KAPITEL 1
Pitt öffnete die Augen, aber das hämmernde Geräusch hörte nicht auf. Das erste Grau des frühen Septembermorgens drang durch die Vorhänge. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und doch stand da jemand an der Haustür.
Charlotte, die neben ihm schlief, bewegte sich unruhig. Das Klopfen konnte sie jeden Augenblick wecken.
Rasch glitt er aus dem Bett und eilte aus dem Schlafzimmer. Barfuß lief er die Treppe hinunter, nahm hastig seinen Mantel vom Haken in der Diele, fuhr mit einem Arm hinein und entriegelte die Haustür.
»Guten Morgen, Sir«, sagte Wachtmeister Jesmond entschuldigend. Seine Hand war erhoben, offensichtlich hatte er gerade noch einmal anklopfen wollen. Er war Mitte zwanzig, und er hielt es für eine bedeutsame Beförderung, dass man ihn von einer der Londoner Polizeiwachen zum Sicherheitsdienst abgeordnet hatte. »Tut mir Leid, Sir«, fuhr er fort. »Aber Mr Narraway möchte umgehend mit Ihnen sprechen.«
Pitt sah die vor dem Haus wartende Droschke. Der Atem des Pferdes, das ein wenig mit den Hufen scharrte, hing wie Dampf in der Luft. »Wenn es sein muss«, sagte Pitt verärgert. Der Fall, an dem er gerade arbeitete, war nicht weiter aufregend, stand aber kurz vor der Lösung. Nur noch die eine oder andere Kleinigkeit fehlte – da konnte er keine Störung brauchen.
»Kommen Sie rein.« Erwies hinter sich in Richtung Küchentür. »Wenn Sie wissen, wie man das macht, können Sie das Feuer im Herd in Gang bringen und den Wasserkessel aufsetzen.«
»Entschuldigung, Sir, aber dafür ist keine Zeit«, wandte Jesmond in entschiedenem Ton ein. »Ich kann Ihnen nicht sagen, worum es geht, aber Mr Narraway hat angeordnet, dass Sie sofort kommen sollen.« Er stand wie angewurzelt auf dem Steinpflaster vor dem Haus, als könne er Pitt dadurch veranlassen, schneller mitzukommen.
Seufzend trat Pitt wieder ins Haus und schloss die Tür, um die feuchte Luft nicht hineinzulassen. Auf dem Weg nach oben zog er den Mantel aus. Als er am Waschtisch Wasser aus der Kanne in die Schüssel gießen wollte, sah er, dass sich Charlotte im Bett aufgesetzt hatte und sich die Haare aus der Stirn strich.
»Was gibt es?«, fragte sie. Als ob sie sich das nicht denken könnte! Immerhin war sie seit über zehn Jahren mit ihm verheiratet und wusste, worum es bei seiner Arbeit ging. Nach gut neun Jahren bei der Polizei war er jetzt seit einem halben Jahr im Sicherheitsdienst tätig. Sie traf Anstalten aufzustehen.
»Bleib ruhig liegen«, sagte er rasch. »Es hat keinen Sinn.«
Mit den Worten: »Lass mich dir wenigstens eine Tasse Tee machen«, setzte sie die Füße auf den Bettvorleger. »Außerdem brauchst du heißes Wasser zum Rasieren. Es dauert höchstens zwanzig Minuten.«
Er stellte die Wasserkanne zurück auf den Waschtisch, ging zu ihr und streichelte sie liebevoll. »Leider reicht die Zeit dafür nicht, sonst hätte ich das Wachtmeister Jesmond machen lassen. Leg dich also ruhig wieder schlafen ... Zumindest hast du es im Bett schön warm.« Er legte die Arme um sie, drückte sie fest an sich, gab ihr einen Kuss und dann noch einen. Danach kehrte er zum Waschtisch zurück, wusch sich kalt und zog sich an. Kurz darauf war er bereit, sich auf den Weg zu Victor Narraway zu machen, dem Mann an der Spitze des englischen Sicherheitsdienstes. Pitt kannte in Königin Viktorias ausgedehntem Reich niemanden, der auf dem Gebiet geheimdienstlicher Tätigkeit einen höheren Rang bekleidete als er.
Auf den Straßen herrschte noch kaum Leben. Für Köchinnen und Stubenmädchen war es zu früh, doch man sah Hausknechte und Diener Kohlen ins Haus tragen. Hausmägde nahmen die Lieferungen der Fisch- und Geflügelhändler sowie der Obst- und Gemüseverkäufer entgegen. Im allmählich heller werdenden Licht des frühen Morgens fiel der Blick durch offen stehende Lieferanteneingänge in hell erleuchtete Spülküchen.
Bis Pitt das kurze Stück von der Keppel Street im nicht besonders wohlhabenden, aber durchaus achtbaren Teil des Stadtviertels Bloomsbury, wo er lebte, zu dem unauffälligen Haus zurückgelegt hatte, in dem Narraway zur Zeit sein Standquartier hatte, war es vollständig hell geworden. Er ging nach oben, während Jesmond, der seine Schuldigkeit getan hatte, unten wartete.
Narraway saß in dem riesigen Sessel, den er von einem Haus zum anderen mitzunehmen schien, wenn er von Zeit zu Zeit sein Standquartier wechselte. Er war schlank, drahtig und nahezu eine Handbreit kleiner als Pitt. Graue Fäden durchzogen sein dichtes dunkles Haar an den Schläfen, und seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Mit keinem Wort entschuldigte er sich bei Pitt dafür, dass er ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis, Pitts früherer Vorgesetzter, hätte das getan.
»Auf einem Anwesen am Connaught Square hat es einen Mordfall gegeben«, sagte er gelassen. Er sprach leise und überaus deutlich. »Normalerweise würde uns das nichts angehen, aber der Tote ist im diplomatischen Dienst tätig. Zwar ist seine Position ziemlich unbedeutend, aber in dem Haus, in dessen Garten man ihn erschossen hat, lebt die ägyptische Geliebte von Mr Saville Ryerson, einem unserer Kabinettsmitglieder. Unglücklicherweise hat es den Anschein, dass der Minister sich zur Tatzeit dort aufgehalten hat.« Narraway sah Pitt unverwandt an.
Pitt holte tief Luft.
»Wer hat ihn erschossen?«, fragte er.
Ohne den Blick von ihm zu wenden, sagte Narraway: »Das festzustellen ist Ihre Aufgabe. Leider sieht es im Augenblick ganz danach aus, dass Mr Ryerson in die Sache verwickelt sein könnte, da die Polizei auf dem Grundstück sonst niemanden angetroffen hat – außer den Hausangestellten. Die aber lagen im Bett und schliefen. Verschlimmert wird die Sache noch dadurch, dass die Frau beim Eintreffen der Polizei die Leiche gerade fortschaffen wollte.«
»Ausgesprochen peinlich«, gab ihm Pitt trocken Recht. »Aber mir ist nicht klar, was wir da tun können. Falls die Ägypterin geschossen hat, fällt das ja wohl nicht unter diplomatische Immunität – oder gilt die auch für Mord? So oder so können wir die Sache wohl kaum beeinflussen.«
Er hätte gern hinzugefügt, dass es weder sein Wunsch noch seine Absicht war, die Anwesenheit eines Mitglieds des englischen Kabinetts am Tatort zu vertuschen, doch fürchtete er, dass Narraway genau das von ihm verlangen würde, um die Regierung nicht in Bedrängnis zu bringen oder diplomatische Verwicklungen zu vermeiden. Manches an der Arbeit im Sicherheitsdienst war ihm herzlich zuwider, aber seit dem Fall von Whitechapel blieb ihm keine rechte Wahl. Man hatte ihn als Leiter der Polizeiwache in der Bow Street abgesetzt, und er hatte seiner Abordnung zum Sicherheitsdienst zugestimmt, weil er dort vor den Nachstellungen des Inneren Kreises sicher war, dessen Machtstruktur und verbrecherische Machenschaften er ans Tageslicht gebracht hatte. Hinzu kam, dass ihm die neue Tätigkeit die einzige Möglichkeit bot, seine Fähigkeiten zu nutzen, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu sichern.
Mit der Andeutung eines spöttischen Lächelns fuhr Narraway fort: »Sehen Sie zu, dass Sie Genaueres in Erfahrung bringen. Man hat die Frau auf die Wache in der Edgware Road gebracht. Das fragliche Haus heißt Eden Lodge. Irgendjemand scheint ziemlich viel Geld dafür aufzuwenden.«
Pitt presste die Zähne aufeinander. »Ich nehme an, Mr Ryerson. Vermutlich sagen Sie das ja nicht einfach so dahin, dass sie seine Geliebte ist.«
Narraway seufzte. »Sehen Sie zu, was Sie ermitteln können, Pitt. Solange wir die Wahrheit nicht wissen, sind uns die Hände gebunden. Hören Sie mit Ihren Erwägungen und Bedenken auf, und tun Sie Ihre Pflicht.«
»Ja, Sir«, sagte Pitt ein wenig bissig, nahm einen Augenblick lang stramme Haltung an, wandte sich dann auf dem Absatz um und ging hinaus. Dabei stieß er die Hände tief in die Taschen seines Jacketts, das durch diese Angewohnheit schon jede Form verloren hatte.
Er wandte sich nach Westen. Die Edgware Road lag ganz in der Nähe des Hyde Parks. Dorthin war es so weit, dass er beschloss, eine Droschke zu nehmen.
Inzwischen waren schon mehr Menschen unterwegs, und auch der Fahrzeugverkehr auf den Straßen hatte zugenommen. Ein Zeitungsjunge rief mit lauter Stimme die neuesten Nachrichten aus. Dabei ging es in erster Linie um die Möglichkeit eines Streiks in den Baumwollwebereien von Manchester, der schon ziemlich lange drohend in der Luft lag. Es sah keineswegs danach aus, dass sich die Situation von selbst bessern würde. Die Baumwollindustrie war im westlichen Teil Mittelenglands der bedeutendste Wirtschaftszweig, und Zehntausende verdienten mehr recht und schlecht ihren Lebensunterhalt damit, dass sie die aus Ägypten eingeführte Rohbaumwolle spannen, webten, färbten und weiterverarbeiteten. Da die Fertigerzeugnisse auf der ganzen Welt abgesetzt wurden, musste ein solcher Streik tiefgreifende und weitreichende Folgen haben und unabsehbaren volkswirtschaftlichen Schaden anrichten.
Nur hier und da zogen Wolkenfetzen über den klaren Himmel, doch war es noch ziemlich kühl. Pitt sah, dass eine Frau an einer Straßenecke becherweise Kaffee verkaufte – eine willkommene Möglichkeit, etwas Warmes in den Leib zu bekommen. Er musste damit rechnen, dass er keine Zeit zum Frühstücken haben würde. Er blieb stehen.
»Morg’n, Sir«, sagte die Frau munter. Als sie lächelte, zeigte sich, dass ihr zwei Schneidezähne fehlten. »Herrlicher Tag, nur ’n bisschen frisch, was? Wie wär’s mit’m Schluck heißen Kaffee?«
»Gern.«
»Zwei Pence, Sir.« Sie streckte eine knotige Hand nach dem Geld aus. Dabei sah er, dass ihre Finger von den Kaffeebohnen dunkel gefleckt waren.
Während er, auf dem Gehweg stehend, den dampfenden Kaffee in kleinen Schlucken aus dem Becher trank, überlegte er, wie er auf der Wache in der Edgware Road auftreten sollte. Bestimmt würden die Beamten sein Erscheinen dort sogar dann als Einmischung in ihre Angelegenheiten auffassen, wenn sich die Sache als so übel herausstellen sollte, dass sie eigentlich froh über die Möglichkeit sein müssten, einem anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Er konnte sich gut erinnern, wie es ihm als Leiter der Wache in der Bow Street gegangen war. Jeden Fall, und wenn er noch so unangenehm war, hatte er selbst bearbeiten wollen, und es hatte ihn zutiefst verstimmt, wenn ein Vorgesetzter, der mit den Zusammenhängen und der Beweislage weniger vertraut war als er, ihm einen Fall aus der Hand genommen hatte. Mitunter waren diese Leute nicht einmal mit den Menschen zusammengetroffen, um die es ging, hatten nicht gesehen, wo sie lebten, wem ihre Fürsorge galt, wen sie fürchteten, liebten oder hassten, ganz davon zu schweigen, dass sie selbst sie verhört hätten.
Bei den Fällen, mit denen er im Sicherheitsdienst bisher zu tun gehabt hatte, war es in erster Linie um Vorbeugung gegangen. Er hatte Männer aufspüren müssen, die im Verdacht standen, dass sie zur Gewalttat aufriefen oder die frierenden und hungernden Massen der Armen zum Aufruhr anstifteten. Gelegentlich hatte er sich auch an der Suche nach Anarchisten oder möglichen Bombenlegern beteiligt. Ins Leben gerufen worden war der Sicherheitsdienst ursprünglich im Zusammenhang mit der irischen Frage, und er hatte, zumindest was die Bekämpfung der Gewalttätigkeit anging, durchaus gewisse Erfolge aufzuweisen. Mittlerweile bekämpfte er jede Bedrohung der Sicherheit des Landes, und unter diese Rubrik mochte es auch fallen, wenn ein führendes Regierungsmitglied in eine zwielichtige Affäre verwickelt war.
Er trank den Kaffee aus, gab den Becher zurück, dankte der Frau und ging weiter. Als er sah, dass an der Kreuzung eine freie Droschke anhielt, fiel er in Laufschritt und rief dem Kutscher zu, er möge auf ihn warten.
In der Wache an der Edgware Road stellte er sich dem für den Fall zuständigen Inspektor Talbot vor und hielt ihm seine Karte hin. Dieser, mittelgroß und dürr wie ein Windhund, empfing ihn mit kaum verhohlener Ablehnung in seinem Dienstzimmer und bot ihm mit einer widerwilligen Handbewegung einen der Holzstühle an. Er selbst blieb hinter seinem Schreibtisch stehen, auf dem ein Stapel in sauberer Handschrift abgefasster Berichte lag. Ohne darauf zu warten, was sein ungebetener Besucher zu sagen hatte, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme: »Der Fall ist sonnenklar. Die Beweislage lässt sich kaum falsch einschätzen. Da man uns sofort benachrichtigt hat, konnten wir die Frau in flagranti ertappen. Als meine Männer eintrafen, war sie gerade dabei, das Opfer auf einer Schubkarre wegzuschaffen. Die Tatwaffe, eine Pistole, lag neben ihr am Boden. Es ist ihre eigene.« Herausfordernd sah er Pitt an.
»Und wer hat den Mord gemeldet?«, fragte Pitt. Noch während er das sagte, spürte er, wie ihn eine gewisse Hoffnungslosigkeit erfasste. Es sah tatsächlich ganz nach einem klaren, einfachen und hässlichen Fall aus. Wie der Mann gesagt hatte, führte an dieser Erkenntnis wohl kein Weg vorbei.
»Das wissen wir nicht«, gab Talbot zurück. »Jemand hat sich bei uns gemeldet, weil geschossen worden war.«
»Und auf welche Weise?«, hakte Pitt nach. In ihm war eine gewisse Neugier erwacht.
»Telefonisch«, erklärte Talbot, der sofort begriffen hatte, worauf Pitt hinauswollte. »Das engt den Kreis derer, die infrage kommen, doch wohl ziemlich ein, was? Wie gesagt, wir wissen nicht, wer es war. Der Anrufer hat keinen Namen genannt und außerdem mit heiserer Stimme gesprochen, wahrscheinlich vor Aufregung. Die Telefonistin konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.«
»Die betreffende Person war also nahe genug am Tatort, um zweifelsfrei sagen zu können, dass es sich um Schüsse und nicht um irgendwelche anderen Geräusche handelte«, schloss Pitt sogleich. »Wie viele Häuser im Umkreis von hundert Metern um Eden Lodge haben Telefon?«
Talbot verzog den Mund. »Ziemlich viele. Im Umkreis von hundertfünfzig Metern dürften es fünfzehn oder zwanzig sein. In der Gegend wohnen eine ganze Reihe betuchter Leute. Natürlich werden wir herumfragen, aber dass der Anrufer keinen Namen genannt hat, lässt auf die Absicht schließen, nicht in die Sache verwickelt zu werden.« Er zuckte die Achseln. »Wirklich schade. Vielleicht hat er ja etwas beobachtet, aber ich nehme an, eher nicht. Der Tote war im Garten ziemlich gut von Gesträuch verdeckt. Da stehen lauter immergrüne Pflanzen, Lorbeerbüsche und dergleichen.«
»Aber Ihre Leute haben ihn sofort gefunden«, nahm Pitt den Faden wieder auf.
»Das ließ sich kaum vermeiden«, sagte Talbot mit trübseliger Miene. »Die Frau stand in einem langen weißen Kleid da, die Leiche auf einer Schubkarre vor sich, als hätte sie die Griffe in dem Augenblick losgelassen, als sie meine Männer kommen hörte.«
Pitt versuchte sich das Bild vorzustellen: die undurchdringliche Schwärze des Gartens mitten in der Nacht, das Blättergewirr, die feuchte Erde, eine Frau im Abendkleid mit einer Leiche auf einer Schubkarre.
»Wie Sie sehen, gibt es hier für Sie nichts zu tun«, unterbrach Talbot seine Gedanken.
»Möglich.« Pitt war nicht bereit, sich ohne weiteres fortschicken zu lassen. »Sagten Sie nicht, dass da eine Pistole lag?«
»Ja. Schönes Stück, mit ziselierten Griffschalen. Der Lauf war noch warm und roch deutlich nach Pulver. Zweifellos ist er damit getötet worden. Vernünftigerweise hat die Frau erst gar nicht abzustreiten versucht, dass die Waffe ihr gehört.«
»Und ein Unfall ist ausgeschlossen?«, fragte Pitt, ohne selbst so recht an eine solche Möglichkeit zu glauben.
Talbot gab ein leises Knurren von sich. »Bei einem Abstand von zwanzig Schritt wäre das unter Umständen möglich – aber es waren nur drei oder vier. Außerdem läuft so eine Frau nachts um drei ja wohl nicht ohne Grund mit einer Pistole im Garten herum.«
»Hat man ihn denn draußen erschossen?«, fragte Pitt rasch. Fabrizierte der Inspektor da womöglich Hypothesen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten?
Talbot lächelte kaum wahrnehmbar. Es war lediglich ein leichtes Zucken der Lippen. »Entweder das, oder er hat eine Weile draußen gelegen, denn man hat auf dem Erdboden Blutspuren gefunden – im Haus übrigens keine.« Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, seine blassen Augen leuchteten. »Da gibt es doch eine Menge zu erklären, oder nicht?«
Pitt schwieg. Was erwartete Narraway eigentlich von ihm? Wenn Ryersons Geliebte diesen Mann erschossen hatte, gab es für den Sicherheitsdienst nicht den geringsten Grund, sie zu decken oder gar zu ihrem Schutz die Wahrheit zu verdrehen.
»Wer ist der Tote?«, fragte er.
Talbot lehnte sich an die Wand. »Auf diese Frage warte ich schon die ganze Zeit. Edwin Lovat, ehemaliger Offizier, nach seiner Entlassung aus dem Heer in untergeordneter Position im diplomatischen Dienst tätig. Er kommt aus einem erstklassigen Stall und hatte, soweit wir bisher feststellen konnten, weder Feinde noch Schulden. Alles deutet auf eine untadelige Vergangenheit hin, und bis heute Nacht sah auch seine Zukunft vielversprechend aus.« Er hielt inne. Offenkundig wartete er auf die nächste Frage.
Pitt ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken. »Und welchen Grund hatte die Frau, ihn zu erschießen, ganz gleich, ob drinnen oder draußen? Ich nehme an, dass er nicht versucht hat, bei ihr einzubrechen?«
Talbot zog die Brauen hoch, sodass sich seine Stirn in Falten legte. »Warum zum Kuckuck hätte er das tun sollen?«
»Was weiß ich?«, gab Pitt knapp zurück. »Und warum sollte sie mit einer Pistole im Garten herumspazieren? Nichts von all dem ergibt einen Sinn.«
»O doch!«, gab Talbot zurück, beugte sich eifrig vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Dieser Lovat war in seiner aktiven Zeit in Ägypten stationiert. Genau gesagt in Alexandria, woher die Frau stammt. Wer weiß schon, wie es im Kopf der Weiber von da unten aussieht? Die sind nicht wie unsere Frauen, müssen Sie wissen. Aber immerhin hat sie es ganz schön weit gebracht. Es ist allgemein bekannt, dass sie die Geliebte von Mr Ryerson ist, einem Minister, der einen Wahlkreis in Manchester vertritt, wo die Regierung im Augenblick eine Menge Ärger wegen der Baumwollindustrie hat. Nein, nein, so eine Frau gibt sich nicht mit einem abgehalfterten Offizier ab, der den Fuß erst auf die unterste Sprosse der diplomatischen Leiter gesetzt hat. Ich würde sagen, der junge Mann war nicht bereit, sich mit ihrem Nein zufrieden zu geben, und sie wollte verhindern, dass er sich in ihre neue Affäre drängt und Mr Ryerson mit Geschichten aus ihrer Vergangenheit gegen sie aufbringt.«
»Haben Sie Beweise dafür?«, fragte Pitt. Er war wütend und wollte zeigen, dass Talbot unsauber gearbeitet hatte und von Vorurteilen ausging. Dennoch gelang es ihm nicht, Widerwillen gegen den Mann zu empfinden. Seine Aufgabe war heikel und undankbar. Pitt überlegte, was er wohl unter diesen Umständen getan hätte. Er wusste es beim besten Willen nicht. Auch er wäre zutiefst verärgert gewesen und hätte auf der Suche nach einer Lösung womöglich die Tatsachen außer Acht gelassen.
»Natürlich nicht!«, gab Talbot hitzig zurück. »Aber ich gehe jede Wette ein, dass ich in einem oder zwei Tagen welche habe, wenn mir nicht der Sicherheitsdienst oder sonst jemand dazwischenfuhrwerkt und mich in meiner Arbeit behindert. Immerhin liegt die Tat erst vier Stunden zurück.«
Es war Pitt bewusst, dass er den Mann ungerecht behandelte.
»Wie haben Sie den Toten identifiziert?«, fragte er.
»Er hatte Visitenkarten in der Tasche«, sagte Talbot und setzte sich wieder aufrecht hin. »Die Frau hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie ihm abzunehmen. Sie konnte wohl an nichts anderes denken als daran, dass sie ihn aus dem Weg schaffen musste.«
»Hat sie das gesagt?«
»Herrgott noch mal!«, brach es aus Talbot heraus. »Meine Leute haben sie mit der Leiche quer über einer Schubkarre im Garten hinter ihrem Haus angetroffen. Was könnte sie sonst mit ihm vorgehabt haben? Bestimmt wollte sie ihn nicht zum Arzt bringen. Er war schon tot. Statt die Polizei zu rufen, wie das ein schuldloser Mensch wohl getan hätte, hat sie die Schubkarre aus dem Schuppen im Garten geholt und den Mann draufgepackt, um ihn wegzufahren.«
»Wohin?«, fragte Pitt und versuchte sich vorzustellen, wie es in ihrem Kopf ausgesehen haben mochte.
Talbot sah leicht unbehaglich drein. »Sie weigert sich, darüber zu sprechen.«
Pitt hob die Brauen. »Und was ist mit Mr Ryerson?«
»Den habe ich nicht gefragt!«, blaffte ihn Talbot an. »Ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun. Er war nicht da, als meine Leute am Tatort eintrafen, sondern ist erst kurz darauf gekommen.«
»Wie bitte?«, fragte Pitt ungläubig.
Talbot wurde rot. »Er ist erst kurz darauf gekommen«, wiederholte er stur.
»Wollen Sie mir etwa weismachen, dass er zufällig nachts um drei dort vorbeigekommen ist, gesehen hat, wie ein Wachtmeister mit seiner Lampe eine Frau anleuchtet, vor der eine Schubkarre mit einer Leiche steht, und sich erkundigt hat, ob er behilflich sein kann?«, fragte Pitt mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Er ist wohl mit der Kutsche vorgefahren und von der Straße aus in den Garten gegangen? Ist er nicht zufällig aus dem Haus gekommen – im Nachthemd?«
»Nein!«, gab Talbot scharf zurück, wobei glühende Röte sein schmales Gesicht übergoss. »Er ist vollständig angekleidet von der Straße her gekommen.«
»Wo zweifellos seine Kutsche stand?«
»Er hat gesagt, er habe eine Droschke genommen.«
»Um der Dame einen Besuch abzustatten, die darauf sichtlich nicht vorbereitet war«, sagte Pitt mit beißendem Spott. »Und das nehmen Sie ihm ab?«
»Was bleibt mir anderes übrig?« Talbot erhob zum ersten Mal die Stimme. Man hörte einen Anflug von Verzweiflung in seinen Worten. Offenbar stand er kurz davor, seine bis dahin mühsam bewahrte Fassung zu verlieren. »Ich weiß selbst, dass das idiotisch klingt! Natürlich war er schon vorher da. Er ist aus der Richtung des Pferdestalls gekommen. Vermutlich wollte er ein Pferd anschirren, um die Leiche mit dem Einspänner oder was die Frau hat, wegschaffen zu können. Das Haus liegt nur einen Steinwurf vom Hyde Park entfernt. Weiter hätten sie ihn nicht zu bringen brauchen. Natürlich wäre er da ziemlich bald gefunden worden, aber niemandem wäre es möglich gewesen, einen von beiden mit der Sache in Verbindung zu bringen. Wir haben sie einfach deshalb nicht zusammen gesehen, weil wir so früh aufgetaucht sind. Aus der Frau ist kein Wort herauszubringen ...«
»... und ihn fragen Sie nicht, weil Sie es nicht so genau wissen wollen«, beendete Pitt den Satz für ihn.
»So in der Art«, gab Talbot zu. Er sah elend drein. »Falls der Sicherheitsdienst diese Aufgabe übernehmen will, nur zu! Meinen Segen haben Sie. Ryerson wohnt am Paulton Square in Chelsea. Die Hausnummer weiß ich nicht, aber Sie können sich ja erkundigen. Viele Minister gibt es da sicher nicht.«
»Zuerst möchte ich mit der Frau reden. Wie heißt sie überhaupt?«
»Ayesha Sachari«, gab Talbot zur Antwort. »Aber ich darf Sie nicht zu ihr lassen, Sicherheitsdienst hin oder her. Die Anweisung kommt von ganz oben. Da sie Mr Ryerson nicht belastet hat, hat der Sicherheitsdienst nichts mit dem Fall zu tun. Sofern sich die ägyptische Botschaft dazu äußert, muss sich das Auswärtige Amt, der Lordkanzler oder was weiß ich wer noch damit beschäftigen. Davon aber war bisher nicht die Rede. Noch ist sie einfach eine Frau, die wir wegen Mordes an einem früheren Liebhaber festgenommen haben, und es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sie es nicht getan hat. So liegen die Dinge, Sir – und was mich betrifft, bleibt das auch so. Hier kommen Sie nicht zum Zug, und wenn Sie damit nicht zufrieden sind, müssen Sie es woanders probieren.«
Pitt steckte die Hände in die Hosentaschen. In der einen hatte er ein Stück Bindfaden, ein halbes Dutzend Münzen, ein eingewickeltes Pfefferminzbonbon, zwei Stückchen Siegelwachs, ein Federmesser und drei Sicherheitsnadeln, in der anderen ein Notizbuch, einen Bleistiftstummel und zwei Taschentücher. Flüchtig kam ihm der Gedanke, dass das zu viel war.
Talbot sah ihn aufmerksam an. Zum ersten Mal merkte Pitt, dass der Mann Angst hatte. Dazu gab es allerdings auch reichlich Grund. Wenn er sich irrte, ganz gleich, ob zu Ryersons Gunsten oder Ungunsten, würde es ihm das Genick brechen. Hier ging es nicht um Fakten, sondern um die Einschätzung der Lage. Er würde die Schuld auch dann auf sich nehmen müssen, wenn andere einen Fehler gemacht hatten, Männer, die mehr Macht besaßen und mehr zu verlieren hatten als er.
»Mr Ryerson ist also zu Hause?«, fragte Pitt.
»Soweit ich weiß, ja«, sagte Talbot. »Hier ist er jedenfalls nicht. Wir haben ihn gefragt, ob er uns bei den Ermittlungen behilflich sein könnte, und er hat verneint. Er hat gesagt, dass er Miss Sachari für unschuldig hält. Er könne sich nicht vorstellen, dass sie einen Menschen töten würde, es sei denn, dieser habe ihr nach dem Leben getrachtet. In dem Fall aber könne von einem Verbrechen keine Rede sein.« Er zuckte die Achseln. »Ich hätte das alles ohne ihn zu fragen hinschreiben können – schließlich hat er das Einzige gesagt, was ihm möglich war, um ihren Ruf zu wahren: dass er nichts weiß und gerade erst angekommen war und so weiter. Kein Ehrenmann würde eine Dame eine Hure nennen, nicht einmal dann, wenn sie eine ist und alle Welt es weiß. Und natürlich war nicht zu erwarten, dass er zugeben würde, dass sie es getan hat, oder? Schließlich würde es wie Verrat aussehen – ihre Beziehung ist allgemein bekannt. Aber wie gesagt, sie hat nicht bestritten, dass ihr die Pistole gehört. Wir haben ihren Diener gefragt, und er hat die Waffe erkannt. Es war seine Aufgabe, sie zu putzen, zu ölen und so weiter.«
»Und warum hatte sie eine?«
Talbot spreizte die Hände. »Was weiß ich! Es kommt einzig und allein darauf an, dass es ihre Waffe ist. Überlegen Sie doch nur: Wachtmeister Cotter hat sie im Garten mit der Leiche eines verflossenen Liebhabers gefunden, die quer über einer Schubkarre lag. Was erwarten Sie noch von uns?«
»Nichts«, räumte Pitt ein. »Danke für Ihre Geduld, Inspektor. Falls sich etwas Neues ergeben sollte, melde ich mich wieder.« Er zögerte einen Augenblick und sagte dann mit einem Lächeln: »Viel Glück.«
Talbot verdrehte die Augen, doch sein Ausdruck entspannte sich flüchtig. »Danke«, sagte er mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ich wollte, ich könnte mich so einfach aus der Sache davonstehlen wie Sie.«
Mit breitem Lächeln und einem unleugbaren Gefühl der Erleichterung ging Pitt zur Tür. Von ihm aus konnte der arme Talbot den Fall gern bearbeiten, der letzten Endes nahezu mit Sicherheit nichts weiter war als eine private Tragödie, auch wenn ein Minister in sie verwickelt war.
Trotzdem beschloss er, sich den Tatort anzusehen, bevor er Narraway Bericht erstattete. Es war ein schöner Vormittag, und bis zum Connaught Square dauerte es zu Fuß höchstens zehn Minuten. Die Straßen waren unterdessen deutlich belebter, und fröhlich hallte das Klappern von Pferdehufen durch die Morgenluft. Auf dem Vorplatz eines großen Hauses klopfte ein Dienstmädchen von etwa vierzehn Jahren einen rot-blauen Teppich so kräftig, dass dichter Staub im Sonnenlicht tanzte. Flüchtig ging Pitt die Frage durch den Kopf, ob ihr lustvolles Zuschlagen auf Lebensfreude zurückging oder der Teppich die Stelle eines Menschen vertrat, den sie nicht ausstehen konnte.
Er überquerte die Straße, deren Pflastersteine noch vom Tau glänzten, und warf einem der kleinen Jungen, die auf der Straße Pferdeäpfel zusammenkehrten, einen Penny zu. Noch hatte der Junge nicht viel zu tun, und so stand er auf seinen Besen gestützt da. Die einige Nummern zu große Schirmmütze saß ihm auf den Ohren.
»Danke, Chef!«, rief er Pitt mit breitem Lächeln zu.
Eden Lodge war ein eindrucksvolles Anwesen. Pitt hätte gern gewusst, ob Miss Sachari Eigentümerin des Hauses war oder zur Miete darin wohnte und von wem sie es gemietet hatte. Natürlich war es denkbar, dass die beiden nicht besonders diskret gewesen waren und das Haus Ryerson gehörte. Wichtiger aber als diese Frage war jetzt, dass sich Pitt den Garten ansah, in dem man die Frau mit der Leiche angetroffen hatte. Dazu musste er ans Ende der Häuserzeile und um die Gebäude herumgehen.
Am Pferdestall, hinter dem sich der Sankt-Georgs-Friedhof erstreckte, hielt ein Polizeibeamter Wache, und so musste sich Pitt ausweisen, bevor er das Grundstück betreten konnte. Er blieb auf dem Weg, obwohl kein Grund zu der Annahme bestand, dass er irgendwelche Spuren zerstören konnte. Die hölzerne Schubkarre stand noch an Ort und Stelle. Auf ihren Bodenbrettern war eine Lache aus geronnenem Blut zu erkennen. Ganz offensichtlich hatte der Tote quer darüber gelegen, mit dem Kopf auf der einen und den Beinen auf der anderen Seite. Dort, wo den Aussagen Inspektor Talbots nach Miss Sachari gestanden hatte, fand Pitt Blutspuren am Boden.
Er bückte sich und untersuchte aufmerksam die nähere Umgebung. Das Rad der Schubkarre hatte eine knapp einen Meter lange Vertiefung im Boden erzeugt und war um eine gute Daumenbreite ins Erdreich eingesunken, was einen Rückschluss auf das Gewicht der Last zuließ. Außerdem sah er Spuren aus der Richtung, von wo sie leer herbeigebracht, herumgedreht und beladen worden war. Er richtete sich auf und ging einige Schritte weiter. Herabgefallene Ästchen, Laub und kleine Steine am Boden bewirkten, dass die Fußspuren ziemlich undeutlich waren, doch erkannte er, wo jemand gestanden und sich umgedreht hatte. Allerdings ließ sich unmöglich sagen, ob es sich dabei um eine einzelne Person oder mehrere gehandelt hatte, und schon gar nicht, ob die Fußabdrücke von einem Mann, einer Frau oder von beiden stammten.
Bei genauerem Hinsehen erkannte Pitt zwischen Lorbeer- und Rhododendronbüschen etwa fünf Schritt von der Gartenmauer entfernt, die den Weg zum Dienstboteneingang mit der Spülküche begrenzte, deutlich rostrotes eingetrocknetes Blut. Dort also musste das Opfer zu Boden gestürzt sein.
Die Büsche standen im Schatten von Birken, die hoch über sie hinausragten. Vom Pferdestall aus konnte man diese Stelle mit Sicherheit nicht sehen, und das Wohnhaus schützte sie vor Blicken von der Straße her. Hinter einer von Blumenrabatten eingefassten Rasenfläche sah Pitt eine Terrassentür, die in den Wohntrakt des Hauses führte.
Was zum Henker mochte Edwin Lovat mitten in der Nacht dort getrieben haben? Pitt konnte sich nicht recht vorstellen, dass er durch den Pferdestall gekommen war und auf diese Weise ins Haus gehen wollte, es sei denn, er hätte sich mit der Bewohnerin verabredet und diese ihn hinter der Terrassentür erwartet. Falls sie ihn nicht empfangen wollte, wäre nichts einfacher gewesen, als ihn abzuweisen, denn sie brauchte lediglich ihren Dienstboten die nötige Anweisung zu geben. Im schlimmsten Fall hätte sie Anweisung geben können, den ungebetenen Besucher an die frische Luft zu setzen.
Falls Lovat in der Tat gerade erst angekommen war, sah es verdächtig danach aus, als hätte ihm die Ägypterin mit der Absicht dort aufgelauert, ihn umzubringen. Warum sonst hätte sie sich mit einer geladenen Schusswaffe im Garten aufhalten sollen?
Eine andere Möglichkeit bestand darin, dass Lovat nach einem Streit gerade hatte gehen wollen und sie ihm mit der Waffe gefolgt war.
Wann Ryerson wohl tatsächlich eingetroffen war? Bevor geschossen wurde – oder danach? Hatte die Frau den Toten eigenhändig auf die Schubkarre gehoben? Man müsste feststellen, wie groß und schwer sie und Lovat waren. Sofern sie den Toten hochgehoben hatte, müsste man an ihrem weißen Kleid Blutspuren und vielleicht auch Erde finden. Danach konnte er Talbot fragen oder besser noch den Beamten, der als Erster am Tatort gewesen war.
Er machte kehrt und ging durch das Tor zum Pferdestall zurück. Dort sah er den Wachtmeister, der vor Langeweile von einem Fuß auf den anderen trat. Er wandte sich um, als er hörte, wie das Tor geschlossen wurde.
»Hatten Sie heute Nacht hier Dienst?«, fragte Pitt. Der Mann sah so müde aus, als wäre er schon seit vielen Stunden auf.
»Ja, Sir.«
»Waren Sie bei der Festnahme von Miss Sachari anwesend?«
»Ja, Sir.« Seine Stimme hob sich ein wenig, klang interessierter.
»Können Sie mir die Frau beschreiben?«
Einen Augenblick sah der Beamte verwundert drein, dann überlegte er, wobei sich sein Gesicht vor Anstrengung verzog. »Ziemlich groß, Sir, und sehr schlank. Dass sie Ausländerin is, is auf’n ersten Blick zu erkennen – se sieht richtig fremdländisch aus. Auf mich hat se ... na ja, ’n sehr damenhaften Eindruck gemacht, jedenfalls mehr wie unsre Damen meistens – ich mein, die sind ...«
»Nur zu«, ermunterte ihn Pitt. »Ich will offene Antworten, Sie brauchen also keine Rücksichten zu nehmen. Was ist mit dem Toten? Wie groß war er?«
»Größer wie der Durchschnitt, Sir, und breitschultrig. Was Genaueres kann ich schwer sagen – ich hab ’n ja nie stehen sehen. Aber ich denk, ’n bisschen größer wie ich un nich ganz so groß wie Sie.«
»Hat man ihn ins Leichenschauhaus gebracht?«
»Ja, Sir.«
»Wie viele Männer haben ihn aufgehoben?«
»Zwei, Sir.« Der Ausdruck von Verstehen trat auf seine Züge. »Sie meinen wohl, dass se ’n nich alleine auf die Schubkarre gekriegt hat?«
»Ja.« Pitt presste die Lippen zusammen. »Aber es dürfte besser sein, zu niemandem darüber zu sprechen, jedenfalls fürs Erste. Man hat mir gesagt, dass die Frau ein weißes Kleid trug. Stimmt das?«
»Ja, Sir. Es hat ganz eng angelegen, nich so wie sonst bei den Damen, soweit ich welche gesehen hab. Sehr schön ...« Er errötete leicht, wohl weil er der Ansicht war, dass es sich nicht mit seiner Tätigkeit vertrug, eine Mörderin schön zu finden, noch dazu eine fremdländische. Dennoch fuhr er fort: »Irgendwie natürlicher. Ich mein ...« Er fuhr sich mit einer Hand über die Schulter. »Keine Puffärmel, mehr so, wie Frauen von Natur aus aussehen.«
Pitt unterdrückte ein Lächeln. »Ich verstehe. Und gab es auf diesem weißen Kleid Erd- oder Blutflecken?«
»’n bisschen Erde, aber das war wohl eher Blätterdreck«, sagte der Beamte.
»Wo?«
»So auf Kniehöhe. Als hätt se am Boden gekniet.«
»Aber kein Blut?«
»Nein, Sir, jedenfalls hab ich keins gesehen.« Er riss die Augen weit auf. »Sie mein’, se hat’n nich auf die Schubkarre gelegt?«
»Nein, ich glaube, das haben Sie gesagt, Wachtmeister. Übrigens wäre es mir sehr recht, wenn Sie das nicht wiederholten, es sei denn, man fordert Sie in einer Situation dazu auf, in der es eine Lüge wäre, etwas anderes zu sagen. Lügen sollen Sie auf keinen Fall.«
»Nein, Sir! Hoffentlich fragt mich keiner.«
»Ja, das wäre auf jeden Fall das Beste«, stimmte Pitt mit Nachdruck zu. »Danke, Wachtmeister. Wie heißen Sie?«
»Cotter, Sir.«
»Ist der Diener noch im Hause?«
»Ja, Sir. Niemand is da rausgekommen, seit man se weggebracht hat.«
»Dann werde ich hineingehen und mit ihm sprechen. Wissen Sie, wie er heißt?«
»Nein, Sir. Er sieht aber aus wie ’n Ausländer.«
Pitt dankte ihm erneut und ging zum Dienstboteneingang. Er klopfte und musste mehrere Minuten warten, bis ein dunkelhäutiger schlanker Mann in blassen steinfarbenen Gewändern öffnete. Den größten Teil seines Kopfes bedeckte ein Turban. Seine Augen waren nahezu schwarz.
»Ja, Sir?«, sagte er zurückhaltend.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn Pitt. »Sind Sie Miss Sacharis Diener?«
»Ja, Sir. Aber Miss Sachari ist nicht anwesend.« Er sagte das mit solcher Endgültigkeit, als wäre damit jede mögliche Diskussion abgeschnitten, und traf Anstalten, die Tür zu schließen.
»Das ist mir bekannt!«, gab Pitt scharf zurück. »Wie heißen Sie?«
»Tariq El Abd, Sir.«
Pitt nahm eine Karte heraus und hielt sie ihm hin. Immerhin war es möglich, dass der Mann Englisch lesen konnte. »Ich komme vom Sicherheitsdienst. Vermutlich hat die Polizei bereits mit Ihnen gesprochen, aber ich muss Ihnen noch einige weitergehende Fragen stellen.«
»Ich verstehe.« Der Diener öffnete die Tür etwas weiter und ließ ihn widerstrebend eintreten. Eine Stufe höher als die Spülküche lag die warme Küche, aus der exotische Düfte drangen. Niemand befand sich darin. Pitt nahm an, dass El Abd auch als Koch fungierte und das übrige Personal jeweils nur tagsüber ins Haus kam.
»Möchten Sie Kaffee, Sir?«, erkundigte sich der Diener, als wäre er der Hausherr. Er sprach leise und nahezu akzentfrei.
»Danke«, nahm Pitt das Angebot mehr aus Höflichkeit an als aus dem Wunsch, eine weitere Tasse Kaffee zu trinken. In der Küche roch es nach Gewürzen und sonderbar geformten Brotlaiben, die auf einem Gestell nahe dem gegenüberliegenden Fenster abkühlten. In einer Schale auf dem Tisch lagen Früchte, die Pitt nicht kannte.
Schon nach wenigen Augenblicken brachte El Abd ein winziges Tässchen; offenbar hatte er den Kaffee aufgewärmt. Er bot Pitt einen Stuhl an und erkundigte sich, ob er bequem sitze. Er bewegte sich mit einer unauffälligen Anmut, die es schwierig machte, sein Alter zu schätzen, doch die vom Wetter gegerbte Haut seiner Hände und der schon deutlich ins Graue spielende schwarze Vollbart ließen Pitt annehmen, dass er sicher über vierzig war, wenn nicht gar schon nahe fünfzig.
Pitt nahm den Kaffee dankend entgegen und trank einen kleinen Schluck. Das Getränk war fast so dick wie Sirup und sagte ihm nicht sonderlich zu. Ohne sich das anmerken zu lassen, fragte er höflich: »Was ist heute Nacht hier vorgefallen?«
Da der Diener stehen geblieben war, musste Pitt den Blick zu ihm heben.
»Das weiß ich nicht, Sir«, antwortete er. »Ich bin wach geworden, vermutlich von einem Geräusch, und aufgestanden, um zu sehen, ob Miss Sachari gerufen hatte, konnte sie aber im ganzen Haus nicht finden.« Er zögerte.
»Und?«, half Pitt nach.
Der Mann sah zu Boden. »Ich bin ans Fenster zur Straßenseite gegangen und dann, weil dort nichts zu sehen war, nach hinten. Zwischen den Büschen, denen mit den glatten, glänzenden Blättern, habe ich eine Bewegung gesehen. Ich habe eine Weile gewartet, aber nichts weiter gehört. Da ich keinen Grund hatte anzunehmen, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass mich wohl eine schlagende Tür geweckt hatte.«
»Was haben Sie dann getan?«
Er hob die Schultern ein wenig. »Ich habe mich wieder ins Bett gelegt, weil man mich offensichtlich nicht brauchte, Sir. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis ich dann Leute sprechen hörte und die Polizei mich nach unten rief.«
»Hat man Ihnen eine Schusswaffe gezeigt?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie gefragt, wer ihr Eigentümer ist?«
»Ja, Sir. Ich habe gesagt, dass sie Miss Sachari gehört.« Er sah zu Boden. »Dawusste ich noch nicht, wozu sie gedient hatte. Aber ich putze und öle sie, da kenne ich sie natürlich gut.«
»Wozu besitzt Miss Sachari eine Schusswaffe?«
»Ich habe kein Recht, ihr solche Fragen zu stellen, Sir.«
»Und Sie kennen auch den Grund nicht?«
»Nein, Sir.«
»Aha. Aber da Sie die Waffe reinigen, wissen Sie auch, ob Ihre Herrin sie je benutzt hat.«
»Das kann ich verneinen, Sir.«
»Danke. Haben Sie Lovat ... den Toten gekannt?«
»Ich glaube nicht, dass er früher schon einmal hier war.«
Danach hatte Pitt nicht gefragt. Der Mann wich ihm aus. Tat er das absichtlich, oder hing es damit zusammen, dass Englisch nicht seine Muttersprache war?
»Haben Sie ihn früher schon einmal gesehen?«
Der Diener senkte den Blick. »Noch nie, Sir. Wenn ich richtig verstanden habe, hat der Polizeibeamte an seiner Kleidung und den Gegenständen in seinen Taschen erkannt, um wen es sich handelte.«
Die Polizei hatte El Abd also nicht gefragt, ob er Lovat schon einmal gesehen hatte. Das war eine Unterlassung, auf die es allerdings wohl nicht besonders ankam. Als Miss Sacharis Diener würde er jetzt, da er wusste, dass man sie des Mordes an Lovat verdächtigte, vermutlich auf jeden Fall bestreiten, dass er ihn kannte.
Pitt trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Danke«, sagte er, bemüht, die letzten Reste der süßen, klebrigen Flüssigkeit hinunterzuschlucken. Er hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde, bis er den Geschmack wieder losbekam.
»Sir.« Der Diener neigte zum Abschied leicht den Kopf. Es war kaum mehr als die Andeutung einer Verbeugung.
Pitt verließ das Haus durch den Hinterausgang, dankte Wachtmeister Cotter und kehrte am Pferdestall vorüber und um die Ecke auf den Connaught Square zurück, wo er nach einer Droschke Ausschau hielt, die ihn zu Narraway bringen sollte.
»Nun?« Narraway sah leicht verkniffen von seiner Zeitung auf. Sein Blick wirkte besorgt.
»Die Polizei hat die Ägypterin, Ayesha Sachari mit Namen, festgenommen und tut so, als hätte Ryerson mit der Sache nichts zu tun«, teilte ihm Pitt mit. »Die Leute stecken den Kopf in den Sand, statt der Sache auf den Grund zu gehen, weil sie nicht wissen wollen, wie es wirklich war.« Er tat einige Schritte durch den Raum und setzte sich Narraway gegenüber.
Dieser holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Und wie war es wirklich?«, fragte er leise und gelassen. Er saß völlig reglos, als wolle er sich nicht durch die geringste Kleinigkeit ablenken lassen.
Statt lässig ein Bein über das andere zu schlagen, ahmte Pitt unbewusst die Haltung seines Vorgesetzten nach.
»Ryerson hat ihr Beihilfe geleistet, zumindest als es darum ging, die Leiche beiseite zu schaffen«, gab er zur Antwort.
»So, so ...« Wieder stieß Narraway langsam den Atem aus, ohne dass sich seine Anspannung minderte. »Und welche Beweise haben Sie dafür?«
»Die Frau ist sehr schlank und trug zur Tatzeit ein weißes Kleid«, gab Pitt zur Antwort. »Der Tote war ziemlich groß und schwer. Zwei Männer mussten ihn von der Schubkarre in den Wagen heben, der ihn zum Leichenschauhaus gebracht hat. Natürlich haben sie ihn unter Umständen rücksichtsvoller behandelt als jemand, der ihn möglichst schnell aus dem Weg haben wollte.«
Narraway nickte mit fest zusammengekniffenen Lippen.
»Aber auf ihrem weißen Kleid war weder Erde noch Blut zu sehen«, fuhr Pitt fort. »Lediglich Reste von vermoderten Blättern, weil sie am Boden gekniet hatte, möglicherweise neben dem Toten.«
»Aha«, sagte Narraway mit angespannt klingender Stimme. »Und was ist mit Ryerson?«
»Danach habe ich nicht gefragt«, erklärte Pitt. »Der Beamte am Tatort hat durchaus begriffen, warum ich diese Dinge wissen wollte, und die richtigen Folgerungen daraus gezogen. Soll ich noch einmal hin und ihn fragen? Das ließe sich ohne weiteres einrichten, nur würde dann ...«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr ihn Narraway an. »Nein, lassen Sie es gut sein ... jedenfalls vorerst.« Flüchtig flackerte Unruhe in seinem Blick, dann aber sah er zur gegenüberliegenden Wand hin. »Wir wollen abwarten, wie sich der Fall entwickelt.«
Pitt blieb ruhig sitzen. Die Atmosphäre im Raum wirkte sonderbar auf ihn, als lägen wichtige Ereignisse in der Luft, die sich jedem Zugriff entzogen. Narraway hatte bestimmte Punkte nicht ausgesprochen. War das von Bedeutung? Oder war das, was er empfand, eher ein Unbehagen, das auf die gesammelten Erfahrungen vieler Jahre zurückging?
Auch Narraway zögerte, ließ aber den Augenblick verstreichen und sah Pitt erneut an. »Also weiter«, sagte er etwas weniger schroff. »Sie haben mir gesagt, was Sie gesehen haben und was Ihnen der Beamte am Tatort mitgeteilt hat. Wir werden uns bemühen, Ryerson nach Möglichkeit aus der Sache herauszuhalten. Einstweilen soll sich die Polizei damit beschäftigen. Gehen Sie nach Hause und essen Sie etwas. Vielleicht brauche ich Sie später noch.«
Pitt erhob sich, ohne den Blick von Narraway zu wenden, der ihn seinerseits ansah. In seinen glänzenden Augen lag eine kaum erkennbare Empfindung. Dass er sie absichtlich verborgen hielt, spürte Pitt ebenso deutlich wie die gespannte Atmosphäre im Raum, die etwa so war wie an einem gewittrigen Tag.
»Ja, Sir«, sagte er ruhig und ging hinaus. Gedankenvoll sah ihm Narraway nach.
Erst am späten Vormittag kehrte Pitt in sein Haus an der Keppel Street zurück. Um diese Tageszeit waren die Kinder in der Schule. Als er die Haustür aufschloss, hörte er Charlotte und das Dienstmädchen Gracie in der Küche lachen. Während er sich die Schuhe auszog, musste er unwillkürlich lächeln. Die Geräusche hüllten ihn wohltuend ein: Frauenstimmen, das Klappern von Kochtöpfen, das schrille Pfeifen eines Wasserkessels. Die vom Küchenherd ausstrahlende Wärme erfüllte das Haus, und in der Luft hing der Geruch nach dem Brot im Backofen, nach frisch gewaschener und noch nicht vollständig trockener Wäsche sowie nach Holz – wohl vom gründlich geschrubbten Dielenboden.
Ein rötlich getigerter Kater kam aus der Küche, streckte sich lustvoll und näherte sich ihm dann, den Schwanz wie ein Fragezeichen emporgereckt.
»Hallo, Archie«, sagte Pitt leise und streichelte das Tier, das sich unter seiner Berührung drehte und schnurrend an sein Bein drängte. »Wahrscheinlich willst du die Hälfte von meinem Frühstück abhaben?«, fuhr er fort. »Na, dann komm.« Er richtete sich auf und ging, von dem Kater gefolgt, auf leisen Sohlen zur Küchentür.
Charlotte stürzte gerade ein Brot aus seiner Form auf das Gitter, auf dem es abkühlen sollte, während Gracie frisch abgewaschenes blau-weißes Porzellan einräumte. Auch mit über zwanzig war sie noch schmal und so klein, dass sie kaum die oberen Fächer des Geschirrschranks erreichte.
Charlotte, die seine Anwesenheit gespürt haben mochte, wandte sich um und sah ihn fragend an.
»Frühstück«, sagte er mit einem Lächeln.
Gracie stellte keine Fragen. Bei anderen Gelegenheiten allerdings stand ihr Mundwerk, wenn sie das für richtig hielt, keinen Augenblick still. Sie empfand das nicht als vorlaut; es hing mit ihrem Wunsch zusammen, Pitt zu helfen und sich um ihn zu kümmern. Damit hatte sie schon früh angefangen, kaum dass Charlotte und er sie mit dreizehn Jahren in ihr Haus geholt hatten, eine halb verhungerte Waise mit straff nach hinten gekämmten Haaren, deren Kleider viel zu groß für sie waren. Ein blitzgescheites aufgewecktes Kind, auch wenn sie damals weder lesen noch schreiben konnte.
In der Zwischenzeit war sie sehr viel reifer geworden. Ihrer festen Überzeugung nach arbeitete sie für den klügsten Kriminalbeamten, den es in England oder sonstwo gab, und sie wäre auf keinen Fall bereit gewesen, diese Stellung, in der sie ihm ihrer Ansicht nach unschätzbare Dienste leistete, gegen eine noch so verlockende einzutauschen, und wäre es am Hof der Königin.
»Es ist doch nicht etwa wieder der Innere Kreis?«, erkundigte sich Charlotte mit einem Anflug von Furcht in der Stimme.
Bei diesen Worten blieb Gracie mitten in der Bewegung wie erstarrt stehen. Sie schien vergessen zu haben, dass sie Teller einräumen wollte. Ihnen allen stand die Erinnerung an die entsetzliche Geheimorganisation deutlich vor Augen, die Pitt nicht nur die Anstellung bei der Polizei der Hauptstadt gekostet hatte, sondern um ein Haar auch das Leben.
»Nein«, sagte er sogleich mit fester Stimme, »ein einfacher Mord.« Charlotte sah ihn ungläubig an. »Höchstwahrscheinlich hat die Täterin ein Verhältnis mit einem hohen Regierungsmitglied«, fügte er hinzu. »Ebenso wahrscheinlich hat er sich selbst ebenfalls an Ort und Stelle befunden, wenn nicht zur Tatzeit, dann auf jeden Fall unmittelbar danach, und hat ihr geholfen, als sie die Leiche beiseite schaffen wollte.«
»Aha«, sagte sie. Sie hatte die Situation vollständig erfasst. »Aber das ist ihnen nicht gelungen?«
»Nein.« Er setzte sich auf einen der Stühle und streckte die Beine aus. »Jemand hat Schüsse gehört und die Polizei gerufen. Sie ist gerade in dem Augenblick eingetroffen, als die Frau den Toten mit einer Schubkarre aus ihrem Garten fortschaffen wollte.«
Einen Augenblick lang sah sie ihn ungläubig an, merkte aber an seinem Gesichtsausdruck, dass er nicht scherzte.
»Dieser Regierungsheini muss ja ’n ausgewachsener Hornochse sein!«, sagte Gracie unverblümt. »Hoffentlich hat der keine wichtige Aufgabe, sonst geht’s uns allen noch ganz schön dreckig.«
»Gut möglich«, gab ihr Pitt aus vollem Herzen Recht. Archie sprang ihm auf die Knie, und er streichelte ihn geistesabwesend. »Man kann nicht ausschließen, dass es so kommt.«
Seufzend ging Gracie daran, ihm Tee zu machen und das Frühstücksgeschirr auf den Tisch zu stellen. Charlotte wandte sich wieder dem Herd zu, um das Mittagessen vorzubereiten. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie Ärger voraussah.