmal Narraway mit seiner Engelsgeduld gelang, noch etwas Sinnvolles aus ihm herauszubringen. Anschließend sank er in sich zusammen und lehnte sich leicht an Charlotte, die neben ihm auf dem Sofa saß. Nur seine weit geöffneten Augen, mit denen er auf irgendein entsetzliches Bild in seinem Gehirn blicken mochte, zeigten, dass noch Leben in ihm war.

Die gellenden Schreie, die er ausgestoßen hatte, würde sie lange nicht vergessen.

Sie lächelte Narraway ein wenig befangen zu. »Wahrscheinlich ist es für Sie wichtig, genauer zu wissen, was vorgefallen ist?«

Seine Augen weiteten sich kaum wahrnehmbar. »Sandeman?«

»Sie müssen wohl, nicht wahr?«

»Ja. Tut mir Leid.« Ihr war klar, dass er das aufrichtig meinte.

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Garrick zu, sprach ihn aber nicht an, da er ganz offensichtlich nichts von dem mitbekam, was gesagt wurde. Stattdessen legte sie ihm einfach eine Hand auf die Schulter und strich ihm mit der anderen über das Haar. Was auch immer er getan hatte, es quälte ihn mehr, als er zu ertragen vermochte. Sie sah keinen Grund, ihn zu verurteilen, und nichts, was sie oder sonst jemand tun konnte, wäre für ihn eine entsetzlichere Strafe als die, unter der er bereits litt.

Narraway wandte sich an Pitt. Es war fast vier Uhr morgens. »Hier können wir nichts mehr für ihn tun. Ich kenne ein Haus, wo er in Sicherheit ist, bis wir etwas finden, wo er auf Dauer bleiben kann.«

»Wird man ihm dort helfen?«, fragte Charlotte, während sie ihnen die Haustür aufhielt und Garvie den Männern half, Garrick hinauszubringen, wobei er ununterbrochen sanft auf ihn einredete. Es war unübersehbar, dass Garrick das Haus nicht verlassen wollte. Weder Narraways Versicherungen, man werde ihn auf keinen Fall nach Bedlam zurückbringen, noch Garvies Versprechen, bei ihm zu bleiben, vermochten ihn zu beruhigen. Erst als sie auf dem Gehweg standen und Garrick sich noch einmal verzweifelt umsah, begriff Narraway, dass er nicht das Haus meinte, sondern Charlotte. Der Anflug eines tiefen Mitgefühls trat auf seine Züge, verschwand aber sogleich wieder.

Charlotte wandte sich um und schloss die Tür. Dann lehnte sie sich dagegen und rang nach Luft. Sie kam sich wie eine Verräterin an Garrick vor, weil sie zugelassen hatte, dass man ihn fortbrachte. Alle Vernunftgründe, die ihr sagten, dass es keine andere sinnvolle Lösung gab, vermochten die Erinnerung an die Angst in seinen Augen nicht zu tilgen, an die Verzweiflung, die ihn erfasst hatte, als er begriff, dass sie ihn nicht begleiten würde.

»Geh’n Se noch mal zu dem Priester?«, fragte Gracie ganz ruhig, als sie in die Küche zurückgekehrt waren. »Se müss’n doch die Wahrheit rauskrieg’n.«

»Ja«, sagte Charlotte zögernd. »Sicher steckt noch sehr viel mehr dahinter. Das kann gar nicht anders sein.« Sie fuhr sich mit der Hand über die müden Augen. »Jedenfalls kannst du deiner Freundin Tilda sagen, dass ihr Bruder in Sicherheit ist.«

Um halb zehn kehrten Pitt und Narraway müde und ausgelaugt in die Keppel Street zurück. Sie frühstückten rasch, dann führte Charlotte sie in die Gegend von Seven Dials, zeigte ihnen den Weg durch die Gasse und in den Hof. Diesmal fand sie die richtige Tür ohne die geringsten Schwierigkeiten, und schon bald standen sie vor dem niedergebrannten Kaminfeuer. Sandeman stierte mit bleichem Gesicht an ihnen vorbei in die Ferne. In seinen Augen lagen Qual und Elend.

Obwohl ihm vermutlich klar gewesen war, nachdem er ihr von Garricks Alpträumen berichtet hatte, dass sie zumindest in Begleitung ihres Mannes zurückkommen würde, hatte Charlotte unwillkürlich das Gefühl, auch ihn hintergangen zu haben. Sie sah zu Pitt hinüber und erkannte Mitgefühl auf seinen Zügen. Als sich ihre Blicke trafen, lag in seinen Augen nicht der geringste Vorwurf. Er begriff den Kummer, den sie empfand, wie auch den Grund dafür.

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich ab. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich ihren Gefühlen hinzugeben; sie waren hier belanglos.

»Ich muss unbedingt wissen, was geschehen ist, Mr Sandeman«, sagte Narraway ohne die geringste Nachgiebigkeit in der Stimme. »Ganz gleich, was ich empfinde oder wünsche – hier kommt es auf nichts anderes als die Wahrheit an.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Sandeman. »Eigentlich musste man damit rechnen, dass die Sache eines Tages ans Licht kommen würde. Die Toten kann man begraben, nicht aber die Schuld.«

Narraway nickte. »Über das Schweineopfer und die Entweihung des Heiligtums sind wir im Bilde. Was ist danach geschehen?«

Sandeman sprach, als sei der Schmerz nach wie vor sein ständiger Begleiter und fresse an seinen Eingeweiden. »Eine einheimische Frau, die von der Pflege eines Kranken zurückkehrte, hat den Schein unserer Fackeln bemerkt und ist gekommen, um nachzusehen. Sie hat aufgekreischt, als sie sah, was geschehen war.« Unwillkürlich hob er die Hände, als wolle er seine Ohren bedecken, um das Schreien nicht hören zu müssen. »Lovat hat sie gepackt. Sie hat sich gewehrt.« Seine Stimme war kaum hörbar. »Sie hat immer weiter geschrien. Es war grauenvoll ... man konnte hören, dass sie Angst hatte. Er hat ihr das Genick gebrochen. Ich glaube allerdings nicht, dass es mit Absicht geschah.«

Niemand unterbrach ihn.

»Aber man hatte sie gehört«, flüsterte er. »Andere sind gekommen  – alle möglichen Leute ... Sie haben die Tote da liegen sehen... und Lovat ...«

Mit einem Mal schien Eiseskälte durch den Raum zu wehen.

»Sie sind auf uns zugekommen«, fuhr Sandeman fort. »Ich weiß nicht, was sie wollten, aber wir sind in Panik geraten. Wir ... wir haben sie erschossen.« Seine Stimme brach. Er versuchte noch etwas zu sagen, aber die Szene in seinem Kopf erstickte wohl alles andere.

Es kam Charlotte vor, als bekomme sie keine Luft.

»Man hat diese Menschen aber nicht gefunden«, sagte Narraway.

»Nein. Wir haben Feuer an das Gebäude gelegt, und sie sind alle darin verbrannt ... wie Abfall.« Sandemans Stimme klang rau. »Das war nicht schwer ... wir hatten ja unsere Fackeln. Später hat man die Sache als Unfall hingestellt.«

Narraway zögerte nur einen kurzen Augenblick.

»Wie viele waren es?«, fragte er.

Sandeman erschauerte, als er sagte: »Etwa fünfunddreißig. Gezählt hat sie niemand, außer vielleicht der Imam, der sie beerdigt hat.«

Im Raum hing eine entsetzliche Stille. Narraways Gesicht war ebenso fahl wie das Sandemans. »Der Imam?«, wiederholte er mit belegter Stimme.

Sandeman sah ihn an. »Ja. Sie haben ein würdiges Begräbnis nach islamischem Ritus bekommen.«

»Großer Gott!« Narraway stieß den Atem heftig aus.

Charlotte spürte, wie Angst an ihr zu nagen begann. Sie wusste nicht einmal, warum, aber irgendetwas stimmte nicht, etwas Ungeheuerliches. Sie konnte es auf Narraways Gesicht sehen, erkannte es an der starren Haltung seiner Glieder in dem eleganten Anzug.

»Durch wen?«, fragte Narraway mit zitternder Stimme. »Wer hat dafür gesorgt? Wer hat den Imam beauftragt?«

»Der Garnisonskommandeur«, antwortete Sandeman. »General Garrick. Zwar hatte das Feuer gewütet wie in der Hölle, aber irgendwelche Reste waren wohl übrig geblieben.« Er schluckte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Wer sie sich näher ansah, musste erkennen, dass diese Menschen durch Kugeln umgekommen waren und es unmöglich ein Unfall sein konnte.«

»Wer hat noch davon gewusst?«, fragte Narraway mit bebender Stimme.

»Niemand«, gab Sandeman zurück. »Garrick hat die Sache vertuscht, und der Imam hat die Toten beisetzen lassen. Sie wurden in Tücher gewickelt, wie es bei den Moslems Brauch ist, dann hat er die üblichen Gebete gesprochen.«

»Und was hat Ihrer Ansicht nach Stephen Garrick in den Wahnsinn getrieben?«, fragte Narraway. »Sein Schuldbewusstsein oder die Angst, dass eines Tages jemand kommen und die Tat rächen würde?«

»Sein Schuldbewusstsein«, sagte Sandeman ohne zu zögern. »In seinen Alpträumen hat er den Vorfall immer wieder durchlebt. Die von uns getöteten Männer und Frauen haben ihn verfolgt.«

Narraway sah ihn aufmerksam an. »Und werden Sie von ihnen ebenfalls verfolgt?«

»Nein«, sagte Sandeman und sah ihn mit seinen tief in den Höhlen liegenden Augen ruhig an. »Ich habe mich ihnen gestellt und meine Schuld eingestanden. Ich kann zwar die Tat nie ungeschehen machen, werde aber den Rest meines Lebens dazu nutzen, anderen etwas zurückzugeben. Sollte, wer auch immer Lovat getötet hat, mir gleichfalls nach dem Leben trachten, wird er mich hier finden. Wenn er mich tötet, lässt sich daran nichts ändern. Ich werde auch keinen Widerstand leisten, wenn Sie mich jetzt verhaften wollen. Zwar denke ich, dass ich hier nützlicher sein kann als am Ende eines Stricks, aber ich werde mich nicht sperren.«

Charlotte spürte einen solchen Schmerz in ihrer Brust, dass sie kaum noch atmen konnte.

»Gott ist Ihr Richter, nicht ich«, sagte Narraway schlicht. »Für den Fall aber, dass ich Sie noch einmal brauche, wäre es klug von Ihnen, hier zu sein.«

»Das werde ich«, erwiderte Sandeman.

»Und sagen Sie niemandem auch nur ein Wort von dem, was Sie uns berichtet haben«, fügte Narraway hinzu. Mit einem Mal klang seine Stimme schroff, und es schwang sogar eine Drohung darin mit. »Es empfiehlt sich nicht, mich zum Feind zu haben, Mr Sandeman. Wenn Sie auch nur zu einem Menschen über diese Geschichte sprechen, spüre ich Sie auf. Im Vergleich mit dem, was Ihnen dann blüht, dürfte es Ihnen ausgesprochen verlockend erscheinen, am Ende eines Stricks zu hängen.«

Mit geweiteten Augen sagte Sandeman: »Der Herr bewahre mich! Glauben Sie wirklich, dass ich davon aus freien Stücken noch einmal berichten würde?«

»Ich hatte schon mit Leuten zu tun, die ihre Verbrechen immer wieder erzählen, weil sie wollen, dass man sie ihnen vergibt«, entgegnete Narraway. »Sofern diese Geschichte bekannt wird, könnte das tausend Mal mehr Menschenleben kosten, als Sie und Ihre Kameraden auf dem Gewissen haben. Denken Sie daran, wenn Sie das Bedürfnis empfinden sollten, sich mit einer Beichte Erleichterung zu verschaffen.«

Ein Ausdruck von bitterer Ironie, der wie ein Messer ins Herz schnitt, legte sich auf Sandemans Züge. »Ich glaube Ihnen«, sagte er. »Vermutlich ist das der Grund, warum Sie mich nicht festnehmen.«

Narraways Gesicht wurde eine Spur weicher, Doch nur für einen Augenblick. »Nun ja ... und auch Gnade«, sagte er. »Oder vielleicht Gerechtigkeit? Was könnte Ihnen jemand antun, was Sie mehr trifft als die Aufrichtigkeit, mit der Sie sich selbst bestrafen?«

Er wandte sich um und ging langsam zum Ausgang. Pitt nahm Charlottes Arm und folgte ihm. Sie löste sich kurz und warf Sandeman zum Abschied einen Blick und ein Lächeln zu. Als sie sicher sein durfte, dass er beides gesehen und verstanden hatte, ließ sie sich hinausführen.

Keiner von ihnen sprach, bis sie die Säule mit den sieben Sonnenuhren erreichten, denen Seven Dials seinen Namen verdankte. Von dort aus bogen sie in die Little Earl Street ein, die zur Shaftesbury Avenue führte.

Schließlich fragte Charlotte in das Schweigen hinein: »Zwischen dem Mord an Lovat und dieser Geschichte besteht doch sicher ein Zusammenhang?« Sie sah die beiden Männer an.

Mit ausdruckslosem Gesicht erklärte Narraway: »Obwohl jede andere Lösung unglaubhaft wäre, ist mit dem, was wir jetzt wissen, noch nicht eine unserer Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt. Im Gegenteil gewinnt die Sache dadurch eine so unvorstellbare Dimension, dass es besser wäre, man ließe zu, dass Ryerson gehängt wird ...« Er hielt inne, weil ihn Pitt am Arm gefasst und so scharf herumgedreht hatte, dass Charlotte beinahe mit den beiden zusammengestoßen wäre.

Narraway löste Pitts Hand mit einer Kraft, die diesen verblüffte und vor Schmerz zusammenzucken ließ.

»Die Alternative«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor, »besteht darin, die Wahrheit ans Licht zu lassen und mit anzusehen, wie sich in ganz Ägypten die Volksmassen erheben. Das wäre nach dem Orabi-Aufstand, der Beschießung Alexandrias, der Sache mit Khartoum und dem Mahdi wie ein Funke, der in ein Pulverfass fällt. Wir würden den Suezkanal verlieren und mit ihm nicht nur den Ägyptenhandel, sondern auch den mit der ganzen Osthälfte unseres Reiches. Aller Verkehr müsste wieder um die Südspitze Afrikas herumgehen. Das würde nicht nur für die Erzeugnisse der Kolonien wie Tee, Gewürze, Bauholz und Seide gelten, sondern auch für unsere sämtlichen Ausfuhren. Alles würde wieder um die Hälfte teurer. Vom militärischen und sonstigen Personenschiffsverkehr mit unseren Kolonien ganz zu schweigen.«

Charlotte sah die Furcht auf seinem Gesicht und wandte sich Pitt zu. Auch er schien das ungeheure Ausmaß der Bedrohung begriffen zu haben.

»Vier betrunkene britische Soldaten schlachten drei Dutzend friedliche Moslems in ihrem eigenen Heiligtum ab!«, sagte Narraway mit kaum hörbarer Stimme. Manche der Worte mussten ihm Charlotte und Pitt förmlich von den Lippen ablesen. »Können Sie sich vorstellen, welchen Aufruhr das in Ägypten, im Sudan und sogar in Indien auslösen würde, wenn es bekannt würde?«

»Und Sie meinen, Miss Sachari hat Lovat getötet, um ihr Volk zu rächen?«, fragte Pitt. Sein Gesicht zeigte, wie tief ihn dieser Gedanke schmerzte.

Charlotte hätte ihn liebend gern getröstet, doch fiel ihr nichts ein. Wer könnte die Ägypterin dafür tadeln? Zweifellos würde das Gesetz, das bei der Bestrafung der für das Massaker Verantwortlichen versagt hatte, dafür sorgen, dass sie gehängt wurde – und vermutlich Ryerson mit ihr. Ob sie das möglicherweise nicht berührte?

»Hat Ryerson mit der Angelegenheit zu tun?«, fragte sie. »Oder hat er einfach Pech gehabt und sich zur falschen Zeit in die falsche Frau verliebt?«

Staunend sah sie unverhüllten Schmerz auf Narraways Gesicht aufzucken. Die Sache schien ihm persönlich sehr nahe zu gehen. Gleich darauf trug er seinen üblichen Gleichmutwieder betont zur Schau, als sei ihm bewusst, dass sie es bemerkt hatte. »Wahrscheinlich«, sagte er und setzte sich wieder in Bewegung.

Sie erreichten die Shaftesbury Avenue. Charlotte wusste nicht, wohin sie wollten, und sie hatte das Gefühl, dass es Pitt und Narraway ebenso ging. Die schreckliche Angst in ihren Köpfen verdrängte alles andere. Zwar nahm sie den Verkehrslärm um sich herum wahr, sah aber nichts als ein Gewirr bedeutungsloser Bewegungen. Wenn auch Alexandria eine andere Welt war, die sie nur von Bildern und aus Pitts Erzählungen kannte, bestand eine so enge Verbindung zwischen der Wirklichkeit dort und allem, was sie hier sah, als befände sich die Stadt gleich hinter der nächsten Grenze. Sofern es in Ägypten zu einem Aufstand kam, würde man britische Soldaten in Marsch setzen, von denen manche sterben würden – ganz wie im Sudan. Sie konnte sich noch an die Zeitungsberichte darüber erinnern. Eine gute Bekannte hatte auf diese Weise ihren einzigen Sohn vor Khartoum verloren.

Und sollte Suez fallen, würde sich das auf eine Unzahl von Dingen im Leben Englands auswirken.

Trotzdem war es Unrecht, einen schuldlosen Menschen zum Tod durch den Strang zu verurteilen. Aber traf Ryerson wirklich keine Schuld an dem Mord? Zwar hätte Tante Vespasia das gern gesehen, doch das genügte nicht. Auch sie konnte sich irren. Verliebte Menschen taten zuweilen Dinge, die anderen nicht nachvollziehbar waren.

Mit einem Mal blieb Narraway stehen und sah Pitt an. »Zumindest für die allernächste Zukunft ist Garrick in Sicherheit. Was Sandeman angeht, habe ich da meine Bedenken, vermute aber, dass er Stillschweigen bewahrt, wenn er die Gefahren richtig einschätzt. Hätte er sein Gewissen dadurch beschwichtigen wollen, dass er sich selbst anklagt, hätte er das längst getan. Seine Aufgabe hier um Seven Dials ist ihm wichtig. Es ist seine Art, Rechenschaft für seine Seele abzulegen. Ich nehme an, er würde eher sterben wollen, als diese Arbeit aufzugeben. Yeats und Lovat leben nicht mehr.«

»Ist das Ayesha Sacharis Werk?«, fragte Pitt beinahe zögernd. »Aus Rache?«

»Wahrscheinlich«, gab Narraway zur Antwort. »Und Gott ist mein Zeuge, ich kann es ihr nicht verdenken – außer, dass sie Ryerson mit da hineingezogen hat. Vielleicht gab es für sie keine Möglichkeit, das zu verhindern. Es kann ohne weiteres Zufall sein, dass er in jener Nacht gerade in dem Augenblick bei ihr eintraf, als sie die Leiche wegschaffen wollte. Sie konnte unmöglich sicher sein, ob er ihr helfen oder die Polizei rufen würde. Mit einem Funken Selbsterhaltungstrieb hätte er Letzteres getan.«

»Aber warum hat sie all die Jahre gewartet?«, mischte sich Charlotte ein. »Wenn jemand meine Angehörigen auf diese Weise umbringen würde, wäre ich nicht so geduldig.«

Narraway sah sie mit einer Mischung aus Neugier und Interesse an. »Ich auch nicht«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Irgendetwas muss sie wohl daran gehindert haben, es früher zu tun. Vielleicht wusste sie ursprünglich nichts davon? Oder sie hatte niemanden, der ihr half. Hatte keine Macht oder kein Geld. Kann sein, sie war nicht vollständig überzeugt oder brauchte Unterstützung.« Er sah abwechselnd Pitt und Charlotte an, als erwarte er von ihnen eine Antwort. »Was könnte Sie in einem solchen Fall zum Warten veranlassen, Mrs Pitt?«

Sie bedachte sich nur kurz. Ein mit sechs grauen Kaltblütern bespanntes Brauereifuhrwerk rumpelte vorüber. Schwer schlugen die Hufe der langmähnigen Tiere auf die Pflastersteine, ihr blank geputztes Geschirr klirrte leise. »Wenn ich nicht wüsste«, sagte sie dann, »dass es meine Angehörigen getroffen hat oder wer die Täter waren und wo ich sie finden kann. Oder ich müsste mich in einer Situation befinden, aus der ich nicht herauskönnte ...«

»Zum Beispiel?«, unterbrach Narraway sie.

»Krankheit. Nehmen wir an, ich müsste ein Kind oder einen Verwandten pflegen oder jemanden schützen, der es auszubaden hätte, wenn ich handelte. Vielleicht jemand, der in die Sache verwickelt ist. Eine Art Geisel oder so etwas.«

Bedächtig nickend sah Narraway Pitt mit gehobenen Brauen an.

»Ausschließlich Unwissenheit wäre für mich ein Grund, nicht tätig zu werden«, sagte dieser. Im selben Augenblick zuckte in seiner Erinnerung etwas auf. »Die Geschichte mit dem Feuer kannte ich, aber die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, es sei ein Unfall gewesen. Woher mag Miss Sachari gewusst haben, dass es sich anders verhält?«

Narraways Züge verhärteten sich. »Eine berechtigte Frage, auf die ich gern die Antwort wüsste. Bedauerlicherweise habe ich keine Ahnung, wo ich mit der Suche danach anfangen soll. Es gibt noch vieles, was ich gern über diesen Fall wüsste – beispielsweise, ob Ayesha Sachari die eigentliche treibende Kraft hinter der Geschichte ist oder im Auftrag eines Dritten oder mit ihm zusammen handelt. Wer weiß etwas über das Massaker, und warum hat man es in Ägypten nicht an die Öffentlichkeit gebracht? Aus welchem Grund haben die Leute erst so lange gewartet und schlagen jetzt hier in London zu?« Bei dieser Frage klang seine Stimme hart und scharf, als treibe ihn eine Gefühlsaufwallung an, die er kaum beherrschen konnte. »Vor allem aber wüsste ich gern: Geht es ihnen ausschließlich um persönliche Rache, oder ist das erst der Anfang?«

Weder Pitt noch Charlotte gaben ihm eine Antwort. Die Frage war zu schwierig und die möglichen Antworten zu entsetzlich.

Beinahe mechanisch legte Pitt Charlotte einen Arm um die Schulter und zog sie näher an sich. Zu sagen gab es nichts.