KAPITEL 4
An eben dem Tag, als Charlotte versuchte, Gracie und damit Tilda zu helfen, sah Pitt durch die angelehnte Tür zum Büro, wie Narraway unruhig auf und ab ging: fünf Schritte hin, fünf zurück, immer und immer wieder. Er fuhr herum, als Pitt eintrat. Sein Gesicht wirkte gequält und matt. Mit unnatürlich glänzenden Augen sah er Pitt fragend an, als dieser die Tür hinter sich schloss und dann stehen blieb.
»Es stimmt, dass Ryerson am Tatort war«, sagte er ohne Einleitung. »Er bestreitet das in keiner Weise. Nicht nur hat er nichts unternommen, um die Polizei zu verständigen, er hat der Frau sogar bei dem Versuch geholfen, die Leiche wegzuschaffen. Sie hat dazu keine Aussage gemacht, aber er wird es bestätigen, wenn ihn die Polizei befragt. Unverkennbar deckt er sie, und das kann ihn teuer zu stehen kommen.«
Narraway sagte nichts, doch sein Körper schien sich noch mehr anzuspannen. Es war, als schwängen in Pitts Worten Bedeutungsschichten mit, die tiefer reichten als die bekannten Tatsachen.
»Die Aussage der Frau ergibt keinen Sinn«, fuhr Pitt fort. Insgeheim hoffte er, dass Narraway etwas sagen und ihm damit das Weitersprechen erleichtern würde. Doch dieser schien so tief in seine Empfindungen versunken zu sein, dass er, wie es aussah, keine Möglichkeit fand, seinen scharfen analytischen Verstand zu nutzen. Ganz offenkundig erwartete er, dass Pitt die Gesprächsführung übernahm.
»Welchen Grund hätte es für sie gegeben, die Leiche wegzuschaffen, wenn sie mit dem Mord nichts zu tun hatte?«, fuhr Pitt fort. »Warum hat sie nicht die Polizei gerufen, wie das jeder normale Mensch tun würde?«
Narraway sah ihn düster an und sagte mit rauer Stimme: »Weil es sich um eine gestellte Situation handelt und sie gefasst werden wollte. Möglicherweise hat sie selbst die Polizei gerufen. Ist Ihnen dieser Gedanke schon einmal gekommen?«
»Warum sollte sie sich selbst belasten?«, fragte Pitt fassungslos.
Narraways Gesicht war voll Bitterkeit. »Warten Sie ab, was sie in der Verhandlung sagt. Noch sind wir nicht so weit. Falls man Talbots Angaben trauen kann, hat sie dazu bisher kein Wort gesagt. Was aber ist, wenn sie aus lauter Verzweiflung eine Kehrtwendung macht und zögernd zugibt, dass Ryerson in einem Anfall von wilder Eifersucht den Nebenbuhler Lovat erschossen hat?« Mit beißendem Spott verfiel er in den kläglichen Tonfall, in dem sie seiner Annahme nach sprechen würde. »Sie habe versucht, die Sache unter der Decke zu halten - erstens aus Liebe zu ihm und zweitens wohl aus schlechtem Gewissen, weil sie ihn provoziert hatte und ihr sein aufbrausendes Wesen bekannt war. Jetzt aber könne sie keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen, da sie die Sache nicht so weit treiben wolle, sich für ihn hängen zu lassen.« Sein Blick forderte Pitt auf, ihm zu beweisen, dass seine Vermutung falsch war.
Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. »Aber warum denn nur?«, fragte er. Kaum aber hatte er das gesagt, als sich entsetzliche Möglichkeiten vor seinem inneren Auge abzeichneten - persönliche, politische, gewalttätige.
Narraway warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie kommt aus Ägypten. Da fällt einem doch als Allererstes Baumwolle ein. In Manchester hat es wegen der Preise bereits großen Ärger gegeben. England will niedrigere, Ägypten höhere. Als uns wegen des Bürgerkriegs in Amerika die Lieferungen aus den Südstaaten fehlten und wir auf die Ägypter angewiesen waren, hat sich das Marktgleichgewicht verschoben. Inzwischen hat die Baumwollindustrie auf dem europäischen Kontinent aufgeholt, und wir brauchen unsere Kolonien nicht nur als Lieferanten, sondern sind auf sie auch als Märkte angewiesen.«
Pitt runzelte die Stirn. »Kaufen wir nicht sowieso schon den größten Teil der ägyptischen Baumwolle?«
»So ist es!«, sagte Narraway ungeduldig. »Aber ein Geschäft, bei dem eine Seite nicht auf ihre Kosten kommt, nützt letzten Endes keiner von beiden, weil daraus keine dauerhafte Handelsbeziehung entstehen kann. Ryerson ist einer der wenigen, die nicht nur die nächsten Jahre sehen, sondern den Blick etwas weiter in die Zukunft richten und zugleich fähig sind, eine Abmachung zu erzielen, bei der sowohl Ägypten als Baumwollerzeuger als auch die britische weiterverarbeitende Industrie den Eindruck haben, gut abgeschnitten zu haben.« Seine Züge waren jetzt angespannt. »Davon abgesehen, darf man den ägyptischen Nationalismus nicht aus den Augen verlieren. Es ist keine zwanzig Jahre her, dass wir anno 82 Alexandria zusammengeschossen haben – da wollen wir doch um Gottes willen nicht schon wieder Kanonenboote dahin in Bewegung setzen müssen!« Pitt zuckte zusammen, doch Narraway, der davon nichts zu merken schien, fuhr fort: »Außerdem ist auch die Frage der religiösen Eiferer zu bedenken. Ich muss Sie ja wohl kaum an den Aufstand im Sudan erinnern?«
Pitt sagte nichts darauf. Schließlich war es allgemein bekannt, dass 1883 Khartoum belagert und General Gordon ermordet worden war.
»Und natürlich Motive wie persönliches Gewinnstreben oder Hass auf Mitmenschen oder das andere Geschlecht«, ergänzte Narraway.
»Wir müssen also unbedingt die Wahrheit erfahren, bevor es zur Verhandlung kommt«, schloss Pitt. »Auch wenn ich nicht weiß, ob das helfen würde.«
»Es ist Ihre Sache, dafür zu sorgen!«, stieß Narraway mit belegter Stimme zwischen den Zähnen hervor. Unübersehbar bewegten ihn ganz eigene Empfindungen. »Sollte es zu einem Schuldspruch gegen Ryerson kommen, müsste ihn die Regierung entweder durch Howlett oder durch Maberley ersetzen. Howlett würde den englischen Fabrikarbeitern nachgeben und die Preise für Rohbaumwolle so weit drücken, dass es den Ägyptern die Luft abschnürt. Zwar gäbe es dann bei uns ein paar Jahre des Wohlstandes, am Ende aber würden eine Katastrophe und eine allgemeine Verarmung stehen. Ägypten hätte keine Baumwolle mehr zu verkaufen und auch kein Geld mehr, uns welche Industrieerzeugnisse auch immer abzunehmen. Möglicherweise würde es sogar zu einem Volksaufstand kommen. Maberley seinerseits würde den Ägyptern nachgeben. Das würde in ganz Mittelengland zu einem Aufruhr führen, den die Polizei gewaltsam unterdrücken müsste, wenn es nicht sogar nötig wäre, das Militär zu Hilfe zu holen.« Er setzte an, um noch mehr zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich von Pitt ab.
»Zur Stunde weist alles darauf hin, dass die Ägypterin die Tat begangen und Ryerson ihr bereitwillig dabei geholfen hat, sie zu vertuschen.« Er stach mit einem Finger in die Luft. »Eine andere Lösung muss her. Versuchen Sie, mehr über diesen Lovat in Erfahrung zu bringen. Was für ein Mensch war er? Wie hat seine Beziehung zu der Frau ausgesehen? Da wird sich doch hoffentlich ein Grund dafür finden lassen, dass sie ihn umgebracht hat. Ansonsten wäre zu untersuchen, wer sonst noch als Täter infrage kommt.« Obwohl bei diesen Worten nicht die geringste Zuversicht in Narraways Stimme lag, hatte Pitt das unabweisbare Gefühl, dass er sich trotz aller Verbitterung an die schwache Hoffnung klammerte, es werde sich eine bessere Erklärung für den Mord an Lovat ergeben.
»Sie kennen Ryerson, Sir«, begann Pitt. »Wird er sich wirklich mit in den Fall verwickeln lassen, falls die Frau unter Anklage gestellt wird? Würde er, sofern er das Bewusstsein einer Schuld oder Mitschuld hat, zurücktreten, um dann wenigstens nicht mehr dem Kabinett anzugehören?«
Narraway kehrte ihm weiterhin den Rücken zu, sodass Pitt sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Ich denke schon«, erwiderte er. »Aber solange nicht ohne den geringsten Zweifel feststeht, dass ihn eine Schuld an Lovats Tod trifft, bin ich nicht bereit, ihm einen solchen Schritt nahezulegen.« Damit wollte Narraway offensichtlich das Gespräch abschließen. Im Licht, das durch das schmale Fenster hereinfiel, sah Pitt, wie angespannt er dastand. »Berichten Sie mir morgen«, sagte er endlich. Als Pitt die Tür erreicht hatte, rief ihn Narraway noch einmal zurück.
»Ja, Sir?«
»Ich habe Sie in mein Ressort übernommen, weil mir Cornwallis versichert hat, Sie seien nicht nur sein bester Kriminalbeamter mit Zugang zur besseren Gesellschaft, sondern vor allem auch ein Mann, der es versteht, mit Umsicht und Feingefühl vorzugehen und dabei die Wahrheit ans Licht zu fördern.« In seinen Worten schwang eine Frage und zugleich eine Bitte mit. Einen Augenblick hatte Pitt den Eindruck, Narraway erwarte von ihm Hilfe in einer Sache, die er weder genau benennen noch erklären konnte.
Dann schwand der Moment.
»Machen Sie weiter«, sagte Narraway.
»Ja, Sir«, wiederholte Pitt, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Er suchte auf kürzestem Weg Lovats Dienststelle in Whitehall auf. Nicht nur hatte die Polizei selbstverständlich schon dort nachgefragt, sondern das Amt war sogar in Lovats Nachruf genannt worden, sodass jeder über die Art seiner Tätigkeit informiert war. Als Pitt eintraf, empfing ihn Ragnall, ein Beamter von Anfang vierzig, mit lustloser Schicksalsergebenheit. Vermutlich hatte er bereits alle in diesem Zusammenhang denkbaren Fragen beantwortet. Sie standen in dem unauffällig eingerichteten stillen Büro, von dem aus der Blick auf die königlichen Gardisten fiel, die hoch zu Ross Wache hielten. Ragnall sah Pitt zwar geduldig, aber mit nur mäßigem Interesse an.
Mit den Worten: »Ich wüsste nicht, was ich Ihnen groß mitteilen könnte«, bedeutete er dem Besucher, im Sessel gegenüber seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Ich kann Ihnen lediglich sagen, was Sie sich bestimmt selbst denken können: Er hat der Frau so lange zugesetzt, bis sie ihn in ihrer Verzweiflung erschossen hat ... entweder, weil sie glaubte, in Notwehr zu handeln, oder, wahrscheinlicher, weil er damit gedroht hat, ihre gegenwärtige Beziehung zu zerstören.« Ein leichter Ausdruck von Widerwillen trat auf sein Gesicht. »Bevor Sie mich fragen - ich habe keine Ahnung, welcher Art diese Beziehung sein könnte.«
Pitt hatte sich zwar von Anfang an nicht viel von dem Gespräch versprochen, hätte aber nicht gewusst, wo er sonst beginnen sollte. Er lehnte sich bequem zurück und sah Mr Ragnall an.
»Sie meinen, er könnte Miss Sachari so sehr zugesetzt haben, dass sie angenommen hat, ihm nicht mit einer einfachen Zurückweisung seine Grenzen aufzeigen zu können?«, vergewisserte er sich.
Ganz offensichtlich überrascht, entgegnete Ragnall: »So sieht es doch aus. Oder meinen Sie etwa, dass sie ihn aus irgendeinem Grund erst in seinen Bemühungen ermuntert und dann umgebracht hat? Warum um Gottes willen hätte sie das tun sollen?« Er runzelte die Stirn. »Sie sagen, Sie kommen im Auftrag des Sicherheitsdienstes ...«
»Der hatte vor Mr Lovats Tod keine Kenntnis von Miss Sacharis Existenz«, beantwortete Pitt die unausgesprochene Frage, die darin mitschwang. »Ich wollte einfach wissen, wie Sie Mr Lovat einschätzen. Gehörte er Ihrer Ansicht nach zu den Männern, die auch dann nicht aufhören, eine Frau zu behelligen, wenn sie klar und deutlich zu verstehen gegeben hat, dass ihre Bemühungen unerwünscht sind?«
Ragnall sah ein wenig unbehaglich drein. Eine kaum wahrnehmbare Röte stieg ihm in das gut aussehende glatte Gesicht.
»Ja, so etwa habe ich das wohl gemeint.« Er ließ es wie eine Entschuldigung klingen. »Wie man hört, soll die Dame außerordentlich schön sein. Empfindungen von der Art, um die es hier geht, können sich ... bis zur Besessenheit steigern.« Er schürzte die Lippen und schien kurz nach den treffenden Worten zu suchen, um sicherzustellen, dass Pitt ihn richtig verstand. »Sie ist Ägypterin. Frauen wie sie dürfte es hier in London nicht viele geben. Das heißt, sie ist weder alltäglich noch leicht ersetzbar. Manche Männer fühlen sich zum Exotischen hingezogen.«
»Sie hatten regelmäßig mit Mr Lovat zu tun.« Pitt tastete sich langsam voran. »Würden Sie sagen, dass es sich bei ihm um diese Art ›Besessenheit‹ handelte, von der Sie gerade gesprochen haben?«
»Nun ...« Ragnall holte tief Luft und stieß sie dann wieder aus.
»Wenn Sie seinen Ruf zu schützen versuchen, könnten Sie einen anderen Menschen damit in Gefahr bringen«, sagte Pitt mit finsterer Miene.
Ragnall sah ihn fragend an. »Einen anderen?« Dann löste sich seine Verwirrung. »Ach so. Ich nehme an, dass der ganze Unfug, den die Zeitungen über Ryerson verbreiten, nichts als ...« In einer hilflosen Gebärde spreizte er die Hände, um zu verdeutlichen, was er davon hielt.
»Das hoffe ich«, schloss sich Pitt seiner Meinung an. »War Lovat von ihr besessen?«
»Ich ... ich weiß es wirklich nicht.« Ragnall fühlte sich offensichtlich unbehaglich. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er in Bezug auf eine Frau je seriöse Absichten hatte ... Wenn es aber doch zu einer etwas ernsthafteren Verbindung kam, war die nie von langer Dauer. Er ...« Jetzt war die Färbung seines Gesichts unverkennbar. »Es schien ihm ziemlich leicht zu fallen, Frauen für sich zu gewinnen und ... fallen zu lassen.«
»Hatte er viele Liebesbeziehungen?«, hakte Pitt nach.
»Ja ... leider. Auch wenn er dabei selbstverständlich meist recht diskret vorging, hat man dies und jenes mitbekommen.« Es war Ragnall schmerzlich bewusst, dass er mit einem Mann, der gesellschaftlich unter ihm rangierte, über ein intimes Thema sprach. Pitt hatte ihn dazu gebracht, seine eigene Schicht oder seine ethischen Grundsätze zu verraten. Beides kränkte sein Selbstwertgefühl.
»Was für Frauen waren das?«, erkundigte sich Pitt, nach wie vor höflich und im Gesprächston.
Ragnall öffnete die Augen weit.
Pitt löste den Blick nicht von ihm. »Man hat Mr Lovat ermordet, Sir«, erinnerte er ihn. »Bedauerlicherweise liegen die Gründe für ein solches Verbrechen nur selten so offen zutage, wie wir das gern hätten, und häufig sind sie schändlich. Ich muss unbedingt mehr über ihn und die Menschen wissen, mit denen er in näherer Berührung stand.«
»Aber hat ihn nicht diese Ägypterin umgebracht?«, fragte Ragnall, der seine Fassung wiedergewonnen zu haben schien. »Schon möglich, dass es unklug von ihm war, sie weiter zu bedrängen, nachdem sie anscheinend nichts mehr von ihm wissen wollte, aber das ist doch kein Grund, einen anderen mit in die Sache hineinzuziehen?« Er unternahm keinen Versuch, den angewiderten Ausdruck auf seinem Gesicht zu unterdrücken.
»Auf den ersten Blick könnte man das annehmen«, räumte Pitt ein. »Allerdings bestreitet sie die Tat, und wie Sie selbst gesagt haben, scheint es eine unnötig gewalttätige Art zu sein, sich einen unerwünschten Kavalier vom Halse zu schaffen. Nach allem, was ich bisher über Miss Sachari gehört habe, ist sie eine Dame von Welt die wohl auch früher schon mit missliebigen Verehrern fertig werden musste. Es fragt sich also, inwiefern sich Lovat von diesen unterschied.«
Ragnalls Züge verfinsterten sich. Erneut trat eine dunkle Röte auf seine Wangen. Steif sagte er: »Sie haben Recht.« Es kostete ihn sichtlich Überwindung. »Sofern die Frau ihren Lebensunterhalt auf diese Weise verdient, und das war meine Annahme, dürften ihr weit geeignetere Mittel zu Gebote gestanden haben, sich früherer Liebhaber zu entledigen, wenn es darum ging, ihre Lage zu verbessern.«
»Sie sagen es«, stimmte ihm Pitt aus vollem Herzen zu. Das war der erste Punkt, der zugunsten von Miss Sachari sprach. Er war erstaunt, wie sehr ihn das freute. »Was für ein Mensch war Lovat? Ich erwarte von Ihnen keinen schönfärberischen Nachruf. Nur die Wahrheit kann allen helfen.«
Ragnall überlegte eine Weile. »Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass er ein Schürzenjäger war«, sagte er zögernd.
Pitt versuchte, die genaue Bedeutung von Ragnalls Äußerung auszuloten. »Heißt dass, er hatte viele Liebschaften? Hat er die Frauen benutzt oder ausgenutzt? Könnte er sich damit Feinde gemacht haben?«
Ragnall fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Ich ... ich weiß es wirklich nicht.«
»Sie müssen aber doch Ihre Annahme, dass er ein Schürzenjäger war, auf etwas stützen, Sir«, erwiderte Pitt. »Bekanntlich streicht so mancher Mann seine Eroberungen übertrieben heraus, um andere zu beeindrucken. Wenn sich jemand mit solchen Erfolgen brüstet, hat das nicht unbedingt etwas zu bedeuten.«
Ärger trat auf Ragnalls Gesicht. »Lovat hat sich nicht mit Erfolgen gebrüstet, Mr Pitt. Jedenfalls ist mir in dieser Hinsicht nichts aufgefallen. Was ich gesagt habe, gründet sich auf meine eigenen Beobachtungen und die von Kollegen.«
»Welche Art Frauen waren das?«, wollte Pitt wissen. »Solche wie Ayesha Sachari?«
Ragnall schien nicht recht zu wissen, was er darauf antworten sollte. »Meinen Sie Ausländerinnen? Oder ...« Er wollte offenbar das Wort Hure vermeiden, denn es sagte nicht nur etwas über diese Frauen aus, sondern auch über die Männer, die sich ihrer bedienten. »Ich weiß es wirklich nicht«, schloss er abrupt.
»Ich meine Frauen, die nicht verheiratet sind oder hier in London keine Angehörigen haben«, stellte Pitt klar. »Frauen, die über das übliche Heiratsalter hinaus sind und sich ihren Lebensunterhalt möglicherweise als Geliebte sichern.«
Ragnall holte tief Luft, als treffe er eine schwere Entscheidung.
Pitt wartete. Vielleicht war er endlich auf etwas gestoßen, das Ryerson nicht in die Sache hineinzog.
»Nein«, sagte Ragnall schließlich. »Ich hatte lediglich den Eindruck, als bedeuteten sie ihm nicht unbedingt etwas, und er ... und er hätte nicht die Mittel aufbringen können, eine Mätresse so auszuhalten, wie man sich das ganz allgemein vorstellt.« Er hielt inne, nach wie vor unsicher, ob er sich weiter vorwagen sollte.
Pitt sah ihn an. »Waren das verheiratete Frauen? Töchter aus achtbaren Familien?«
Ragnall räusperte sich. »Ja ... mitunter.«
»Mit wem hat er verkehrt?«, fragte Pitt. »Welchen Klubs hat er angehört? Was waren seine Interessen, welchen Sport hat er getrieben? Hat er sich am Spieltisch aufgehalten, ist er ins Theater gegangen? Was hat er überhaupt in seiner Freizeit getan?«
Ragnall zögerte.
»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie es nicht wissen«, mahnte Pitt. »Der Mann stand im diplomatischen Dienst. Sie hätten es sich gar nicht leisten können, seine Gewohnheiten nicht zu kennen, denn das wäre gleichbedeutend mit Unfähigkeit. Also muss Ihnen bekannt sein, mit wem er verkehrt hat, welche Schwierigkeiten er hatte, wie seine finanzielle Lage war.«
Ragnall hielt den Blick auf seine Hände gerichtet, die auf der Tischplatte lagen. Nach einer Weile sah er erneut zu Pitt auf. »Der Mann ist tot«, sagte er ruhig. »Ich ahne nicht, ob das auf ein bloßes Missgeschick zurückgeht oder er mehr oder weniger selbst dazu beigetragen hat. Seine Arbeit hat er einwandfrei getan. Ich wüsste nicht, dass er anderen Menschen Geld geschuldet hätte oder ihnen auf andere Weise verpflichtet gewesen wäre. Er stammte aus guter Familie und war ein Ehrenmann. Während seiner Dienstzeit im Heer hat er sich tadellos geführt und es zu keiner Zeit an Mut oder Einsatzbereitschaft fehlen lassen. Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt und kenne auch niemanden, dem er die Unwahrheit gesagt hätte. Er stand jederzeit treu zu seinen Freunden, wusste, wie man sich als Herr benimmt, besaß einen gewissen Charme, und jede Art von niedriger Gesinnung war ihm fremd.«
Pitt fühlte sich von der Welle des Bedauerns erfasst, die ihn jedes Mal überrollte, wenn er einen Mordfall aufzuklären hatte. Seinem Empfinden nach waren der Verlust eines Lebens, die Leidenschaft, die Verletzlichkeit, die Tugenden und die Eigenheiten des Opfers weit wichtiger als die Suche nach den Einzelheiten, aus denen man die Wahrheit zusammenklauben musste. Hier war ein Leben zu Ende gegangen, und zwar nicht auf natürliche Weise durch Altersschwäche, sondern ohne Vorankündigung, ein unerfülltes Leben. Mit einem Mal wirkten die Schwächen oder Missetaten des Toten so unbedeutend, dass man sie hätte vergessen können.
Ihm war klar, dass die analytische Schärfe seines Verstandes leiden würde, wenn er sich seinen Gefühlen hingab. Seine Aufgabe war es, die Wahrheit zu finden, ganz gleich, wie schmerzlich sie sein mochte, und es war auch unerheblich, ob das leicht oder schwer war, einfach oder kompliziert.
»Ich brauche die Namen derer, die zu seinem näheren Bekanntenkreis gehörten«, sagte er. »Natürlich ist es denkbar, dass sich seine völlige Schuldlosigkeit herausstellt, Mr Ragnall, aber ich darf sie nicht von vornherein als gegeben voraussetzen. Wenn Miss Sachari oder sonst jemand für diesen Mord gehängt wird, dann einzig und allein deshalb, weil wir mit Sicherheit ermittelt haben, was geschehen ist und warum.«
»Natürlich.« Ragnall zog ein Blatt Papier zu sich heran, nahm eine Feder zur Hand, tauchte sie in das Tintenfass und begann zu schreiben. Dann trocknete er die Tinte und schob Pitt das Blatt hin.
Pitt nahm es und warf einen Blick darauf. Es waren Namen von Männern und von Klubs, in denen man sie finden konnte. Er dankte Ragnall und verabschiedete sich.
Pitt suchte einige der auf Ragnalls Liste verzeichneten Männer auf, erfuhr aber von ihnen kaum etwas. Sie waren offenkundig nicht bereit, etwas über einen Kollegen zu sagen, der sich nicht wehren konnte, weil er tot war. Das hatte weniger mit Freundestreue zu tun als damit, dass sie zu ihren eigenen Idealen standen. Vielleicht befürchteten sie auch, dass jemand, der auf diese Art Verrat beging, seinerseits damit rechnen musste, verraten zu werden, wenn seine eigenen Schwächen zur Diskussion gestellt wurden.
Um die Mitte des Nachmittags hatte Pitt jede Hoffnung auf gegeben, auf diesem Weg etwas Nützliches zu entdecken. So beschloss er, als Nächstes seinen Schwager Jack Radley aufzusuchen, der sich in seiner Eigenschaft als Unterhausabgeordneter seit längerem vor allem mit der Außenpolitik beschäftigte. Zwar traf er ihn im Parlament nicht an, stieß aber kurz nach vier auf ihn, wie er im Sonnenschein quer durch den St. James’s Park spazierte. Eine leichte Brise trieb einige Blätter, die sich früh verfärbt hatten, über den Rasen.
Als Pitt Jacks Namen rief, blieb dieser stehen und wandte sich um. Offenbar war er angenehm überrascht, ihn zu sehen.
»Arbeitest du etwa am Fall Eden Lodge?«, fragte er knapp, während sie nebeneinander hergingen.
»Bedauerlicherweise ja«, erwiderte Pitt. Sie kamen gut miteinander aus, sahen sich aber nur selten, da sie nicht nur unterschiedlichen Gesellschaftskreisen angehörten, sondern auch beide durch ihren Beruf stark in Anspruch genommen waren. Jack, der selbst nicht vermögend war, hatte es immer verstanden, so gut zu leben, wie es seiner Herkunft entsprach. Während er sich dabei anfangs seinen unleugbaren Charme zunutze gemacht hatte, stand ihm seit der Eheschließung mit Emily das Vermögen zur Verfügung, das diese von ihrem ersten Mann geerbt hatte.
In den ersten ein, zwei Jahren hatte er sich damit begnügt, sich wie zuvor einfach in der Gesellschaft zu amüsieren. Dann jedoch hatte er sich der Politik zugewandt, möglicherweise von Emily ein wenig in diese Richtung gedrängt. Zum Teil aber eiferte er wohl auch Pitts Beispiel nach, zumal unübersehbar war, wie viel Hochachtung seine Frau und ihre Schwester Menschen entgegenbrachten, die etwas leisteten.
»Ich kenne Ryerson nicht persönlich«, sagte Jack. »Er sitzt für Leute wie mich ein paar Etagen zu hoch ... Noch.« Als er Pitts Gesichtsausdruck sah, fügte er rasch hinzu: »Das soll nicht heißen, dass ich aufzusteigen hoffe. Komm also bitte erst gar nicht auf den Gedanken, ich spekulierte auf seinen Sturz. Muss man etwas in der Art befürchten?«, fragte er mit besorgter Miene.
»Das lässt sich noch nicht sagen«, gab Pitt zur Antwort. »Glaub nicht, dass ich das aus Diskretion sage – ich weiß es wirklich nicht.« Er schob die Hände in die Taschen, was Jack nie im Leben getan hätte. Eine solche Misshandlung von Kleidungsstücken war ihm in tiefster Seele zuwider. Schon in ganz jungen Jahren war er betont elegant aufgetreten und achtete beinahe stutzerhaft auf sein Äußeres.
»Ich wollte, ich könnte dir helfen«, sagte Jack, als müsse er sich entschuldigen. »Nach allem, was ich gehört habe, ist doch lachhaft, was man ihm zur Last legt.«
Ein schwarz-weißes Hündchen jagte herum und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Es schien weder zu dem Liebespärchen zu gehören, das nahe einer Baumgruppe turtelte, noch zu dem Kindermädchen in gestärkter Schwesterntracht, das einen Kinderwagen über den Parkweg schob. Die Sonnenstrahlen spielten auf den blonden Haaren, die sich unter ihrem weißen Häubchen hervorstahlen.
Pitt bückte sich, nahm ein Stück Holz auf und schleuderte es fort, so weit er konnte. Wild bellend jagte ihm der Hund nach.
»Warst du mit Lovat bekannt?«, fragte er.
Jack warf ihm einen Seitenblick zu und sagte mit unglücklicher Miene: »Nicht besonders gut.«
Pitt konnte es sich nicht leisten, ihn so leicht davonkommen zu lassen. »Man hat den Mann ermordet, Jack. Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«
Jack sah ihn verblüfft an. »Wieso interessiert sich der Sicherheitsdienst überhaupt dafür?«, fragte er misstrauisch. »Ist an den Spekulationen über Ryerson etwa doch was dran? Ich dachte, die Zeitungsfritzen hätten sich das alles aus den Fingern gesogen.«
»Ob etwas daran ist, weiß ich nicht«, gab Pitt zurück. »Ich versuche, es in Erfahrung zu bringen, und das möglichst, bevor diese Burschen dahinterkommen. Also – warst du mit Lovat bekannt? Bitte ohne das übliche ›über Tote nur Gutes‹.«
Jacks Mundwinkel strafften sich, und er richtete den Blick in die Ferne.
Der Hund kam hechelnd zurückgerannt, ließ das Stück Holz vor Pitts Füße fallen und sprang vor ihm auf und ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Pitt bückte sich noch einmal, hob es auf und warf es erneut weit fort. Mit fliegenden Ohren und abstehender Rute hetzte der Hund ihm nach.
»Mit ihm war das so eine Sache«, sagte Jack schließlich. »In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass er der ideale Kandidat dafür war, ermordet zu werden. Tut mir trotzdem verdammt Leid, dass es dahin gekommen ist.« Er wandte sich wieder Pitt zu. »Bitte geh in der Sache mit größter Zurückhaltung vor, Thomas. Sie könnte einer ganzen Reihe von Leuten schaden, die das nicht verdient haben. In Bezug auf Frauen war Lovat ein Dreckskerl. Wenn er sich mit Gattinnen von der Art begnügt hätte, die ihrem Mann Kinder geboren haben und sich danach ein bisschen amüsieren wollen, hätte das wohl niemanden groß gestört. Aber er hat sich an junge Frauen herangemacht und ihnen vorgegaukelt, sie aufrichtig zu lieben – solche, die heiraten wollten und für die das auch gut gewesen wäre. Kaum hatte er sie rumgekriegt, hat er sie fallen lassen. Natürlich hat daraufhin alle Welt angenommen, dass sie dabei ihre Tugend verloren hatten, sodass niemand mehr etwas von ihnen wissen wollte.« Er brauchte das Bild nicht weiter auszumalen. Beiden war klar, welches Schicksal eine Frau erwartete, die keinen Ehemann fand.
»Aber warum nur?«, fragte Pitt. »Wozu einer tugendhaften jungen Frau den Hof machen, wenn man sie nicht heiraten will? Es ist ein grausames Spiel ... und gefährlich. Ich würde ...« Er hielt inne. Einen flüchtigen Augenblick lang wandten sich seine Gedanken der kleinen Jemima zu, die so vertrauensvoll und so empfindsam war. Hätte ein Mann ihr das angetan, Pitt hätte sicherlich den Impuls gehabt, ihn umzubringen. Allerdings nicht, indem er ihn einfach mitten in der Nacht im Garten eines anderen erschoss. Er hätte das Bedürfnis gehabt, ihn zu Brei zu schlagen, das Krachen der Knochen zu spüren, den Aufprall seiner Faust auf das nachgiebige Fleisch, er hätte sehen wollen, dass der Mann litt und begriff, warum ihm das geschah. Wahrscheinlich war das primitiv, und es würde Jemima nicht im Geringsten helfen – sie wüsste dann lediglich, dass sie jemandem unendlich viel bedeutete und mit ihrer Qual nicht allein war. Auf jeden Fall aber würde er damit bewirken, dass dieser Mann sehr viel weniger Lust hätte, derlei noch einmal zu versuchen.
Er warf rasch einen Blick zu Jack hinüber und erkannte seine eigene Wut auf dessen Zügen gespiegelt. Vielleicht dachte auch er an sein kaum dem Säuglingsalter entwachsenes Töchterchen.
»Weißt du das genau?«, fragte Pitt leise.
»Ja. Ich nehme an, du willst Namen wissen?«
»Nein, will ich nicht, aber ich muss«, gab Pitt zur Antwort. »Glaub mir, nichts wäre mir lieber, als wenn die armen Geschöpfe ihren Kummer für sich behalten könnten. Aber wenn wir den Täter nicht überführen, wird der falsche Mann gehängt ... oder die falsche Frau.«
»Sicher hast du Recht.« Jack nannte vier Namen und erklärte Pitt, wo man die Frauen unter Umständen finden konnte.
Pitt brauchte sie nicht aufzuschreiben. Ohnehin wäre es ihm weit lieber gewesen, er hätte sie erst gar nicht hören und die Frauen nicht befragen müssen. Er konnte sich gut ausmalen, was sie empfanden. Vorstellungskraft war bei seiner Arbeit nützlich, zugleich aber auch ein Fluch.
Aufgeregt und begeistert kam der Hund zurück, ließ das Stück Holz vor Pitts Füßen fallen und tänzelte herum, während er darauf wartete, dass Pitt es erneut warf. Es kam wohl nicht oft vor, dass jemand bereit war, mit ihm zu spielen, der das Spiel verstand.
Pitt tat ihm den Gefallen, und wieder jagte das Tier davon. Schon lange hätte er liebend gern einen Hund gehabt. Er würde Charlotte einfach sagen, dass sich die beiden Kater damit abfinden müssten.
»Du könntest Emily fragen«, sagte Jack unvermittelt mit einem Blick auf Pitt und biss sich verlegen auf die Lippe. »Ihr fällt so manches an anderen Menschen auf ...« Er ließ den Satz unvollendet. Beide erinnerten sich an frühere Fälle, an denen Charlotte und Emily mitgewirkt hatten. Zwar war es dabei mitunter zu gefährlichen Situationen gekommen, doch hatte die Fähigkeit der Schwestern, Dinge diskret zu behandeln und Zwischentöne herauszuhören, die anderen Menschen entgingen, so manches Mal den Schlüssel zur Lösung geliefert.
»Du hast Recht«, erwiderte Pitt, überrascht, dass er nicht selbst darauf gekommen war. »Das werde ich tun. Meinst du, sie ist zu Hause?«
Mit einem Mal musste Jack lächeln. »Keine Ahnung.«
Es dauerte zwei Stunden, bis Pitt Emily fand. Ihr Butler hatte ihm mitgeteilt, sie besuche gerade eine jüngst eröffnete Kunstausstellung und werde anschließend lediglich nach Hause kommen, um sich für eine Abendgesellschaft im Hause Lady Mansfields in Belgravia umzukleiden.
Pitt hatte ihm gedankt, sich den Weg zur Ausstellung beschreiben lassen und sich sofort dorthin aufgemacht.
Die Gemäldegalerie war voller prächtig herausgeputzter Damen. Einige wurden von Herren begleitet, mit denen sie tändelten, wenn sie nicht gerade wortreiche und bedeutungsschwere Kommentare über die ausgestellten Bilder von sich gaben.
Pitt warf einen kurzen Blick auf die Exponate, was er sogleich bedauerte, weil er keine Zeit hatte, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Er fand sie nicht nur sehr schön, sondern auch ausgesprochen fesselnd. Sie waren auf eine Weise impressionistisch gemalt, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl alles undeutlich und verschwommen war, hatte man den Eindruck, das Licht förmlich zu sehen, und das gefiel ihm außerordentlich.
Aber er war nicht gekommen, um seinem Kunstinteresse nachzugehen, sondern um Emily zu finden, bevor sie wieder ging. Das kostete nicht nur Konzentration, sondern auch beträchtliche Energie, weil er sich, immer wieder um Entschuldigung bittend, zwischen Gruppen plaudernder Menschen hindurchdrängen musste. Dabei versperrten ihm die weiten, sich raschelnd aneinander reibenden Röcke der Damen den Weg in jede Richtung. Es konnte nicht ausbleiben, dass er sich immer wieder unfreundliche, teils sogar erzürnte Blicke einhandelte und hier und da ein gemurmeltes »Ich muss schon sagen!« zu hören bekam, doch konnte er es sich unmöglich leisten zu warten, bis sie weitergingen und ihm auf diese Weise Platz machten.
Er fand Emily im dritten Saal, wo sie sich mit einer jungen Frau unterhielt. Der Hut, den diese zu einem kornblumenblauen Kleid trug, stand ihr, wie er fand, blendend. Er erzeugte eine optische Spannung, die sie ohne ihn sicher nicht hätte hervorrufen können.
Während er noch überlegte, wie er Emilys Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ohne unhöflich zu sein, entdeckte sie ihn. Das mochte daran liegen, dass er völlig fehl am Platz wirkte und in keiner Weise zu den Menschen um ihn herum passte. Sogleich trat ein besorgter Ausdruck auf ihre Züge, sie entschuldigte sich rasch bei der Dame in Blau und trat zu ihm.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er sie.
»Ich hatte auch nichts anderes angenommen«, sagte sie, ohne ihren Gesichtsausdruck im Geringsten zu verändern. »Ich habe nur befürchtet, vor Langeweile einzuschlafen und umzufallen. Schließlich gibt es hier weit und breit nichts, worauf man sich stützen könnte.«
»Gefallen dir die Bilder denn nicht?«, fragte er.
»Thomas, sei nicht albern. Niemand kommt wegen der Bilder hierher. Alle werfen nur einen flüchtigen Blick darauf, um etwas darüber zu sagen, was sie für tiefschürfend halten, und hoffen, dass ihnen andere das nachplappern. Was willst du überhaupt hier? Die Gemälde sind doch nicht etwa gestohlen, oder?«
»Nein.« Wider Willen musste er lächeln. »Jack meint, du könntest mir vielleicht helfen.«
Ihr Gesicht leuchtete vor Interesse auf. »Gern und jederzeit!«, sagte sie eifrig. »Was kann ich tun?«
»Ich brauche ein paar Angaben und vielleicht auch dein Urteil.«
»Über wen?« Sie hängte sich bei ihm ein und wandte sich einem der Bilder zu, als wolle sie es gründlich studieren.
Die Galerie war nicht unbedingt die ideale Umgebung für eine diskrete Unterhaltung über intime Dinge, doch wenn er leise sprach, würde er keinerlei Aufmerksamkeit erregen, und vermutlich konnte dann auch niemand mithören.
»Leutnant Edwin Lovat«, sagte er, ebenfalls den Blick fest auf das Bild gerichtet.
Sie erstarrte ein wenig, hatte aber ihre Züge vollständig in der Gewalt. »Ach, beschäftigst du dich mit dem Fall?« In ihrer Stimme schwang Erregung. Sie nahm das Wort Sicherheitsdienst nicht in den Mund, weil ihr bewusst war, wie gefährlich die geringste unbedachte Äußerung sein konnte, doch war ihm klar, dass ihr die verschiedensten Vorstellungen durch den Kopf jagten.
»Ja«, sagte er im Flüsterton. »Sag mir, was du über ihn weißt oder gehört hast ... Du solltest aber bitte deutlich zwischen beidem trennen.«
Sie sah weiter scheinbar konzentriert das Bild an, auf dem Licht durch Bäume auf eine Wasserfläche fiel. Es strahlte eine ruhige Schönheit aus, wirkte wie die Einsamkeit eines windstillen Sommertags. Man erwartete, jeden Augenblick den Schimmer von Libellenflügeln über dem Wasser zu sehen.
»Mir ist bekannt, dass er in gefährlicher Weise unglücklich war«, vertraute sie ihm an. »Er hat in mehreren Fällen den Anschein erweckt, als hätte er sich mehr oder weniger in eine Frau verliebt, ist dann aber davongelaufen, kaum dass er ihre Zuneigung gewonnen hatte – fast so, als hätte er Angst, dass sie ihn näher kennen lernen könnte. Damit hat er großen Schaden angerichtet, was ihm aber, wie es aussieht, nie so Leid getan hat, dass er es nicht bald darauf wieder genauso gemacht hätte. Sollte ihn die Ägypterin nicht umgebracht haben, gibt es eine ganze Reihe anderer Kandidatinnen, bei denen du dich erkundigen könntest.«
»In gefährlicher Weise unglücklich?«, wiederholte er.
»Nun, so wie er verhält sich doch nur jemand, der von irgendetwas getrieben wird, oder?«, gab sie zurück, nach wie vor ohne ihn anzusehen. »Wer selbstsüchtig oder habgierig ist, heiratet von mir aus wegen der Schönheit, weil es ihm um das Geld oder ein Adelsprädikat geht. Aber so, wie er vorgegangen ist, konnte er sich nur Feinde machen. Ganz offensichtlich war er nicht so dumm, dass er das nicht gewusst hätte, und trotzdem hat er sich so verhalten.«
Schweigend dachte Pitt eine Weile über Emilys Theorie nach. So hatte er die Dinge noch nicht gesehen.
Sie wartete.
»Glaubst du, dass seine Gedanken in diese Richtung gegangen sind?«, fragte er schließlich.
»Du hast nicht gesagt, dass du von mir logische Folgerungen hören willst, sondern mich gefragt, was ich von Leutnant Lovat halte.«
»Stimmt. Danke. Kannst du mir sagen, um wen es sich bei den betroffenen Damen handelt?«
»Selbstverständlich«, sagte sie und hob ihre Hand, als wolle sie ihm die Lichtführung auf dem Bild verdeutlichen. Dann zählte sie ein halbes Dutzend Namen auf. Er schrieb sie nieder, zusammen mit der jeweiligen Adresse und knappen Kommentaren zu den gesellschaftlichen Aktivitäten, mit denen sie sich die Zeit vertrieben. Es war Pitt bewusst, dass es Frauen waren, die sich in ihren Hoffnungen getäuscht sahen, von Lovat gedemütigt und beschämenden Situationen ausgesetzt worden waren, Menschen, deren Gefühle er verletzt hatte – im einen oder anderen Fall unter Umständen nicht besonders tief, in anderen dafür umso mehr.
Pitt dankte seiner Schwägerin und verließ die Galerie.
An jenem Abend, wie an allen folgenden, erkundigte sich Pitt unauffällig danach, wo sich die von Emily genannten Damen zur Tatzeit aufgehalten hatten. Jede hatte ein einwandfreies Alibi. Ohnehin lag die seelische Verletzung in einigen Fällen so lange zurück oder war so beschaffen, dass eine Rache an Lovat der Betreffenden mehr Schmerzen zugefügt hätte als ihm. Pitt konnte die Sache drehen und wenden, wie er wollte: Alles wies auf eine Täterschaft Miss Sacharis hin, womit sich auch Ryerson schuldig gemacht hätte.
Am folgenden Tag fuhr er zum Militärarchiv, um Einblick in Lovats Personalakte zu nehmen. In erster Linie ging es ihm um dessen Dienstzeit in Ägypten. Möglicherweise stieß er dabei auf etwas, das ein neues Licht auf den Charakter des Mannes oder dessen Beziehungen zu seinen Kameraden warf. Vielleicht gab es sogar Hinweise auf eine andere Fährte, die sich zu Miss Sachari zurückverfolgen ließ. Er wollte unbedingt etwas entdecken, was es ihm ermöglichte, im Vorfall von Eden Lodge einen Sinn zu erkennen. Staunend merkte er, dass er am liebsten eine Rechtfertigung für das entdeckt hätte, was er ohnehin anzunehmen genötigt war: dass die Ägypterin Lovat erschossen hatte. Da Ryerson so eng mit ihr verbunden war, hatte er sich dazu hergegeben, ihr bei der Vertuschung des Verbrechens zu helfen.
Doch aus den Unterlagen im Militärarchiv ergab sich nichts Neues. Lovat schien seinen Aufgaben mehr als gewachsen gewesen zu sein, er hatte eine natürliche Begabung für den Umgang mit Menschen gehabt und gewusst, wie man sich in der Gesellschaft bewegt.
In seiner militärischen Laufbahn gab es keinen dunklen Punkt, und man hatte ihn ehrenhaft als dienstunfähig entlassen, weil ein Fieber, das während seiner Stationierung in Alexandria bei ihm ausgebrochen war, seine Gesundheit zerrüttet hatte. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Feigheit oder Pflichtverletzung. Lovat war nicht nur ein guter Soldat gewesen, sondern auch allgemein beliebt.
Ob diese Darstellung den Tatsachen entsprach? Oder hatte jemand sorgfältig alle Hinweise getilgt, die einer späteren Karriere schaden konnten? Nicht zum ersten Mal wäre Pitt auf die Spur einer stillschweigenden Übereinkunft gestoßen, der Freundestreue den Vorrang vor der Wahrheit einzuräumen, um in erster Linie den Ehrenschild der Einheit blank zu halten, in der man diente.
In der Akte ließ sich keine Antwort auf diese Fragen finden, und von den Beamten, die er dort antraf, war nichts zu erfahren. Erstens wussten sie keine Einzelheiten, vor allem aber hatte man ihnen eingetrichtert, dass sie nicht spekulieren sollten. So bekam er als einzige Antwort auf seine Fragen nichts sagende und ausdruckslose Blicke.
Damit blieb nur die Annahme, dass sich Lovat im Privatleben Feinde gemacht hatte. Der Beschreibung der Menschen nach, die ihn gekannt hatten, war er ein athletisch gebauter, anziehender junger Mann gewesen, der zwar nicht im landläufigen Sinne gut aussah, dafür aber einen verführerischen Charme besaß. Er war ein guter Tänzer gewesen, hatte die Kunst der gepflegten Konversation beherrscht und die Musik geliebt. Er war ein begeisterter und guter Sänger gewesen, der stets die Texte der jeweils beliebtesten Lieder gekannt hatte.
»Keine Ahnung, was mit ihm nicht gestimmt hat«, sagte ein älterer Oberst, dem Pitt an jenem Spätnachmittag im Army and Navy Club in Pall Mall gegenübersaß. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Glas alter Cognac, und obwohl die Hitze seine Stiefelsohlen versengte, nahm er die Füße nicht von der metallenen Kaminumrandung. Betrübt den Kopf schüttelnd, fuhr er fort: »So viele reizende junge Mädchen, die eine glänzende Ehefrau abgegeben hätten. Aber kaum sah es danach aus, als könnte er eine kriegen, hat er das Interesse an ihr verloren, war mit ihr nicht mehr zufrieden, was weiß ich ... Ich nehme an, er hat Angst vor der eigenen Courage bekommen und sich dann an die Nächste rangemacht.« Er schob die Unterlippe vor. »Dabei war er nicht mal besonders wählerisch. Hatte eine ausgesprochen laxe Moralauffassung. Tut mir Leid, das sagen zu müssen.«
Pitt schob sich ein wenig vom Kamin fort. Das Feuer gab weit mehr Hitze ab, als an diesem milden Septembertag nötig gewesen wäre. Oberst Woodside allerdings schien weder etwas von der Hitze noch von dem brandigen Geruch zu merken, der von seinen Stiefeln aufstieg.
»Haben Sie die Ägypterin gekannt, diese Miss Sachari?«, erkundigte sich Pitt. Er war nicht sicher, ob sein Gegenüber das als Frage betrachtete, die man einem Herrn nicht stellte.
»Natürlich nicht!«, sagte Woodside gereizt. »Und wenn doch, würde ich das einem wie Ihnen bestimmt nicht eingestehen! Aber gesehen hab ich sie. Herrliches Geschöpf, das muss ihr der Neid lassen. Hab noch nie eine Engländerin so anmutig gehen sehen. Wie eine Wasserpflanze ... mit so ... fließenden Bewegungen.« Er hob die Hand, als wolle er die Bewegung nachahmen, hielt dann unvermittelt inne und funkelte Pitt an. »Falls Sie von mir erwarten, dass ich sage, Lovat hätte sie belästigt ... das kann ich nicht! Ich weiß nichts darüber. So etwas tut ein Herr nicht in der Öffentlichkeit.«
Pitt schlug eine andere Richtung ein. »Waren Mr Lovat und Mr Ryerson miteinander bekannt?«
»Was weiß ich? Glaub ich aber nicht. Verdammt!« Er riss die Füße von der Kaminumrandung, stellte sie auf den Boden und hob sie noch rascher wieder hoch, wobei er sich bemühte, seine Schmerzen nicht zu zeigen.
Mit Mühe gelang es Pitt, seine Gesichtszüge zu beherrschen.
»Die beiden dürften wohl kaum an denselben Orten verkehrt haben«, fügte Woodside hinzu, während er vorsichtig die Füße in Knöchelhöhe übereinander schlug, um die Stiefel nicht wieder auf den Boden setzen zu müssen. »Nicht nur lag eine ganze Generation zwischen ihnen, sie hatten auch eine völlig unterschiedliche gesellschaftliche Stellung, ganz zu schweigen von Geld und Geschmack. Und die Frau? Großer Gott, Mann! Sicher, schön ist sie, aber verrottet bis ins Mark. Geheiratet hätte sie keiner von den beiden. Natürlich hat sie sich für Ryerson entschieden.« Stirnrunzelnd sah er zu Pitt hinüber. »Er hat Vermögen, gilt etwas in der Gesellschaft, ist kultiviert und charmant – und zwar weit mehr als der junge Lovat. Weiß der Kuckuck, warum der alte Knabe nach dem Tod seiner Frau nicht wieder geheiratet hat... schlimme Geschichte, das ... Bestimmt tut er es jetzt auch nicht mehr.«
»Sie glauben also nicht, dass Ryerson eine Heirat mit ihr erwägen würde?«, fragte Pitt, um zu sehen, wie Woodside reagierte, obwohl er sich die Antwort denken konnte. Im Grunde signalisierte die Frage vor allem sein Mitgefühl für Miss Sachari. Ihre Rolle war es, Freude zu spenden; sie wurde benutzt, aber nicht als ein Mensch angesehen, der zu einem anderen gehörte. Es machte ihn wütend, auch wenn er wusste, dass es Millionen erging wie ihr, aus allen möglichen Gründen, an denen sich nichts ändern ließ: Geburt, Geld, Aussehen. Er wusste, wie es war, wenn man von anderen ausgeschlossen wurde, auch wenn ihm das selbst nicht besonders häufig widerfahren war.
Der Oberst hielt den Blick wieder auf seine Füße gerichtet. »Ryerson hat den Tod seiner Frau nie verwunden. Keine Ahnung, warum ihn das so mitgenommen hat. Ich hätte nie gedacht, dass er zu den Männern gehört, die so reagieren. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich die beiden besonders nahe gestanden hätten, aber vermutlich kann man so etwas nicht sehen. Hübsches Ding, aber immer auf dem Sprung, auf der Suche nach etwas Neuem. Mir hat sie nicht zugesagt. Von mir aus muss eine Frau nicht besonders intelligent sein – das macht das Leben manchmal einfacher –, aber mit einem Kindskopf wie ihr hätte ich nichts anfangen können. Wer hat schon die Zeit, so eine Frau ständig im Auge zu behalten? Ziemlich anstrengend. Sie verstehen, was ich meine?«
Pitt war verblüfft. Er wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass sich Saville Ryerson in eine ausgesprochen unintelligente Frau verlieben könnte. Er versuchte sie sich vorzustellen. Sie musste sehr schön gewesen sein oder eine besondere Ausstrahlung besessen haben, wenn es ihr gelungen war, ihn so sehr an sich zu binden, dass ihn die Trauer über ihren Tod noch ein Vierteljahrhundert später hinderte, wieder zu heiraten.
»War sie so ...«, setzte Pitt an, merkte aber gleich, dass er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte.
»Was weiß ich«, sagte Woodside knapp. »Hab den Mann nie verstanden. Zeitweise brillant, aber in jungen Jahren verdammt aufbrausend. Nur ein Dummkopfwäre dem freiwillig in die Quere gekommen, das kann ich Ihnen sagen!«
Wieder wunderte sich Pitt. Das war nicht der Mann, der vor wenigen Tagen gefasst und voll Selbstbeherrschung keine andere Sorge gekannt hatte, als die Frau zu beschützen.
»Natürlich hat er sich geändert«, fuhr Woodside nachdenklich fort, unverwandt den Blick auf seine Füße gerichtet, als wolle er sich vergewissern, dass das Leder nicht angesengt war. »Wer wie er über Jahre hinweg ein Regierungsamt ausfüllt, den kann das weiß Gott mitnehmen. So etwas macht ziemlich einsam, und die Kollegen in der Politik sind heimtückisch, wenn Sie mich fragen.« Mit einem Mal hob er den Blick. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Keine Ahnung, wer Lovat erschossen haben könnte oder warum.«
Pitt begriff, dass er damit verabschiedet war, und erhob sich. »Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Sir. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
Der Oberst machte eine wegwerfende Handbewegung und drehte seine Füße wieder in Richtung Kamin.
Pitt suchte Ryersons Büro in Westminster auf und bat um die Möglichkeit, einige Minuten mit ihm zu sprechen. Nach einer knappen halben Stunde führte ihn ein Sekretär, der ein schwarzes Jackett, eine gestreifte Hose und Vatermörder trug, ins Arbeitszimmer des Ministers. Pitt war überrascht, dass es so schnell ging.
Ryerson empfing ihn in einem ziemlich dunklen und geradezu hochherrschaftlich eingerichteten Raum. In Bücherschränken, deren Holz so auf Hochglanz poliert war, dass es wie Seide schimmerte, standen in Marocain-Leder gebundene Folianten, deren Rücken in Goldbuchstaben beschriftet waren. Aus den Fenstern fiel der Blick auf das sich langsam verfärbende Laub einer Linde, auf deren borkiger Rinde das Sonnenlicht in der leichten Brise tanzte.
Der Minister wirkte müde. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Hände spielten unaufhörlich mit einer kalten Zigarre.
»Was haben Sie herausbekommen?«, fragte er, kaum dass Pitt die Tür hinter sich geschlossen hatte und noch bevor er in dem Ledersessel Platz genommen hatte, den ihm Ryerson mit einer Handbewegung anbot. Er selbst blieb stehen.
»Lediglich, dass Lovat allem Anschein nach Beziehungen zu vielen Frauen hatte und sich für keine entscheiden konnte«, gab er zur Antwort. »Es sieht ganz so aus, als habe er vielen Menschen Schmerzen zugefügt, worunter manche sehr gelitten haben. Man kann sagen, dass er eine Spur des Unglücks hinter sich gelassen hat.« Er sah Ryerson offen an, erkannte aber auf dessen Zügen weder Zorn noch Überraschung. Man hätte glauben können, Lovat gehe ihn nicht das Geringste an.
»Betrüblich, aber leider kein Einzelfall«, sagte er stirnrunzelnd. »Wie sehen Sie die Sache – könnte ihn ein betrogener Ehemann erschossen haben?« Er biss sich auf die Lippe, als wolle er sich daran hindern, ein bitteres Lachen auszustoßen. »Ich muss gestehen, dass die Vorstellung absurd ist. So gern ich das glauben würde – aber was sollte so ein gehörnter Ehemann um drei Uhr nachts in Eden Lodge wollen? Von welcher Art waren die Frauen überhaupt, mit denen sich der Mensch abgegeben hat? Damen der Gesellschaft? Hausmädchen? Straßendirnen?«
»Soweit ich gehört habe, waren es unverheiratete junge Damen«, gab Pitt zurück. Er erkannte den Abscheu auf Ryersons Gesicht. »Frauen, die ein Skandal zugrunde richten würde«, fügte er überflüssigerweise hinzu, von seiner Empörung mitgerissen.
Schließlich warf Ryerson seine Zigarre ungeraucht in den Kamin. Sie prallte mit einem dumpfen Geräusch an das Messinggitter und fiel von dort auf die verkohlten Reste der Scheite, die kaum noch Wärme abgaben. Er achtete nicht weiter darauf. »Wollen Sie etwa sagen, der Vater einer dieser Frauen habe Lovat die ganze Nacht verfolgt, ihm schließlich im Gebüsch von Eden Lodge aufgelauert und ihn dann erschossen? Zwar haben Sie schon früher Mordfälle untersucht, bei denen die Spur schließlich in die Gemächer des einen oder anderen Aristokraten führte – aber eine solche Geschichte werden Sie mir doch nicht auftischen wollen.« Er sah Pitt aufmerksam an, als wolle er ergründen, was diesen zu einer so widersinnigen Annahme bewegen könnte. In seinem Blick lag nicht Verachtung, wohl aber Verwirrung, und dahinter kaum verborgen eine tiefe und wirkliche Angst.
In diesem Augenblick ging Pitt etwas auf. Zuerst überraschte es ihn, dann aber sagte er sich, dass er damit hätte rechnen müssen.
»Sie haben Erkundigungen über mich eingezogen.«
Ryerson zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln. »Das ist doch selbstverständlich. Ich kann es mir nicht leisten, dass sich jemand mit der Aufklärung der Sache beschäftigt, der dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Cornwallis hat mir gesagt, dass Sie der Beste sind.« Obwohl das nicht als Frage formuliert war, hob er die Stimme ein wenig, als wolle er Pitt zu einer Bestätigung auffordern. Man hätte glauben können, er erwarte, dass ihm Pitt versicherte, er habe alles getan, was in seinen Kräften stand.
Zu seinem Ärger merkte Pitt, dass er verlegen wurde. Er grollte dem Stellvertretenden Polizeipräsidenten, obwohl ihm klar war, dass er offen und geradeheraus gesprochen hatte. Cornwallis gehörte zu den Menschen, die keiner Lüge fähig sind. Seine leichte Durchschaubarkeit zeichnete ihn ebenso aus wie sein Mut und seine einwandfreie moralische Haltung, doch war sie im von politischen Interessen bestimmten Gewirr der Polizeiverwaltung zugleich auch sein größter Nachteil.
In dieser Hinsicht war sein früherer Vorgesetzter das genaue Gegenteil von Victor Narraway, der die Fähigkeit, andere zu täuschen, ohne rundheraus zu lügen, zu einer wahren Kunst entwickelt hatte. Er war ein gerissener Fuchs, der stets für sich behielt, was er dachte. Sofern es bei ihm eine schwache Stelle gab, hatte Pitt sie noch nicht entdeckt. Ihm war nicht bekannt, ob es in den geheimen Winkeln von Narraways Herzen unerfüllte Träume gab, unverheilte Wunden oder Ängste, die ihn nachts in einsamen Augenblicken quälten, und er hätte nicht einmal andeutungsweise sagen können, was er empfand – oder ob er überhaupt etwas empfand. Dabei brachte er durchaus Verständnis für die Empfindungen anderer Menschen auf.
Ryerson sah Pitt aufmerksam an. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort.
»Ja, ich habe meine Nachforschungen an vielen Orten betrieben«, sagte Pitt, »und dabei erkannt, dass manches genauso einfach ist, wie es aussieht, anderes hingegen nicht. Es hat den Anschein, als hätte sich Miss Sachari aus irgendeinem Grund mit Mr Lovat verabredet. Welchen Anlass sollte sie sonst gehabt haben, zu ihm hinauszugehen, und warum hätte sie die Pistole mitgenommen? Falls sie den Verdacht hatte, ein Eindringling befinde sich auf dem Grundstück, wäre sie nicht selbst nach draußen gegangen, sondern hätte ihren Diener geschickt.«
»Was Sie da sagen, hat Hand und Fuß«, sagte Ryerson knapp. »Möglicherweise ist ihm jemand gefolgt und hat ihn dort ermordet, damit ein anderer verdächtigt wird – was ja auch ganz offensichtlich gelungen ist.«
Pitt sagte nichts. Er dachte daran, dass Lovat mit Ayesha Sacharis Pistole getötet worden war und diese Waffe in der Dunkelheit neben ihm auf dem feuchten Boden gelegen hatte. Er sah zu Ryerson auf und merkte, dass dieser im selben Augenblick genau diesen Gedanken gehabt hatte. Eine leichte Röte trat auf die Wangen des Ministers, und er senkte den Blick.
»Haben Sie Lovat gekannt?«, fragte Pitt.
Ryerson trat ans Fenster und sah auf das vom Wind gepeitschte Laub, wobei er Pitt den Rücken zukehrte. »Nein. Meines Wissens bin ich ihm nie begegnet und habe ihn zum ersten Mal gesehen, als er im Garten von Eden Lodge am Boden lag.«
»Hat Miss Sachari je von ihm gesprochen?«
»Ja, aber ohne seinen Namen zu nennen. Sie hat sich eines Nachmittags ziemlich aufgebracht darüber geäußert, dass ein früherer Bekannter sie belästigte. Das könnte Lovat gewesen sein, aber natürlich auch jemand anders.« Schultern und Hals wirkten starr, während sich seine Hände unaufhörlich bewegten. »Sehen Sie zu, dass Sie die Wahrheit herausbekommen«, sagte er so leise, als spräche er mit sich selbst. Doch der Nachdruck in seiner Stimme verriet deutlich, dass er damit eine Bitte an Pitt richtete, auch wenn er dies Wort nicht benutzte.
»Gewiss, Sir. Sofern ich das vermag.« Pitt stand auf. Es gab noch vieles, was er gern gewusst hätte, aber alles war so ungreifbar, dass es sich nicht in Worte fassen ließ – Gedanken, Empfindungen, Dinge, die er noch nicht benennen konnte. Außerdem musste er unbedingt mit Narraway sprechen.
»Danke«, sagte Ryerson. Pitt zögerte einen Augenblick und überlegte, ob er verpflichtet war, ihm mitzuteilen, dass die Wahrheit unter Umständen keineswegs so aussah, wie er sich jetzt zu glauben bemühte, und durchaus schmerzlich sein konnte. Doch das hatte keinen Sinn. Dafür war immer noch Zeit, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, und so ging er einfach hinaus.
»Was bringen Sie?« Narraway hob den Blick von den Papieren, an denen er arbeitete, und sah Pitt herausfordernd an. Auch er wirkte müde, seine Augen waren rot gerändert und seine Wangen ein wenig eingesunken.
Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte sich Pitt. Er versuchte sich zu entspannen, doch gelang ihm das nicht. Er war innerlich so angespannt, dass ihn der Rücken schmerzte und die Hände sich steif anfühlten.
»Nichts, was die Hoffnung auf eine befriedigendere Antwort zuließe«, gab er zurück. Er drückte sich mit voller Absicht so schroff aus, ungeachtet dessen, dass ihn schmerzte, was er zu sagen hatte, und es Narraway vermutlich ebenfalls schmerzen würde. »Lovat war ein Herzensbrecher, der sich an unverheiratete achtbare junge Frauen herangemacht hat. Kaum hatte er eine durch die Beziehung zu ihm in eine unmögliche Lage gebracht, hat er sie fallen lassen und ist zur nächsten weitergezogen, während sich alle Welt insgeheim fragte, bei welcher unverzeihlichen Sünde er die vorige ertappt haben mochte.«
Mit schmalen Lippen sagte Narraway angewidert: »Reden Sie doch nicht so um den heißen Brei herum, Pitt. Sie wissen so gut wie ich, welche Sünde die feine Gesellschaft den jungen Damen unterstellt hat, ob zu Recht oder Unrecht. Solchen Leuten ist nicht wichtig, wer oder was man ist, sondern lediglich das, was andere von einem halten. Die Unbeflecktheit einer Frau ist ihnen wichtiger als moralischer Mut, menschliche Wärme, Mitgefühl, die Fähigkeit zu lachen oder Aufrichtigkeit. Ihre Keuschheit bedeutet, dass sie Besitz des Mannes ist, zu dem sie gehört. Es ist alles eine Frage von Eigentum.« Die Bitterkeit, mit der er das sagte, ging nicht nur auf seinen Zynismus zurück – Pitt hätte geschworen, dass auch Schmerz in seiner Stimme mitschwang.
Dann überlegte er, was er selbst empfinden würde, wenn sich Charlotte von einem anderen in vertrauter Weise berühren ließe, ganz davon zu schweigen, dass sie dessen Leidenschaft erwiderte. Diese Vorstellung ließ alle in Narraways Worten enthaltenen Vernunftgründe dahinschwinden.
»Es ist aber wichtig«, sagte er mit solchem Nachdruck, dass jeder seine Entschlossenheit merken musste, sich auf keine Diskussion darüber einzulassen.
Narraway lächelte, sah ihn aber nicht an. »Sprechen Sie ganz allgemein, oder kennen Sie die Namen einiger dieser jungen Frauen? Wichtiger noch wären die ihrer Väter, Brüder oder weiterer Liebhaber, denen unter Umständen daran liegen konnte, Lovat quer durch ganz London zu folgen, um ihn zu erschießen.«
»Selbstverständlich«, gab Pitt zurück. Zwar war er froh, dass er jetzt festeren Boden unter den Füßen hatte, doch kam es ihm ganz so vor, als hätte er etwas Wichtiges noch nicht gesagt. Lag das ausschließlich daran, dass seine Gefühle zu überwältigend waren, als dass sie sich in wenigen, einfachen Worten ausdrücken ließen, oder gab es da etwas Wichtiges, das ihm im Augenblick noch nicht klar war?
»Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat Sie das alles nicht weitergebracht«, sagte Narraway.
»Uns«, korrigierte ihn Pitt bissig. »Nein, nichts davon.«
Er war erstaunt zu sehen, wie die Hoffnung in Narraways Augen erlosch. Es schmerzte ihn ein wenig.
Als er Pitts Blick auf sich gerichtet fühlte, wandte sich Narraway halb ab, als wolle er etwas in seinem Inneren verbergen. »Sie haben also nichts erfahren, außer dass sich Lovat die Katastrophe selbst zuzuschreiben hat?«
Zwar hätte man das weniger verletzend sagen können, aber es entsprach im Wesentlichen den Tatsachen. »Ja.«
Narraway holte Luft, als wolle er etwas sagen, schwieg dann aber.
»Ich war bei Ryerson«, begann Pitt von sich aus. »Er ist nach wie vor von Miss Sacharis Unschuld überzeugt.«
Narraway sah ihn mit gehobenen Brauen an.
»Wollen Sie damit durchblicken lassen, dass er nicht daran denkt, zurückzutreten und zu erklären, dass Lovat bei seinem Eintreffen bereits tot war?«, fragte Narraway »Er würde sich damit einen großen Gefallen tun.«
»Ich weiß nicht, was er sagen wird. Die Polizei weiß, dass er am Tatort war, also kann er das nicht bestreiten.«
»Dazu wäre es ohnehin zu spät«, entgegnete Narraway mit plötzlicher Bitterkeit. »In der ägyptischen Botschaft weiß man das bekanntlich ebenfalls. Zwar habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um festzustellen, woher die Leute diese Information haben, dabei aber lediglich erfahren, dass sie nicht im Traum daran denken, mir das zu sagen.«
Ganz langsam setzte sich Pitt aufrechter hin. Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, was Narraway unterdessen getan haben mochte, doch plötzlich durchfuhr ihn wie ein Blitz die Erkenntnis, wie wichtig das war, was er da gesagt hatte.
Mit schiefem Lächeln bestätigte Narraway: »So ist es. Ryerson macht sich zum Narren, und irgendjemand unterstützt ihn unauffällig, aber sehr nachdrücklich dabei. Ich bin noch nicht sicher, welche Rolle Miss Sachari in dieser Schachpartie spielt, und ich weiß auch nicht, ob sie das Spiel durchschaut. Ist sie die Dame oder lediglich ein Bauer?«
»Was könnte dahinter stehen?«, wollte Pitt wissen und beugte sich vor. »Geht es etwa um Baumwolle?«
»Dieser Gedanke kommt einem unwillkürlich, weil er der nächstliegende ist«, sagte Narraway »Aber er muss nicht unbedingt stimmen.«
Pitt sah ihn wartend an.
Narraway lehnte sich in seinen Sessel zurück, doch wirkte das eher resigniert als behaglich. »Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus«, sagte er. »Morgen früh melden Sie sich wieder.«
»Ist das alles?«
»Was wollen Sie denn noch?«, blaffte ihn Narraway an. »Nutzen Sie die günstige Gelegenheit! Das wird bestimmt nicht immer so bleiben.«