KAPITEL 6

»Ägypten!«, entfuhr es Charlotte ungläubig, als Pitt geendet hatte. Er war spät nach Hause gekommen, und das Abendessen stand bereits auf dem Tisch.

»Ich weiß, wo Ägypten ist«, meldete sich Daniel zu Wort. »Ganz oben in Afrika.« Er sagte es mit vollem Mund, aber Charlotte war wie betäubt, sodass er ohne Verweis davonkam. »Da muss man mit einem Schiff hin«, fügte er als helfenden Hinweis hinzu.

»Findest du nicht, dass das ...«, setzte Charlotte an, fuhr aber beim Anblick von Jemimas bestürzter Miene ein wenig unbeholfen fort: »... äußerst fesselnd ist? Vermutlich ist es da heiß. Was wirst du nur anziehen?«

»Ich muss mir etwas kaufen, wenn ich da bin«, erklärte er. Es gab so vieles, was er ihr gern gesagt hätte, doch war ihm klar, wie besorgt sie war. Immerhin hatten sie und Jemima noch sehr genaue Erinnerungen daran, wie Tellman sie alle miteinander vor nicht allzu langer Zeit aus großer Gefahr gerettet hatte. Er war eines Tages mitten in der Nacht in ihrem Ferienquartier angekommen, sie hatten in kürzester Zeit ihre gesamte Habe auf ein Pferdefuhrwerk laden und im Stockdunkeln zum nächstgelegenen Bahnhof fahren müssen. Mit großer Mühe war es ihm gelungen, einen Mann zu überwältigen, der ihnen auf dem Weg dorthin aufgelauert hatte. Pitt lächelte seiner kleinen Tochter zu. »Ich bring dir etwas Hübsches mit«, versprach er. »Euch allen«, fügte er rasch hinzu, als er sah, dass Daniel zum Sprechen ansetzte.

Später, als er mit Charlotte allein war, ließ sie sich nicht so einfach ablenken.

»Was kannst du denn in Ägypten schon ausrichten?«, fragte sie. »Ist das nicht britisches Schutzgebiet oder etwas in der Art? Bestimmt haben die da unten Polizei. Da müsste es doch möglich sein, einen Brief hinzuschicken oder einen Kurier, falls sie ihrer Post nicht trauen.«

»Die Polizei dort weiß nicht, wonach sie zu suchen hätte. Sie würden es nicht erkennen, wenn sie darauf stießen«, gab er zur Antwort. Auf dem Heimweg in die Keppel Street war ihm, während ihn der strömende Regen durchnässte, aufgegangen, dass er sich eigentlich auf das Abenteuer freute, das es bedeutete, eine immer sonnige und schon in der Antike bekannte Stadt am Rande Afrikas kennen lernen zu dürfen. Dort würde ihm weder wie jetzt der Wind den Regen ins Gesicht peitschen, noch würden ihn vorüberkommende Fahrzeuge mit Wasserfontänen bespritzen. Dass er die Sprache nicht verstand, nicht wusste, was man dort aß, weder die Währung noch die Bräuche des Landes kannte, schien ihm nicht weiter wichtig. Er würde lernen, was er brauchte, und sein Bestes tun, um etwas über Miss Sachari in Erfahrung zu bringen. Sicher waren das Dinge, die er lieber nicht gewusst hätte, aber zumindest würde er den Versuch unternehmen, zweifelsfrei festzustellen, dass diese Angaben der Wahrheit entsprachen. Vielleicht ließe sich so das Vorgefallene erklären.

Jetzt aber, in der Behaglichkeit des eigenen Heims, schien ihm dies Unternehmen das Letzte zu sein, was er zu tun wünschte. Hier war der Mittelpunkt seines Lebens, hier genoss er schlichte Freuden wie den eigenen Sessel und das eigene Bett. Er wusste, wo jedes Ding war, aß zum Frühstück selbst gebackenes Brot mit bitterer Orangen-Marmelade und trank dazu heißen Tee. Vor allem aber lebten hier die Menschen, die seinem Herzen nahe waren. Sie würden ihm schon nach wenigen Tagen fehlen, von Wochen ganz zu schweigen. All das gab er Charlotte immer wieder zu verstehen, mit Worten, mit Berührungen und durch sein Schweigen.

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Pitt stand auf dem Deck des Dampfers und blickte über das blaue Wasser zu einem Horizont hin, der als schimmernde Trennlinie zwischen See und Himmel lag. Man sah nicht den kleinsten Hinweis auf Land. Er war froh, der Enge seiner Kabine entronnen zu sein, die nur zur Hälfte ihm gehörte, da er genötigt war, sie mit einem unglücklich wirkenden hageren Mann aus Lancashire zu teilen, der die Strecke regelmäßig aus geschäftlichen Gründen befuhr. Er sagte finstere Zeiten vorher und schien eine gewisse Befriedigung darin zu finden, seine Schwarzseherei bei jeder Gelegenheit zu wiederholen. Der einzige Vorzug, den er in Pitts Augen besaß, war, dass ihn andere Menschen nicht im Geringsten interessierten. Kein einziges Mal hatte er ihn nach seinem Beruf, nach seinem Woher oder dem Grund gefragt, warum er nach Ägypten reiste.

Narraway hatte ihm keinerlei Anweisungen gegeben und es ihm überlassen, sich eine passende Tarnung auszudenken. Er war überzeugt, dass eine selbst erdachte Geschichte nicht nur glaubwürdiger wäre, sondern dass man in einem solchen Fall auch weniger Fehler machte, die einen verraten konnten. Auf der zweistündigen Bahnfahrt von London nach Southampton hatte sich Pitt den Kopf über eine passende Geschichte zerbrochen, für die er keine speziellen Kenntnisse auf Gebieten brauchte, von denen er nichts verstand. Auf keinen Fall hätte er als Geschäftsmann auf welchem Gebiet auch immer auftreten können, denn schon nach fünf Minuten würde jeder merken, dass er vom Handel nichts verstand. Aus demselben Grund war es auch unmöglich, sich als Gelehrter auszugeben, schon gar nicht als Fachmann auf dem Gebiet der Geschichte oder Altertümer Ägyptens, für die sich gegenwärtig alle Welt immer mehr begeisterte. Schon die erste Frage würde seine Unwissenheit offenbar werden lassen.

Wer aber reist allein in ein fremdes Land, über das er nicht nur nichts weiß, sondern wo er auch weder Bekannte noch Verwandte hat? Auf keinen Fall ein verheirateter Mann. Pitt hatte beschlossen, so wenig wie möglich von der Wahrheit abzuweichen. Das schien ihm einerseits sicherer und praktischer, zum anderen steigerte es seine Glaubwürdigkeit. Wenn er aber nicht angab, zum Vergnügen zu reisen, musste er irgendeinen anderen nachvollziehbaren Grund nennen können.

Also erfand er einen Bruder, der geschäftlich in Ägypten zu tun hatte und von dem die Familie seit über zwei Monaten ohne Nachrichten war. Das lieferte ihm nicht nur einen plausiblen Grund, sondern rechtfertigte zugleich, dass er Fragen stellte, und erklärte seine Unwissenheit auf nahezu allen Gebieten, die mit Ägypten zu tun hatten. Er hatte den Eindruck, dass er bisher alle Fragen zu jedermanns Zufriedenheit beantwortet hatte. Sein Kabinennachbar hatte lediglich angemerkt, wenn sein Bruder mit Baumwolle handele, gehe er dem sicheren Ruin entgegen und Pitt tue gut daran, in verschwiegenen Gässchen oder gar im Nil nach seinen Überresten Ausschau zu halten. Er hatte nichts darauf gesagt.

Jetzt hielt er den Blick auf das blaue Wasser des Mittelmeers gerichtet und spürte die Wärme der Brise auf der Haut. Er freute sich auf all das Neue, das ihm ein Ort bieten würde, der völlig anders war als alles, was er sich je vorgestellt, geschweige denn gesehen hatte.

Nach der Landung am späten Nachmittag holte er, sobald die mit der Einreise verbundenen Formalitäten erledigt waren, sogleich sein Gepäck. Dann stand er, den Koffer in der Hand, inmitten der sich drängenden Menge am Anleger. In dem Stimmengewirr ertönte ein Dutzend verschiedene Sprachen, von denen er keine einzige verstand. Dennoch kam es ihm vor, als hätten Hafenanlagen auf der ganzen Welt etwas gemeinsam. Allerdings trug der Wind in London empfindliche Kälte vom Wasser herüber, während ihn hier die Hitze erdrückend einhüllte wie ein feuchtes Tuch. Manche Gerüche – Teer, Salz, Fisch – erkannte er sogleich, andere waren ihm unvertraut: Gewürze, Staub und noch etwas anderes, das warm und süßlich roch.

Ein Teil der Männer, die dort arbeiteten, war bis zur Hüfte nackt. Andere trugen lange Gewänder und Turbane, sprachen miteinander, nahmen hier eine Kiste und dort einen Ballen näher in Augenschein.

Der Kapitän hatte Pitt einen Teil seines Geldes in Piaster gewechselt. Vermutlich hatte er ihm einen sehr ungünstigen Kurs berechnet, doch war ihm die damit verbundene Bequemlichkeit das wert.

Jetzt musste er unbedingt eine Unterkunft finden, bevor es dunkel wurde, und so machte er sich daran, der geschäftigen Straße am Hafen entgegenzugehen. Ob er jemanden traf, der Englisch zumindest verstand, wenn er es vielleicht auch nicht sprach? Welche öffentlichen Verkehrsmittel mochte es geben?

Er sah ein Pferd vor einem offenen Wagen neben dem Gehweg stehen und nahm an, es handele sich um die in Alexandria übliche Art von Droschke. Gerade wollte er hingehen und den Kutscher bitten, ihn zum britischen Konsulat zu fahren, als ein anderer westlich gekleideter Mann mit großen Schritten an ihm vorübereilte, hineinsprang, sich in den Sitz fallen ließ und dem Kutscher auf Englisch etwas zurief. Pitt beschloss, beim nächsten Mal etwas flinker zu sein.

Erst nach zwanzig Minuten entdeckte er eine freie Droschke, und es kostete ihn fünf weitere, bis er den Kutscher so weit hatte, dass er ihn zu einem Preis, der ihm angemessen schien, zum englischen Konsulat brachte. Da er sich nicht auskannte, hätte er selbstverständlich nicht sagen können, ob der Mann auch wirklich dorthin fuhr – er hätte ihn ohne weiteres in der Wüste abladen können. So sehr fesselte ihn das bunte Treiben in den schmalen, schattigen Gassen wie auch auf den im Sonnenschein liegenden breiten Durchgangsstraßen, dass er sich während der holprigen Fahrt fortwährend neugierig umsah.

Die vorherrschenden Farben waren warme Erd- und dunkle Terrakotta-Töne, in die sich das anders getönte Braun der hölzernen Erker und Fensterrahmen mischte. Von der Sonne ausgebleichte Markisen hingen regungslos. Überall sah und hörte man Hühner und Tauben. Esel schleppten schwere Lasten, und vereinzelt sah Pitt Kamele, die mit der Anmut sich gegen die Flut stemmender Schiffe schaukelnd vorüberzogen.

Die Menschen trugen durchweg helle Gewänder. Die Männer hatten Turbane auf dem Kopf, die Frauen Tücher, mit denen sie zugleich die untere Hälfte ihres Gesichts verdeckten. Hin und wieder sah er einen roten oder blaugrünen Farbklecks.

Es schien von lästigen Insekten zu wimmeln. Immer wieder spürte Pitt, wie ihn Mücken stachen, doch war er nicht schnell genug, um sie zu treffen, wenn er nach ihnen schlug.

Die Luft um ihn herum erfüllte der Duft von Gewürzen und heißen Speisen; er hörte Stimmen, Gelächter und von Zeit zu Zeit den sonderbar hohlen Klang metallener Glöckchen.

Im selben Augenblick, in dem mit einem Schlag die Dunkelheit hereinbrach, wobei das leuchtende Blau des Himmels zu einem schimmernden Türkis wurde, stiegen Laute empor, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Noch nie zuvor hatte er einen solchen Gesang gehört. Er schien aus großer Höhe herabzukommen, stieg zum Himmel und senkte sich zur Erde, durchdrang den Abend, bis ihn die Türme und Mauern aller Gebäude zurückwarfen.

Niemand zeigte sich verwundert. Alle schienen ihn genau in dem Augenblick erwartet zu haben.

Die Droschke hielt vor einem prachtvollen Gebäude an, auf dessen glatter Marmorfassade helle und dunkle Töne miteinander abwechselten, was sie lebhaft und gegliedert erscheinen ließ. Pitt dankte dem Kutscher und gab ihm den vereinbarten Betrag. Als er den Fuß auf den kochend heißen Gehweg setzte, hüllte ihn die Luft um ihn herum mit einer solchen Hitze ein, dass es ihm vorkam, als befände er sich in einem Raum, dessen Fenster zur Sonne ging. Dabei wurde es so rasch dunkel, dass er in der Schwärze der Schatten kaum noch über die Straße sehen konnte. Eine Dämmerung hatte es nicht gegeben – die Sonne war einfach verschwunden, und an ihre Stelle war die Nacht getreten. Schon füllten sich die Gehwege mit lachenden und plaudernden Menschen.

Da er noch nicht wusste, wo er die Nacht verbringen sollte, war es erst einmal wichtiger, eine Unterkunft zu finden, als die Atmosphäre der Stadt zu genießen. Er ging die Stufen empor und trat in das Gebäude. Ein in eine erdfarbene Dschellaba gekleideter junger Ägypter erkundigte sich in makellosem Englisch nach seinen Wünschen. Pitt erklärte, dass er einen Rat brauche, und nannte den Namen Trenchards, an den ihn Narraway verwiesen hatte.

Fünf Minuten später stand er in Trenchards Büro, einem Raum von verblüffend schlichter Schönheit, den Öllampen mit weichem, gedämpftem Licht erfüllten. An einer der Wände zeigte ein Gemälde von geradezu überirdischer Schönheit den Sonnenuntergang am Nil. Auf einem Tischchen stand neben einer Papyrusrolle und einem goldenen Schmuckstück, das aus dem Sarg eines Pharaos stammen mochte, eine kleine griechische Skulptur.

»Sie gefällt Ihnen wohl?«, fragte Trenchard lächelnd, womit er Pitt schlagartig in die Gegenwart zurückholte.

»Ja. Tut mir Leid«, sagte er entschuldigend. Er war wohl zu müde und von all den neuen Eindrücken zu sehr überwältigt, als dass er noch vernünftig hätte denken können.

»Macht überhaupt nichts«, versicherte ihm Trenchard mit liebenswürdigem Lächeln und einer so wohltönenden Stimme, als läse er sich zum eigenen Vergnügen Gedichte vor. »Sie können Ägyptens Glanz und Geheimnis unmöglich mehr lieben als ich. Schon gar, wenn es um Alexandria geht! Hier stoßen die Enden der Welt zusammen und verschmelzen zu einer Lebenskraft, die Sie sonst nirgendwo finden werden. Rom, Griechenland, Byzanz und Ägypten!« Er sagte die Namen, als wohne ihnen ein beeindruckender Zauber inne.

Er war von durchschnittlicher Größe, doch ließ ihn seine Schlankheit größer erscheinen. Mit ungewöhnlicher Anmut kam er um seinen Schreibtisch herum, um Pitt die Hand zu schütteln. Seinen Zügen nach hätte er aus einer römischen Patrizierfamilie stammen können. Er hatte eine kräftige Adlernase, und sein dunkles Haar war ein wenig übertrieben gewellt. Pitt vermutete, dass Trenchard einer von denen war, die ihren Posten nicht unbedingt deshalb bekleideten, weil sie über besondere Fähigkeiten verfügten, sondern weil es den Erwartungen ihrer Familie so am ehesten entsprach. Sicher hatte er geisteswissenschaftliche Studien getrieben und möglicherweise sogar ein wenig in Ägyptologie dilettiert. Der Mann machte ihm ganz den Eindruck eines Menschen, dem seine Neigungen wichtiger sind als seine Arbeit.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte er. »Jackson hat gesagt, dass Sie zu mir wollten?« Hinter dieser scheinbaren Frage verbarg sich in Wahrheit die höfliche Aufforderung, sich näher zu erklären.

»Mr Narraway hat mir gesagt, dass Sie mir vielleicht den einen oder anderen Rat erteilten könnten«, sagte Pitt.

Verstehen leuchtete in Trenchards Augen auf. »Gewiss«, entgegnete er. »Nehmen Sie doch Platz. Sind Sie gerade erst angekommen?«

»Mit dem Schiff, das vor einer Stunde angelegt hat«, bestätigte Pitt und setzte sich dankbar. Zwar hatte er keinen weiten Weg zurückgelegt, wohl aber ziemlich lange an Deck gestanden, weil er es vor Vorfreude unten in der Kabine nicht mehr ausgehalten hatte.

»Haben Sie schon eine Unterkunft?«, erkundigte sich Trenchard mit einem Ausdruck, der zu verstehen gab, dass er das Gegenteil annahm. »Ich empfehle Ihnen das Casino San Stefano, ein sehr gutes Hotel. Es verfügt über hundert Zimmer, sodass es nicht schwer fallen dürfte, dort unterzukommen. Jedes kostet fünfundzwanzig Piaster pro Nacht. Übrigens isst man dort ausgezeichnet. Für den Fall, dass Sie sich nichts aus ägyptischer Küche machen, können Sie auch französisch essen. Am einfachsten kommen Sie über die Strada Rossa hin – mit der Droschke oder, falls es etwas anspruchsloser und nicht so teuer sein soll, mit der Straßenbahn. Sie ist ausgezeichnet und verkehrt vierundzwanzig Stunden am Tag. Zwei Linien fahren direkt bis zur Endhaltestelle San Stefano.«

»Danke«, sagte Pitt aufrichtig. Es war ein guter Anfang, dennoch bedrückten ihn seine Unwissenheit und das Bewusstsein, sich in einer Stadt aufzuhalten, in der ihm sogar die Gerüche in der Luft unbekannt waren. Noch nie war er sich so hilflos oder allein vorgekommen. Alles, was ihm vertraut war, lag tausend Meilen entfernt.

Erwartungsvoll sah ihn Trenchard an. Offensichtlich nahm er an, Pitt werde noch mehr berichten. Eine Hotelempfehlung hätte er schließlich von jedem Beliebigen bekommen können. So machte sich Pitt daran, zumindest einen Teil dessen offen zu legen, was ihn nach Alexandria geführt hatte. Er begann mit dem, was jedenfalls in London alle Welt wusste, und teilte Trenchard die nackten Tatsachen des Mordes an Lovat und Ayesha Sacharis Verhaftung mit.

Auf das Gesicht des Konsulatsbeamten trat lebhaftes Interesse. »Ayesha Sachari!«, wiederholte er den Namen mit sonderbarem Unterton.

»Kennen Sie ihre Angehörigen?«, fragte Pitt rasch. Vielleicht erwies sich die Sache doch als einfach.

»Das nicht – aber der Name weist daraufhin, dass es sich bei der Familie nicht um Moslems, sondern um Kopten handelt.« Als er sah, dass Pitt nicht verstand, fügte er hinzu: »Das sind ägyptische Christen.«

Pitt war verblüfft. Er hatte nicht im Entferntesten an die Frage der Religion gedacht, jetzt aber ging ihm auf, dass sie von Bedeutung sein konnte.

Den Mund zu einem leicht ironischen Lächeln verzogen, sprach Trenchard weiter und sah Pitt dabei unverwandt an: »Nach dem, was Sie sagen, dürfte es sich um eine bessere Prostituierte handeln, möglicherweise eine Art exklusive Kurtisane. Niemand hier im Lande würde mit einer Muslimin etwas zu tun haben wollen, die sich, wie diskret auch immer, mit andersgläubigen Männern einlässt. Als Christin hingegen kann sie den Anschein von Achtbarkeit wahren, vorausgesetzt, sie geht mit äußerster Zurückhaltung zu Werke.«

»Von Kurtisane kann kaum die Rede sein!«, gab Pitt ziemlich patzig zurück. Als er den Spott in den Augen des anderen aufblitzen sah, ärgerte er sich sofort über seinen Mangel an professioneller Distanz.

Trenchard ging nicht weiter darauf ein, doch seine herablassende Art war die eines Mannes von Welt, der es mit einem verblüffend einfältigen Menschen zu tun hat. Es überlief Pitt heiß vor Scham. Immerhin wusste er als erfahrener Polizeibeamter weit mehr von den finsteren Abgründen der Menschennatur als dieser Diplomat aus vornehmer Familie. Er beherrschte seinen Zorn nur mit Mühe.

»Außer Lovat ist Saville Ryerson bisher der einzige Mensch, von dem wir wissen, dass er in Verbindung mit ihr steht«, sagte er kälter, als er beabsichtigt hatte. »Offensichtlich hat Lovat sie glühend verehrt, als er vor fünfzehn Jahren hier in Alexandria stationiert war. Ob die Beziehung je darüber hinausging, wissen wir nicht.«

Trenchard faltete seelenruhig die Hände. »Und das wollen Sie in Erfahrung bringen?«

»Das und anderes, ja.«

»Vermutlich lautet Ihr Auftrag, Ryerson von jedem Verdacht reinzuwaschen?«

Trenchard klar zu machen, dass ihn das nichts anging, wäre sinnlos gewesen; dann hätte er Pitt womöglich für einen noch größeren Dummkopf gehalten.

»Möglichst«, bestätigte Pitt.

Sein kaum wahrnehmbares Zögern entging Trenchard nicht, was sich in seinem Gesichtsausdruck spiegelte.

»Wir müssen unbedingt feststellen, wie sich die Sache in Wirklichkeit abgespielt hat«, fuhr Pitt rasch fort. »Welchen Grund hätte die Frau haben können, Lovat zu töten? Was wollte sie überhaupt in London? Hat sie Ryerson durch Zufall kennen gelernt oder gezielt ausgewählt?« Noch während er das sagte, fiel ihm auf, wie unwahrscheinlich es war, dass sich eine schöne Ägypterin zufällig ausgerechnet in den Minister verliebte, der für die Baumwollausfuhr seines Landes zuständig war. Andererseits kannte die Geschichte Belege für eine Fülle von unwahrscheinlich wirkenden Zufallsbegegnungen, die ihren Verlauf unwiderruflich verändert hatten.

»Aha ...«, sagte Trenchard mit vorgeschobener Unterlippe. »Damit bekommt die Sache schon ein anderes Gesicht. Warum vermutet man überhaupt, dass sie diesen Lovat erschossen hat?« Seine Augen weiteten sich ein wenig. »Und wer ist das?«

»Ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe des diplomatischen Dienstes«, sagte Pitt. Er beschloss, die Möglichkeit einer Erpressung erst einmal mit Stillschweigen zu übergehen. »Ryerson tut alles, um sie vor einer Mordanklage zu bewahren, und scheint nicht einmal vor der Gefahr zurückzuschrecken, dass er damit seinen eigenen Ruf aufs Spiel setzt. Allem Anschein nach geht seine Liebe zu dieser Frau so weit, dass sie nicht einmal dann zu befürchten brauchte, er könnte ihr seine Gunst entziehen, wenn dieser Lovat ihr früherer Geliebter gewesen wäre und sie deshalb belästigt hätte.«

»Ich verstehe«, sagte Trenchard leise. »Sieht ganz so aus, als ob etwas nicht so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Ganz offensichtlich gibt es da viele Möglichkeiten. Sehr vernünftig von Ihnen, herzukommen, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu machen. Offen gestanden habe ich mich anfangs gefragt, warum Narraway nicht einfach jemanden vom Konsulat gebeten hat, sich der Sache anzunehmen; ich begreife jetzt aber, dass hier ein Kriminalbeamter vonnöten ist. Die Lösung könnte komplex sein, und vielleicht möchte der eine oder andere verhindern, dass sie ans Tageslicht kommt.« Er lächelte liebenswürdig und offen. »Kennen Sie Ägypten, Mr Pitt?«

Hinter dem ungezwungenen Ton, den er anschlug, hörte Pitt einen Anflug der Leidenschaft, von der ihm Trenchard bereits eine Kostprobe geliefert hatte, als er von der Schönheit des alten Ägypten und dem Glanz seiner Kultur sprach, der vor allem in Alexandria spürbar war, der Stadt, in deren Nähe der Nil ins Mittelmeer mündete und in gewissem Sinne Afrika und Europa aufeinander trafen.

»Am besten setzen Sie voraus, dass ich nichts weiß«, sagte er bescheiden. »Das wenige, das ich mir angelesen habe, ist bedeutungslos.«

Trenchard nickte zustimmend. »Die schriftlich überlieferte Geschichte Ägyptens reicht bis nahezu fünftausend Jahre vor Christi Geburt zurück.« Er sagte das leichthin, doch klang es Pitt bedeutungsschwer, und er spürte die Ehrfurcht Trenchards. »Für Ihre Zwecke allerdings können Sie all das vernachlässigen. Das gilt sogar noch für die Eroberung des Landes unter Napoleon mit der kurzen Besetzung durch die Franzosen vor einem knappen Jahrhundert. Sicher ist Ihnen die Schlacht von Abukir ein Begriff, bei der Lord Nelson die französische Mittelmeerflotte vernichtet hat.« Auf Pitts Nicken hin sagte er befriedigt: »Das dachte ich mir.« Während dieses kurzen Vortrags schwang in seiner Stimme eine Bewegtheit mit, die Pitt nicht recht deuten konnte. »Zwar untersteht Ägypten heute dem Namen nach der Hohen Pforte, ist also Bestandteil des Osmanischen Reiches«, fuhr Trenchard fort, »doch in der Praxis gehört es seit etwa fünfzehn Jahren uns. Allerdings wäre es äußerst unklug, das zu sagen.« Er zuckte elegant die Achseln. »Ebenso wenig empfiehlt es sich, darüber zu sprechen, dass wir auf Mr Gladstones Geheiß vor zehn Jahren Alexandria beschossen haben.«

Pitt zuckte zusammen, doch nur ein winziges Aufflackern in Trenchards Augen zeigte, dass er es gemerkt hatte.

»Der Khedive, der ägyptische Vizekönig, muss Tribut an den türkischen Sultan zahlen, der Kalif und damit zugleich geistiges wie weltliches Oberhaupt der gläubigen Muslims ist«, fuhr er fort. »Das Land hat einen Premierminister und ein Parlament, außerdem ein Heer und eine eigene Flagge. Die Wirtschaftsangelegenheiten Ägyptens interessieren Sie vermutlich nicht besonders, möglicherweise abgesehen von der Baumwolle. Sie ist das einzige landwirtschaftliche Erzeugnis, das ausgeführt wird. Großbritannien kauft die alles andere als unbedeutende Ernte vollständig auf, womit Ägypten ein Großteil seiner Wirtschaftskraft entzogen wird.«

»Das war mir bekannt«, sagte Pitt finster. »Im Übrigen denke ich, dass wirtschaftliche Fragen den Kern der ganzen Angelegenheit bilden, derentwegen ich hier bin. Aber eigentlich brauche ich im Augenblick keine näheren Angaben darüber«, fügte er eilig hinzu. »Wie sieht es mit der Polizei aus?«

Trenchard setzte sich bequemer hin. »Ich an Ihrer Stelle würde mir alles aus dem Kopf schlagen, was mit dem Gerichtswesen und mit Gesetzen zu tun hat«, sagte er trocken. »Die Jurisdiktion des Landes über Ausländer ist auf eine ganze Reihe verschiedener Gerichte verteilt, und die labyrinthischen Abläufe darin würden sogar einen Theseus aus dem Konzept bringen, der einen Wollfaden hinter sich herzieht.« Mit eleganter Gebärde spreizte er die Finger. »Wir Briten bestimmen, was hier im Lande geschieht, aber unauffällig und hinter den Kulissen. Wir sind mehrere hundert, die alle dem Generalkonsul Lord Cromer unterstehen, kurz ›der Lord‹ genannt. Ich nehme an, Sie wissen, was man über ihn sagt?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Pitt.

Mit einem Lächeln hob Trenchard die Brauen kaum wahrnehmbar. »Wenn sich Lord Cromer gegen jemanden stellt, nützt es dem Betreffenden nichts, das Recht auf seiner Seite zu wissen«, erläuterte er. »Es wäre folglich in diesem Fall das Beste, wenn der Lord von der Existenz Ihrer Person nichts weiß.«

»Ich werde mich danach richten«, versprach Pitt. »Aber ich muss mehr über diese Frau wissen. Welche Rolle hat sie gespielt, bevor sie nach England gegangen ist? Ist sie wirklich so impulsiv und so ...«

»... dumm«, ergänzte Trenchard mit amüsiertem Blick. »Ja, ich verstehe, dass das nötig ist. Wir werden uns morgen einmal näher mit den Kopten beschäftigen. Ich zeichne Ihnen auf einem Stadtplan die Gebiete ein, die am ehesten in Frage kommen. Meiner Vermutung nach dürfte sie aus einer wohlhabenden Familie stammen, da sie Englisch spricht und offensichtlich auch über die Mittel zu reisen verfügt.«

»Danke.« Pitt stand auf. Er merkte, dass er ganz steif war, und musste sich große Mühe geben, ein Gähnen zu unterdrücken. Er war sehr viel müder, als er angenommen hatte. Nach wie vor war es ungewöhnlich warm, und seine Kleider klebten ihm am Leibe. »Wo ist die nächste Haltestelle der Straßenbahn zum Hotel?«

»Haben Sie Piaster?«

»Ja ... danke.«

Auch Trenchard erhob sich. »Halten Sie sich einfach rechts. Nach ungefähr hundert Metern ist links von Ihnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Haltestelle. Ich würde allerdings vorschlagen, dass Sie um diese Tageszeit lieber eine Droschke nehmen, solange Sie die Stadt noch nicht kennen. Das dürfte höchstens acht oder neun Piaster kosten, und mit einem schweren Koffer könnte sich das lohnen. Viel Glück, Pitt.« Er hielt ihm die Hand hin. »Melden Sie sich, wenn ich Ihnen von Nutzen sein kann. Falls ich etwas erfahre, wovon ich annehme, dass es Ihnen weiterhelfen könnte, schicke ich Ihnen eine Mitteilung ins San Stefano.«

Pitt ergriff Trenchards Hand, dankte ihm erneut und befolgte seinen Rat, eine Droschke zu nehmen.

Die Fahrt dauerte nicht lange, aber nach wie vor lag brütende Hitze über den Straßen, und wieder wurde Pitt von zahlreichen Mücken gestochen. Als er endlich am Hotel ankam, war er nicht nur erschöpft, es juckte ihn auch am ganzen Leibe.

Das Hotel war in der Tat überragend, und ganz wie Trenchard gesagt hatte, bekam er für fünfundzwanzig Piaster pro Nacht ein Zimmer. Von den angebotenen reichlichen und köstlichen Speisen im Restaurant nahm er nur frisches Brot und Obst und zog sich nach dem kargen Mahl auf sein Zimmer zurück. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, zog er die Schuhe aus, trat ans Fenster und sah zum glänzend schwarzen Firmament voller schimmernder Sterne empor. Im Wind, der vom Meer herüberwehte, lagen Hitze und Salz. Er atmete tief ein und stieß die Luft in einem langen Seufzer wieder aus. Alexandria zu erleben war wunderschön, aufregend und erhebend. An sein Ohr drangen das Rauschen des Meeres, gelegentliches Lachen und ein unaufhörliches Hintergrundgeräusch, das wie das Zirpen von Grillen im Gras klang. Es erinnerte ihn an die Sommer seiner Kindheit auf dem Lande, doch war er zu müde, es auf sich wirken zu lassen. Wäre doch Charlotte da! Wie gern hätte er sie aufgefordert, auf die fernen Stimmen zu achten, die sich in den verschiedensten Sprachen unterhielten, auf das Gelächter und die fremdartigen Düfte der Nacht.

Er wandte sich wieder dem unvertrauten Zimmer zu, zog sich aus und wusch sich den Reisestaub ab. Dann schlüpfte er unter das weich fallende Moskitonetz, das er achtsam hinter sich schloss. Er schlief nahezu sogleich ein. Einmal erwachte er in der Dunkelheit und wusste einen Augenblick lang nicht, wo er war. Er vermisste das vertraute Wiegen des Schiffs, dessen Abwesenheit ihm einen sonderbaren Schwindel verursachte. Dann fiel ihm ein, wo er sich befand, er drehte sich um und versank wieder in den Tiefen des Schlafes. Er erwachte erst am späten Vormittag.

 

Die beiden ersten Tage seines Aufenthalts nutzte er dazu, möglichst viel über die Stadt in Erfahrung zu bringen. Als Erstes kaufte er Kleidung, die sich für Nachttemperaturen von fünfundzwanzig und Tagestemperaturen um die dreißig Grad eignete. Rasch war er mit dem erstklassigen Netz aus frisch lackierten Straßenbahnen und in England gebauten Zügen vertraut, die ihm sogar im blendenden Licht der Sonne, gegen die er immer wieder die Augen zukneifen musste, anheimelnd erschienen. Mitunter zog er einfach durch die Straßen, um die Stimmen des sonderbaren Völkergemischs mit seiner Sprachenfülle in sich aufzunehmen und die Gesichter der Menschen zu beobachten. Neben Ägyptern fanden sich Griechen, Armenier, Juden, Levantiner, Araber, vereinzelt Franzosen und immer wieder Engländer. Er sah Soldaten in Tropenuniform und Zivilisten, die sich, wie es aussah, trotz der Hitze, des Lärms und des Feilschens auf den Märkten und des grellen Lichts beinahe wie zu Hause zu fühlen schienen. Außerdem gab es Touristen mit bleichen Gesichtern, die müde und zugleich erregt darauf brannten, alles zu sehen, was es zu sehen gab. Bevor sie an Bord eines der zahlreichen Dampfer gingen, die nilaufwärts nach Karnak und weiter fuhren, hörte er, wie sie sich darüber unterhielten, dass Kairo ihr nächstes Ziel war.

Voll Begeisterung äußerte sich ein älterer Geistlicher, dessen weißer Schnurrbart scharf von seiner gebräunten Haut abstach, über seine jüngste Reise. Er beschrieb, wie er beim Frühstück über den zeitlosen Nil geblickt habe, als befinde er sich in der Ewigkeit; auf dem Tisch neben der aufgeschlagenen Egyptian Gazette habe frischer Toast mit original Dundee-Orangenmarmelade gestanden, während sein Blick auf die aus dem Sandmeer am Horizont aufragenden Begräbnispyramiden der Pharaonen geschweift sei.

»Einfach unübertrefflich«, sagte er mit einer Stimme, die in keinem Londoner Herrenklub fehl am Platz gewesen wäre.

Das erinnerte Pitt schmerzlich an die Dringlichkeit seines Auftrags, und so begann er, sich nach der koptischen Familie Sachari zu erkundigen. Alles andere musste warten – die jahrtausendealte Geschichte der Pharaonen, die Jahrhunderte griechischer und römischer Herrschaft, Kleopatras Romanze mit Cäsar, die Herrschaft der Araber, Türken, Mamelucken, die Eroberung durch Napoleon, Admiral Nelson. Jetzt herrschten die Briten, ganz gleich, was der Sultan in Istanbul sagen mochte, und Schiffe der ganzen Welt fuhren durch den Suezkanal nach Indien und weiter gen Osten. Ägyptens Baumwollernte wurde nach England verkauft und dort in Webereien verarbeitet, die in Manchester, Brunley, Salford und Blackburn standen, Städten, über denen an einem sich früh verdunkelnden Winterhimmel dichter Rauch hing. Aus England kehrten die Fertigerzeugnisse nach Ägypten zurück, aber nur, um durch den Suezkanal ostwärts weitertransportiert zu werden.

Auf den heißen Straßen voller Unrat und Fliegen sah Pitt viel Armut, Hunger und Krankheiten. Bettler saßen vor Mauern, die in der Sonnenhitze förmlich glühten, zogen mit dem kargen Schatten weiter, den sie warfen, und baten in Allahs Namen um milde Gaben. Während die einen noch ihre gesunden Glieder zu haben schienen, waren andere mit Wunden bedeckt, wenn sie nicht sogar verkrüppelt, blind oder verstümmelt waren. Pockennarben oder Lepra entstellten viele Gesichter, und bei so manchem hätte Pitt am liebsten beiseite gesehen.

Mehrfach wurde er angespien, und einmal traf ihn ein von hinten geschleuderter Stein am Ellbogen. Er sah aber niemanden, als er sich rasch umwandte.

Auch in England gab es Armut, dort jedoch war es kalt und nass, die Rinnsteine liefen über, und die Menschen litten an Krankheiten einer anderen Klimazone, dem abgehackten Husten der Tuberkulose. Hier wie dort erlagen sie der Cholera und dem Typhus. Es schien ihm unmöglich, eins gegen das andere abzuwägen.

Er ging zurück zu dem großen Vorort, in dem die Kopten wohnten. Dort setzte er sich in ein kleines Kaffeehaus und begann Fragen zu stellen. Der Kaffee war so dick und süß, dass er ihn nicht herunterbrachte. Der Vorwand, dessen er sich bediente, um seine Fragen zu rechtfertigen, war nahe der Wahrheit: Eine Ägypterin namens Ayesha Sachari sei in London in Schwierigkeiten geraten, und er sei auf der Suche nach Angehörigen, Freunden oder Bekannten, die ihr gegebenenfalls helfen könnten. Zumindest müsse man, erklärte er, diese Menschen von der schwierigen Situation in Kenntnis setzen, in der sie sich befand.

Es kostete ihn beinahe zwei weitere Tage, bis sich aus Gerüchten und Vermutungen etwas herausschälte. Nach längerem Hin und Her hieß es, ein Mann, dessen Schwester mit Ayesha Sachari befreundet gewesen war, sei bereit, mit ihm zusammenzutreffen. Pitt schlug das Restaurant des Hotels San Stefano vor.

Während er wartend dasaß, mischte sich der angenehme Speisengeruch mit den Düften, die eine Brise durch die offenen Türen vom Meer herüberwehte. Nach einer Weile blieb ein Ägypter von etwa fünfunddreißig Jahren am Eingang stehen und sah sich suchend um. Seine traditionelle Dschellaba, die in warmen Erdtönen gehalten war, war unübersehbar aus erlesenem Material gearbeitet. Nachdem er Pitt, den man ihm beschrieben hatte, unter den anderen Europäern erkannt zu haben glaubte, trat er zwischen den Tischen auf ihn zu und stellte sich mit einer Verbeugung förmlich vor. »Guten Abend, Effendi. Ich heiße Makarios Jakub. Sie sind Mr Pitt, nehme ich an. Ja?«

Pitt erhob sich und neigte den Kopf ein wenig. »Guten Abend, Mr Jakub. Ja, ich bin Thomas Pitt. Danke, dass Sie gekommen sind.« Er wies mit einer einladenden Handbewegung auf einen der anderen Stühle. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen? Man isst hier hervorragend. Ich nehme an, dass Sie das bereits wissen.«

»Werden Sie selbst auch essen?«, fragte der Besucher und nahm Platz.

Schon in den wenigen Tagen seines Aufenthalts hatte Pitt gelernt, dass es landesüblich war, nur auf Umwegen auf Dinge zu sprechen zu kommen, die einem wichtig waren. Drängen oder offenbare Eile trug einem nichts als Verachtung ein. »Gewiss. Dabei wäre mir Ihre Gesellschaft angenehm«, gab er zur Antwort.

»Dann gern«, nickte Jakub. »Es ist sehr freundlich von Ihnen.«

Pitt plauderte ein wenig über sein Interesse an Alexandria, äußerte sich über die Schönheit dessen, was er gesehen hatte. Vor allem der Damm zwischen dem alten Leuchtturm und der Stadt hatte es ihm angetan.

»Es kam mir vor, als ob ich, wenn ich die Augen zumachte und plötzlich wieder öffnete, den Koloss von Pharos sehen würde, den Leuchtturm, der zu den Sieben Weltwundern der Antike gehörte«, sagte er.

Zwar war es ihm gleich darauf peinlich, eine solche fantastische Vorstellung geäußert zu haben, doch merkte er, dass ihn sein Gast verstand. Nicht nur entspannte sich Jakub ein wenig, auf seine Züge trat auch ein wohlwollender Ausdruck. Er hörte es offenbar gern, wenn jemand seine Stadt pries.

»Der von Dinokrates unter Alexander dem Großen errichtete Damm trägt den Namen Heptastadion«, erklärte er. »Im Mittelalter lag östlich davon der alte Hafen. Es gibt aber noch vieles andere, was Sie sehen müssen. Da Sie sich für die Vergangenheit unseres Landes zu interessieren scheinen, empfehle ich Ihnen Alexanders Grab. Manche behaupten, dass es unter der Moschee Nabi Daniel liegt, andere sagen, es befinde sich in der nahe gelegenen Nekropole.« Er lächelte entschuldigend. »Verzeihen Sie, wenn ich zu viel rede. Ich möchte meine Stadt mit jedem teilen, der sie mit freundschaftlichen Augen betrachtet. Sie müssen unbedingt die Gärten des Antoniades am Mahmudije-Kanal aufsuchen. Dort finden sich in jeder Hand voll Erde Spuren der Geschichte. Zum Beispiel hat der Dichter Kallimachos dort gelebt und gelehrt.« Er zuckte leicht mit den Achseln. »Außerdem gibt es dort ein römisches Grab«, endete er mit einem Lächeln, als der Kellner an den Tisch trat.

»Sind Sie mit unseren Speisen vertraut?«, fragte Jakub.

»Nur wenig«, gab Pitt zu. Er war gern bereit, sich helfen zu lassen, denn zum einen war es praktisch, und zum anderen erfüllte er damit ein Gebot der Höflichkeit.

»In dem Fall schlage ich Muluchis vor«, sagte Jakub. »Das ist eine köstliche grüne Suppe, die Ihnen sicher schmecken wird. Danach Haman Maschi, gefüllte Täubchen.« Er sah Pitt fragend an.

»Wunderbar, gern«, stimmte dieser zu.

Bis das Essen kam, stellte Pitt noch einige Fragen über die Stadt. Als sie bei der wirklich köstlichen Suppe waren, kam Jakub schließlich auf den Grund ihres Zusammentreffens zu sprechen.

»Sie haben gesagt, dass sich Ayesha Sachari in Schwierigkeiten befindet«, sagte er, legte den Löffel einen Augenblick beiseite und sah Pitt aufmerksam an. Seine Stimme klang ungezwungen, als spräche er nach wie vor über die Schönheiten der Stadt, aber seinen Augen war die Anspannung anzusehen.

Da Alexandria über ein erstklassiges Telefonnetz verfügte, das bisweilen zuverlässiger funktionierte als das von London, hielt Pitt es für durchaus möglich, dass Jakub bereits von ihrer Festnahme und dem Tatvorwurf gegen sie gehört hatte. Er würde sehr vorsichtig sein müssen, denn keinesfalls durfte er sich bei einer Verdrehung der Tatsachen ertappen lassen und schon gar nicht bei einer offenen Lüge.

»Ich fürchte, ihre Lage ist ernst«, gab er zu. »Ich weiß nicht, ob sie Gelegenheit hatte, ihre Angehörigen zu verständigen oder ihnen möglicherweise Sorgen ersparen wollte. Doch wenn sie meine Tochter oder Schwester wäre, wüsste ich gern möglichst genau, worum es geht, damit ich überlegen könnte, wie sich ihr helfen lässt.«

Sofern Jakub etwas wusste, war das seinem Gesicht nicht anzusehen. »Gewiss«, murmelte er. Pitt hatte angenommen, er werde sich überrascht, wenn nicht gar beunruhigt darüber zeigen, dass sich Ayesha Sachari in Gefahr oder Schwierigkeiten befand, doch das war nicht der Fall. War Jakub bereits auf anderem Wege über ihre Verhaftung im Bilde, oder hatte er aufgrund seiner Kenntnis ihrer Person mit einer solchen Möglichkeit gerechnet? Unwillkürlich musste er an Narraways Warnung denken, wobei ihn sogar in der erdrückenden Hitze des Restaurants ein kalter Schauer überlief. Jakub trat ihm so liebenswürdig und umgänglich gegenüber, dass er ohne weiteres hätte vergessen können, wie sehr dessen Interessen unter Umständen von seinen eigenen oder denen der britischen Regierung abwichen.

»Kennen Sie Miss Sacharis Angehörige?«, fragte Pitt.

Jakub hob in einer eleganten Bewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte, ganz leicht eine Schulter. »Ihre Mutter lebt schon lange nicht mehr, und ihr Vater ist vor drei oder vier Jahren gestorben«, gab er zur Antwort.

Überrascht stellte Pitt fest, dass er Mitgefühl empfand. »Und gibt es sonst jemanden? Geschwister?«

»Nein, sie hat niemanden«, gab Jakub zurück. »Sie war das einzige Kind. Vielleicht hat ihr Vater deshalb so sorgfältig darauf geachtet, dass sie eine gute Ausbildung bekam. Sie war seine liebste Gefährtin. Neben ihrer Muttersprache Arabisch spricht sie Französisch, Griechisch, Italienisch und natürlich auch Englisch. Wahrhaft geglänzt hat sie auf den Gebieten Philosophie und Geistesgeschichte.« Er spürte Pitts Erstaunen und sagte: »Ich weiß, dass man beim Anblick einer schönen Frau gewöhnlich denkt, sie habe nichts im Sinn, als anderen zu gefallen.«

Pitt öffnete den Mund, um das zu bestreiten, musste sich aber eingestehen, dass der Mann Recht hatte. Er merkte, wie er errötete, und schwieg.

»Anderen zu gefallen war ihr nicht besonders wichtig«, fuhr Jakub mit einem leichten Lächeln fort, das mehr in seinen Augen als auf den Lippen lag, und aß weiter, wobei er das Brot mit den Fingern brach. »Vielleicht war sie nicht darauf angewiesen, sich darum zu bemühen.«

»Wollte ihr Vater denn nicht, dass sie heiratete?« Es war Pitt klar, dass diese Frage ziemlich ungehörig war, doch er brauchte weit mehr Informationen, als er bisher bekommen hatte. Wenn es keine Angehörigen mehr gab, musste er eben gute Bekannte fragen.

Jakub erwiderte seinen Blick. »Möglich. Aber Ayesha hatte ihren eigenen Kopf, und ihr Vater liebte sie zu sehr, als dass er sie bedrängt hätte, wenn sie etwas nicht wollte.« Er löffelte weiter und fuhr dann fort: »Sie ist eine Frau, die sich über Konventionen hinwegsetzt, und dank ihrer finanziellen Mittel war sie nicht auf eine Eheschließung angewiesen.«

»Und was ist mit Liebe?«, wagte Pitt zu fragen.

Wieder machte Jakub die leichte Bewegung, die alles und nichts bedeuten konnte. »Ich glaube, sie hat viele Male geliebt, doch weiß ich nicht, wie tief die Gefühle dabei gegangen sind.«

War das eine beschönigende Umschreibung? Pitt hatte den Eindruck, sich in einer Kultur zu verheddern, die sich in jeder Hinsicht von der seinen unterschied. Nach wie vor wusste er kaum, was für eine Frau Ayesha Sachari war. Mit Sicherheit wusste er lediglich, dass sie anders war als alle anderen, die er kannte. Hätte er doch Charlotte fragen können! Sie wäre vielleicht imstande gewesen, die Wirklichkeit hinter dem Vorhang aus Worten zu erkennen.

»Was für Menschen hat sie geliebt?«, fragte er.

Jakub aß seine Suppe auf, der Kellner trug die Teller ab und kehrte mit den Täubchen zurück.

Den Blick auf einen Punkt weit in der Ferne gerichtet, sagte Jakub: »Ich selbst kenne nur einen von ihnen.« Dann sah er Pitt mit einem Mal an. »Welchen Sinn hätte es für Sie, wenn Sie etwas über Ramses Ghali wüssten? Er ist nicht in England und kann nichts mit Ayeshas gegenwärtigen Schwierigkeiten zu tun haben.«

»Sind Sie da sicher?«

Ohne das geringste Zögern antwortet Jakub: »Ganz und gar.«

Pitt war nicht überzeugt. »Wer ist dieser Mann?«

Jakubs Augen wirkten sanft, und sein Gesichtsausdruck war ein undurchdringliches Gemisch von Zorn und Kummer. »Er ist tot«, sagte er leise. »Schon seit über zehn Jahren.«

»Oh ...« Wieder Tod. Hatte sie diesen Mann aufrichtig geliebt? Könnte in dieser Beziehung der Schlüssel zu ihrem gegenwärtigen Verhalten liegen? Pitt klammerte sich an Strohhalme, da ihm nichts anderes übrig blieb. »Hätte sie ihn vielleicht geheiratet, wenn er nicht gestorben wäre?«

Jakub lächelte. »Nein.« Wieder schien er seiner Sache völlig sicher zu sein.

»Aber Sie haben doch gesagt, dass sie ihn geliebt hat...«

Mit großer Geduld, wie bei einem Kind, das endlose und immer genauere Erklärungen braucht, sagte Jakub: »Sie haben einander wie Freunde geliebt, Mr Pitt. Ramses Ghali hat ebenso leidenschaftlich an Ägypten geglaubt wie sein Vater.« Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, und eine Empfindung wurde darauf sichtbar, die Pitt nicht deuten konnte. Er vermutete aber, dass darin etwas Finsteres lag, vielleicht eine Spur von Zorn.

Es lag zehn Jahre zurück, dass die Engländer Alexandria beschossen hatten. Bestand da ein Zusammenhang? Oder ging die ganze Sache noch tiefer, bezog sie sich auf die Geschichte mit General Gordon und der Belagerung der weiter südlich im Sudan gelegenen Stadt Khartoum? Britische Streitkräfte hatten 1882 bei Tal-al-Kebir den Nationalistenführer Achmed Orabi Pascha besiegt, und der Mahdi hatte im Sudan sechstausend Ägypter abgeschlachtet. Ein Jahr später war eine noch größere ägyptische Armee auf ähnliche Weise vernichtet worden. Als 1884 das gleiche Schicksal ein weiteres Heer ereilt hatte, war der als ›China-Gordon‹ bekannte General Gordon auf der Bildfläche erschienen. Im Januar darauf war er umgekommen, und kein halbes Jahr später war auch der Mahdi tot. Es war aber nicht gelungen, Khartoum wieder einzunehmen.

Mit einem Mal fühlte sich Pitt sehr weit von zu Hause fort. Trotz der europäischen Einrichtung des Restaurants und des italienischen Namens, den das Hotel trug, war ihm der uralte und gänzlich andere Hintergrund des Mannes, der ihm da gegenübersaß, schmerzlich bewusst. Die afrikanischen Düfte und die Hitze der Luft steigerten diesen Eindruck noch. Er musste sich zwingen, wieder klar zu denken.

»Sie haben gesagt, dass auch Miss Sachari glühend an Ägypten geglaubt hat«, sagte er und machte sich über seine Taube her. Eher nebenbei fiel ihm auf, dass er noch nie eine so gute gegessen hatte. »Gehört sie zu den Menschen, die nach ihren Grundsätzen handeln und andere zu einer Sache zu bekehren versuchen, für die sie sich einsetzen?«

Jakub lachte erstickt und hörte sogleich wieder auf. »Sollte sie sich so sehr verändert haben? Oder wissen Sie einfach nichts über sie, Mr Pitt?« Er kniff die Augen zusammen und erklärte, ohne auf seine Taube zu achten: »Ich habe die Zeitungen gelesen, und ich denke, dass die britische Regierung um jeden Preis versuchen wird, ihren Minister aus der Sache herauszuhalten, während man Ayesha hängen wird.« In seiner Stimme lag unendliche Bitterkeit, und sein olivfarbenes glattes Gesicht war so verzerrt, dass es fast hässlich wirkte. Wer wusste schon, wie viel Wut und Schmerz in ihm toben mochten? »Was ist das Ziel Ihrer Reise hierher? Suchen Sie einen Zeugen, der Ihnen sagt, dass sie eine gefährliche Fanatikerin ist, die jeden umbringt, der sich ihr in den Weg stellt? Dass dieser Leutnant Lovat möglicherweise etwas über sie wusste, was ihrem Luxusleben in England schaden konnte, und er gedroht hat, das publik zu machen?«

»Nein«, erwiderte Pitt sogleich. Er hoffte, dass es ihm durch den Nachdruck, mit dem er das sagte, gelang, glaubwürdig zu wirken.

Langsam stieß Jakub den Atem aus. Es schien, als sei er bereit zuzuhören, was Pitt zu sagen hatte.

»Nein«, wiederholte Pitt. »Ich möchte die Wahrheit wissen. Ich kann mir keinen Grund denken, warum sie ihn getötet haben sollte. Sie brauchte ihn lediglich nicht zu beachten, dann hätte er ablassen müssen, weil er sonst Gefahr gelaufen wäre, dass man ihn wegen Belästigung belangte. Das hätte für ihn unter Umständen unangenehm werden können.« Er sah den Unglauben auf Jakubs Gesicht. »Der Mann war Karrierediplomat«, erklärte er. »Wie weit würde er da wohl kommen, wenn er sich die Feindschaft eines Kabinettmitglieds vom Kaliber Saville Ryersons zugezogen hätte?«

»Würde dieser Ryerson seinen Einfluss nutzen, um sie zu retten?« , erkundigte sich Jakub unsicher.

»Unbedingt! Er hat ihr in der Angelegenheit Lovat bereits unter die Arme gegriffen, auf die Gefahr hin, dass man ihn ebenfalls vor Gericht stellt! Ein solcher Mann würde keinesfalls davor zurückschrecken, einen jungen Mann, dessen Aufmerksamkeiten unerwünscht sind, in die Schranken zu weisen. Ein einziges Wort zu Lovats Vorgesetzten im diplomatischen Dienst hätte genügt, und Lovat wäre erledigt gewesen.«

Jakub sah nach wie vor zweifelnd drein.

Im Restaurant um sie herum schwoll das Summen der Gespräche an und ab. Eine attraktive Blondine mit porzellanweißer Haut warf lachend den Kopf in den Nacken, wobei sich das Licht in ihren Haaren brach. Ihr Begleiter sah sie entzückt an. Pitt überlegte, ob zwischen den beiden eine Beziehung bestand, die sie in ihrer Heimat nicht einzugehen wagen würden. Nahm Jakub an, dass in der englischen Gesellschaft größere Freiheit herrschte als in seiner Heimat? Wie hätte Pitt ihm erklären können, dass es nicht an dem war?

Jakub sah auf seinen Teller. »Sie verstehen nicht«, sagte er leise. »Sie wissen wirklich nichts über sie.«

»Dann sagen Sie es mir!«, bat Pitt. Fast hätte er noch etwas hinzugefügt, schluckte es aber hinunter. Er sah, wie Jakub mit sich kämpfte. Dem Bewusstsein, dass er sich für die Gerechtigkeit einsetzen und dafür sorgen musste, dass die Wahrheit ans Licht kam, wo zur Zeit noch Unwissenheit herrschte, stand das tief empfundene Bedürfnis eines Menschen entgegen, die Leidenschaften oder Schmerzen eines anderen weder bloßzulegen noch zu verraten.

Abermals überlegte Pitt, was er sagen könnte, um ihn auf seine Seite zu ziehen, und abermals schwieg er.

Jakub schob den Teller zurück und griff nach seinem Glas. Er nippte daran, stellte es dann hin und sah Pitt an. »Ramses’ Vater gehörte zu den Anführern derer, die sich für ein unabhängiges Ägypten einsetzten, als der Schuldenberg unter dem Khediven Ismail ins Unermessliche wuchs. Dann haben die Briten Ismail abgesetzt, das Amt seinem Sohn übergeben und die Verwaltung der gesamten Wirtschaftsangelegenheiten des Landes selbst in die Hand genommen. Ramses war ein brillanter Kopf, ein Gelehrter und ein Philosoph. Er sprach Griechisch und Türkisch ebenso fließend wie Arabisch und verfasste in allen drei Sprachen Gedichte. Er war mit unserer Kultur und Geschichte seit der Zeit der Pharaonen vertraut, in der die Pyramiden von Giseh entstanden sind, durch alle Dynastien bis hin zu Kleopatra, der griechisch-römischen Epoche, dem Vordringen der Araber, die nicht nur Mohammeds Gesetz mit sich gebracht haben, sondern auch Kunst und Medizin, Astronomie und Architektur. Er war ein starker Charakter, und er verstand es, Menschen in seinen Bann zu schlagen.«

Pitt unterbrach ihn nicht. Er wusste nicht, ob all dies im Zusammenhang mit dem Mord an Edwin Lovat etwas zu bedeuten hatte oder ob Narraway auch nur einen Bruchteil davon würde verwenden können, aber es fesselte ihn, weil es Bestandteil der Geschichte dieser außergewöhnlichen Stadt war.

»Er besaß die Fähigkeit, Menschen die Augen für den Zauber des Mondscheins auf tausendjährigen Marmortrümmern zu öffnen«, fuhr Jakub fort und drehte sein Glas in den Fingern. »Er verstand es, das Leben und das Gelächter der Vergangenheit heraufzubeschwören, als wäre diese Zeit nie vorübergegangen, sondern einfach von Menschen, die nicht empfänglich dafür sind, eine Weile übersehen worden. Wer mit ihm sprach, sah die bunte Vielfalt der Welt und hörte die Musik in der Stimme des Windes, der über den Sand streicht. Der Geruch nach Schmutz und Abwässern, die Fliegen auf den Straßen und die Stechmücken waren nichts als der Atem des Lebens.«

»Und Miss Sachari?«, fragte Pitt. Er fürchtete sich vor der Antwort.

»Sie hat ihn geliebt«, sagte Jakub mit leicht herabgezogenem Mundwinkel. »Sie war jung, und Ehre bedeutete ihr alles. Sie liebte auch ihr Land, seine Geschichte, seine Ideen ebenso wie seine Menschen, und sie hasste die Armut, die der Grund dafür war, dass sie unwissend blieben und keine Möglichkeit hatten, Lesen und Schreiben zu lernen, dass sie krank waren, wo sie hätten gesund sein können.«

Pitt wartete. Die unterdrückte Empfindung in Jakubs Gesicht, der Schleier über seinen Augen sagten ihm, dass er mit seinem Bericht noch lange nicht am Ende war.

Jakub nahm den Faden wieder auf. Er hatte nur innegehalten, um seiner Bewegung Herr zu werden, die er nicht so offen auf seinem Gesicht zeigen wollte.

»Er war ein Mann von nahezu unendlichen Möglichkeiten«, sagte er sehr leise, »der zweifellos imstande gewesen wäre, dem Land seine Unabhängigkeit und finanzielle Selbstständigkeit zurückzugeben. Aber er hatte eine Schwäche – er war unfähig, seinen Angehörigen Nein zu sagen. Er hat seinen Söhnen und Brüdern Macht gegeben, und diese nutzten sie, um ihre Habgier zu befriedigen. Wer führen will, muss bereit sein, notfalls allein zu gehen. Das aber war er nicht.«

Er holte tief Luft und fuhr fort, das Glas in der Hand zu drehen. Dann hielt er inne, als wolle er daraus trinken, doch ließ er es stehen. Sein Gesicht wirkte angespannt, als liege darin ein unverheilter alter Schmerz. »Ayesha hat ihn geliebt, er aber hat sie und sein Volk verraten. Ich weiß nicht, ob sie sich danach je wieder rückhaltlos einem Mann geöffnet hat – möglicherweise diesem Ryerson?« Er hob die Augen und sah Pitt fragend an. »Wird auch er sie verraten?«

Pitt fragte sich, warum sie der Polizei nichts von all dem gesagt hatte. War sie innerlich abgestumpft, rechnete sie damit, dass sich die Geschichte wiederholte?

»Auf welche Weise?«, fragte er. »Indem er sie oder sein eigenes Volk verrät?«

Verstehen blitzte in Jakubs Augen auf. »Sie denken an die Baumwolle? Glauben Sie, sie ist nach London gegangen, um ihn zu überreden, dass er uns die Rohbaumwolle überlässt, damit wir selbst Gewebe herstellen können, statt sie nach Manchester zu verschiffen, wo englische Arbeitskräfte den Mehrwert erzeugen, sodass statt unser England reich wird? Möglich. Es würde mich freuen, wenn es so wäre.«

»In dem Fall hätte sie ihn aufgefordert, sich zwischen England und Ägypten zu entscheiden«, entgegnete Pitt, »womit er auf jeden Fall eine Seite verraten musste.«

»Sie haben Recht.« Jakub presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß nicht, ob sie ihm das verzeihen könnte.« Er nahm sein Glas wieder zur Hand. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Sie können nachforschen, so sehr Sie wollen – Sie werden feststellen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.«

»Und was ist mit Leutnant Lovat?«

Jakub machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts von Bedeutung. Er hat sich in sie verliebt. Vielleicht war sie damals so sehr verletzt, dass sie seine Aufmerksamkeit als lindernd empfunden hat. Die Sache hat nur wenige Monate gedauert. Dann wurde er nach England zurückbeordert. Ich nehme an, dass sie Erleichterung darüber empfunden hat – und er womöglich auch. Er hatte nicht die Absicht, eine Frau zu heiraten, die nicht seiner Gesellschaftsschicht angehörte.«

»Wissen Sie etwas über ihn?«

»Nein. Aber vielleicht können Sie von den britischen Soldaten etwas erfahren. Es sind genug davon im Lande.«

Pitt, dem die Anwesenheit der Briten in Ägypten schmerzlich bewusst war, sagte nichts darauf. Neben der ungeheuren Zahl von Soldaten gab es noch die Zivilisten in der Verwaltung. Obwohl das Land keine Kolonie war, erweckte vieles im Alltagsleben den Anschein, als sei es eine. Sofern es Miss Sacharis Wunsch gewesen war, ihr Land von der Fremdherrschaft zu befreien, konnte er das sehr gut verstehen.

War sie deshalb nach London gegangen? War es nicht ihre Absicht gewesen, dort ihre eigene Zukunft zu suchen, sondern ihrem Volk zu helfen? In dem Fall hatte sie vermutlich Ryerson bewusst als jemanden ausgewählt, der die Macht hätte, ihr zu helfen, sofern sie ihn dazu bringen konnte.

Aber wie hätte das in der Praxis aussehen sollen? Ganz gleich, was Ryerson für sie empfinden mochte, er würde kaum ihr zuliebe die Ziele der englischen Regierung revidieren. Und so, wie Jakub ihr Wesen geschildert hatte, würde sie ihn für ein solches Verhalten verachtet haben.

Sofern sie ihn aber nicht wahrhaft liebte, dürfte das für sie unerheblich sein. Hatte sie sich womöglich wider Erwarten in ihn verliebt, und ging es mit einem Mal nicht mehr nur noch um das, was sie sich zur Rettung des Vaterlandes vorgenommen hatte?

Oder hatte sie ihn erpressen wollen, und der Mord an Lovat gehörte zu diesem Plan, der auf irgendeine noch nicht aufgeklärte Weise fehlgeschlagen war, mit dem Ergebnis, dass sie sich mit einem Mal im Gefängnis befand und vermutlich inzwischen schon unter Anklage gestellt war? Wie hatte ihr Plan ausgesehen? Hatte sie Druck auf Ryerson ausüben wollen, um ein größeres Maß an Selbstbestimmung für Ägypten zu erreichen? Oder hatte sie Ryerson mit voller Absicht in diese Situation getrieben, damit ein willfährigerer Minister an seine Stelle trat – einer, der bereit war, den von den Ägyptern gewünschten Preis zu zahlen?

Doch all das ergab keinen rechten Sinn. Kein Handelsminister hätte sich dazu bereit gefunden, zuzulassen, dass die Ägypter die Baumwolle für sich behielten, wenn ihn nicht Umstände dazu zwangen, die weit mächtiger waren als Liebe oder die Aussicht, zugrunde gerichtet zu werden. Jedem musste klar sein, dass man einen solchen Mann einfach im Laufe der Zeit durch einen anderen ersetzen würde, der charakterfester und weniger angreifbar war.

Pitt leerte sein Weinglas und dankte Jakub. Weitere Fragen fielen ihm nicht ein, und so unterhielten sie sich inmitten des Stimmengewirrs und Gelächters erneut über die reiche und verwickelte Geschichte der Stadt Alexandria.

 

Am nächsten Morgen brachte ein Bote Pitt eine Mitteilung Trenchards an den Frühstückstisch, in der sich dieser erkundigte, ob alles in Ordnung sei und er weitere Unterstützung brauche. Sofern er Lust habe, hieß es weiter, mit ihm zu Mittag zu essen, werde er ihm anschließend gern einige der weniger bekannten Sehenswürdigkeiten Alexandrias zeigen.

Pitt ließ sich Schreibzeug bringen, da ihm die Möglichkeit, mit Trenchard zu sprechen, gelegen kam. Als der Bote mit der Antwort gegangen war, wandte er sich wieder dem herrlichen frischen Brot, Obst und Fisch zu. Er gewöhnte sich sehr rasch an die exotische Nahrung und genoss sie geradezu.

Einen Teil des Vormittags verbrachte er in einer englischen Bibliothek, um nachzulesen, was sich dort über den Aufstand Orabi Paschas fand. Zugleich bemühte er sich festzustellen, ob es Hinweise auf Männer namens Ghali gab, die in der Politik der damaligen Zeit eine Rolle gespielt hatten. So sehr fesselten ihn die Verwicklungen aus Leidenschaft und durch Verrat, dass er zum Mittagessen mit Trenchard fast zu spät gekommen wäre.

Ohne es zu kommentieren, dass sein Gast erst kurz nach zwölf eingetroffen war, erhob sich Trenchard mit einem Lächeln und bat ihn herein.

»Wirklich schön, dass Sie kommen konnten«, sagte er mit aufrichtig klingender Stimme. Aufmerksam musterte er Pitts helle Baumwollhose und das leichte Hemd, von dem das bereits recht kräftige Braun auf Gesicht und Armen deutlich abstach. »Sieht ganz so aus, als ob Sie sich schon eingelebt hätten – abgesehen von ein paar Mückenstichen«, merkte er an.

»Stimmt«, antwortete Pitt. »Man könnte ein ganzes Jahr damit zubringen, diese Stadt zu erkunden, ohne dabei mehr als die Oberfläche anzukratzen.«

Eine Art Anspannung in Trenchards Zügen löste sich. Die Linien um seinen Mund wurden weicher, und der herzliche Blick seiner Augen wirkte aufrichtiger. »Das Land hat Sie wohl in seinen Bann geschlagen, wie?«, fragte er mit unüberhörbarem Vergnügen. »Dabei waren Sie noch nicht einmal in der Nähe von Kairo, ganz zu schweigen vom Oberlauf des Nils. Ich würde Ihnen wünschen, dass Ihre Aufgabe Sie nach Heliopolis führt, zu den Kalifengräbern oder den versteinerten Wäldern. Wenn Sie schon einmal so weit wären, müssten Sie unbedingt zu den Pyramiden von Giseh hinausreiten und natürlich auch zur Sphinx und sich dann zumindest auch noch die Pyramiden bei Abusir und Sachra sowie die Ruinen von Memphis ansehen.« Er schüttelte leicht den Kopf, als müsse er über einen Scherz lachen, den nur er begriff. »Danach könnte Sie nichts auf Erden mehr daran hindern, weiterzureisen zu den bedeutendsten und ältesten aller Ruinen, bis Theben und dem Tempel von Karnak. Was es dort zu sehen gibt, entzieht sich jeder Vorstellungskraft.« Bei diesen Worten sah er Pitt aufmerksam an. »Glauben Sie mir, kein heutiger Mensch des Westens kann sich die Großartigkeit dieser Anlagen ausmalen – sie sind einfach unüberbietbar!« Wie er da in der Mitte seines Büros stand, schien er den modernen Möbeln und den zahlreichen Konsulatsakten entrückt zu sein. Man hatte den Eindruck, als richte sich sein Blick auf den zeitlosen Sand der Wüste.

Pitt sagte nichts; ihm war klar, dass eine Antwort weder nötig war noch erwartet wurde.

»Dann südwärts nach Luxor«, fuhr Trenchard fort. »Den Nil müssen Sie im Morgengrauen überqueren. In Ihrem ganzen Leben haben Sie bestimmt noch nichts gesehen, was dem Anblick vergleichbar wäre, der sich bietet, wenn sich das über der Wüste aufgehende erste Licht auf die Wasseroberfläche legt. Von dort sind es nur noch etwa sechs Kilometer bis zum Tal der Könige.

Mit einem schnellen Kamel können Sie zum Sonnenaufgang bei den Gräbern der Pharaonen sein, deren Vorgänger viertausend Jahre vor Christi Geburt über Ägypten herrschten. Als der Erzvater Abraham aus Ur in Chaldäa in dies Land kam, waren sie schon eine alte Dynastie. Haben Sie eine Vorstellung, was das bedeutet?« Seine Augen blitzten herausfordernd. »Daran gemessen ist das britische Reich, das gegenwärtig die Erde umspannt, erst in den letzten fünf Minuten auf der Uhr der Geschichte entstanden.« Auf einmal verstummte er und holte dann tief Luft. »Aber leider werden Sie für all das keine Zeit haben, und sicherlich ist Narraway auch nicht bereit, dafür zu zahlen. Entschuldigen Sie bitte. Zweifellos sind Sie so pflichtbewusst, dass Sie Ihren Auftrag unbedingt so rasch wie möglich erfüllen wollen.«

Pitt lächelte. »Das Pflichtbewusstsein verbietet mir nicht, etwas über Ägyptens Geschichte zu erfahren oder zu wünschen, dass es nötig sein möge, Miss Sacharis Hintergrund mindestens bis Kairo zu erforschen! Bisher habe ich keinen Vorwand dafür gefunden, aber ich habe die Suche danach noch nicht aufgegeben.«

Lachend ging ihm Trenchard voraus auf die belebte Straße und diese ein kurzes Stück entlang in eine Richtung, in die Pitt noch nicht gegangen war. Bewundernd betrachtete er die herrlichen Gebäude mit ihrem ausgetüftelten Fassadenschmuck und den zum Schutz gegen die Hitze überdachten Balkonen. Auf einem von ihnen saßen zwischen den Säulen einige ältere Männer auf üppigen türkis- und goldfarbenen Kissen, die sich ernsthaft miteinander zu unterhalten schienen, während sie Brot, Datteln und anderes Obst aßen. Auf einem Tischchen stand eine schmale, hohe Vase mit rosa Rosen. Der kurze Blick, den die Männer auf die beiden Engländer warfen, war voll Verachtung und Ablehnung, doch im nächsten Augenblick verschwand dieser Ausdruck wie hinter einer Maske. Tauben umschwirrten die Männer, und hinter ihnen stand ein kräftiger Diener in Pumphosen, dessen Haut fast ebenso schwarz war wie sein Bart, um auf ihren Wink zu warten.

Unwillkürlich kam Pitt der Gedanke, dass diese Szene vor tausend Jahren ganz genauso hätte aussehen können.

Sie traten in das von Trenchard ausgewählte Lokal, und er bestellte für beide, ohne Pitt nach seinen Wünschen zu fragen. Als das Essen kam, griff er unter Missachtung aller europäischen Etikette mit den Fingern zu, und Pitt folgte seinem Beispiel. Die Mahlzeit war köstlich. Alles passte aufs Schönste zueinander: Farben, Geruch und Zusammenstellung.

»Auch ich habe mich unauffällig ein wenig nach Ayesha Sachari umgehört, habe Bekannte hier am Ort gefragt«, sagte Trenchard nach einer Weile.

Pitt hielt mitten in der Bewegung inne. »Und?«

»Ganz wie ich es vermutet hatte, ist sie koptische Christin. Beim Orabi-Aufstand vor zehn Jahren, also kurz vor der Beschießung Alexandrias, scheint sie in enger Verbindung zu einem der ägyptischen Nationalistenführer gestanden zu haben. Tut mir Leid, Pitt.« Er machte ein betrübtes Gesicht. »Aber es sieht ganz so aus, als wäre sie in der Absicht nach London gegangen, Ryerson einzuwickeln, weil sie es sich in den Kopf gesetzt hat, mit seiner Hilfe dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern auf eine andere Grundlage gestellt werden. Dabei geht es auf jeden Fall um Baumwolle, unter Umständen aber auch um mehr. Dieser Plan ist ebenso töricht wie undurchführbar, aber sie ist nun einmal eine Idealistin und wollte schon immer mit dem Kopf durch die Wand. Sie hatte sich in einen gewissen Ramses Ghali verliebt. Als er von den Zielen der Nationalisten abgefallen ist, war sie eine der Letzten, die sich der Erkenntnis stellten, dass er ein Verräter war.« Auf Trenchards Züge trat ein Gemisch aus Mitgefühl und tief empfundener Verachtung. Die bloße Erwähnung der Umstände schien ihm unbehaglich zu sein und dafür zu sorgen, dass seine Bewegungen ungewohnt schwerfällig wirkten.

Auch Pitt empfand ein Gefühl der Leere. »Solche Enttäuschungen sind äußerst bitter«, sagte er leise. »Die meisten von uns bemühen sich wohl, sie so lange wie möglich nicht zur Kenntnis zu nehmen.«

Trenchard hob rasch den Blick. »Tut mir wirklich Leid, Pitt. Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass Miss Sachari impulsiv und romantisch ist, eine Frau, die erleben musste, dass man ihre Ideale verraten hat, und die jetzt, von ihrem Schmerz getrieben, versucht, die alten Träume zu verwirklichen, ganz gleich, wie unrealistisch die Mittel sein mögen, die ihr dazu verhelfen sollen.«

Pitt sah auf den Bissen, den er in den Fingern hielt. Er hatte allen exotischen Zauber verloren, der noch vor wenigen Minuten von ihm ausgegangen war. Er versuchte sich klar zu machen, dass seine Haltung einfach grotesk war. Er hatte die Frau, die zugelassen hatte, dass persönliche Kränkungen ihren gesunden Verstand trübten, weil sie ihre politischen Ziele nicht erreicht hatte, noch kein einziges Mal gesehen. Sie hatte ihn ausschließlich aus beruflichen Gründen zu interessieren. Mit einem Mal fühlte er sich lustlos und matt, als wäre auch ihm ein Traum zerstört worden.

»Ich will sehen, was ich noch über Lovat ermitteln kann«, sagte er.

Trenchard sah ihn an. Bedauern lag auf seinem Gesicht. »Tut mir wirklich Leid«, sagte er erneut. »Mir ist klar, dass Ihnen eine andere Erklärung sehr viel lieber gewesen wäre. Halten Sie es für möglich, dass sich Lovat in England Feinde gemacht hat?«

»Man hat ihn um drei Uhr nachts im Garten von Miss Sacharis Haus erschossen!«, sagte Pitt mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Mit ihrer Pistole.«

Trenchard machte eine resignierte Bewegung, die anmutig und traurig zugleich wirkte und deren Eleganz den Eindruck erweckte, als habe er sich etwas von der tiefen Würde der Kultur angeeignet, die er so sehr bewunderte.

Sie beendeten ihre Mahlzeit. Trenchard dankte dem Besitzer des Lokals in fließendem Arabisch und bestand darauf, die Rechnung zu begleichen. Anschließend begleitete er Pitt zum Basar, wo er ihn beim Feilschen um einen Armreif mit einem Karneol für Charlotte, eine für Daniel vorgesehene kleine Schnitzerei, die ein Flusspferd darstellte, einige Seidenbänder in kräftigen Farben für Jemima und ein rotes Kopftuch für Gracie unterstützte.

So war es für Pitt ein ertragreicher Nachmittag gewesen: Auf der einen Seite verdankte er ihm die Erkenntnis, dass Jakubs Angaben offensichtlich auf Wahrheit beruhten, und auf der anderen hatte er jetzt herrliche Mitbringsel, für die er sehr viel weniger hatte zahlen müssen, als wenn er sie allein gekauft hätte.

Er dankte Trenchard und kehrte mit der Straßenbahn in sein Hotel zurück, entschlossen, die Kaserne aufzusuchen, in der Lovat gedient hatte. Er wollte die ihm in Alexandria verbleibende Zeit dazu nutzen, möglichst viel über das dienstliche und private Verhalten dieses Mannes herauszufinden. Irgendwann mussten sich seine und Ayesha Sacharis Wege gekreuzt haben, und mit Sicherheit gab es mehr darüber zu erfahren.