KAPITEL 12
Vespasia war im Damenzimmer damit beschäftigt, weiße Chrysanthemen und kupferfarbenes Buchenlaub in einer flachen Lalique-Schale zu arrangieren, als sie im Vestibül eine laute und offenbar unbeherrschte Männerstimme hörte. Überrascht wandte sie sich um, als die Tür aufflog und Ferdinand Garrick an ihrem Dienstmädchen vorüber mit vor Zorn hochrotem Gesicht hereinplatzte. Unmittelbar vor dem Aubusson-Teppich blieb er stehen. Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck, der an Verzweiflung zu grenzen schien.
»Guten Morgen, Ferdinand«, sagte Vespasia kühl und bedeutete der Bediensteten mit einem leichten Nicken, dass sie gehen könne. Hätte sie nicht bemerkt, dass Garricks Gefühle echt waren, hätte sie das so eisig gesagt, dass sogar der Prinz von Wales die Zurückweisung begriffen hätte. »Ich nehme an, dass etwas Fürchterliches geschehen ist und Sie der Ansicht sind, ich könnte Ihnen helfen.« In einer solchen Situation war Vespasia mitunter bereit, Verstöße gegen die Form zu übersehen, und für einen Augenblick vergaß sie sogar ihre tiefe Abneigung gegenüber der selbstgerechten Religiosität ihres Besuchers.
Garrick war verblüfft. Inzwischen war ihm zu Bewusstsein gekommen, dass er sich unverzeihlich ruppig benommen hatte und er eigentlich damit rechnen musste, statt Verständnis würdevoll vorgetragene Empörung zu erfahren. Das brachte seine Selbstsicherheit ins Wanken. Er stand stocksteif da und atmete schwer. Sogar aus der Entfernung konnte sie sehen, wie sich seine Brust hob und senkte.
Sie brach die beiden letzten Stängel ab, legte die Blüten in einen Kranz von Buchenblättern und stellte die Schale auf ein niedriges Tischchen. Das Arrangement war exquisit und ebenso schön wie im Sommer, wenn sie statt der Chrysanthemen blutrote Päonienblüten nahm.
»Sagen Sie mir, was vorgefallen ist«, gebot sie. »Falls Sie Tee möchten, lasse ich welchen kommen. Aber vielleicht wäre Ihnen das im Augenblick nur lästig?«
Mit einer schroffen Handbewegung tat er das Angebot ab. »Mein Sohn schwebt in größter Gefahr. Die Leute, die den jungen Lovat umgebracht haben, sind hinter ihm her, und jetzt hat ihn Ihr verrückter Polizist von dem einzigen Ort entführt, an dem er sicher war!«, stieß er mit brennenden Augen anklagend hervor. Mit zitternder Stimme und schwer atmend fuhr er fort: »Sagen Sie den Leuten um Gottes willen, dass sie die Finger davon lassen sollen! Sie ahnen nicht, in was sie sich da einmischen! Die Katastrophe wird ...« Offensichtlich überstieg es seine Möglichkeiten, ihr deren Ausmaß zu beschreiben, und so sah er sie mit dem Ausdruck hilfloser Wut an.
Sie merkte, dass es wenig Zweck hatte, in besonnener Weise mit ihm reden zu wollen. Offenkundig trieb ihn eine panische Angst, die ihn daran hindern würde, sich Vernunftargumente anzuhören.
»Sofern tatsächlich Pitt Ihren Sohn von dort fortgeschafft hat, dürfte es das Beste sein, dass Sie ihn von der Gefahr in Kenntnis setzen«, sagte sie gelassen. »Zwar bezweifle ich, dass er sich vormittags zu Hause befindet, aber vielleicht kann ich ihn doch aufspüren. Sollte mir das gelingen, werde ich ihm allerdings genau sagen müssen, um welche Gefahr es sich handelt, damit er Stephen davor schützen kann.«
»Der Mann ist verrückt!«, stieß Garrick mit sich beinahe überschlagender Stimme hervor. »Ohne auch nur zu ahnen, was er tut, hat er eine Sache aufgerührt, die einen ganzen Kontinent in Brand setzen könnte!«
Vespasia war verblüfft. Zwar verstand sie nicht, was Garrick mit seinen unbeherrschten Worten meinte, aber obwohl sie den Mann nicht ausstehen konnte, wusste sie, dass er ein glänzender Soldat gewesen war. Er hatte mit Sicherheit nicht genug Vorstellungskraft, um sich so etwas auszudenken.
»Bitte beruhigen Sie sich wenigstens so weit, dass Sie mir sagen können, was ich ihm mitteilen muss«, sagte sie entschlossen. »Ich kann ihm keine Befehle erteilen, sondern ihn höchstens überzeugen. Wo war Ihr Sohn Stephen, und wann haben Sie erfahren, dass ihn Pitt von dort weggeholt hat?«
Garrick unternahm eine übermenschliche Anstrengung, seine Panik zu beherrschen, doch gehorchte ihm seine Stimme nach wie vor nicht.
»Die Leute, die Lovat umgebracht haben, würden vor nichts zurückschrecken, um auch Stephen zu töten und Sandeman, sofern sie ihn aufspüren können. Stephen hat das gewusst!« Sein Gesicht war hochrot, seine Verlegenheit unübersehbar, dennoch fuhr er mit etwas mehr Fassung fort: »Es ging ihm ... nicht gut ...«
Vespasia ging schweigend über die Beschönigung hinweg. Sie wusste, welche äußere Gestalt die Krankheit angenommen hatte, doch da es jetzt um deren Ursache ging, unterbrach sie ihn nicht.
»Er hatte Anfälle von Delirium«, fuhr Garrick etwas ruhiger fort. »Ich musste ihn in eine Anstalt geben ...« Er holte tief Luft und zitterte dabei. »In die Irrenanstalt von Bethlehem.«
Vespasia war deren Ruf durchaus bekannt, und so waren keine Worte nötig, um ihr das Elend und Entsetzen auszumalen, die dort herrschten. Dass der Mann seinen eigenen Sohn in eine solche von Menschen geschaffene Hölle schickte, sagte ihr mehr über seine Angst, als Worte vermocht hätten.
»Und Pitt hat ihn dort also gefunden und herausgeholt?«, fragte sie. »Glauben Sie nicht, dass er in Wahrheit Stephens Kammerdiener Martin Garvie suchte? Sie haben ihn doch mit hingeschickt, nicht wahr?«
Fassungslose Überraschung malte sich auf seinem Gesicht. »Sie scheinen mehr über die Sache zu wissen, als ich angenommen hatte. Ja, ich vermute, Garvie könnte eher zu seinem Kreis von ...« Er hielt inne, weil ihm plötzlich zu Bewusstsein kam, dass er sich Vespasia mit solchen Äußerungen zur Feindin machen könnte, was er sich jetzt keinesfalls leisten konnte. »Finden Sie ihn!«, stieß er verzweifelt hervor. »Bitte.«
Sie sah in sein von Angst verzerrtes Gesicht. »Und was soll ich Pitt, oder wer auch immer damit zu tun hat, sagen?«, erkundigte sie sich. »Wie sieht die Gefahr aus, vor der Sie solche Angst haben, Ferdinand?«
Sie ging zum Sofa hinüber und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen, doch er blieb stehen.
»Bringen Sie meinen Jungen zurück, und ich kümmere mich darum!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Sie setzte sich mit einem leichten Lächeln hin, das kaum mehr war als eine Entspannung ihrer Züge. »Ich vermute, wenn ihnen so wenig an ihm liegt, dass sie ihn mir einfach übergeben, sobald ich darum bitte, hätten sie sich wahrscheinlich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihn dort herauszuholen«, sagte sie in ruhigem Ton. »Wäre es nicht an der Zeit, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen?«
Er begann zu sprechen und verstummte gleich wieder.
Sie wartete. Sie würde nicht noch einmal fragen. Er wusste, worum es ging, schließlich war Stephen sein Sohn.
Er senkte den Blick. »Es gibt Leute, die ihn töten würden, wenn sie nur auf diese Weise bestimmte Dinge erfahren könnten, die er weiß«, sagte er.
Ihr war bewusst, dass er ihr mit dieser Antwort auswich. Sicher war das nicht die ganze Wahrheit, doch genügte es für ihre Zwecke. Keinesfalls würde er mehr sagen, wenn man ihn nicht dazu zwang. Das aber wollte sie Victor Narraway überlassen, denn sie war bereits entschlossen, ihn in dieser Sache aufzusuchen.
»Ich werde den Leuten das sagen«, versprach sie.
Er entspannte sich angesichts des so nahe bevorstehenden Sieges ein wenig, trat aber ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wartete, dass sie fortfuhr.
Sie sah ihn kalt an. »Ich habe nicht die Absicht, mich von Ihnen begleiten zu lassen, Ferdinand. Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen muss, und Sie haben mir deutlich gemacht, dass die Zeit drängt. Guten Morgen.«
»Danke«, sagte er steif. Auf seinen Zügen mischten sich Erleichterung, Dankbarkeit und so etwas wie Enttäuschung darüber, dass er selbst in dieser Sache nicht tätig werden konnte. Ihm war jede Art von Abhängigkeit zuwider, am meisten aber hasste er es, von Frauen abhängig zu sein. »Ja ... ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Auch Ihnen einen guten Tag. Ich –«
»Ich werde Sie von dem Ergebnis in Kenntnis setzen«, versprach sie hoheitsvoll. »Sollten Sie nicht zu Hause sein, werde ich Ihrem Butler eine Mitteilung übergeben.«
»Ich werde zu Hause sein.«
Sie neigte den Kopf kaum wahrnehmbar.
Er errötete, sagte aber nichts weiter. Sie stand auf, sodass er die Form wahren und sich verabschieden konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.
Wieder bediente sich Vespasia ihres Telefons. Die Nützlichkeit dieses Instrumentes hatte sie früh erkannt und verstand nicht, warum Menschen etwas dagegen hatten. Immerhin konnte man damit rasch und bequem andere erreichen. Um die Mittagszeit wusste sie, dass Victor Narraway der Verhandlung gegen Ryerson und die Ägypterin beiwohnte und das Gericht sich um ein Uhr zur Mittagspause vertagen würde. Das gab ihr eine Stunde Zeit, um ihn aufzusuchen und ihm mitzuteilen, dass sie ihn dringend sprechen müsse.
Zufällig ergab es sich, dass sie einander auf der Treppe begegneten, gerade als sie im Gerichtsgebäude eintraf. Er kam mit seiner üblichen Eleganz und in scheinbar lässiger Haltung auf sie zu, doch noch bevor sie den Mund auftun konnte, sah sie an den Schatten auf seinem Gesicht und seiner Anspannung, dass er sich zutiefst Sorge machte und vielleicht sogar Angst hatte.
»Guten Tag, Lady Vespasia«, sagte er.
»Guten Tag, Victor. Es tut mir Leid, Sie von Ihren Aufgaben hier am Gericht abzurufen, aber Ferdinand Garrick war heute Morgen bei mir.« Sie achtete nicht auf seine Überraschung. Für Erklärungen und Förmlichkeiten war jetzt keine Zeit. »Er war in tiefer Sorge. Ihm ist bekannt, dass Pitt seinen Sohn in Bedlam aufgespürt und von dort fortgebracht hat. Ich nehme an, dass er das ohne Ihre Billigung und möglicherweise Ihre Unterstützung nicht getan hätte.«
Er bot ihr den Arm, und sie nahm ihn. Offensichtlich wollte er nicht im Vorraum des Kriminalgerichts Old Bailey mit ihr sprechen, wo möglicherweise jemand mithören konnte.
»Eigentlich ging es uns ursprünglich mehr um seinen Kammerdiener Martin Garvie«, entgegnete er.
»Mir brauchen Sie das nicht auseinander zu setzen – Charlottes Sorge um den jungen Mann ist mir bekannt.«
Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen und verschwand gleich wieder. »Mrs Pitt hatte in Erfahrung gebracht, wo er sich aufhielt«, sagte er knapp. »Von einem Priester in der Gegend von Seven Dials.« Ein leichter Wind wehte, als sie nebeneinander vom Gerichtsgebäude den Ludgate Hill hinab und dann ostwärts auf den riesigen Schatten zugingen, den die Sankt-Pauls-Kathedrale warf, deren Kuppel sich dunkel vor dem hellen Himmel abzeichnete.
»Das sieht Charlotte ähnlich«, sagte sie.
Er holte Luft, als wolle er etwas sagen, doch dieser Gedanke wurde von einem weit düstereren verdrängt.
»Vor zwölf Jahren ist es in Ägypten zu einem üblen Übergriff gekommen«, sagte er so rasch, dass sie ihn kaum hören konnte, »an dem Lovat, Garrick, Sandeman und Yeats beteiligt waren. Damals hat Ferdinand Garrick in seiner Eigenschaft als Garnisonskommandeur die Sache vertuscht. Falls jetzt jemand davon erfährt, gleich wer, besteht die Möglichkeit, dass es in Ägypten zum Aufruhr kommt, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es uns Suez kosten könnte. Es gibt Männer, die entschlossen sind zu töten, damit weiterhin Stillschweigen über die Sache bewahrt wird.«
»Ich verstehe.« Sie atmete tief ein. Der Gedanke, den er da vorgetragen hatte, überraschte sie nicht. Es ging um Geld, Macht und tiefe Bindungen. »Heißt das, man hat Lovat aus Rache dafür getötet?«
»So sieht es aus. Bei allem, was uns heilig ist ... Wer würde das nicht tun? Aber ich werde Stephen Garrick schützen, solange es nötig ist. Das dürfen Sie seinem Vater gern sagen. Mein Interesse daran, ihn vor seinen Feinden in Sicherheit zu bringen, ist ebenso groß wie seines. Sagen Sie bitte nicht mehr. Ich weiß noch nicht, wer seine Finger in diesem Spiel hat, und schon gar nicht, auf welcher Seite. Gern würde ich auch Ryerson retten, wenn mir das möglich wäre, aber das steht nicht in meiner Macht.«
Sie zögerte kurz. »Kann ich ihn besuchen, ihm einen Freundschaftsdienst leisten?«, fragte sie.
»Ich werde das für heute Abend arrangieren«, versprach er. »Bei der Gelegenheit sollten Sie ihm alles mitteilen, was Sie sagen wollen. Sobald die Geschworenen mit der Sache befasst sind, kann ich ... unter Umständen nichts mehr erreichen.«
Sie merkte, dass ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Ich verstehe. Danke.«
»Lady Vespasia.« Er wagte nicht, ihren Namen ohne das Adelsprädikat zu benutzen, weil sie darin möglicherweise eine Unverschämtheit sehen würde.
»Ja?« Sie hatte sich wieder gefasst.
»Es tut mir von Herzen Leid.« Der Schmerz in seinem Gesicht war unverhüllt. Sie wusste nicht, warum ihn eine Verurteilung Ryersons so tief treffen sollte, ja, nicht einmal, ob er ihm mehr zur Last legte als Torheit, aber sie war völlig sicher, dass sie Zeugin einer tiefen persönlichen Empfindung war, die nicht das Geringste mit dem Beruf des Mannes zu tun hatte.
Sie blieb im Schatten der Sankt-Pauls-Kathedrale auf dem stillen Gehweg stehen und sah ihn an. »Auf manche Dinge hat man einfach keinen Einfluss«, sagte sie leise. »Ganz gleich, wie sehr wir uns das wünschen.«
Er war verlegen. So hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt.
»Seien Sie um acht Uhr am Eingang von Newgate«, sagte er, dann wandte er sich um und kehrte zum Gericht zurück.
Selbst Narraway konnte für Vespasia nur die Erlaubnis zu einem äußerst kurzen Besuch erreichen. Obwohl sie darauf eingestellt war, bei Ryerson Anzeichen auf den enormen Druck zu erkennen, dem er vermutlich ausgesetzt war, entsetzte sie sein Anblick. Früher hatte er durch seine bloße körperliche Erscheinung auf alle Anwesenden einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, sie war immer das Bemerkenswerteste an ihm gewesen, weit eindrucksvoller noch als sein Charakterkopf, seine Intelligenz oder sein Charme.
Als er sich jetzt bei ihrem Eintritt in seine Zelle erhob, wirkte er völlig erschöpft. Seine Haut war bleich und sah sonderbar trocken aus, fast wie Papier. Er trug dieselbe Kleidung wie bei ihrem vorigen Besuch, doch schien sie jetzt lose an ihm herunterzuhängen.
»Vespasia ... wie freundlich von Ihnen zu kommen«, sagte er mit rauer Stimme. Er hielt ihr eine Hand zur Begrüßung hin, zog sie dann aber zurück, als befürchte er mit einem Mal, es könne ihr unangenehm sein, sie zu berühren.
Schmerzlich kam ihr der Gedanke, der Grund für die an ihm wahrnehmbare Veränderung sei, dass er nicht mehr von der Schuldlosigkeit seiner Geliebten überzeugt war. Er sah weniger wie ein Märtyrer aus und eher wie jemand, dessen Träume man zerstört hat.
Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln, das sich auf ihren Zügen ausbreitete.
»Mein lieber Saville«, sagte sie. »Für dies Privileg werde ich künftig einer ganzen Reihe von Menschen einen Gefallen schulden.« Das entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber ihr war bewusst, dass ihn das wenigstens einen Augenblick lang freuen würde. »Auch habe ich nur wenige Minuten, bis irgendein pflichtbesessener Schließer kommt und mich abholt«, fuhr sie fort. »Ich habe mir überlegt, dass es vielleicht einen Dienst gibt, um den Sie sonst niemanden bitten konnten und den ich Ihnen möglicherweise leisten kann. Wenn dem so ist, sollten Sie das besser jetzt gleich sagen, für den Fall, dass wir keine weitere Möglichkeit haben, unter vier Augen miteinander zu sprechen.« Gewiss, es war herzlos, die Situation auf diese Weise unverhüllt zu beschreiben, doch hatte sie nicht genug Zeit, um die Dinge herumzureden. Es gab nur diesen Augenblick, keinen anderen.
In bewundernswerter Weise beherrscht und gefasst, teilte er ihr seine Wünsche mit. Bestimmte Vermächtnisse an Angestellte, die ihm treu gedient hatten, waren bereits geregelt, aber es gab noch den einen oder anderen Menschen, dem er Dank schuldete, oder diesen oder jenen, bei dem er sich entschuldigen musste. Vor allem Letzteres machte ihm zu schaffen, und er war dankbar, dass sie versprach, in seinem Sinne zu handeln, sollte das nötig werden. Er durfte sich darauf verlassen, dass sie das in angemessener Weise und mit der dafür angebrachten Mischung aus Offenheit und Zurückhaltung tun würde.
Der Wärter kehrte zurück. Eisig forderte sie ihn auf zu warten. Das tat er, blieb aber dabei an der Tür stehen.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte sie Ryerson. »Irgendeinen persönlichen Gegenstand, den ich Ihnen bringen könnte?«
Ein schwaches Lächeln trat auf seine Züge und verschwand wieder. »Nein, vielen Dank. Das hat mein Kammerdiener jeden Tag getan. Ich bin so –«
Mit erhobener Hand gebot sie ihm zu schweigen. »Ich weiß«, sagte sie rasch. Sie sah zu dem Wärter hin und ließ sich von ihm die Tür aufhalten. »Gott befohlen, Saville, jedenfalls für den Augenblick.« Sie ging, ohne sich noch einmal umzuwenden. Sie hörte, wie Stahl auf Stahl schlug, als sich die Tür schloss und die schweren Bolzen einrasteten.
Kurz vor dem Ausgang kam ihr ein bescheiden gekleideter Ägypter mit einer Stofftasche entgegen, der mit abgewandten Augen nahezu lautlos an ihr vorüberging. Ob das der Diener der Ägypterin war, der ihr frische Wäsche und andere Dinge brachte, die sie benötigte? Er bewegte sich so unauffällig, dass man glauben konnte, er beherrsche die Kunst, sich unsichtbar zu machen. Wäre er anders gekleidet, sie würde ihn nicht wiedererkennen, wenn sie ihm an einem anderen Ort begegnete. Sie musste daran denken, dass er einem völlig anderen Kulturkreis angehörte. Dann kam ihr der Gedanke, dass sie sich nicht erinnern konnte, Miss Sachari je gesehen zu haben, die Frau im Zentrum des Sturms, der im Begriff stand, Ryerson und möglicherweise auch Stephen Garrick zu zerstören. Sofern sie ihr begegnet war, würde sie sich doch gewiss daran erinnern?
Sie trat auf die Straße, wo ihre Kutsche auf sie wartete. Tief in Gedanken versunken, ließ sie ausnahmsweise zu, dass ihr der Lakai hineinhalf.
An diesem nassen und windigen Abend war Gracie allein im Haus. Das Ehepaar Pitt unternahm einen schon seit längerer Zeit fälligen Besuch bei Charlottes Mutter. Es war bereits ziemlich spät, als es plötzlich an der Hintertür klopfte.
Sie wartete. Das Klopfen wiederholte sich, lauter und eindringlicher.
Sie nahm das Nudelholz zur Hand, entschied sich dann aber für das Tranchiermesser. Sie verbarg es in den Falten ihres Rocks, schlich an die Hintertür und riss sie auf.
Tellman stand davor. Er hatte die Hand erhoben, um erneut zu klopfen. Er machte ein bedrücktes Gesicht und schien zu frieren.
»Sie hätten fragen müssen, wer da ist, bevor Sie aufmachen!«, sagte er sofort.
Sein Tadel ärgerte sie. »Hör’n Se auf, mir zu sagen, was ich zu tun hab, Samuel Tellman!«, gab sie zurück. »Dazu ha’m Se kein Recht. Das is mein Haus, nich Ihrs!« Kaum hatte sie das gesagt, als sie merkte, dass ihr Herz vor unterdrückter Angst schlug. Er hatte Recht. Es wäre ganz einfach gewesen zu fragen, wer an der Tür war, und sie hatte nicht daran gedacht, weil sie mit ihren Gedanken bei Martin Garvie und anderen Menschen gewesen war, die man gegen ihren Willen in Bedlam eingesperrt hatte. Auch beschäftigte es sie, dass sie im Fall des Mannes, der im Garten dieser Ägypterin erschossen worden war, der Lösung noch keinen Schritt näher gekommen waren. Was mochte der da gewollt haben? Man schlich doch nicht mitten in der Nacht im Gebüsch herum!
Tellman trat ein. Er war bleich und wirkte angespannt.
»Jemand muss Ihnen sagen, was Sie tun sollen!«, sagte er und schloss die Tür mit Nachdruck. »Sie sind doch sonst immer so neunmalklug. Was haben Sie da?«
Sie legte das Messer auf den Küchentisch. »’n Tranchiermesser. Wonach sieht es Ihrer Ansicht nach denn aus?«, fuhr sie ihn an.
»Wie etwas, das Ihnen ein Einbrecher abnehmen und an die Kehle setzen würde«, sagte er. »Falls Sie Glück haben!«
»Sind Se gekomm’, um mir das zu sagen?«, gab sie zurück. »So blöd bin ich nich.«
»Natürlich bin ich nicht deshalb gekommen!« Er stand neben dem Tisch, offenbar zu angespannt, als dass er sich hätte setzen können. »Aber Sie sollten vernünftiger handeln.«
Hätte ein anderer das gesagt, sie hätte es leichthin abgetan, aber aus seinem Mund war ihr das sonderbar unerträglich. Er war ihr zugleich zu fern und zu nah. Ihr gefiel nicht, dass ihr das so nahe ging, weil es sie unsicher machte und in ihr Gefühle weckte, über die sie keine Herrschaft hatte. Daran war sie nicht gewöhnt.
»Kommandier’n Se mich nich rum, wie wenn ich Ihn’ gehör’n würde«, stieß sie hervor, bemüht, das starke Gefühl zu unterdrücken, das sie zu überfluten drohte. Es kam ihr beinahe wie eine Art Einsamkeit vor.
Einen Augenblick lang sah er sie verblüfft an, dann runzelte er leicht die Brauen. »Wollen Sie denn zu niemandem gehören, Gracie?« , fragte er.
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Dass er so etwas sagen würde, hätte sie als Letztes erwartet, und sie hatte keine Antwort darauf. Nein, das stimmte nicht – eine Antwort hatte sie schon, noch aber war sie nicht bereit, ihm das einzugestehen. Sie brauchte mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie schluckte, öffnete den Mund, um das zu bestätigen, merkte dann aber hilflos, dass ihr das nicht möglich war. Es wäre eine Lüge. Wenn er ihr das glaubte, würde er sie womöglich nicht wieder fragen, vielleicht sogar fortgehen.
»Nun ...«, stotterte sie. »Nun ... ich ... ich glaub doch.« Sie hatte es gesagt!
Auch er holte tief Luft. Er empfand keine Unentschlossenheit, wohl aber befürchtete er, abgewiesen zu werden. »Dann wäre es das Beste, Sie würden mir gehören«, sagte er, »denn niemand möchte Sie mehr als ich.«
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Augenblick der Entscheidung war da – jetzt oder nie! Ein wohliges Gefühl stieg in ihr auf, und es kam ihr vor, als glitte sie in herrlich warmes Wasser und schwebte schwerelos darin. Sie merkte nicht, dass sie stumm blieb.
»Sie sind zwar dickköpfig und eigensinnig und davon, wo Menschen hingehören, haben Sie die verrücktesten Vorstellungen, die ich je gehört habe«, fuhr er in der entstandenen Stille fort, »aber so wahr mir Gott helfe, es gibt keine andere, die ich wirklich möchte... Wenn Sie mich also nehmen wollen ...« Er hielt inne. »Erwarten Sie etwa, dass ich jetzt sage, ich liebe Sie? Schon möglich, dass Sie blöd sind, aber so blöd, dass Sie das nicht wissen, sind Sie nicht!«
»Se ha’m ja Recht«, sagte sie rasch. »Un ... un ...«
Das Mindeste, was er erwarten durfte, war, dass sie ihm eine ehrliche Antwort gab, wie schwer ihr das auch fallen mochte. »Ich liebe Sie auch, Samuel. Aber das is kein Grund, sich Freiheiten rauszunehmen, und es gibt Ihnen auch kein Recht, mir zu sagen, was ich tun soll un was nich.«
Auf sein hageres Gesicht legte sich ein breites Lächeln. »Sie werden tun, was ich Ihnen sage! Aber da ich in meinem Hause meine Ruhe haben möchte, werde ich Ihnen wohl nichts sagen, was Sie zu sehr aufbringen würde.«
»Gut.« Sie schluckte. »Dann is ja alles in Ordnung, wenn ... wenn es so weit is.« Sie schluckte erneut. »’ne Tasse Tee? Sie schein’ mir ja mächtig durchgefror’n zu sein.«
»Ja«, nahm er an, zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich. »Ja, gern, bitte.« Ihm war bewusst, dass es unklug wäre, sie jetzt nach dem richtigen Zeitpunkt zu fragen. Sie hatte Ja gesagt, das genügte.
Sie ging an ihm vorüber zum Herd. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert. Sie war so weit gegangen, wie sie im Augenblick konnte. »Bis du deshalb gekomm’?«, fragte sie.
»Nein. Das hatte ich schon ... schon eine Weile vor. Ich wollte Mr Pitt sagen, dass die Polizei im Fall Eden Lodge einen neuen Zeugen hat und dass es ziemlich schlimm aussieht.«
Sie schob den Kessel über die Feuerstelle und drehte sich zu ihm um. »Was für’n Zeuge is das?«
»Er sagt, er weiß, dass die Ägypterin Mr Lovat eine Mitteilung geschickt hat, in der es hieß, er solle zu ihr kommen«, sagte er mit finsterer Miene. »Natürlich muss er das vor Gericht bestätigen.«
»Was könn’n wir tun?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Nichts«, gab er zur Antwort. »Aber es ist besser, wenn man es weiß.«
Sie nahm das stumm zur Kenntnis, machte sich aber um Pitts willen große Sorgen. Nicht einmal das Gefühl der Wärme in ihr und der kleine Triumph, den sie empfand, weil sie sich der Entscheidung gestellt und sie akzeptiert hatte – und mit ihr all die bedeutenden Veränderungen, die eines Tages daraus erwachsen würden –, verdrängten ihre Sorge um Pitt und den Fall, den sie jetzt wohl nicht mehr für sich würden entscheiden können.
Bald darauf kehrte Pitt zurück. Er dankte Tellman für seinen Bericht, zog den Mantel an und verließ sofort wieder das Haus. Diese Neuigkeit konnte nicht bis zum nächsten Tag warten; Narraway musste sie unverzüglich erfahren. Es war Freitagabend, und so waren ihnen bis zur Fortsetzung des Verfahrens zwei Tage geschenkt. In dieser kurzen Zeit ließ sich wohl schwerlich etwas Entscheidendes bewirken. Einen so vollständigen Fehlschlag wie diesen hier hatte Pitt noch nie erlitten. Dies Bewusstsein verursachte ihm eine innere Leere und ein Gefühl der Bitterkeit, von dem er nicht glaubte, dass er es je würde abschütteln können.
Natürlich war es auch früher vorgekommen, dass er einzelne Fälle nicht zu lösen vermochte. Bei anderen war er sicher gewesen, dass er die Lösung wusste, ohne dass er sie beweisen konnte – doch waren sie nicht von so weit tragender Bedeutung gewesen.
Als Narraway hörte, wie die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet und geschlossen wurde, hob er die Augen und sah Pitt vor sich stehen. Ein Blick auf sein Gesicht genügte. »Nun?«, fragte er und beugte sich vor, als wolle er sich erheben.
»Die Polizei hat einen Zeugen, der aussagt, Miss Sachari habe Lovat schriftlich aufgefordert, zu ihr zu kommen«, sagte er einfach. Die Sache als weniger entsetzlich hinstellen zu wollen, als sie war, wäre sinnlos gewesen. Schon bevor Narraway den Mund auftat, war ihm das vollständige Ausmaß der Katastrophe bewusst.
»Sie hat ihn also absichtlich in ihren Garten gelockt«, stieß Narraway bitter hervor. »Entweder hat er die Mitteilung selbst vernichtet, oder sie hat sie wieder an sich gebracht, bevor die Polizei gekommen ist. Wir haben es also nicht mit einer spontanen Handlungsweise zu tun, sondern mit einem geplanten Mord.« Nachdenklich legte er das Gesicht in Falten. »Aber hat es zu ihrem Plan gehört, Ryerson mit in die Sache hineinzuziehen, oder war das ein unglücklicher Zufall?«
»Falls sie es geplant hätte«, sagte Pitt und setzte sich unaufgefordert, »muss sie seiner außergewöhnlich sicher gewesen sein. Woher wollte sie wissen, dass er dort sein würde, bevor die Polizei kam, und dass er bereit sein würde, ihr beim Fortschaffen des Leichnams zu helfen? Hatte sie einen anderen Plan gehabt für den Fall, dass er Alarm geschlagen hätte, statt zu tun, was sie von ihm erwartete?«
Narraway verzog den Mund. Es sah aus wie eine Grimasse. »Ich würde mich nicht wundern, wenn sie selbst die Polizei gerufen oder ihren Diener damit beauftragt hätte. Sofern es sich um einen Racheakt wegen des Massakers handelt, war der Mann sicher an der Sache beteiligt.«
Mit finsterer Miene starrte er vor sich hin, als sähe er vor seinem inneren Auge ein Schreckensbild. »Vermutlich wird man diesen Zeugen am Montag vernehmen?«, fragte er, ohne Pitt anzublicken.
»Das nehme ich an«, sagte dieser. »Immerhin würde das den Beweis für einen vorbedachten Mord liefern.«
»Danach wird sie dann verhört und legt aller Welt ihre Gründe dar«, fuhr Narraway mit leiser, harter Stimme fort. »Die Zeitungen haben bestimmt nichts Besseres zu tun, als alles möglichst schnell zu drucken. Dann wird es nach wenigen Stunden im ganzen Land und schon bald darauf in der ganzen Welt bekannt sein.« Sein Gesicht sah aus, als hätte man ihn geschlagen. »In Ägypten wird es einen Aufstand geben, neben dem die Erhebung des Mahdi und das Blutbad im Sudan wie eine Teegesellschaft in einem Pfarrgarten aussehen wird. Sogar die Sache mit Gordon in Khartoum wird im Vergleich damit als zivilisierte Auseinandersetzung zwischen zwei Völkern erscheinen. In dem Fall kann es gar nicht ausbleiben, dass wir Suez verlieren.« Mit angespannten Schultern ballte er die Fäuste. »Gott im Himmel! Was für ein entsetzliches Fiasko. All unsere Bemühungen waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt«, stieß er verzweifelt hervor.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Pitt langsam, als ertaste er bedächtig seinen Weg in einer undurchdringlichen Finsternis. »Warum gerade jetzt? Sofern sie mit der Absicht nach London gekommen ist, das Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen – warum dann der ganze Umstand mit Ryerson und dem Versuch, die Herstellung von Baumwolltextilien wieder nach Ägypten zu verlagern, und schließlich der Mord an Lovat?« Er sah Narraway verständnislos an. »Warum hat sie die Sache nicht einfach in Ägypten bekannt gemacht? Das Beweismaterial ist im Lande. Man hätte die Leichen exhumieren können. Auch wenn sie verbrannt worden sind – bei über dreißig Erschossenen hätte man sicher noch von den Kugeln durchschlagene oder abgesplitterte Knochen gefunden, als Beweis dafür, dass das Feuer nicht etwa zufällig entstanden war. Warum diese ganze Mordgeschichte und die Verhandlung? Warum sollte sie überhaupt ihr Leben aufs Spiel setzen? Wenn den Leuten die Hintergründe des Massakers bekannt sind, müsste denen angesichts der Möglichkeit, das Ganze öffentlich zu machen, die Ermordung eines der dafür verantwortlichen Soldaten geradezu unerheblich erscheinen. Wie die Dinge jetzt liegen, muss man doch sagen, dass die Leute das Ganze mit geradezu lächerlich anmutender Unfähigkeit gehandhabt haben.«
Narraway sah ihn mit weit offenen Augen an. »Was wollen Sie genau damit sagen, Pitt? Dass jemand die Frau benutzt hat und jetzt für entbehrlich hält?«
»Ich vermute ... ja«, stimmte Pitt zu. »Wer hätte einen Vorteil davon, Ryerson in die Sache zu verwickeln?«
»Nun, es würde ein großes Echo in der Öffentlichkeit hervorrufen«, sagte Narraway sogleich. »Die Ermordung eines untergeordneten Diplomaten ist nicht weiter erheblich. Wenn Journalisten in ganz Europa über den Fall berichten, dann ausschließlich, weil Ryerson in ihn verwickelt ist. Wir hätten nicht die geringste Aussicht, Stillschweigen darüber zu bewahren. Damit würde aber nicht nur das gewalttätige Ereignis mit allen entsetzlichen Einzelheiten an die Öffentlichkeit kommen, sondern auch alle törichten und widerlichen Schritte, die man seither unternommen hat, um zu verhindern, dass es bekannt wurde.«
»Sie ist also in der Überzeugung ins Land gekommen, etwas für die ägyptische Baumwollindustrie tun zu können, während ihre Auftraggeber von Anfang an die Absicht hatten, diesen Fall publik zu machen?« Für Pitt ergab das fraglos einen Sinn, denn jetzt passte alles ins Bild, was er in Alexandria über Ayesha Sachari erfahren hatte. Wieder einmal hatte jemand sie verraten, aber diesmal würde es sie das Leben kosten. Eine einzige Frage blieb zu beantworten. »Was hat man ihr gesagt, um sie dazu zu bringen, dass sie Lovat tötete?«, fragte er. »Oder hat sie es gar nicht getan?«
Narraway sah ihn erst verblüfft an, dann nachdenklich. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Nehmen wir an, sie hat die Tat nicht begangen – wer war es dann?«
Pitt stand auf. »Ich weiß es nicht.« Eine tiefe Wut quoll in ihm hoch, weil jemand offenkundig sie ebenso wie Ryerson benutzt hatte, mit dem Ziel, demnächst in Ägypten eine Unzahl von Menschen in eine Katastrophe zu treiben. Nicht nur die Schönheit und Wärme Alexandrias würden ihr zum Opfer fallen, sondern auch die Männer und Frauen, deren Gesichter er dort gesehen hatte, ohne ihre Namen zu kennen. Es war ihm in tiefster Seele zuwider, dass er nicht wusste, was da gespielt wurde, und dass er in dieser Geschichte hierhin und dorthin gerissen wurde, ohne zu wissen, was er wirklich glauben sollte.
»Verschaffen Sie mir eine Besuchserlaubnis bei ihr.« Das war eine Forderung, keine Bitte.
»Die kann ich erst morgen früh bekommen«, sagte Narraway. »Sie brauchen sie schriftlich«, fügte er hinzu, als Pitt zögerte. »Da sie noch nicht schuldig gesprochen ist, hat sie nach wie vor bestimmte Rechte. Noch hält die ägyptische Botschaft ihre schützende Hand über sie. Bis morgen Nachmittag haben Sie Ihre Erlaubnis.«
Pitt gab sich damit zufrieden, weil er keine Wahl hatte.
Am folgenden Tag suchte er Narraway um die Mittagszeit auf. Die wenigen Stunden, in denen er Schlaf gefunden hatte, waren mit Träumen von Gewalt und nahezu unerträglicher Spannung angefüllt gewesen. Fast zwei Stunden musste er allein im Empfangszimmer warten, bis Narraway mit einem Blatt Papier in einem Umschlag zurückkehrte und es ihm ohne nähere Erklärung übergab.
»Danke.« Pitt nahm es. Er sah auf die wenigen Zeilen und war beeindruckt, dachte aber nicht im Traum daran, Narraway das merken zu lassen. »Ich gehe sofort zu ihr.«
»Tun Sie das, bevor es sich die Leute anders überlegen.« Dann fügte er hinzu: »Noch etwas, Pitt – seien Sie vorsichtig! Der Einsatz, um den hier gespielt wird, ist sehr hoch und heißt vielleicht sogar Krieg. Mit Sicherheit haben die Leute, die dahinter stecken, keine Bedenken, einen Polizisten mehr oder weniger aus dem Weg zu räumen.«
Obwohl ihm die Situation klar war, blieben diese Worte nicht ohne Eindruck auf ihn. Schroff sagte er: »Das weiß ich selbst«, wandte sich um und ging. Er warf Narraway einen kurzen Abschiedsgruß über die Schulter zu, damit dieser nichts vom Sturm der Gefühle merkte, die in ihm tobten. Gefahren waren ihm vertraut. Wer wie er Streifendienst in Londons finstersten Gässchen gemacht hatte, hatte zwangsläufig solche Erfahrungen gemacht. Diese Sache aber war von einer anderen Größenordnung, die Verschwörung, um die es dabei ging, war von einem Ausmaß, mit dem er noch nie zu tun gehabt hatte. Hier handelte es sich nicht um die Pläne eines einzelnen Menschen, sondern es ging um das Schicksal eines ganzen Landes, die Möglichkeit sinnloser Zerstörung und tausendfachen Todes.
Er nahm die erste Droschke, die vorüberkam, und forderte den Kutscher auf, ihn so rasch wie möglich nach Newgate zu bringen. Dort suchte er sofort den zuständigen Wärter auf und zeigte ihm die Vollmacht, die ihm Narraway gegeben hatte. Der Mann las sie zweimal bedächtig durch und beriet sich dann mit einem Vorgesetzten. Endlich, als Pitt schon im Begriff stand zu explodieren, führte er ihn zur Zelle der Ägypterin und schloss auf.
Pitt trat ein und hörte, wie die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. Der Anblick der Frau, der er sich gegenübersah, machte ihn sprachlos. Er hatte sich aus seinen Vorstellungen und aus dem, was er in Alexandria gesehen hatte, ein Bild von Ayesha Sachari gemacht. Vielleicht hatten alte Berichte über die griechisch beeinflusste Stadt seine Vorstellungen von ihr geprägt, ohne dass ihm das zu Bewusstsein gekommen war. So hatte er vor seinem inneren Auge eine Frau von höchstens durchschnittlicher Größe mit weich gerundetem Leib, olivfarbener Haut und glänzend schwarzem Haar gesehen.
In Wahrheit war sie ziemlich groß, nur eine knappe Handbreit kleiner als er, feingliedrig und schlank. Sie trug ein helles Seidengewand, ähnlich denen, die er an Frauen in Alexandria gesehen hatte, doch war es anmutiger geschnitten. Das Ungewöhnlichste aber waren ihre nahezu schwarze Haut und das Haar, das ihr glatt um den vollkommen geformten Kopf lag. Ihre Züge waren mehr als schön, sie wirkte herrlich wie ein Kunstwerk, doch ließ die Ausstrahlung, die von ihr ausging, keinen Zweifel daran, dass es sich um eine lebende, atmende Frau handelte. Sie war ganz offensichtlich keine der mediterranen Ägypterinnen, sondern stammte, weit tiefer in die Vergangenheit reichend, aus dem alten koptischen Afrika.
»Wer sind Sie?« Ihre leise, ein wenig belegte Stimme holte ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück. Er hörte kaum einen Akzent. Ihm fiel lediglich auf, dass sie die Worte ein wenig deutlicher aussprach als die meisten Engländerinnen – etwa so wie Großtante Vespasia.
»Entschuldigung, Miss Sachari«, sagte er automatisch. »Ich heiße Thomas Pitt und muss unbedingt mit Ihnen sprechen, bevor das Gericht am Montag wieder zusammentritt. Bestimmte Dinge, von denen Sie möglicherweise nichts wissen, sind ans Licht gekommen.«
»Sie können mir sagen, was Sie wollen«, entgegnete sie ihm gleichmütig. »Außer dem, was ich bereits ausgesagt habe, habe ich Ihnen nichts zu sagen. Da ich es nicht beweisen kann, ist es wohl wenig sinnvoll, es zu wiederholen. Sie vergeuden Ihre Zeit, Mr Pitt – und auch die meine, die möglicherweise sehr bemessen ist.« Sie sagte das ohne den geringsten Anflug von Selbstmitleid, doch konnte er an ihrem Gesicht erkennen, dass hinter ihrem Mut unendlicher Kummer lag.
Er blieb stehen, weil es außer ihrer Pritsche keine Sitzgelegenheit gab.
»Ich war vor etwa drei Wochen in Alexandria«, begann er. Er sah, wie sie vor Überraschung erstarrte, ohne aber etwas zu sagen. »Ich wollte mehr über Sie in Erfahrung bringen«, fuhr er fort. »Und ich muss gestehen, dass mich in Erstaunen versetzt hat, was ich erfahren habe.«
Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht und verschwand gleich wieder. Sie strahlte eine Ruhe aus, die nichts damit zu tun hatte, dass sie sich nicht bewegte – es war eine innere Beherrschung, eine Gelassenheit des Geistes.
»Ich glaube, Sie sind nach England gekommen, weil Sie Ryerson dazu bewegen wollten, dass er Einfluss auf die Baumwollindustrie nimmt, damit mehr ägyptische Baumwolle dort verarbeitet wird, wo man sie anbaut, und die Fabriken wieder in Gang gesetzt werden können, wie zu Mohammed Alis Zeiten.«
Wieder war sie sprachlos. Ihre Verwunderung äußerte sich in einem kaum wahrnehmbaren Anhalten des Atems, das er mehr spürte als sah.
»Dahinter stand die Absicht zu erreichen, dass Ihr Volk durch seiner Hände Arbeit Wohlstand erlangen kann«, fügte er hinzu. »Das war eine naive Annahme. Wäre Ihnen klar gewesen, wie viel Geld in dieser Industrie steckt, wie viele mächtige Menschen dahinter stehen, hätten Sie wahrscheinlich bald erkannt, dass kein Einwohner Einfluss darauf nehmen kann, nicht einmal jemand in Ryersons Position.«
Sie holte Luft, als wolle sie etwas dagegen sagen, stieß dann aber den Atem lautlos wieder aus und wandte sich halb von ihm ab. Das Licht spielte auf ihrem Gesicht wie auf glänzender Seide. Ihre Haut war untadelig, die Backenknochen hoch, ihre Nase lang und gerade, und die Augen standen leicht schräg. Es war ein Gesicht, auf dem sich Leidenschaft und unendliche Würde mischten. Die feinen Linien, die er nur sehen konnte, weil er ganz in ihrer Nähe stand, rührten vom Lachen, waren zu seiner Überraschung ein Hinweis darauf, dass sie nicht nur intelligent, sondern auch zur Ironie fähig war.
»Vermutlich war dem Mann, der Sie hergeschickt hat, klar, dass Ihr Vorhaben keinesfalls gelingen konnte«, fuhr er fort. Er war nicht sicher, ob sich ein Schatten bewegt hatte oder ob bei diesen Worten ihr Körper unter der Seide ihres Kleides erstarrt war. »Ich nehme an, dass er einen anderen Zweck verfolgt hat«, sprach er weiter, »und die Baumwolle nur ein Vorwand war, den er Ihnen nannte, weil das eine Aufgabe war, der Sie mit aller Kraft dienen konnten, ganz gleich, was es Sie selbst kosten würde.«
»Sie irren sich«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Sofern ich naiv war, habe ich einen hohen Preis dafür bezahlt, aber Leutnant Lovat habe ich nicht getötet.«
»Und trotzdem sind Sie bereit, sich dafür hängen zu lassen?«, fragte er überrascht. »Und nehmen auch in Kauf, dass man Mr Ryerson hängt?«
Sie zuckte leicht zusammen, als hätte er sie geschlagen, änderte ihre Position aber nicht im Geringsten und gab keinen Laut von sich.
»Glauben Sie etwa, man würde ihn laufen lassen, weil er Kabinettsmitglied ist?«, fragte Pitt.
Endlich wandte sie sich ihm zu. Ihre weit offenen Augen waren nahezu schwarz.
»Ist Ihnen noch nicht aufgegangen, dass er Feinde hat?«, fragte er lauter, als es seiner Art entsprach. Wenn er sie mit Samthandschuhen anfasste, würde sie ihm vielleicht ausweichen, und er würde wieder nicht die Wahrheit erfahren. »Wer auch immer Sie hergeschickt hat, hat weit mehr im Sinn als Baumwolle, ob in Ägypten oder Manchester.«
»Das stimmt nicht.« Sie sagte es wie eine Tatsache. In ihren Augen lag der Ausdruck von Gewissheit. Doch schon sah er, dass sie schwankend wurde.
»Wenn Sie Lovat nicht getötet haben, wer war es dann?«, fragte er, wieder mit leiser Stimme. Noch hatte er sich nicht entschieden, ob er auf das Massaker zu sprechen kommen oder es nur andeuten wollte. Er beobachtete sie, versuchte in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen, einen Hinweis zu finden, und sei er noch so flüchtig, der den Hass verriet, der hinter einem Mord aus Rache stehen konnte. Bisher hatte er nicht einmal eine Andeutung davon gesehen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Aber Sie haben gesagt, dass die Sache nichts mit Baumwolle zu tun hat. Womit hat sie dann zu tun?«
Es war so gut wie undenkbar, dass sie die Antwort kannte. Würden die Liebe zu ihrer Heimat und zur Gerechtigkeit, sofern er es ihr sagte, sie dazu veranlassen zu sprechen, und sei es nur, um zu zeigen, dass ihr Verbrechen gerechtfertigt war? Würde ein Richter angesichts einer so ungeheuerlichen Provokation auf mildernde Umstände erkennen? Wenn er Richter wäre, würde er das gewiss tun! »Mit anderen politischen Gründen«, sagte er ausweichend. »Altes Unrecht sollte angeprangert werden, mit dem Ziel, zu Gewalttaten aufzurufen, wenn nicht gar zum Aufstand.«
»Wie die Derwische im Sudan?«, fragte sie matt.
»Warum nicht? Wenn Sie über die Sache im Licht dessen nachdenken, was Sie jetzt wissen, glauben Sie dann wirklich, dass je die Aussicht bestanden hat, in der Baumwollindustrie eine Änderung herbeizuführen, bevor sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse geändert haben, ganz gleich, wie Mr Ryersons Überzeugungen oder Wünsche aussehen mochten?«
Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie kaum hörbar einräumte: »Nein.«
»Dann ist doch sicher denkbar, dass das auch Ihrem Auftraggeber bekannt war und er in Wahrheit einen anderen Plan verfolgte?« , setzte er nach.
Sie gab keine Antwort, doch er merkte, dass sie begriffen hatte.
»Außerdem lässt es ihn völlig kalt, wenn Sie für einen Mord gehängt werden, den Sie nicht begangen haben«, fuhr er fort, »und Ryerson dasselbe Schicksal erwartet.«
Das schmerzte sie. Er sah, wie sie erstarrte und ihr das Blut aus den Wangen wich.
»Könnte es sein, dass er Lovat getötet hat?«, fragte er.
Ihr Kopf neigte sich ganz langsam und kaum merkbar, aber es war eine Zustimmung.
»Auf welche Weise?«, fragte er.
»Er ... er spielt die Rolle meines Dieners.«
Natürlich! Tariq El Abd, lautlos und nahezu unsichtbar. Dieser Mann hätte ohne die geringsten Schwierigkeiten ihre Waffe nehmen, Lovat erschießen und anschließend die Polizei anrufen können, damit sie Ryerson am Tatort fand. Er hätte das Ganze ohne weiteres einfädeln können, denn selbstverständlich hatte sie ihm ihre für Lovat bestimmten Briefe gegeben, damit er sie ihm überbrachte. Es war eine vollkommene Tarnung, denn ehe jemand einen Verdacht gegen ihn schöpfte, würde man alle möglichen anderen verdächtigen.
»Danke«, sagte er und meinte es aufrichtig. Immerhin war auf diese Weise das Geheimnis enthüllt, wenn auch das Problem damit noch nicht gelöst war. Erneut ging ihm auf, wie sehr er gehofft hatte, dass nicht sie die Täterin war. Es war beinahe, als sei ihm ein Gewicht von den Schultern genommen worden.
»Was werden Sie tun, Mr Pitt?«, fragte sie mit einer Stimme, in der jetzt doch Angst schwang.
»Ich werde nachweisen, dass man Sie benutzt hat, Miss Sachari.« Ihm war klar, dass seine Worte sie zwangsläufig an jene andere, Jahre zurückliegende Gelegenheit erinnerten, bei der man sie benutzt und verraten hatte. »Und dass weder Sie noch Mr Ryerson des Mordes schuldig sind. Und ich werde mich bemühen, das zu tun, ohne dass es in Ägypten zu einem Blutbad kommt. Ich fürchte, das zweite Ziel hat Vorrang vor dem ersten.«
Ohne etwas zu sagen, stand sie da, reglos wie eine Ebenholzstatue, während er sich mit einem leichten Lächeln verabschiedete und an die Zellentür klopfte, um den Wärter zu rufen.
Er überlegte nur kurz, ob er allein gehen oder vorher Narraway aufsuchen und ihn ins Bild setzen sollte. Wenn Tariq El Abd die treibende Kraft hinter dem Plan war, das Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen und in Ägpyten die Fackel des Aufruhrs zu entzünden, würde er sich bestimmt nicht tatenlos von Pitt oder sonst jemandem festnehmen lassen. Wenn er allein nach Eden Lodge ging, würde er den Mann möglicherweise nur warnen und unter Umständen die befürchtete Katastrophe damit noch beschleunigen.
Er hielt eine Droschke am Straßenrand an und nannte Narraways Büroadresse. Hoffentlich war er da.
»Was bringen Sie Neues?«, fragte Narraway, als er Pitts Gesicht sah.
»Der Unbekannte, der hinter Ayesha Sachari steckt, ist ihr Diener Tariq El Abd«, sagte er. Narraways Ausdruck zeigte ihm, dass keine weitere Erklärung nötig war.
»Wir waren mit Blindheit geschlagen!«, brach es aus Narraway heraus. Er war wütend auf sich, dass er nicht von selbst auf diese nahe liegende Lösung gekommen war. Dann sprang er auf. »Ein Dienstbote, und noch dazu ein fremdländischer, sodass wir ihn nicht einmal in unsere Erwägungen einbeziehen! Verdammt! Das hätte mir nicht passieren dürfen!« Er riss eine Schublade auf, der er eine Pistole entnahm. Dann schob er sie mit Schwung wieder zu und ging Pitt mit großen Schritten voraus. »Ich hoffe, Sie waren so klug, die Droschke warten zu lassen«, sagte er spitz.
»Selbstverständlich«, gab Pitt zurück und folgte ihm aus der Haustür, die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus, wo die Droschke stand. Unruhig tänzelte das Pferd. Vielleicht spürte es die Anspannung des Kutschers.
»Eden Lodge!«, sagte Narraway knapp, stieg vor Pitt ein und gebot dem Kutscher mit einer Handbewegung anzufahren, während Pitt noch den Fuß auf dem Trittbrett hatte.
Auf der ganzen Fahrt durch die belebten Straßen, um Plätze herum, unter Bäumen hindurch, deren Laub sich langsam verfärbte, sprach keiner der beiden ein Wort.
Als die Droschke vor Eden Lodge anhielt, stieß Narraway hervor: »Hinten herum!«, und sprang gelenkig heraus.
Das Haus stand verlassen. Der Herd in der Küche war kalt, die Asche grau, die Lebensmittel in der Vorratskammer fast schon verdorben.
Narraway stieß einen wilden Fluch aus, doch war ihm klar, dass weder er noch sonst jemand etwas tun konnte.