KAPITEL 3

Nachdem Gracie alle am frühen Morgen nötigen Arbeiten erledigt hatte, verließ sie das Haus, um Besorgungen zu machen. Es war ein heller, milder Spätsommertag. Kaum ein Lüftchen wehte, und sie schritt in ihren nagelneuen halbhohen Stiefeln munter aus. Sie waren einfach herrlich, hatten schwarze glänzende Knöpfe und richtige Absätze, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben größer erscheinen ließen als ihre ein Meter dreiundfünfzig.

Sie eilte durch die Keppel Street und die Store Street zur Tottenham Court Road, wo sie beim Fischhändler einige äußerst appetitlich aussehende, fette Bücklinge von satter brauner Farbe aussuchte. Zwar gab es Lieferanten, die Fisch ins Haus brachten, doch dem Jungen, der sie mit einem Flachwagen ausfuhr, traute sie nicht recht, weil sie fand, dass er es mit der Frische seiner Ware nicht besonders genau nahm.

Gerade wollte sie zum Obststand gehen, um Pflaumen zu kaufen, als sie ihre Freundin Tilda Garvie entdeckte. Sie war ein hübsches junges Ding, eine knappe Handbreit größer als Gracie und dort, wo diese mager war, eher von verführerischer Fülle, trotzdem aber immer noch schlank. Da sie immer fröhlich und guter Dinge war, fühlte sich Gracie in ihrer Gesellschaft wohl. Heute aber ging Tilda entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit sogar an der Blumenverkäuferin vorüber, ohne auch nur einen Blick auf deren Ware zu werfen. Wie eine Nachtwandlerin, musste Gracie unwillkürlich denken. Es kam ihr vor, als nähme Tilda nichts von dem wahr, was um sie herum vor sich ging. Ob sie Sorgen hatte?

Als Gracie ihren Namen rief, blieb sie stehen und drehte sich um. Beim Anblick der Freundin trat der Ausdruck großer Erleichterung auf ihr Gesicht. Fast hätte sie eine korpulente Frau angerempelt, die einen Einkaufskorb auf der Hüfte balancierte und mit der freien Hand ein widerstrebendes Kind weiterzerrte.

»Gracie!«, rief sie aus und konnte der Frau im letzten Augenblick ausweichen, die sie sonst wohl einfach umgerannt hätte. Ohne sich bei ihr zu entschuldigen, sagte sie: »Wie schön, dass ich dich seh!«

»Was has du denn?«, erkundigte sich Gracie, trat noch ein Stück weiter vom Straßenrand beiseite und zog Tilda mit sich. »Du siehs aus, wie wenn de was such’n würdest. Haste etwa dein Einkaufsgeld verlor’n?« Diese Vermutung war alles andere als abwegig. Gracie erinnerte sich noch voll Entsetzen, wie sie selbst einmal, als sie Einkäufe machen sollte, das ihr anvertraute Geld verloren und nicht wiedergefunden hatte. Nahezu sechs Shilling  – das bedeutete eine ganze Wochenration Lebensmittel für die Familie.

Mit leichtem Kopfschütteln verneinte Tilda die Frage. »Has du ’n Augenblick Zeit für mich, Gracie? Ich mach mir so große Sorgen, dass ich nich weiterweiß. Ich hatte richtig gehofft, dass ich dich seh. Ehrlich gesagt bin ich überhaupt nur deshalb hier lang gekomm’.«

Sofort bestürmten Gracie Fantasien von allerlei häuslichem Missgeschick. Tilda war Dienstmädchen in einem herrschaftlichen Haus mit entsprechend zahlreichem Personal. Der nächstliegende Gedanke war, dass man sie eines Diebstahls bezichtigt oder einer der männlichen Dienstboten ihr einen unsittlichen Antrag gemacht hatte. Zwar brauchte Gracie nicht zu befürchten, dass ihr dergleichen widerfahren könnte, doch war ihr bewusst, dass so etwas immer wieder vorkam. Am schlimmsten war es, wenn der Hausherr einem Dienstmädchen nachstellte, denn in einem solchen Fall drohte ihr so oder so Gefahr, ganz gleich, wie sie sich verhielt. Ablehnung wie Willfährigkeit konnte dazu führen, dass man sie ohne Zeugnis entließ – und das war noch das Harmloseste, wenn man an die Möglichkeit einer Schwangerschaft oder daran dachte, dass ihr die Hausherrin alle möglichen sonstigen Verfehlungen anhängte.

Gemessen daran musste man fast froh sein, wenn man lediglich Streit mit anderen Dienstmädchen hatte, durch Unachtsamkeit im Hause irgendwelche unbedeutenden Schmuckstücke verloren gingen, man seine Arbeit schlecht tat, die Lieblings-Figurine der Hausherrin zerbrach oder beim Bügeln ein Kleid versengte.

»Was is denn passiert?«, fragte Gracie besorgt. »Komm, wir ha’m Zeit für ’ne Tasse Tee. Gleich um die Ecke kann man sich setzen, da erzählste mir alles.«

»Für so was hab ich kein Geld.« Tilda blieb reglos auf dem Gehweg stehen. »Außerdem glaub ich, dass ich mich nur dran verschluck’ n würde.«

Gracie begriff, dass etwas außerordentlich Schwerwiegendes vorgefallen sein musste. »Kann ich dir helfen?«, erkundigte sie sich. »Mrs Pitt is hochanständig un wirklich klug.«

Tilda verzog das Gesicht. »Eigentlich ... hatte ich mehr an Mr Pitt gedacht ... Ich dachte ... wenn der...« Sie hielt inne. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und in ihren Augen lag ein tiefes Flehen.

»Geht’s denn um ’n Verbrechen?«, fragte Gracie begierig. Tränen traten in Tildas Augen. »Ich weiß nich ... vielleicht noch nich ... jedenfalls ... ach, du lieber Gott, hoffentlich nich.«

Gracie zog sie am Arm beiseite, damit sie nicht den geschäftigen Frauen im Wege standen, die mit ihren Einkaufskörben fast wie mit Waffen in die Menge hineinstießen. »Du komms jetz mit, un wir trink’n ’ne Tasse Tee«, bestimmte sie. »Was Warmes tut dir bestimmt gut. Dabei kanns du mir dann genau sag’n, was los is. Hier ... pass auf, wo du hintritts, un stolper nich über die Pflastersteine.«

Tilda zwang sich zu einem Lächeln und ging schneller, um mit Gracie Schritt zu halten. In der Teestube gab Gracie ihre Bestellung auf und tat mit einer schroffen Handbewegung die Behauptung der Bedienung ab, dafür sei es zu früh am Tag.

»So«, sagte sie, als sie allein waren. »Was is?«

»Es geht um Martin«, sagte Tilda mit belegter Stimme. »Mein Bruder«, fügte sie hinzu, bevor Gracie falsche Schlüsse zog. »Er is weg. Einfach verschwund’n, ohne mir ’n Piep zu sag’n. Das würd der nie tun, denn wir war’n immer zusamm’. Mama un Papa sind an Cholera gestor’m, wie ich sechs un er acht war. Seitdem ha’m wir uns immer einer um’n andern gekümmert. Da haut man nich einfach mir nix dir nix ab.« Um nicht weinen zu müssen, zwinkerte sie rasch, doch es nützte nichts. Immer mehr Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie mechanisch mit dem Ärmel ab.

Gracie bemühte sich, klar zu denken. »Wann has du ’n denn zuletzt geseh’n?«

»Vorvorgestern. Da hatt’n wir beide ’n freien Tag. Wir ha’m bei dem Mann an der Ecke heiße Pastet’n gegess’n un sin dann im Park spazier’n gegang’n. Die Kapelle hat gespielt. Er hat gesagt, wir könnt’n nach Covent Garden geh’n, wo die Steinsäule mit den Sonnenuhr’n steht. Keine Ahnung, was er da wollte – einfach so.« Gracie fand das sonderbar, denn dieser als »Seven Dials« bekannte Ort hatte einen äußerst üblen Ruf, und jeder Londoner wusste, dass es sich nicht empfahl, ihn nach Einbruch der Dunkelheit aufzusuchen.

Die Bedienung kam mit einer Kanne Tee und warmen Scones zurück, Teegebäck mit Sahne. Als sie Tildas von Tränen überströmtes Gesicht sah, schien sie etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber wohl anders. Gracie dankte ihr, zahlte und legte einige Pennies als Trinkgeld dazu. Dann goss sie sich beiden ein und wartete, bis Tilda den ersten Schluck getrunken und von ihrem Gebäck abgebissen hatte. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und sich möglichst genau so zu verhalten, wie es Pitt ihrer Vermutung nach tun würde.

»Mit wem has du da in dem Haus gesprochen, wo dein Bruder in Stellung is?«, begann sie. »Wo is das überhaupt?«

»Am Torrington Square, gleich hinter’m Gordon Square. Gar nich weit von hier«, sagte Tilda und legte ihr angebissenes Scone auf den Teller zurück. »Der gnä’ Herr is Mr Garrick. Er hat keine Frau mehr.«

»Un mit wem has du da gesproch’n?«, ließ Gracie nicht locker.

»Mit Mr Simms. Das is der Butler.«

»Was hat der genau gesagt?«

»Dass Martin weg wär und er mir nich sagen könnte, wohin«, antwortete Tilda. Sie schien ihren Tee vergessen zu haben und sah Gracie unverwandt an. »Der hat wohl gemeint, wir geh’n zusamm’. Deshalb hab ich ihm gesagt, dass das mein Bruder is. Nur weil wir uns ähnlich seh’n, hat er mir am Ende wohl auch geglaubt, aber bis das so weit war, hat’s ’ne halbe Ewigkeit gedauert.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem wollte er mir nich sag’n, wo er is. Er hat gesagt, bestimmt würd sich Martin melden, aber das hat er nich getan. Gestern war mein Geburtstag – den würd er nie vergess’n. Da hat er immer dran gedacht, schon wie ich ganz klein war. Bestimmt is ihm was ganz Schlimmes passiert.« Sie schluckte und zwinkerte erneut. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. »Jedes Jahr hat er mir was geschenkt, und wenn’s nur ’ne Haarschleife war, ’n Taschentuch oder so was. Er hat immer gesagt, Geburtstag is wichtiger wie Weihnachten, weil der nur für einen selber is un Weihnachten für alle.«

Gracie empfand eine tiefe Besorgnis. Womöglich ging es hier um mehr als eine häusliche Intrige, so unangenehm derlei sein konnte. Ob sie Pitt von der Sache in Kenntnis setzen sollte? Allerdings war er nicht mehr bei der Polizei, und von den Aufgaben des Sicherheitsdienstes hatte sie keine rechte Vorstellung. Bisher hatte sie lediglich mitbekommen, dass alles geheim war, was Pitt tat, und sie deutlich weniger über seine Arbeit erfuhr als früher. Da war es um gewöhnliche Verbrechen gegangen, über die sogar die Zeitungen schrieben, sodass jeder die näheren Umstände nachlesen konnte.

Es sah ganz so aus, als ob es zumindest im Augenblick ihr überlassen bleiben würde, festzustellen, was es mit Tildas Bruder Martin auf sich hatte. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, um in Ruhe nachdenken zu können.

»Has du außer mit dem Butler noch mit jemand gesproch’n?«, fragte sie nach einer Weile.

Tilda nickte. »Ja. Ich hab den Stiefelputzer gefragt. Die kriegen oft ’ne Menge mit, und viele von denen sin’ so frech, dass se’s auch weitersag’n. Kein Wunder – wer hört schon auf ’n Stiefelputzer? Da versuch’n se eben, auf ihre Kost’n zu komm’n, wenn se schon mal ’ne Gelegenheit dazu ha’m.« Der Anflug von Humor verschwand gleich wieder von ihrem Gesicht. »Aber der hat auch nur gesagt, dass Martin einfach von jetz auf gleich verschwund’n wär. Heute hier wie immer, un plötzlich nich mehr da.«

»Aber er wohnt doch im Haus, oder?«, fragte Gracie ganz erstaunt.

»Natürlich! Er is Kammerdiener von dem jungen Mr Garrick und tut alles für den. Mr Stephen hält große Stücke auf ihn.«

Gracie holte tief Luft. Dieser Fall war zu ernst, als dass sie aus lauter Seelengüte die Wirklichkeit hätte übertünchen dürfen, so hart die Umstände sein mochten. »Könnte es sein, dass dieser Mr Garrick ’nen Wutanfall gekriegt und ’n entlassen hat un Martin sich jetz so schämt, dass er sich ers bei dir meld’n will, wenn er ’ne neue Stelle hat?« Sie stellte die Frage äußerst ungern und sah an Tildas kläglichem Gesichtsausdruck, wie schmerzlich dieser eine solche Vorstellung war.

»Nie im Leben!« Entschieden schüttelte Tilda den Kopf. »Martin würd nie im Leben was tun, wesweg’n man’n entlass’n könnte. Un Mr Stephen is auf’n angewies’n. Ich mein, er braucht’n wirklich. Nich nur dass er ihm ’s Halstuch bindet un die Kleidung in Schuss hält.« Ihre Hände waren ineinander verkrampft, das Scone lag vergessen auf dem Teller. »Er kümmert sich um ihn, wenn er zu viel getrunk’n hat un es ihm nich gut geht oder wenn er was Verrücktes angestellt hat. Da kann er lange such’n, bis er wieder so jemand wie Martin findet. Der is ... der is richtig ... anhänglich.« Sie sah Gracie mit leuchtenden, zugleich aber auch furchtsamen Augen an. Unübersehbar hoffte sie, verstanden zu werden, fest überzeugt, dass etwas so Kostbares wie Anhänglichkeit und uneingeschränkte Treue unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhen müsse. Gewiss verdiente ihr Bruder ein besseres Los, als dass ihn jemand verstieß, nur weil er die Macht dazu hatte!

Gracie hielt nicht so viel vom Anstand der Arbeitgeber wie Tilda anscheinend. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr als Dienstmädchen im Hause Pitt tätig, hatte sie zwar selbst keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber von anderen Dienstboten so viele üble Geschichten gehört, dass sie Tildas treuherzige Einstellung nicht teilen konnte.

»Has du mit Mr Garrick selber gesproch’n?«, fragte sie.

Tilda war entsetzt. »Natürlich nich! Wie könnte ich? Du bis ja ganz schön dreist!« Sie war so verblüfft, dass sich ihre Stimme fast überschlug. »Es war schlimm genug, den Butler zu frag’n, un der hat mich angeseh’n, wie wenn ich kein Recht dazu hätt’. Eigentlich wollte er mich gleich wegschick’n, bis er endlich geglaubt hat, dass Martin mein Bruder is. Bei Verwandten gehört sich das auch so.«

»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Gracie die Freundin. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Wenn Pitt durch die Arbeit beim Sicherheitsdienst zu stark in Anspruch genommen wurde, gab es immer noch Tellman. Ihm würde sie den Fall vortragen. Unter Pitt in der Bow Street Wachtmeister, hatte man ihn – nach dessen ungerechtfertigter Entlassung aus dem Polizeidienst – zum Inspektor befördert, und so war er jetzt selbst Vorgesetzter. Er hatte schon seit einer ganzen Weile ein Auge auf Gracie geworfen, auch wenn er sich das selbst erst ganz allmählich und mit großem Zögern eingestanden hatte. Sicher konnte er die nötigen Nachforschungen anstellen und Tilda helfen. Gracie war fest überzeugt, dass dieser Fall die Polizei interessieren musste. »Ich lass das für dich erledig’n«, sagte sie und lächelte Tilda aufmunternd zu. »Ich kenn einen, der das kann. Der geht der Sache bestimmt auf’n Grund.«

Endlich wurde Tilda etwas ruhiger und erwiderte sogar Gracies Lächeln. »Meins du wirklich? Ich hatte mir gleich gedacht, wenn überhaupt einer was machen könnte, dann du. Ich weiß gar nich, was ich sag’n soll, nur dass ich dir schrecklich dankbar bin.«

Gracie fühlte sich von diesem Überschwang peinlich berührt. Hoffentlich hatte sie nicht zu viel versprochen. Zwar würde ihr Tellman diesen Wunsch selbstverständlich erfüllen, doch was war, wenn die Lösung so aussah, dass sich Tilda darüber nicht freuen konnte? »Noch hab ich nix gemacht!«, erwiderte sie, senkte den Blick und trank ihren Tee aus. »Aber wir krieg’n das schon hin. Jetz erzähl mal am besten alles über dein’ Bruder – was er bei seiner Arbeit macht un so.« Zwar hatte sie weder Stift noch Papier bei sich, verfügte aber, da sie erst vor kurzer Zeit Lesen und Schreiben gelernt hatte, über ein geschultes Gedächtnis, denn bis dahin hatte sie sich alles auswendig merken müssen.

Tilda, die aus demselben Grund alle Einzelheiten genauestens wusste, begann ihre Schilderung. Als Gracie genug zu wissen glaubte, traten sie wieder auf die belebte Straße hinaus und verabschiedeten sich. Während sich Tilda, die den Kopf ein wenig höher trug als zuvor und nicht mehr ganz so zögerlich ging, daran machte, ihre Besorgungen zu erledigen, kehrte Gracie in die Keppel Street zurück, um Charlotte zu fragen, ob sie den Abend frei haben konnte. Sie wollte Tellman aufsuchen.

Die Bitte wurde ihr bereitwillig gewährt.

 

Zwar war Tellman nicht auf der Wache in der Bow Street, aber schon beim nächsten Versuch fand sie ihn zwei Nebenstraßen weiter in einer Gaststätte. Suchend sah sie sich vom Eingang aus um. Die Sägespäne unter ihren Füßen waren von den vielen Gästen breit getreten, in der Luft hing der Geruch nach Bier, und um sich herum hörte sie Gläserklirren und die Stimmen von Männern, die sich unterhielten.

Erst nach einer Weile entdeckte sie Tellman, der mit gesenktem Kopf in der hintersten Ecke saß und trübsinnig in sein Bierglas stierte. Ihm gegenüber saß ein Streifenbeamter, der ihn respektvoll ansah. Nach wie vor bereitete die neue Position Tellman Unbehagen, denn im Unterschied zu vielen anderen wusste er nicht nur, dass Pitt Opfer einer Intrige war, sondern auch, wer dahinter steckte. Doch nicht nur deshalb lehnte er Pitts Nachfolger Oberinspektor Wetron ab. Alles, was seit dessen Amtsantritt geschehen war, zeigte ihm, dass dem Mann weniger daran lag, Verbrechen aufzuklären, als daran, seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Und Tellman war nicht von der Überzeugung abzubringen, dass Wetron insgeheim danach strebte, sich an die Spitze der schrecklichen Geheimorganisation zu setzen, von der in der Öffentlichkeit außer dem Namen »Der Innere Kreis« nichts bekannt war. So war es nicht weiter verwunderlich, dass er seinem neuen Vorgesetzten zutiefst misstraute.

Gracie wusste, dass Pitt eine solche Entwicklung ebenso befürchtete wie Tellman, doch wagte sie nicht, mit einem der beiden offen darüber zu reden, da sie zu diesem Thema nur hier und da Gesprächsfetzen erhascht hatte. Während sie jetzt zu Tellmans Tisch hinübersah, fragte sie sich, wie sehr ihn diese Sache bedrücken mochte. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, war an ihm nichts von der Selbstsicherheit zu erkennen, die er in der Zeit der Zusammenarbeit mit Pitt meist an den Tag gelegt hatte.

Auf ihrem Weg durch die volle Gaststube musste sie sich immer wieder mit den Ellbogen Platz schaffen. Da sie so klein war, schien niemand sie zu beachten. Kurz bevor sie Tellmans Tisch erreichte, hob er den Kopf und sah sie. Ein Ausdruck von Besorgnis trat auf seine Züge, als könne ihre Anwesenheit nur unangenehme Nachrichten bedeuten.

»Nanu, Gracie? Was gibt es?« Er stand automatisch auf, hielt es aber nicht für erforderlich, sie mit seinem jungen Begleiter bekannt zu machen.

Insgeheim hatte sie gehofft, er werde sich freuen, sie zu sehen, und sie könne unauffällig ansprechen, weshalb sie gekommen war. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihn bisher unaufgefordert immer nur dann aufgesucht hatte, wenn sie seine Hilfe gebraucht hatte, während sie, wenn es um rein persönliche Angelegenheiten ging, stets gewartet hatte, bis er das Wort ergriff. Tatsächlich war sie anfangs ausgesprochen unwillig gewesen, ihm mehr als eine abweisende Art von Freundschaft zu gewähren. Nicht nur war er ein Dutzend Jahre älter als sie, er hatte auch überaus dogmatische Vorstellungen, die obendrein den ihren für gewöhnlich zuwiderliefen. So äußerte er sich abfällig darüber, dass sie als Dienstmädchen tätig war, denn das widersprach seinen Grundsätzen von der Gleichheit aller Menschen in der Gesellschaft. Sie hingegen sah in dieser Arbeit nicht nur eine außerordentlich ehrenhafte Art, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sie ermöglichte ihr überdies ein so behagliches Leben, wie sie es zuvor nicht gekannt hatte. Sie sah darin nichts Erniedrigendes und warf ihm Überempfindlichkeit und maßlosen Stolz vor.

Diesmal zwang sie sich zu größerer Höflichkeit, als sie eigentlich für angemessen hielt. In Anwesenheit eines Untergebenen musste sie ihn achtungsvoll behandeln.

»Ich bin gekomm’n, weil ich ’n Rat brauch«, sagte sie in sanftmütigem Ton. »Ich hoff, dass Se ’ne halbe Stunde oder so für mich übrig ha’m.«

Erst verblüffte ihn ihre ungewohnte Zuvorkommenheit, dann aber begriff er, dass sie ihn vor dem Streifenbeamten nicht herabsetzen wollte. Sein hageres Gesicht nahm ein wenig weichere Züge an, und er sagte mit einer Spur Humor in der Stimme: »Das lässt sich bestimmt einrichten. Ist Mrs Pitt wohlauf?« Er fragte das nicht aus Höflichkeit, sondern in erster Linie, weil er Charlotte gut leiden konnte. Nur wenige Menschen standen ihm näher als Gracie und Pitts Frau. Seine hölzerne und stolze Art war der Grund dafür, dass er ziemlich einsam lebte und es ihm nicht leicht fiel, Freundschaft zu schließen. Anfangs hatte er Pitt gegenüber starke Vorbehalte gehabt, da die Position des Leiters einer Polizeiwache, noch dazu, wenn es um die berühmte Wache in der Bow Street ging, seiner festen Überzeugung nach ausschließlich Männern von Stand oder ehemaligen Offizieren aus Heer oder Marine zustand. Der Sohn eines Wildhüters verfügte in seinen Augen weder über die Fähigkeiten, die nötig waren, um andere Menschen zu führen, noch durfte er Anspruch darauf erheben, dass ihn Männer wie Tellman mit »Sir« anredeten. Aus diesem Grund war ihm seinem einstigen Vorgesetzten gegenüber jede Form der Ehrerbietung im Halse stecken geblieben, und Pitt hatte sich Tellmans Achtung Schritt für Schritt erkämpfen müssen. Als er ihn aber erst einmal für sich gewonnen hatte, stand er so treu zu ihm, als wären sie durch Blutsbande miteinander verbunden.

»Das hier ist aber nicht der richtige Ort für Sie«, sagte er und sah Gracie mit leichtem Stirnrunzeln an. »Ich bringe Sie zum Pferdeomnibus. Unterwegs können Sie mir alles sagen.« Er wandte sich zu seinem Untergebenen um. »Bis morgen früh, Hotchkiss.«

Gehorsam erhob sich der Angesprochene. »Ja, Sir. Gute Nacht, Sir. Auch Ihnen eine Gute Nacht, Miss.«

Gracie verabschiedete sich ebenfalls und folgte dann Tellman zur Tür. Draußen sagte sie: »Es is wirklich wichtig, sons hätt ich Se nich belästigt.« Dann fügte sie hinzu: »Jemand is verschwunden.«

Er bot ihr den Arm. Sie nahm ihn widerwillig, merkte dann aber verwundert, dass ihr das angenehm war. Ihr fiel auf, dass er kürzere Schritte als sonst machte, damit sie nicht so schnell gehen musste. Sie lächelte, doch als sie sah, dass ihm das nicht entgangen war, machte sie gleich wieder ein abweisendes Gesicht. Auf keinen Fall sollte er etwas von ihren Empfindungen merken. »Es geht um meine Freundin Tilda Garvie«, sagte sie in geschäftsmäßigem Ton. »Ihr Bruder Martin is aus dem Haus, wo er arbeitet, verschwund’n, ohne ihr oder sons jemand was zu sag’n. Das is jetz drei Tage her.«

Tellman schürzte die Lippen und zog finster die Brauen zusammen. Beim Gehen hingen seine Schultern ein wenig herab, als seien seine Muskeln verkrampft. Es war ein lauer Abend, die Straßenlaternen brannten schon, und die von der Themse herüberstreichende leichte Brise brachte einen Geruch nach Feuchtigkeit mit sich. Auf der Straße war es still. In einiger Entfernung vor sich sahen sie eine Kutsche um die Ecke biegen, deren Geräusch leise zu ihnen herüberdrang. Auf der anderen Straßenseite unterhielten sich Männer lautstark miteinander.

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte Tellman in neutralem Ton. »Vermutlich hat man ihn auf die Straße gesetzt. Dafür kann es eine ganze Reihe von Gründen geben, und es muss nicht unbedingt seine Schuld sein.«

»So was hätt’ er ihr auf jeden Fall gesagt«, wandte Gracie rasch ein. »Er hat ihr aber nich mal ’ne Karte oder Blumen oder sons was zum Geburtstag geschickt.«

»Dass Menschen Geburtstage vergessen, kommt laufend vor«, entgegnete er. »Daraus kann man nicht den Schluss ziehen, dass etwas nicht stimmt – schon gar nicht, wenn jemand weder Arbeit noch ein Dach über dem Kopf hat!«, fügte er brummig hinzu.

Ihr war klar, dass er sich über die Ungerechtigkeit ereiferte, die es seiner Überzeugung nach bedeutete, in so extremer Weise von anderen Menschen abhängig zu sein. Obwohl Gracie wusste, dass er diesmal nicht sie damit meinte, ärgerte es sie, vielleicht, weil sie nicht wollte, dass er Recht behielt. Außerdem empfand sie eine leise Furcht, und sie wollte nicht unbedingt hören, auf welche Möglichkeiten ein Polizeibeamter in diesem Fall verfiel.

»Er hat aber ihr’n Geburtstag noch nie vergess’n«, hielt sie dagegen. Inzwischen musste sie wieder schneller gehen, weil er unwillkürlich wieder auf die gewohnte Weise ausschritt. »Seit er acht Jahre alt war«, setzte sie hinzu.

»Vielleicht hat man ihm früher noch nie den Stuhl vor die Tür gesetzt«, gab er zu bedenken.

»Von mir aus tun wir mal so, als wenn das stimmen würde. Warum hat ihr der Butler das dann aber nich gesagt?«, parierte sie, ohne seinen Arm loszulassen.

»Vielleicht, weil ihn so etwas nichts angeht. Ein guter Butler spricht nicht mit Außenstehenden über unangenehme Vorfälle im Hause. Das müssten Sie eigentlich besser wissen als ich.« Mit leicht emporgezogenem Mundwinkel sah er zu ihr hin, als erwarte er eine Antwort. Sie hatten sich schon früher heftig darüber in den Haaren gelegen, dass Dienstboten ihrer Herrschaft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und jegliche Sicherheit in ihrem Leben von einem Augenblick auf den anderen dahin sein konnte: die regelmäßigen Mahlzeiten, das Dach über dem Kopf und die ganze übrige Behaglichkeit des Daseins.

»Ich weiß, worauf Se rauswoll’n«, sagte sie ärgerlich und entzog ihm den Arm. »Un ich bin’s leid, Ihn’n immer wieder sag’n zu müss’n, dass das nich überall so is! Natürlich gibt’s schlechte Häuser un böse Menschen, aber auch gute. Aber könn’ Se sich vorstell’ n, dass mich Mrs Pitt auf die Straße setz’n würde, wenn ich mal verschlafen hab oder vorlaut war un ihr Widerworte gege’m hab ... oder aus ’nem ander’n Grund?« Herausfordernd fügte sie hinzu: »Wehe, Se sag’n ›Ja‹ – ich versprech Ihn’n, Se werd’n sich wünsch’n, dass Se ’n Mund nie aufgemacht hätt’n!«

»Selbstverständlich würde sie das nie tun!«, gab er zurück. Mit einem Ruck blieb er stehen und zog sie am Arm beiseite, damit sie den beiden Männern, die gerade auf sie zukamen, nicht den Weg versperrte. »Aber das ist etwas völlig anderes. Sollte sich dieser Martin nicht mehr im Haus seiner Herrschaft befinden, gibt es dafür einen Grund. Entweder wollte er sich verändern, oder man hat ihn entlassen. Im einen wie im anderen Fall hat die Polizei nichts damit zu tun, es sei denn, die Leute reichen eine Klage gegen ihn ein. Das aber wäre ja wohl das Letzte, was Ihre Freundin Tilda wünscht.«

»Was für ’ne Klage?«, brauste sie auf. »Er hat nix gemacht! Er is einfach von ei’m Tag auf’en ander’n verschwund’n – ha’m Se mir eigentlich zugehört? Kein Mensch weiß, wo er is.«

»Das stimmt nicht ganz«, verbesserte er. »Ihre Freundin Tilda weiß nicht, wo er ist.«

»Der Butler auch nich«, fauchte sie aufgebracht. »Nich mal der Stiefelputzer.«

»Der Butler hat es ihr lediglich nicht gesagt – und warum in aller Welt sollte der Stiefelputzer das wissen?«, knurrte er.

Allmählich wurde Gracie von einer Art Verzweiflung erfasst. Sie wollte nicht mit Tellman streiten, merkte aber, dass nicht viel fehlte und sie nichts dagegen unternehmen konnte. Inzwischen hatten sie die Ecke der Hauptstraße erreicht und wurden von dem Lärm eingehüllt, den Pferdehufe, Wagenräder und die Stimmen zahlreicher Menschen erzeugten. Passanten hasteten über den Gehweg, und ein Mann kam so nahe an ihr vorüber, dass er ihren Rücken streifte. Tildas Angst war auf sie übergesprungen, und sie merkte, wie ihr die Fähigkeit zum klaren Denken abhanden kam.

»Stiefelputzer krieg’n’ne Menge mit!«, fuhr sie ihn an. »Ha’m Se eigentlich nix daraus gelernt, dass Se dauernd Leute verhör’n? Se war’n doch oft genug bei Verbrech’n in herrschaftlich’n Häusern un ha’m mitgekriegt, wie Mr Pitt das macht – oder? Hört der sich etwa nich an, was bestimmte Leute zu sag’n ha’m, bloß weil se Drecksarbeit mach’n? Auch die ha’m Aug’n und Ohr’n im Kopf und merk’n, was los is!«

Sogar im trüben Schein der Straßenlaternen konnte sie sehen, dass er sich große Mühe gab, die Geduld nicht zu verlieren. Ihr war bewusst, dass er das nur ihr zuliebe tat. Gerade das ärgerte sie noch mehr, weil er damit ihrer Ansicht nach eine Art moralischen Druck auf sie ausübte und sie verpflichtete, ihm beherrscht gegenüberzutreten, während alles in ihr tobte und sie ihn am liebsten angeschrien hätte.

»Das ist mir alles bekannt, Gracie«, sagte er ruhig. »Ich habe selbst so manchen Dienstboten befragt. Wenn der Stiefelputzer nichts über die Sache weiß, bedeutet das höchstwahrscheinlich, dass es damit seine Richtigkeit hat. Alles spricht dafür, dass man den Bruder Ihrer Freundin entlassen hat und er fortgegangen ist. Vielleicht wollte er nicht, dass sie etwas davon erfährt, bis er eine andere Anstellung gefunden hat.« Seine Worte klangen außerordentlich vernünftig. »Er will verhindern, dass sie sich Sorgen macht ... Wer weiß, vielleicht schämt er sich auch. Falls man ihn wegen irgendeiner peinlichen Angelegenheit entlassen hat, weil er sich etwas zuschulden kommen lassen hat, wäre es doch verständlich, wenn er den Wunsch hätte, dass seine Angehörigen nichts davon erfahren.«

»Un warum hat er ihr dann nich wenigstens ’ne Karte oder ’n Brief zum Geburtstag geschickt?«, trumpfte sie auf. Sie trat einen Schritt von ihm fort und sah ihn offen an. »Das hat er nämlich nich gemacht, un genau deshalb sorgt se sich doppelt.«

»Sofern er seine Anstellung verloren hat«, gab Tellman mit unnatürlich gelassener Stimme zu bedenken, »und damit auch seine Bleibe, dürfte er wichtigere Dinge im Kopf haben, beispielsweise die Frage, wo er unterkriechen kann und wovon er leben soll! Wahrscheinlich weiß er in einem solchen Fall nicht einmal, was für ein Wochentag es ist.«

»Wenn es ihm so schlecht geht, hat se aber doch erst recht Grund, sich zu sorg’n – oder etwa nich?«, schloss sie triumphierend.

Seufzend stieß er den Atem aus. »Das kann sie natürlich tun – doch ist das für die Polizei auf keinen Fall ein Grund, tätig zu werden.«

Die herabhängenden Hände zu Fäusten geballt, bemühte sich Gracie um Gelassenheit. »Das soll se ja auch gar nich! Tilda hat mir die Geschichte erzählt, un ich hab gefragt, ob Se mir helf’n könn’n. Für mich sin Se nich die Polizei, sondern ’n guter Bekannter. Jedenfalls hab ich das bis jetz geglaubt. Ich hab Se um Hilfe gebet’n und nich darum, ’nen Fall aufzuklär’n.«

»Und was soll ich Ihrer Ansicht nach tun?« Die Unvernunft, die sie seiner Auffassung nach an den Tag legte, veranlasste ihn, die Stimme zu heben.

Mit letzter Kraft schluckte sie die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, und zwang sich zu einem bezaubernden Lächeln. »Vielen Dank«, sagte sie betont herzlich. »Ich hab ja gleich gewusst, dass Sie mir helf’n würd’n, wenn Se ers ma verstand’n ha’m, worum ’s geht. Se könnt’n zum Beispiel mal Mr Garrick fragen, wo sich Martin aufhält. Natürlich brauch’n Se dem kein’ Grund dafür sag’n. Vielleicht war er ja sogar Zeuge.«

»Zeuge wessen?« Seine Brauen fuhren verwundert in die Höhe.

Sie achtete nicht darauf. »Was weiß ich. Lass’n Se sich einfach was einfall’n.«

»Ich habe nicht das Recht, mir nach Gutdünken die Autorität der Polizei anzumaßen und achtbare Bürger grundlos zu befragen!« Er sah so gekränkt drein, als hätte sie seine Rechtschaffenheit infrage gestellt.

»Sind Se doch nich so ... so ...« Sie wusste kaum noch, was sie sagen sollte. Sie konnte ihn trotz seiner hölzernen Art und seiner Schwerfälligkeit gut leiden, trotz seiner stetigen Bereitschaft, sich zu empören, wusste sie doch, dass sich hinter seinen Hinweisen auf Richtlinien und herkömmliche Verfahrensweisen ein tiefes Mitgefühl verbarg. Mitunter aber erzürnte sie die Unbeugsamkeit, zu der man ihn erzogen hatte, über alle Maßen. Jetzt war es wieder einmal so weit. »Könn’ Se denn nich weiter kuck’n wie Ihre Nasenspitze?« , fragte sie. »Manchmal glaub ich, Se ha’m Ihr’n Verstand im Buch mit ’n Dienstvorschrift’n eingesperrt. Merk’n Se nich, wann’s um Le’m un Gefühle geht? Könn’ Se nich erkenn’, was in ’nem Mensch’n vor sich geht?« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Mensch’n besteh’n aus Fleisch und Blut ... un se mach’n Fehler. Aber se ha’m auch Träume! Tilda muss unbedingt wiss’n, was mit ihr’m Bruder passiert is ... so sieht das aus, un nich anders!«

Tellmans Züge verhärteten sich. Er hielt sich an das, was er begriff. »Wer gegen die Vorschriften verstößt, wird am Ende selbst verstoßen«, sagte er bockig.

Sie begriff, dass sie von ihm nichts weiter zu erwarten hatte. Unmöglich konnte er zurücknehmen, was er gerade gesagt hatte. Von seinem Standpunkt aus hatte er Recht damit, und sie verstand das besser, als sie eingestehen konnte. Sie war ihm gegenüber ungerecht gewesen, hatte nicht bedacht, dass er nicht mehr für Pitt arbeitete, sondern für Wetron, womit ihm keinerlei Freiraum blieb. Schon einmal hatte er seine Anstellung aufs Spiel gesetzt, als er, ohne an sich zu denken, Charlotte, die Kinder und sie selbst aus einer großen Gefahr gerettet hatte. Später, wenn sie nicht mehr so wütend war und es nicht wie eine Entschuldigung oder wie der Versuch aussehen würde, sich bei ihm einzuschmeicheln, würde sie ihm sagen, dass sie das zu würdigen wisse. Gegenwärtig aber kreiste ihr ganzes Denken um Tilda und das, was deren Bruder widerfahren sein mochte.

»Na schön, wenn Se ihr nich helf’n woll’n, muss ich das eben selber mach’n«, sagte sie schließlich und trat einen Schritt beiseite. Zu ihrem großen Bedauern fiel ihr keine abschließende beißende Bemerkung ein, und so blieb sie lediglich einen Augenblick lang stehen und sah ihn so durchdringend an, als wolle sie ihn in tiefster Seele treffen. Dann wandte sie sich aufseufzend zum Gehen.

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte er schroff.

Sie kehrte sich ihm erneut zu. »Sag’n Se mir nich auch noch, was ich zu tun hab und was nich, Samuel Tellman! Von Ihnen muss ich mir keine Vorschrift’n mach’n lass’n, un ich tu, was ich für richtig halt’!«, kreischte sie, insgeheim erleichtert, dass er sie nicht einfach ignorierte.

»Gracie!« Er tat einen langen Schritt auf sie zu, als wolle er ihren Arm ergreifen.

Sie zuckte übertrieben die Achseln, hüpfte ein wenig beiseite, um ihm auszuweichen, und ging dann, so rasch sie konnte, davon, ohne sich umzusehen. Im Stillen hoffte sie, dass er ihr nachsah, vielleicht sogar folgte.

Als sie in der Keppel Street durch den Hintereingang ins Haus trat, war sie zwar nach wie vor bemüht, die Flammen ihres Zorns zu schüren, fühlte sich aber so elend, dass ihr das kaum noch gelang. Ihr Versuch, Tellman für den Fall zu interessieren, war fehlgeschlagen. Es war ihr nicht gelungen, ihn zu überreden, dass er sich um Martin Garvies Verschwinden kümmerte. Sich zu weigern war sein gutes Recht, sie aber hätte sich zumindest so verhalten müssen, dass dieser Zwischenfall ihrer Freundschaft nicht abträglich war. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie bei ihrer nächsten Begegnung offen mit ihm sprechen und das wieder einrenken konnte. Verwundert merkte sie, dass sie das in tiefster Seele schmerzte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr das so wichtig war. Eines Tages würde sie nicht mehr umhin können, sich einzugestehen, wie sehr ihr an ihm lag.

Zum Glück war niemand in der Küche, und so konnte sie sich rasch das Gesicht waschen und dann so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Sie hatte gerade den Wasserkessel aufgesetzt, als Charlotte hereinkam.

»Woll’n Se ’ne Tasse Tee?«, fragte Gracie beinahe munter.

»Gern«, sagte Charlotte, setzte sich an den Tisch und machte es sich gemütlich. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sie sich in einem Ton, als erwarte sie eine Antwort.

Gracie zögerte und überlegte rasch. Sollte sie sagen, alles sei in bester Ordnung, oder war es besser, wenigstens den Teil der Geschichte preiszugeben, der mit Martin Garvie zu tun hatte? Es wunderte sie, dass Charlotte sie so mühelos durchschaute. Auch das schien ihr ein wenig beunruhigend. Andererseits würde bei ihrer langen und engen Bekanntschaft das Gegenteil die Vermutung zulassen, dass sie Charlotte gleichgültig war, und das wäre noch schlimmer.

»Ich hab heute Vormittag Tilda Garvie getroff’n«, sagte sie, wobei sie dem Tisch den Rücken zukehrte und die Teedose unnötig laut schloss. »Sie hat ihr’n Bruder Martin schon länger nich geseh’n und hat Angst, dass was Schlimmes passiert sein könnte.«

»Was könnte das zum Beispiel sein?«, erkundigte sich Charlotte.

Der Wasserkessel begann zu pfeifen, und Gracie nahm ihn vom Herd. Sie wärmte die Kanne mit heißem Wasser vor, das sie anschließend ausgoss, gab die Blätter hinein und goss den Tee auf. Jetzt gab es keinen Vorwand mehr, sich nicht hinzusetzen, und so nahm sie steif am Tisch Platz, wobei sie Charlottes forschendem Blick auswich.

»Er is nich mehr in dem Haus am Torrington Square, wo er in Stellung is«, erläuterte sie. »Un der Butler sagt nich, was mit ihm los is oder wo er hin is – kein Ton.« Mit einem Mal erwies sich ihre Verzweiflung über die Situation als stärker als ihr Stolz, und sie sah Charlotte offen an. »Wenn alles in Ordnung wär, hätt er sich bestimmt bei Tilda gemeldet, weil sich die beid’n sehr nahe steh’n«, fügte sie eilig hinzu. »Se ha’m nämlich sons niemand auf der Welt. Er hat sich nich mal zu ihr’m Geburtstag gemeldet, was noch nie vorgekomm’n is. Bestimmt hätt er ihr zumindest was gesagt, wenn das möglich gewesen war.«

Charlotte runzelte die Stirn. »Welche Tätigkeit übt er denn dort aus?«

»Er is Kammerdiener beim jungen Mr Garrick«, gab ihr Gracie Auskunft. »Nich einfach Lakai oder so was. Un Tilda sagt, Mr Stephen kann ohne ihn nix mach’n. Ich weiß ja, dass Dienstbot’n manchmal ziemlich schnell rausflieg’n, wenn se was angestellt ha’m oder ’s auch nur danach aussieht, aber warum sollte Martin in so ’nem Fall seiner Schwester nix sag’n? Einfach, damit se sich nich sorgt.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Charlotte nachdenklich. Sie griffnach der Teekanne, goss beiden ein und stellte sie auf den Untersetzer zurück. »Das klingt fast so, als ob ihm etwas entsetzlich zu schaffen machte. Andernfalls hätte er ihr sicherlich mitgeteilt, dass er fortgeht und wohin. Es wäre doch denkbar, dass er eine bessere Stellung gefunden hat. Kann deine Freundin lesen?«

Verblüfft hob Gracie den Kopf.

»Na ja, falls nicht, würde es nicht viel nützen, ihr einen Brief zu schreiben«, erklärte Charlotte. »Andererseits könnte ihn ihr natürlich jemand vorlesen.«

Gracie spürte, wie das Gefühl der Verlorenheit zunahm, das sie empfand. Sie fühlte sich völlig ausgehöhlt. Sie hätte keinen Bissen heruntergebracht, und schon der Gedanke, etwas zu essen, war ihr widerwärtig. Auch der angenehm süße Tee, von dem sie einen kleinen Schluck getrunken hatte, änderte nichts an ihrem Zustand.

»Und weiter?«, fragte Charlotte freundlich.

Gracie zögerte. Zwar bedeutete es einen gewissen Trost, so gut verstanden zu werden, aber sie schämte sich nach wie vor, die Sache Tellman gegenüber so tölpelhaft angepackt zu haben. Das war umso schlimmer, weil sie sich ihm gegenüber bis dahin eigentlich immer ziemlich gewitzt verhalten hatte. Sicher wäre Charlotte von ihr enttäuscht, denn sie hätte vermutlich mehr von ihr erwartet. Bei einer Frau setzte man ein geschickteres Vorgehen voraus als das, was sie sich da geleistet hatte. Wieder nahm sie ein Schlückchen von ihrem Tee. Er war wirklich zu heiß. Sie hätte noch warten sollen.

»Hast du noch etwas in Erfahrung gebracht?«, wollte Charlotte wissen.

Die Antwort darauf fiel ihr nicht schwer. »Eigentlich nich. Obwohl sie dem Butler gesagt hat, dass sie Geschwister sind, hat der ihr nich gesagt, was los is oder wo Martin hin is.«

Charlotte hielt den Blick auf den Tisch gerichtet. »Wie du weißt, ist Mr Pitt nicht mehr bei der Polizei. Wir könnten aber Mr Tellman fragen – vielleicht sieht er eine Möglichkeit, uns zu helfen.«

Gracies Wangen glühten heiß. Es gab keinen Ausweg mehr. »Das hab ich schon gemacht«, gestand sie kleinlaut, den Blick starr vor sich gerichtet. »Er sagt, er kann nix mach’n, weil Martin tun und lass’n darf, was er will, ohne seiner Schwester was sag’n zu müss’n. Das wär’ nich strafbar, meint er.«

»Ich verstehe.« Eine Weile saß Charlotte schweigend da. Vorsichtig setzte sie die Tasse an die Lippen und trank. Der Tee war nicht mehr zu heiß. »Dann müssen wir eben selbst etwas unternehmen«, sagte sie schließlich. »Berichte mir alles, was du über die beiden Geschwister und über den Haushalt der Familie Garrick weißt.«

Gracie kam sich vor wie ein Seemann, der nach langer Irrfahrt endlich Land am Horizont sieht. Es gab etwas, was sie tun konnte! Eifrig teilte sie Charlotte in Einzelheiten mit, was sie wusste. Dabei versäumte sie nicht, die entscheidenden Punkte hervorzuheben: Tildas absolute Ehrlichkeit wie auch ihre Dickköpfigkeit, die Kindheitserinnerungen, von denen sie gesprochen hatte, ihren Traum, eines Tages Mann und Kinder zu haben, und alles, was sie in den Jahren, in denen sie und ihr Bruder einsam herangewachsen waren, gemeinsam mit ihm unternommen hatte.

Charlotte hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Schließlich nickte sie. »Ich glaube, es gibt durchaus Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte sie. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wo sich der junge Mann aufhält und wie es ihm geht. Sofern er keine Stellung hat und es ihm zu peinlich ist, das seiner Schwester zu gestehen, sollten wir dafür sorgen, dass sie die Situation richtig versteht, und zusehen, ob wir ihm helfen können, etwas zu finden. Du weißt wohl nicht, ob er unter Umständen eine Dummheit begangen hat?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Gracie. »Tilda würd so was nie im Leben mach’n, aber das muss nix heiß’n. Sicher würd se von ihm dasselbe sag’n – aber se is ja auch seine Schwester.«

»Ja, oft fällt es schwer, Böses über die eigenen Angehörigen zu denken«, bestätigte Charlotte.

Mit großen Augen sah Gracie sie an. »Un wie soll ’s jetz weitergeh’ n?«

»Du sagst deiner Freundin, dass wir ihr helfen werden. Als Erstes versuche ich etwas über die Familie Garrick in Erfahrung zu bringen. Zumindest der Hausherr, Mr Stephen Garrick, dürfte wissen, was vorgefallen ist, auch wenn er möglicherweise nicht sagen kann, wo sich Martin Garvie zurzeit aufhält.«

»Danke«, sagte Gracie sehr ernst. »Vielen, vielen Dank.«

 

Vier Tage nach der Entdeckung des Mordes an Edwin Lovat forderte ein Zeitungsartikel unverhüllt Saville Ryersons Festnahme, auf jeden Fall aber seine Vernehmung durch die Polizei. Man wisse, erklärte der Verfasser, dass er sich zur fraglichen Zeit am Tatort aufgehalten habe, und indem er die Frage stellte, was er dort zu suchen hatte, legte er dem Leser die Antwort nahe.

Mit bleichem Gesicht und fest zusammengepressten Lippen saß Pitt am Frühstückstisch. Es wurde immer schwieriger, dem Verlangen des Premierministers nachzukommen, man möge Ryerson aus der Sache heraushalten. Charlotte unterbrach seine quälenden Gedanken weder mit Worten noch auf andere Weise.

Unauffällig sah sie zu ihm hinüber. So gern sie ihn getröstet hätte, so fest war sie von Ryersons Schuld überzeugt. Gewiss, er hatte wohl die Tat nicht begangen, doch war er nachweislich am Versuch beteiligt gewesen, sie zu vertuschen. Wäre nicht die Polizei gerufen worden, hätten die beiden die Leiche fortgeschafft und alles in ihren Kräften Stehende getan, um die Spuren zu verwischen. Das war eindeutig ein Verbrechen, und selbst die Fähigkeit, die Probleme der nordenglischen Baumwollindustrie zu lösen, konnte ein solches Verhalten nicht rechtfertigen. Bei Licht betrachtet, bestand zwischen diesen Dingen und einer Geliebten in Eden Lodge nicht die geringste Beziehung. Ryerson hatte einer privaten Schwäche nachgegeben und musste jetzt einen – zugegebenermaßen hohen – Preis dafür zahlen.

Beim Anblick der quälenden Sorge auf Pitts Gesicht stieg unvermittelt ein großer Zorn in ihr auf. Wieso bürdete man ihrem Mann die Verantwortung dafür auf, diesen hochrangigen Politiker vor den Folgen seiner eigenen Unvernunft zu bewahren? Womöglich musste er sich dann auch noch Vorwürfe anhören, weil er sich außerstande gesehen hatte zu tun, wovon jedem Dummkopf im Voraus klar sein musste, dass es unmöglich war. Er wurde gezwungen, eine Wahrheit zu unterdrücken, die an den Tag zu bringen seine Berufspflicht war. Nachdem man über Jahre hinweg von ihm erwartet hatte, dass er genau das tat, drängte man ihn jetzt in eine Lage, in der er eben die Werte verleugnen sollte, die ihn vorher als Ehrenmann ausgezeichnet hatten. War den Leuten eigentlich nicht klar, dass das Bestreben, Verfehlungen zu enthüllen, auf seine tief verwurzelten moralischen Vorstellungen zurückging?

Er merkte, dass sie ihn ansah, und hob rasch den Blick.

»Was hast du?«, fragte er.

Sie lächelte. »Nichts. Ich gehe nachher zu Emily. Großmutter wird dort sein«, erklärte sie. »Seit Mama erfahren hat ... was sie durchgemacht hat, ist es mir noch nicht gelungen, unbefangen mit ihr zu reden. Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass ich es versuche.« Sie hatte ihrer Schwester den Besuch am Vorabend nach dem Gespräch mit Gracie telefonisch angekündigt. In Pitts Haus gab es seit mehreren Jahren ein Telefon, weil das für seinen Beruf unerlässlich war, und Emily hatte eines, weil sie sich so gut wie alles leisten konnte, wonach ihr der Sinn stand.

Ein flüchtiges Lächeln trat auf Pitts Züge. Er kannte Charlottes Großmutter schon lange und war mit ihrer Wesensart bestens vertraut.

Sie ging nicht weiter auf dies Thema ein, denn selbst ihm gegenüber fiel es ihr nach wie vor schwer, über die anstößigen Vorfälle aus der fernen Vergangenheit zu sprechen. Als er das Haus verließ, ohne ihr mitzuteilen, was er an diesem Tag zu ermitteln oder zu finden hoffte, ging sie nach oben, um ihr bestes Vormittags-Ausgehkleid anzuziehen. Sie folgte nicht der Mode; das ließen ihre Geldmittel bei weitem nicht zu, erst recht nicht, seit man Pitt die Leitung der Wache in der Bow Street aus der Hand genommen und ihn zum Sicherheitsdienst versetzt hatte – aber ein gut geschneidertes Kleid in einer Farbe, die ihr schmeichelte, strahlte eine Würde aus, die ihr niemand nehmen konnte. Sie entschied sich für einen warmen Herbstton, der zu ihrem leicht rötlichen Haar und ihrem hellen, aber nicht blassen Teint passte. Zwar hatte das Kleid nicht die hoch angesetzten Ärmel, die gegenwärtig Mode waren, dafür aber eine nur angedeutete Turnüre, und das war genau richtig. Allerdings konnte sie in einem solchen Kleid unmöglich mit dem Pferdeomnibus fahren, und so nahm sie das Geld für die Droschke aus der Haushaltskasse. Um Viertel nach zehn traf sie vor Emilys hochherrschaftlichem Haus ein. Da das Hausmädchen, das ihr öffnete, sie gut kannte, wurde sie sogleich in den so genannten kleinen Salon geführt, wo die Damen der Gesellschaft enge Freundinnen empfingen.

Emily erwartete sie schon ganz aufgeregt. Ihre Augen blitzten vor Spannung und Ungeduld. Wie immer trug sie ein hochelegantes Kleid in ihrer Lieblingsfarbe Blassgrün, das vorzüglich zu ihrem hellen Haar passte. Sie begrüßte die Schwester mit einem flüchtigen Kuss und trat einen Schritt zurück. »Was ist denn passiert?«, fragte sie. »Du hast gesagt, dass es wichtig ist. Sicher klingt es schrecklich herzlos, wenn ich sage, wie sehr es mich ärgert, dass mittlerweile alle Fälle, an denen Thomas arbeitet, in höchstem Grade geheim sind, ganz gleich, worum es geht. Als er noch in der Bow Street war, konnte man wenigstens ab und zu mitfiebern. Aber natürlich ist es viel schlimmer, dass man ihn da einfach abgesetzt hat. Das ist maßlos ungerecht und war sicher ein fürchterlicher Schlag für ihn.« Mit einer Handbewegung forderte sie Charlotte auf, in einem der Sessel mit großem Blumenmuster Platz zu nehmen. »Die feine Gesellschaft ödet mich an, und sogar die Politik scheint im Augenblick ausgesprochen langweilig zu sein«, fuhr sie fort, raffte ihre Röcke und setzte sich ebenfalls. »Nicht einmal einen ordentlichen Skandal gibt es, von dem um die Ägypterin einmal abgesehen.« Sie beugte sich lebhaft vor. »Wusstest du schon, dass die Presse auch Saville Ryersons Festnahme verlangt? Ist das nicht widersinnig?« Ihre Augen suchten in Charlottes Gesicht nach Bestätigung. »Wenn Thomas noch bei der Polizei wäre, hätte man den Fall vermutlich ihm übergeben. Wer weiß, vielleicht ist es ja auch gut so, dass er diese Geschichte nicht zu entwirren braucht. Ich stelle mir das unglaublich schwierig vor.«

»Bedauerlicherweise ist das Problem, mit dem ich zu dir komme, ganz und gar alltäglich«, sagte Charlotte und bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene. Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass ein Skandal, und sei er noch so aufsehenerregend, die Schwester daran hinderte, ihr zuzuhören. Sie lehnte sich zurück und sah sich rasch um. Der Raum war in Gold- und Grüntönen gehalten, und auf dem Tisch standen in einer dunkelgrünen Vase herb duftende Chrysanthemen und späte gelbe Rosen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich in das Haus ihrer Kindheit zurückversetzt, in dessen großbürgerlicher Behaglichkeit sie aufgewachsen war, ohne etwas von all der Armut und den Schattenseiten zu ahnen, die draußen in der weiten Welt an der Tagesordnung waren.

Dann war der Augenblick vorüber.

»Worum geht es denn?«, fragte Emily. Sie setzte sich zurecht und sah Charlotte, die Hände im Schoß gefaltet, aufmerksam an. »Hoffentlich ist es etwas, was meinen Geist herausfordert. Das ewige Wiederkäuen von Banalitäten langweilt mich zu Tode.« Sie lächelte ein wenig, als verspotte sie sich selbst. »Ich habe das Gefühl, dass sich die Phase meiner gesellschaftlichen Seichtheit ihrem Ende nähert. Ist das nicht beunruhigend? Ich kann keine Freude mehr daran finden, dem Vergnügen nachzujagen. Das ist so, wie wenn man zu viel Schokoladensoufflé gegessen hat. Noch vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass das völlig unmöglich ist.«

»Dann lass mich dir Alltagskost vorsetzen«, erwiderte Charlotte.

Gerade als sie mit ihrer Schilderung angefangen hatte, ertönte ein so kräftiges Klopfen an der Tür, als habe jemand mit dem Knauf eines Spazierstocks dagegengeschlagen. Im nächsten Augenblick flog sie auf, und eine kleine alte Frau in einem mit Schwarz abgesetzten pflaumenblauen Kleid stand auf der Schwelle. Ihr Gesicht zeigte unverhohlene Empörung, doch schien sie nicht so recht zu wissen, ob sie sich damit an Emily oder an Charlotte wenden sollte.

Vielleicht hatte es so kommen müssen. Charlotte stand auf und zwang sich mit großer Anstrengung zu einem Lächeln. »Guten Morgen, Großmutter«, sagte sie und trat zu der alten Dame. »Man sieht, dass es Ihnen gut geht.«

»Wie kannst du Aussagen darüber machen, wie es mir geht?«, fuhr die alte Dame sie mit flammendem Blick an. »Woher willst du das überhaupt wissen, wenn du mich seit Monaten nicht besucht hast? Du bist roh und gefühllos und kennst deine Pflichten nicht. Seit du mit diesem Polizisten verheiratet bist, hast du jedes Gefühl für Anstand verloren.«

Mit einem Schlag schwand Charlottes Entschluss dahin, ihr höflich gegenüberzutreten. »Sie haben es sich also anders überlegt!« , gab sie zurück.

Die alte Dame verstand nicht, was sie damit meinte, und das steigerte ihren Zorn noch. »Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest. Warum kannst du dich nicht deutlich ausdrücken? Früher warst du doch dazu fähig. Es muss mit den Kreisen zusammenhängen, in denen du inzwischen verkehrst.« Sie funkelte ihre andere Enkelin an. »Willst du mir keine Sitzgelegenheit anbieten, Emily? Oder weißt auch du nicht mehr, was sich gehört?«

»Bei mir dürfen Sie sich immer gern setzen, Großmutter«, sagte Emily bemüht geduldig. »Das ist Ihnen doch sicher bekannt?«

Die alte Dame ließ sich schwer in den dritten Sessel sinken und stellte den Stock vor sich auf den Boden. Dann wandte sie sich an Charlotte: »Was soll das heißen, dass ich es mir anders überlegt hätte? Ich überlege es mir nicht anders!«

»Sie haben gerade gesagt, ich hätte jedes Gefühl für Anstand verloren«, sagte Charlotte.

»Das stimmt auch!«, gab die alte Dame rechthaberisch zurück. »Da hat sich nichts geändert!«

Charlotte lächelte sie an. »Doch. Früher haben Sie immer behauptet, ich hätte gar keins.«

»Willst du etwa zulassen, dass man mich in deinem Hause kränkt?«, fragte die alte Dame Emily.

»Ich glaube eher, dass Charlotte die Gekränkte ist«, korrigierte Emily. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie musste sich große Mühe geben, es zu unterdrücken.

Die alte Dame knurrte: »Nun, in dem Fall hätte sie sich das selbst zuzuschreiben. Wer hat sie denn gekränkt? Sie verkehrt in den niedersten Kreisen, und ich nehme an, das ist alles, wozu sie fähig ist. Das kommt davon, wenn man unter seinem Stand heiratet. Ich habe gleich gesagt, dass aus dieser Mesalliance nichts Gutes werden kann – aber wolltest du auf mich hören? Natürlich nicht. Siehst du jetzt, was dabei herauskommt? Allerdings kann ich mir schlechterdings nicht vorstellen, was Emily deiner Ansicht nach daran ändern könnte.«

Charlotte platzte vor Lachen heraus, und nach kurzem Zögern stimmte Emily mit ein.

Zwar begriff die alte Dame nicht, warum die beiden lachten, doch war sie keinesfalls bereit, das zuzugeben. Nach kurzem Überlegen kam sie zu dem Ergebnis, dass sie am wenigsten zu verlieren hatte, wenn sie mitlachte, und so stimmte sie mit einem sonderbar krächzenden Geräusch ein, das Emily seit Jahren nicht gehört hatte, obwohl die Großmutter bei ihr im Hause lebte.

Sie blieb noch etwa zehn Minuten, dann erhob sie sich und humpelte hinaus, obwohl sie in Wahrheit vor Neugier verging, den Grund für Charlottes Besuch zu erfahren. Offensichtlich war aber keine der beiden Enkelinnen bereit, ihr den von sich aus mitzuteilen, und danach zu fragen hielt sie für unter ihrer Würde.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als sich Emily eifrig vorbeugte. »Nun«, fragte sie, »was ist mit der Alltagskost, die dich so beschäftigt?«

»Gracie hat eine Freundin namens Tilda Garvie«, begann Charlotte, »deren Bruder Martin Kammerdiener beim jungen Garrick ist. Wie man mir gesagt hat, lebt die Familie am Torrington Square. Die beiden Geschwister stehen einander sehr nahe, seit sie mit sechs beziehungsweise acht Jahren Vollwaisen geworden sind.«

»Und?«, fragte Emily mit verständnislos geweiteten Augen.

»Man hat Martin Garvie zum letzten Mal vor vier Tagen gesehen. Garricks Butler hat Tilda, die sich nach ihrem Bruder erkundigte, zwar mitgeteilt, dass er sich nicht mehr im Hause befindet, war aber weder bereit, etwas über seinen Verbleib zu sagen, noch einen Grund für sein Verschwinden zu nennen.«

»Ein Kammerdiener wird vermisst?« Nichts in Emilys Stimme verriet, was sie empfand.

»Ein Bruder«, verbesserte Charlotte sie. »Wichtiger aber als seine bloße Abwesenheit dürfte sein, dass er sich nicht einmal zu Tildas Geburtstag gemeldet hat. Den aber hat er, wie sie sagt, noch nie zuvor vergessen. Sie ist überzeugt, dass er auf jeden Fall eine Möglichkeit gefunden hätte, ihr seinen Aufenthaltsort mitzuteilen  – sogar dann, wenn er seine Anstellung und damit seine Unterkunft eingebüßt hätte oder die Umstände, unter denen er das Haus verlassen musste, beschämend oder ehrenrührig waren.«

»Und was vermutest du also?« Emily runzelte die Stirn. Dann fügte sie hinzu: »Haben die Garricks Vermisstenanzeige erstattet?«

»Das weiß ich nicht«, gab Charlotte ungeduldig zur Antwort. »Ich kann ja nicht gut zur nächsten Polizeiwache gehen und fragen. Sollte das aber der Fall sein: Warum hat man das Tilda nicht einfach gesagt, damit das arme Mädchen Bescheid weiß und sich nicht grämen muss?«

»So würden sich vernünftige Mensch verhalten«, stimmte Emily zu. »Aber nicht alle Leute sind so vernünftig, wie man annimmt. Es überrascht mich immer wieder zu sehen, wie Menschen den gewöhnlichsten Alltagsverstand vermissen lassen. Mal sehen, wie viele weitere Möglichkeiten es gibt.« Sie hielt die Finger hoch, um abzuzählen. »Könnte man ihn wegen Unehrlichkeit entlassen haben? Ist er mit einer Tochter aus gutem Hause durchgebrannt oder, schlimmer noch, mit der Gattin eines anderen? Mit einem Dienstmädchen oder einer Straßendirne?« Sie nahm die andere Hand zu Hilfe. »Hat er womöglich Schulden und muss sich vor seinen Gläubigern verstecken? Oder, die schlimmste aller Möglichkeiten: Hatte er einen Unfall, ist er überfallen worden und liegt jetzt irgendwo tot, ohne dass jemand weiß, wer er ist?«

Auch Charlotte hatte die meisten dieser Möglichkeiten bereits erwogen, vor allem die letzte. »Du hast ja Recht«, sagte sie ruhig. »Aber um der armen Tilda willen wüsste ich gern, was wirklich geschehen ist ... und auch um Gracies willen. Ich glaube, sie hat sich wegen dieser Angelegenheit mit Inspektor Tellman zerstritten, weil er gesagt hat, er könne der Sache nicht nachgehen, da kein Verbrechen vorliege.«

»Tellman ist Inspektor? Ach ... ja.« Emilys Interesse war wieder geweckt. »Wie steht es eigentlich um diese Romanze? Was meinst du: Wird Gracie nachgeben und ihn heiraten? Und was wirst du in dem Fall ohne sie tun? Dich nach einer guten, erfahrenen Kraft umsehen oder wieder ein halbes Kind ins Haus nehmen und von vorn anfangen? Das kannst du ja wohl unmöglich tun, oder?«

»Ich weiß nicht, ob sie ihn nimmt oder nicht«, sagte Charlotte betrübt. »Ich glaube schon ... Ich hoffe es sogar für sie, denn sie ist sehr in ihn verliebt und merkt das allmählich auch selbst. Aber das braucht seine Zeit. Ich habe keine Ahnung, was ich ohne sie anfangen soll, und möchte noch nicht einmal daran denken. In meinem Leben hat es in letzter Zeit schon mehr Veränderungen gegeben, als mir lieb ist.«

Mit aufrichtigem Mitgefühl sagte Emily: »Das kann ich dir nachfühlen. Bitte entschuldige. Früher hat es einfach viel mehr Spaß gemacht, als wir Thomas bei seinen – unseren – Fällen helfen konnten. Das stimmt doch, oder?«

Charlotte biss sich auf die Lippe, teils, um ein Lächeln zu unterdrücken, teils, um sich an den Zweck ihres Besuchs zu mahnen. »Ich bin entschlossen, so viel wie möglich über den jungen Garrick herauszubekommen«, sagte sie. »Sofern genügt, was ich aus eigener Kraft in Erfahrung bringen kann, gut - falls es aber nicht anders geht, frage ich ihn einfach selbst, denn ich will unbedingt wissen, was mit Martin Garvie ist.«

»Ich helfe dir dabei«, sagte Emily, ohne zu zögern. »Was weißt du über die Familie Garrick?«

»Nichts, außer wo sie wohnt, und auch das nur ungefähr.«

Emily erhob sich. »Dann müssen wir anfangen, uns zu erkundigen.« Sie musterte Charlotte mehr oder weniger billigend von Kopf bis Fuß. »Du bist ja bereits für einen Besuch gekleidet. Allerdings finde ich, dass du einen modischeren Hut aufsetzen solltest. Ich geb dir einen von meinen. In einer Viertelstunde bin ich auch so weit ...« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Es kann auch eine halbe dauern.«

Tatsächlich machten sich die Schwestern erst nahezu eine Stunde später in Emilys Kutsche auf den Weg. Als Erste befragten sie eine Dame, mit der Emily so gut befreundet war, dass sie sich nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten brauchte.

»Nein, verheiratet ist er nicht«, sagte Mrs Edsel, eine angenehme, nicht besonders hübsche Frau, die sich lediglich durch einen lebhaften Gesichtsausdruck und einen bedauerlichen Geschmack in Bezug auf Ohrringe auszeichnete. »Hat ihn jemand aus Ihrer näheren Bekanntschaft ins Auge gefasst?«

»Ich glaube schon«, log Emily, die alle gesellschaftlichen Künste mit der in ihren Kreisen üblichen Geläufigkeit beherrschte. »Gibt es etwa Gründe, die dagegen sprechen?«

»Nun, soweit mir bekannt ist, sind die Garricks nicht unvermögend.« Eifrig beugte sich Mrs Edsel vor. Zwar war Klatsch für sie ein Lebenselement, das ihr so viel bedeutete wie anderen Menschen Essen und Trinken, doch war ihr auch aufrichtige Hilfsbereitschaft nicht fremd. »Eine tadellose Familie. Der Einfluss des Vaters, Ferdinand Garrick, reicht bis in die höchsten Kreise. Er hat eine glänzende militärische Laufbahn hinter sich, sagt mein Mann.«

»Und warum sollte sein Sohn dann keine gute Partie sein?«, fragte Emily betont unschuldig.

»Für die richtige Frau wäre er das wohl schon.« Mrs Edsel schien eingefallen zu sein, was sie ihrer Stellung schuldig war, denn sie wurde etwas zurückhaltender.

»Und für die falsche?«, platzte Charlotte heraus.

Mrs Edsel warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Zwar waren Emily und sie gut miteinander bekannt, aber da sie Charlotte noch nie begegnet war, wusste sie nicht, ob diese ihr später nützlich sein oder schaden konnte.

Emily sah ihre Schwester mahnend an.

Da es keine Möglichkeit gab, die Worte ungesagt zu machen, zwang sich Charlotte zu einem Lächeln. Es sah ein wenig so aus, als zeige sie der anderen die Zähne. »Es geht um eine Freundin, um die ich mir Sorgen mache«, sagte sie, ohne dafür von der Wahrheit abweichen zu müssen. Trotz ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung konnte man Gracie ohne weiteres als eine Freundin ansehen, wie es nur wenige gab.

Mrs Edsel entspannte sich ein wenig. »Ist sie jung?«, wollte sie wissen.

»Ja.« Charlotte vermutete, dass das die richtige Antwort war.

»In dem Fall dürfte es klüger sein, sich anderweitig umzusehen – es sei denn, sie wäre sehr unansehnlich.«

Diesmal hielt Charlotte den Mund.

»Was stimmt denn mit ihm nicht?«, fragte Emily mit ungewöhnlicher Kühnheit. »Hat er Freunde, die er nicht vorzeigen kann? Wer weiß etwas über ihn?«

»Nun ja ...« Mrs Edsel schwankte zwischen ihrer brennenden Neugierde und der Besorgnis, eine nicht wieder gutzumachende Indiskretion zu begehen. »Soweit mir bekannt ist, gehört er den üblichen Klubs an.« Diese Aussage konnte sie riskieren, ohne etwas falsch zu machen.

»Tatsächlich?« Emily riss ihre blauen Augen weit auf. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass mein Mann seinen Namen genannt hätte. Vielleicht habe ich ihn auch einfach überhört.«

»Auf jeden Fall ist er Mitglied im White’s Club«, versicherte ihr Mrs Edsel. »Und das ist ja wohl einer der besten.«

»Unbedingt«, stimmte ihr Emily zu.

»Die Spitzen der Gesellschaft ...«, murmelte Charlotte anzüglich.

Mrs Edsel gab ein leises Kichern von sich, das sie rasch unterdrückte. Dann sprudelte sie hervor: »Ich weiß natürlich nicht, ob etwas daran ist, aber mein Mann sagt, er trinkt mehr, als ihm gut tut – und das ziemlich oft. Ich weiß, das gilt bei einem Mann im Allgemeinen nicht als schlimmer Charakterfehler, aber mir sagt das nicht unbedingt zu. Außerdem soll er recht temperamentvoll sein. Ich könnte nichts damit anfangen. Mir ist ein Mann von ruhigem Wesen lieber.«

»Mir auch«, nickte Emily. Sie vermied es, dabei Charlotte anzusehen, die natürlich wusste, dass das eine faustdicke Lüge war. Ein solcher Mensch konnte nur ein ausgesprochener Langweiler sein.

»Absolut!«, bekräftigte Charlotte, als Mrs Edsel, Billigung heischend, zu ihr hersah. »Wenn man längere Zeit mit einem Menschen zusammen sein möchte, ist das unerlässlich. Es ist auf die Dauer nicht auszuhalten, wenn man nie weiß, womit man als Nächstes rechnen muss.«

»Da haben Sie Recht«, sagte Mrs Edsel mit feinem Lächeln. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für vorwitzig, aber ich würde Ihrer Freundin unbedingt raten, noch einige Monate zu warten. Ist es ihre erste Londoner Saison?«

Charlotte und Emily antworteten wie aus einem Mund - die eine mit Ja, die andere mit Nein, aber Mrs Edsel sah zu Charlotte hin.

Während der nächsten halben Stunde unterhielten sie sich in aller Ausführlichkeit über die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem passenden Ehepartner und teilten einander mit, wie froh sie alle miteinander waren, dass sie für sich selbst die richtige Wahl getroffen hatten und noch nicht vor der Notwendigkeit standen, einen passenden Mann für ihre Töchter zu suchen. Es fiel Charlotte schwer, das Richtige zu sagen, denn sie war dabei weitgehend auf ihre Erinnerungen angewiesen. Ein besonderer Balanceakt, der eines Zirkuskünstlers würdig gewesen wäre, war nötig, um Pitts gesellschaftlich völlig indiskutable Beschäftigung nicht preisgeben zu müssen. Auch wenn »Sicherheitsdienst« zweifellos besser klang als »Polizei«, durfte sie auf keinen Fall darüber sprechen. Es kränkte ihren Stolz, in diesem aufgeklärten Zeitalter so tun zu müssen, als wisse sie nicht so recht, welcher Tätigkeit ihr Mann nachging, zumal sich selbst Mrs Edsel zu wundern schien, was für ein unbedarftes Geschöpf sie da vor sich hatte.

Kaum saßen sie wieder in der Kutsche, als Emily in so prustendes Lachen ausbrach, dass sie einen Schluckauf bekam. Charlotte wusste nicht, ob sie mitlachen oder vor Wut platzen sollte.

»Nun lach schon!«, forderte Emily sie auf, als der Kutscher die Pferde antrieb, dem nächsten Ziel entgegen. »Du warst hinreißend, einfach unbezahlbar! Wenn Thomas das wüsste, würde er dafür sorgen, dass du das nie vergisst.«

»Nun, er weiß es nicht!«, sagte Charlotte mahnend.

Mit einem Lächeln lehnte sich Emily behaglich gegen die gepolsterte Rückenlehne. »Ich finde, du solltest es ihm unbedingt erzählen ... aber wahrscheinlich würdest du es nicht so gut hinbekommen. Sicher ist es besser, du überlässt das mir.«

»Emily!«

»Lass mich doch!« Das war weniger eine Bitte als ein Protest. »Bestimmt weiß er den Spaß zu schätzen - und das ist ja nun wirklich einer.«

»Aber dann musst du den Augenblick dafür gut wählen. Er arbeitet zurzeit an einem äußerst unangenehmen Fall.«

»Können wir dabei helfen?«, erkundigte sich Emily prompt. Sie war mit einem Schlag wieder ernst geworden.

»Nein!«, gab Charlotte entschieden zurück. »Zumindest noch nicht. Ohnehin müssen wir Martin Garvie aufspüren.«

»Das werden wir auch«, versicherte ihr Emily voll Zuversicht. »Der junge Mann, mit dem wir zu Mittag verabredet sind, ist genau der Richtige dafür. Ich habe die Sache eingefädelt, während ich mich umgezogen habe.«

 

Der Genannte, ein ehrgeiziger und selbstsicherer junger Mann namens Jamieson, erwies sich als Schützling von Emilys Gatten, dem Unterhausabgeordneten Jack Radley. Er war entzückt, mit der Gemahlin seines Mentors essen zu dürfen. Da außerdem ihre Schwester anwesend war, ließ sich vom Standpunkt der Schicklichkeit nichts daran aussetzen.

Anfangs sprach man über allerlei Themen von allgemeinem Interesse. Als sie auf die durch die Baumwollarbeiter in Manchester hervorgerufene schwierige Lage zu sprechen kamen, wandten sich die Gedanken aller wegen der Verbindung zu Ryerson auf ganz natürliche Weise dem Mord an Edwin Lovat zu, auch wenn keiner von ihnen diesen Punkt ansprach.

Der Kellner brachte den ersten Gang der exquisiten Mahlzeit – eine vorzügliche belgische Fleischpastete für Mr Jamieson und eine klare Suppe für Charlotte und Emily.

Im Bewusstsein dessen, dass sie die Zeit ihres Gastes nicht unbegrenzt in Anspruch nehmen konnte, da dieser bald wieder zu seinen Pflichten zurückkehren musste, kam Emily ohne lange Einleitung zur Sache.

»Es geht um eine äußerst geheime Untersuchung im Auftrag einer Regierungsabteilung«, log sie schamlos, nicht ohne zuvor Charlotte unter dem Tisch auf den Fuß getreten zu haben, damit sie keine Überraschung zeigte oder gar widersprach. »Meine Schwester«, sie sah zu ihr hinüber, »hat mir eine Möglichkeit aufgezeigt, auf welche Weise ich dabei mitwirken kann. Das Ganze ist streng vertraulich, Sie verstehen?«

»Gewiss, Mrs Radley«, sagte er.

»Das Leben eines jungen Mannes könnte davon abhängen«, erläuterte Emily und schob ihre Suppe beiseite. »Zwar ist es denkbar, dass er schon nicht mehr am Leben ist, aber wir hoffen aus tiefem Herzen, dass es nicht so ist.« Ohne auf seinen beunruhigten Blick zu achten, fuhr sie fort: »Von Mr Radley habe ich gehört, dass Sie Mitglied im White’s Club sind. Ist das richtig?«

»Ja, das stimmt. Es hat ja wohl nichts ...«

»Natürlich nicht«, beeilte sie sich, ihm zu versichern. »Der Klub ist in keiner Weise in die Sache verwickelt.«

Mit dem Ausdruck tiefster Konzentration beugte sie sich leicht vor und sagte in verschwörerischem Ton: »Ich denke, ich sollte am besten ganz offen sprechen, Mr Jamieson ...«

Auch er beugte sich vor und sah sie fragend an. »Ich verspreche Ihnen, Mrs Radley, dass nichts über meine Lippen kommen wird ... zu niemandem.«

»Danke.«

Der Kellner brachte den nächsten Gang – gedünsteten Fisch für die Schwestern, Roastbeef für Jamieson. Kaum hatte er sich mit dem abgetragenen Geschirr entfernt, holte Charlotte Luft. Sogleich spürte sie Emilys Schuh an ihrem Knöchel. Sie zuckte leicht zusammen.

»Wir haben Grund zu vermuten, dass uns ein gewisser Stephen Garrick wichtige Hinweise geben könnte«, sagte sie.

Jamieson runzelte die Brauen, schien aber weniger erstaunt, als sie erwartet hatte. »Es ist ein wahrer Jammer«, sagte er ruhig. »Wir haben uns alle schon gedacht, dass bei ihm nicht alles mit rechten Dingen zugeht.«

»Inwiefern?«, fragte Charlotte und bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen und den Anflug von Angst zu unterdrücken, der sich bei ihr meldete.

Er sah sie mit seinen großen, leuchtend blauen Augen offen an. »Er trinkt viel mehr, als gut für ihn ist«, gab er zur Antwort. »Man könnte glauben, dass er damit etwas in sich zu ertränken versucht.« In seinem Ausdruck lag Mitgefühl. »Zuerst dachte ich, er lässt sich voll laufen, um sich bei den anderen nicht zu blamieren. Sie werden einsehen, dass eine solche Vermutung nahe liegt. Dann aber ist mir allmählich aufgegangen, dass etwas anderes dahinter stecken muss. Er hat nicht einmal aufgehört, als die Sache anfing, seiner Gesundheit ernsthaft zu schaden. Außerdem trinkt er nicht nur in Gesellschaft, sondern auch, wenn er allein ist.«

»Ich verstehe«, sagte Emily. »Offensichtlich macht ihm etwas sehr zu schaffen. Da Sie den Grund nicht ansprechen, nehme ich an, dass Sie nicht wissen, worum es geht?«

»Nein.« Er zuckte leicht die Achseln. »Ehrlich gesagt wüsste ich auch nicht, wie sich das feststellen ließe. Ich habe ihn schon mehrere Tage nicht gesehen. Beim vorigen Mal war er auf keinen Fall in einem Zustand, in dem er eine vernünftige Antwort hätte geben können. Es ... es tut mir Leid.« Es blieb offen, was er damit meinte: die Unmöglichkeit, den Damen weiterzuhelfen, oder dass er ihnen gegenüber ein solch widerwärtiges Thema angesprochen hatte.

»Aber Sie kennen ihn?«, fasste Charlotte nach. »Und er kennt Sie?«

Jamieson sah zweifelnd drein, als ob er sich die nächste Frage denken könnte. »Na ja«, gab er zögernd zu. »Offen gestanden ... nicht besonders gut. Ich gehöre nicht zu seinem ...« Er verstummte.

»Ja?«, fragte Emily.

Jamieson erwiderte ihren Blick. Sie saß aufrecht da, ganz wie Großtante Vespasia, hatte den Kopf anmutig geneigt und lächelte ihm erwartungsvoll zu.

»... zu seinem engeren Freundeskreis«, erklärte Jamieson. Er wirkte unglücklich.

»Aber fragen könnten Sie ihn?«, sagte Emily.

»Gewiss«, gab er zögernd zurück. »Natürlich.«

»Gut.« Sie ließ nicht locker. »Es besteht große Gefahr. Schon eine kurze Verzögerung kann bedeuten, dass es zu spät ist. Wäre es Ihnen möglich, ihn gleich heute Abend aufzusuchen?«

»Ist es wirklich ... so ...?« Jamieson schien selbst nicht zu wissen, ob er interessiert oder beunruhigt sein sollte.

»Leider ja«, bestätigte Emily.

Er führte seine Gabel mit einem Stück Fleisch zum Mund. »Nun denn. Auf welche Weise soll ich Sie informieren, falls ich etwas in Erfahrung bringe?«

»Telefonisch«, sagte Emily sofort. Sie holte ein kleines graviertes Silberetui aus ihrem Ridikül und entnahm ihm eine Karte. »Hier ist meine Nummer. Bitte sprechen Sie außer mit mir mit keinem Menschen darüber ... wirklich mit niemandem. Das können Sie doch sicher verstehen.«

»Selbstverständlich, Mrs Radley. Sie dürfen sich voll und ganz auf mich verlassen.«

 

Charlotte dankte ihrer Schwester aufrichtig und nahm gern ihr Angebot an, sie mit der Kutsche nach Hause zu fahren. Um halb neun, sie saß gerade mit Pitt im Wohnzimmer, klingelte das Telefon. Pitt nahm ab.

»Es ist Emily – für dich«, sagte er von der Tür.

Charlotte ging in die Diele und nahm den Hörer. »Ja?«

»Stephen Garrick ist nicht zu Hause.« Emilys Stimme klang durch die Leitung fremd und ein wenig blechern. »Der junge Jamieson sagt, dass ihn seit mehreren Tagen niemand gesehen hat. Der Butler im Hause Garrick habe ihm erklärt, er wisse nicht, wann der junge Herr zurückerwartet wird. Man könnte glauben, er wäre gleichfalls verschwunden. Was sollen wir jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht.« Charlottes Hand zitterte. »Lass mich nachdenken...«

»Aber wir werden doch etwas unternehmen, oder nicht?«, fragte Emily nach einer Weile. »Ich finde, die Sache sieht ernst aus. Glaubst du nicht auch? Ich meine ... ernster, als wenn ein Kammerdiener seine Stellung verliert.«

»Ja«, sagte Charlotte mit leicht belegter Stimme. »Das muss man annehmen.«