KAPITEL 7
Es fiel Charlotte ausgesprochen schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, solange sich Pitt in Ägypten befand – allein in einem Land, über das er nichts wusste. Gefährlicher als diese mangelnde Vertrautheit mit den Lebensumständen war, dass er sich dort nach einer Frau erkundigen musste, die möglicherweise gegen die britische Schutzherrschaft über Ägypten kämpfte. Charlotte bemühte sich nach Kräften, an etwas anderes zu denken, sich um die Dinge ihres Alltags zu kümmern, doch sobald sie die letzte der Gaslampen im Erdgeschoss löschte und allein nach oben ins Schlafzimmer ging, flohen all diese Gedanken und ließen sie mit der ungeheuerlichen Tatsache seiner Abwesenheit allein, und während sie im Dunkeln dalag, malte sie sich die wildesten Möglichkeiten aus.
So war sie froh, als Tellman am dritten Abend nach Pitts Abreise auftauchte. Er war an die Hintertür gekommen, und Gracie hatte ihn eingelassen. Er sah müde und durchgefroren aus, was bei dem kalten Wind weiter kein Wunder war. In der Spülküche schüttelte er sich ein wenig, denn es hatte kurz zuvor geregnet, dann zog er den Mantel aus.
»Guten Abend, Mrs Pitt«, sagte er und sah sie aus alter Gewohnheit besorgt an, als sei es nach wie vor seine Aufgabe, sich in Pitts Abwesenheit um sie zu kümmern. Schon längst tat er nicht mehr so, als wäre ihm derlei gleichgültig.
»Guten Abend, Inspektor«, sagte sie. In ihr Lächeln mischte sich eine gewisse Belustigung, aber zugleich auch ihre Freude, ihn zu sehen. Mit voller Absicht redete sie ihn mit seinem dienstlichen Titel an. Seinen Vornamen hatte sie noch nie verwendet, und sie war nicht einmal sicher, ob Gracie das außer bei wenigen besonderen Gelegenheiten getan hatte, bei denen Förmlichkeit nicht am Platze gewesen wäre. »Es scheint Ihnen kalt zu sein. Setzen Sie sich und trinken Sie eine Tasse Tee«, forderte sie ihn auf. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Nein«, sagte er, zog sich einen Stuhl herbei und nahm Platz.
»Ich mach Ihnen was«, erbot sich Gracie rasch und schob schon den Wasserkessel auf die heiße Mitte des Herdes. »Wir ha’m aber nur noch kalt’n Hammel un gekocht’n Kohl mit Kartoffeln – woll’n Se was davon?«
»Sehr gern, danke«, sagte Tellman und warf einen Blick zu Charlotte hinüber, um sich zu vergewissern, dass auch die Hausherrin einverstanden war.
»Nur zu«, sagte sie rasch. »Haben Sie schon etwas über Martin Garvie erfahren?«
Er ließ den Blick von ihr zu Gracie wandern. Auf seinem hageren Gesicht mit den hohen Wangenknochen lagen tiefes Mitgefühl und eine Freundlichkeit, die vom weichen Licht der Gaslampe verstärkt wurde.
»Nein«, erwiderte er. »Ich habe wirklich alles getan, was mir ohne offiziellen polizeilichen Auftrag möglich war.« Dagegen konnten die Frauen nichts sagen. Sie kannten seine schwierige Situation auf der Polizeiwache in der Bow Street.
»Was ha’m Se denn rausgekriegt?«, fragte Gracie, stellte eine Bratpfanne auf den Herd und bückte sich, um das Feuer zu schüren, damit es wieder richtig in Gang kam. Sie tat das mehr oder weniger automatisch und sah dabei hauptsächlich zu Tellman hin.
»Es steht fest, dass Martin Garvie verschwunden ist«, gab er unglücklich zu. »Seit zwei Wochen hat ihn niemand gesehen, aber auch von Stephen Garrick weiß niemand etwas, nicht einmal die Dienstboten im Hause. Zuerst hatten sie vermutet, dass er sich in seinen Zimmern aufhielt und einen seiner Anfälle hätte ...«
»Aber doch nicht zwei Wochen lang. Das müsste doch zumindest die Köchin wissen«, fiel ihm Charlotte ins Wort. »Ganz gleich, wie krank er wäre, würde er doch auf jeden Fall wollen, dass ihm jemand zu essen bringt. Außerdem hätte die Familie in einem so langen Zeitraum bestimmt längst den Arzt gerufen.«
»Soweit ich feststellen konnte, war kein Arzt im Hause«, sagte Tellman und schüttelte dabei den Kopf ein wenig. »Und auch sonst haben keine Besucher nach ihm gefragt.« Sein Gesicht spannte sich an, seine Augen wurden dunkel. »Er ist nicht zu Hause – und auch sein Kammerdiener nicht.«
Gracie holte die kalten Kartoffeln aus der Speisekammer. Sie entschuldigte sich und begann Zwiebeln zu schälen und zu schneiden, wobei sie nach einem Taschentuch griff. »Kohl mit Kartoffeln ohne Zwiebeln is nix«, sagte sie erklärend. Allmählich wurde die Pfanne heiß.
»Ist denn auch keine Post gekommen?«, erkundigte sich Charlotte. »Und was ist mit Einladungen? Die kann er ja nicht gut unbeantwortet lassen; man müsste sie ihm zumindest nachschicken.«
Tellman biss sich auf die Lippe. »Auch wenn ich natürlich nicht offen heraus fragen konnte, habe ich mich doch in Bezug auf den jungen Mr Garrick ein wenig umgehört. Es sieht ganz so aus, als hätte er nicht besonders viele Freunde. Soweit ich feststellen konnte, scheint er kein sehr geselliger Mensch zu sein.«
Gracie betupfte sich die tränenden Augen mit dem Taschentuch. Als sie die Zwiebelstückchen in das heiße Fett gab, gingen ihre Worte in dessen Aufzischen unter. »Mit irgendjemand muss er aber doch bekannt sein«, wiederholte sie nach einer Weile. »Er is nich zu Haus, geht nich arbeit’n – wo is er dann? Vermisst ’n denn keiner?«
»Meinen Erkundigungen nach scheint es niemanden zu geben, dem seine Abwesenheit auffallen würde, weil er nur selten mit anderen Menschen zusammentrifft«, antwortete ihr Tellman. Dann wandte er sich an Charlotte: »Er führt wohl nicht das gleiche Leben wie die meisten Männer seines Alters und Standes. Da er keinen Klub regelmäßig aufsucht, findet niemand es befremdlich, dass man ihn selten oder nie sieht. Nirgendwo kennt man ihn, er spricht mit keinem, geht mit keinem zum Rennen, treibt mit niemandem Sport. Außerdem tut er nichts, um ... seinen Lebensunterhalt zu verdienen!« Er räusperte sich. »Ich komme fast täglich mit denselben Menschen zusammen. Wenn ich einmal nicht da wäre, würde das bald auffallen, und die Leute würden Fragen stellen.«
Charlotte verzog nachdenklich das Gesicht. Zwar beunruhigte sie, was er sagte, aber etwas Bestimmtes ließ sich noch nicht daraus herleiten. Was ihr durch den Kopf ging, hätte sie in feiner Gesellschaft nicht sagen dürfen, doch die Sache war zu ernst, als dass sie auf so etwas Rücksicht nehmen konnte. Andererseits war ihr klar, dass sie Tellman nicht offen darauf ansprechen durfte, schon gar nicht in Gracies Anwesenheit. »Er ist nicht verheiratet«, sagte sie vorsichtig. »Und soweit wir wissen, trägt er sich auch keiner Frau gegenüber mit solchen Absichten. Hat er womöglich ...«Sie wusste nicht so recht, wie sie fortfahren sollte.
»Ich habe nichts dergleichen feststellen können«, gab ihr Tellman rasch zur Antwort. »Alles deutet daraufhin, dass er ein ziemlich unglücklicher Mensch ist.« Er sah zu Gracie hin. »Ungefähr so, wie sie gesagt hat. Trinkt viel und macht dann Ärger. Auf diese Weise hat er in letzter Zeit viele Freunde verloren. Niemand scheint ihn mehr aufzusuchen. Natürlich hatte ich keine Gelegenheit, der Sache besonders tief auf den Grund zu gehen, aber es ist sicher, dass ihn niemand gesehen hat und er wohl auch nicht die Absicht hatte, irgendwohin zu reisen. Das aber heißt, ganz gleich, wo er sich aufhält: die Entscheidung, diesen Ort aufzusuchen, ist ohne längere Planung gefallen.«
»Un dabei hat er Martin Garvie mitgenomm?«, fragte Gracie, die in den Zwiebeln rührte, ohne ihn anzusehen. »Wieso hat dann die Köchin nix darüber gewusst? Un Bella? Die hätt’n doch sicher davon gehört? Bestimmt is er nich ohne Gepäck aus’m Haus. Das machen feine Herren nich.«
»Da hat sie Recht«, stimmte Charlotte zu. »Und zu den Briefen haben Sie auch noch nichts gesagt. Werden sie ihm nachgeschickt? Einladungen an ihn kann jemand anders ablehnen, aber seine Post will er doch sicher selbst haben.«
»Sein Vater?«, sagte Tellman.
»Vermutlich«, stimmte Charlotte zu. »Aber die bringt er doch wohl kaum selbst zum Briefkasten. Warum sollte er? Leute wie er haben dafür Lakaien. Befindet er sich an einem so geheimen Ort, dass das Personal nichts davon wissen darf? Und warum hat Martin seiner Schwester Tilda keine Mitteilung geschickt oder hinterlassen?«
»Dafür war wohl keine Zeit«, sagte Tellman. »Entweder ist er einer plötzlichen Einladung gefolgt, oder er hat sich von einem Augenblick auf den anderen zur Abreise entschlossen.«
»An einen Ort, von wo aus Martin keine Möglichkeit hatte, einen Brief zu schicken – wenn schon nicht an Tilda, dann zumindest an jemanden, der sie hätte informieren können?«, fragte Charlotte zweifelnd.
Inzwischen gab Gracie die Kartoffeln und den Kohl in die Pfanne, verrührte sie mit den Zwiebeln und wartete, dass das Ganze schön braun wurde. »Da stimmt was nich«, sagte sie leise. »Das is unnatürlich. Ich würd sagen, da is was faul.«
»Ich auch.« Charlotte sah Tellman offen an.
Er gab ihren Blick zurück. »Ich weiß nicht, auf welche Weise ich der Angelegenheit weiter nachgehen könnte, Mrs Pitt. Die Polizei hat keinen Grund, in diesem Zusammenhang jemanden zu befragen. Man hat mich ohnehin schon mehr als einmal ziemlich schroff abgewiesen und mir mitgeteilt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich musste so tun, als hätten meine Fragen mit einem Diebstahl zu tun, dessen Zeuge Mr Garrick möglicherweise geworden ist.« Sein gequälter Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie sehr er es verabscheute, sich zu einer Lüge hergegeben zu haben. Charlotte fragte sich, ob Gracie wusste, wie hoch der Preis war, den er ihr zuliebe gezahlt hatte. Die junge Frau arbeitete konzentriert am Herd, sodass sie den beiden den Rücken zukehrte. Nach einer Weile hob sie sorgfältig den Inhalt der Pfanne heraus, um die braune Kruste nicht zu beschädigen, und legte ihn auf den Teller zu dem kalten Hammelfleisch. Möglicherweise war es ihr durchaus klar.
»Danke.« Tellman nahm ihr den Teller ab und begann nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern zu essen, sobald Charlotte genickt hatte, um anzuzeigen, dass er nicht warten solle.
»Un was mach’n wir jetz?«, fragte Gracie, zog das Feuer im Herd auseinander und füllte die Teekanne. »Er kann nich einfach verschwunden sein. Jedenfalls könn’ wir nich die Hände in ’n Schoß legen! Wenn was passiert is, is das ’n Verbrechen, egal ob es um beide geht oder nur um Martin.« Sie sah zu Charlotte hin. »Mein’ Se, Mr Garrick könnte Martin in ei’m von sein’ Tobsuchtsanfällen richtig fest geschlag’n ha’m, un jetz is er tot? Un die Familie vertuscht das, weil se ’n deck’n woll’n? Ha’m ’n vielleicht aufs Land geschickt oder so was?«
Gerade als Charlotte den Mund auftun und sagen wollte, eine solche Vermutung sei selbstverständlich Unsinn, merkte sie, dass sie das nicht ausschließen konnte.
Tellman holte Luft, um etwas zu sagen, aber sein Mund war voll.
»Ich denke, wir müssen noch weit mehr über die Familie Garrick in Erfahrung bringen«, äußerte Charlotte, bemüht, ihre Worte sorgfältig zu wählen.
Voll Spannung und Hoffnung sagte Gracie: »Woll’n Se Lady Vespasia fragen?« Sie hatte nicht nur von der Mitwirkung der alten Dame bei einigen Fällen erfahren, sondern sie sogar kennen gelernt und war bei Besuchen in der Keppel Street mehr als einmal von ihr angesprochen worden. Wenn sie Königin Viktoria in höchsteigener Person gewesen wäre, hätte Gracie nicht beeindruckter sein können. Immerhin war die Königin klein und eher rundlich, während Vespasia so herrschaftlich und schön aussah, wie sich das für eine Königin gehörte. Wichtiger aber noch: Sie war bereit, von ganzem Herzen bei der Aufklärung von Verbrechen mitzuhelfen. Obwohl sie eine richtige feine Dame mit all dem unvorstellbaren Glanz war, der dazu gehörte, half sie ihnen bei ihren Fällen, und eine höhere Auszeichnung konnte es in Gracies Augen nicht geben. »Die weiß das bestimmt«, fügte sie eifrig hinzu.
Charlotte ließ den Blick von Gracie zu Tellman wandern, dem Aristokraten ebenso zuwider waren wie Amateure, die sich in Angelegenheiten der Polizei einmischten, und ganz besonders, wenn es sich um Frauen handelte. Sie zögerte, als wolle sie seine Ansicht einholen, doch als er stumm blieb, nickte sie.
»Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein. Wie gesagt, das ist kein Fall für die Polizei, aber man muss wohl annehmen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist«, räumte Tellman ein. »Wir sollten es versuchen.«
Der Abend war viel zu weit fortgeschritten, als dass sich Charlotte bei Tante Vespasia hätte melden können, doch gleich am nächsten Vormittag zog sie ihr bestes Ausgehkleid an. Gewiss, es war nach der Mode des vorigen Jahres geschnitten, doch hatte sie weder einen Grund gesehen noch Lust verspürt, es zu ändern. Seit Pitt seines Postens als Leiter der Wache in der Bow Street enthoben und zum Sicherheitsdienst versetzt worden war, hatte es für sie weder einen Anlass noch eine Möglichkeit gegeben, an auch nur mäßig wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen. Erst jetzt, als sie den ihr nur allzu vertrauten Inhalt ihres Kleiderschranks musterte, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie modisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit war.
Doch für solchen überflüssigen Luxus konnte die Familie Pitt kein Geld erübrigen. Was Charlotte an Kleidern besaß, wärmte, stand ihr gut und genügte den üblichen Ansprüchen vollständig. Es war noch nicht lange her, dass sich Pitt und sie darum gesorgt hatten, woher sie das Geld für Lebensmittel und Brennmaterial nehmen sollten.
Sie nahm ihr pflaumenfarbenes Vormittagskleid aus dem Schrank und zog es an, zufrieden, dass es wenigstens nirgends zwickte oder spannte. Einen dazu passenden Hut zu finden war weniger einfach, und schließlich entschied sie sich für einen schwarzen mit rosaroter Garnitur. So richtig zufrieden war sie damit nicht, aber sie konnte einen solchen Besuch unmöglich ohne Kopfbedeckung machen. Noch wichtiger als ihre eigenen Empfindungen war, dass sie auf keinen Fall Tante Vespasia in Verlegenheit bringen wollte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass jemand bei ihr war. Niemand ist auf das Auftauchen mittelloser ferner Verwandter erpicht, zumal dann nicht, wenn sie zu allem Überfluss bei ihrer Kleidung jeden Geschmack vermissen lassen.
Gracie verabschiedete sie begeistert und gab ihr in letzter Minute noch einige Ratschläge und Hinweise mit auf den Weg. Wenn sie es sich vorher überlegt hätte, wäre sie wohl nicht so naseweis gewesen, aber ihr Eifer ließ ihr Gefühl für das, was sich gehörte, in den Hintergrund treten.
»Wir müss’n unbedingt wiss’n, was mit den Leut’n da los is«, sagte sie stirnrunzelnd. »Bestimmt ha’m se dem was getan. Wir müss’n rauskrieg’n, was se gemacht ha’m und warum.«
»Ich werde Tante Vespasia die Lage schildern, wie sie ist«, sagte Charlotte, während sie, auf den Stufen vor der Haustür stehend, zum Himmel emporsah. Es war ein schöner Vormittag, sonnig, aber ziemlich frisch.
»Regnet bestimmt nicht«, sagte Gracie mit Nachdruck.
»Sieht ganz so aus«, bestätigte Charlotte. »Mir ist nur gerade durch den Kopf gegangen, dass an einem solchen Tag vermutlich alle Welt Besuche macht. Ich werde von Glück sagen können, wenn ich sie allein antreffe. Bei dem, was ich ihr zu sagen habe, möchte ich wirklich nicht unterbrochen werden.«
Sie machte sich entschlossen auf den Weg und hielt Ausschau nach einer Droschke. Zwar war die Fahrt mit dem Pferdeomnibus billiger, aber das Umsteigen würde sie viel Zeit kosten, und außerdem würde sie in gewisser Entfernung von Tante Vespasias Haus aussteigen müssen, denn für Besucher von Lady Cumming-Gould schickte es sich einfach nicht, sozusagen mit dem Pferdeomnibus vorzufahren.
Als sie dort ankam, erfuhr sie von der Zofe, die sie gut kannte, dass die Gnädige angesichts des schönen Wetters beschlossen hatte, auszufahren und ein wenig im Park spazieren zu gehen.
Überrascht merkte Charlotte, wie enttäuscht sie war. Zwar gab es in London eine große Zahl von Parks, doch wenn Angehörige der Oberschicht ›der Park‹ sagten, war damit immer der Hyde Park gemeint. So blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut eine Droschke zu nehmen und hinzufahren.
Während der Saison hätte sie damit rechnen müssen, im Hyde Park oder in seiner Nähe an die hundert Kutschen zu sehen, sodass es Zeitverschwendung gewesen wäre, Ausschau nach einer bestimmten zu halten, doch jetzt, Ende September, zu einer Zeit, da zwar die Sonne schien, es aber durchaus recht kühl war, wartete am der Stadt zugekehrten Ende von Rotten Row höchstens ein Dutzend Kutschen und vielleicht noch einmal die gleiche Anzahl am anderen Ende. Die Pferde standen ruhig da, das Messing ihres Zaumzeugs glänzte in der Sonne. Gelegentlich hörte man das leise Klirren eines Pferdegeschirrs. Kutscher und Lakaien sprachen im Schatten der Bäume miteinander und achteten wie die Luchse darauf, nicht von ihrer zurückkehrenden Herrschaft dabei ertappt zu werden.
Charlotte war entschlossen, Vespasia zu finden und sie anzusprechen, ganz gleich, mit wem sie sich gerade unterhalten mochte – außer wenn es die Gattin des Prinzen von Wales war, seit vielen Jahren Vespasias vertraute Freundin. Da diese aber so gut wie taub war, dürfte sie sich kaum mit ihr unterhalten. Sofern Vespasia indes ins Gespräch mit einer Herzogin oder Gräfin vertieft war, würde Charlotte höchstwahrscheinlich gar nicht merken, wen sie vor sich hatte. Schlagartig kam ihr zu Bewusstsein, dass sich äußerste Zurückhaltung empfahl, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass die betreffende Dame in der Gesellschaft keine Rolle spielte. Es war Vespasia durchaus zuzutrauen, dass sie sich mit einer Schauspielerin oder Kurtisane unterhielt, sofern diese sie interessierte.
Fast eine halbe Stunde lang eilte Charlotte suchend von einem Grüppchen zum anderen durch den Park, bis sie schließlich atemlos und mit einer schmerzenden Blase an der linken Ferse auf Vespasia stieß, die mit hoch erhobenem Kopf allein über einen der Wege lustwandelte. Ihren stahlgrauen Hut mit der schwungvollen Krempe zierte eine wunderschöne silberne Straußenfeder. Das Kleid war von etwas hellerem Grau als der Hut, und so kunstvoll war sein weißer Spitzeneinsatz geklöppelt, dass er im Sonnenschein wie ein sich brechender Wogenkamm aussah.
Sie wandte sich um, als sie Schritte hinter sich hörte. »Du bist ja ganz außer Atem, meine Liebe«, tadelte sie Charlotte mit gehobenen Brauen. »Wenn du es so eilig hast, muss das, was dich herführt, ja von äußerster Bedeutung sein.« Sie warf einen Blick auf Charlottes Kleid, dessen Saum von Staub bedeckt war. Dabei fiel ihr auf, dass Charlotte ein wenig schief stand, um den schmerzenden Fuß zu entlasten. »Möchtest du dich nicht einen Augenblick setzen?« Ihr war sofort klar gewesen, dass es nicht um eine persönliche Katastrophe ging.
»Danke«, nahm Charlotte an. Sie spürte die Blase noch schmerzhafter als zuvor, gab sich aber größte Mühe, möglichst aufrecht bis zur nächsten Bank zu gehen, auf die sie sich dankbar sinken ließ. Auf jeden Fall würde sie gleich einmal ihren Stiefel aufknöpfen, um zu sehen, was sich machen ließ.
Vespasia sah sie leicht belustigt an. »Ich vergehe vor Neugier«, sagte sie lächelnd. »Was führt dich ohne Begleitung und offensichtlich auch nicht ohne Schwierigkeiten an einen so ungewohnten Ort?«
»Die Notwendigkeit, etwas Bestimmtes zu erfahren«, sagte Charlotte und zuckte zusammen, als sie den Fuß versuchsweise bewegte. Sie strich sich den Rock glatt und setzte sich ein wenig aufrechter hin. Ihr war bewusst, dass Vorüberkommende unauffällig zu ihnen hersahen und sich vermutlich fragten, wer diese Frau neben der stadtbekannten Aristokratin sein mochte. Sofern Vespasia eifersüchtig auf ihren Ruf geachtet hätte, wäre ihr das möglicherweise peinlich gewesen, aber derlei ließ sie völlig kalt. Von ihr aus mochten die Leute reden und denken, was sie wollten.
»Etwa weitere Angaben über Saville Ryerson?«, erkundigte sich Vespasia ruhig. »Gern würde ich damit dienen, aber ich bin nicht sicher, dass ich dazu imstande wäre.«
»Nein, diesmal geht es nicht um Mr Ryerson, sondern um Mr Garrick«, teilte ihr Charlotte mit.
Vespasias Augen weiteten sich. »Etwa Ferdinand Garrick? Sag mir nur nicht, dass er in die Eden-Lodge-Geschichte verwickelt ist. Das wäre so absurd, dass man es nicht als Tragödie ansehen könnte, sondern als Farce bezeichnen müsste.«
Charlotte sah sie verwirrt an. Sie war nicht sicher, wie ernst Vespasia das meinte. Sie hatte einen ganz eigenen Humor, der vor niemandem Halt machte.
»Inwiefern?«, fragte sie.
Der Ausdruck, der jetzt auf Vespasias Gesicht trat, war eine Mischung aus Betrübnis und leichtem Widerwillen. »Ferdinand Garrick ist Witwer und führt sich auf, als wäre er das Urbild eines Musterchristen, meine Liebe«, sagte sie. »Nicht nur ist er von überspannter Tugendhaftigkeit — er posaunt sie auch demonstrativ vor aller Welt hinaus«, fuhr sie fort. »Er legt großen Wert auf das, was er als gesunde Lebensweise ansieht, verschafft sich viel zu viel Bewegung, friert mit Begeisterung und erwartet von allen Bewohnern seines Haushalts ein ebenso asketisches Leben. Er ist überzeugt, Gott damit näher zu kommen, dass er nicht nur sich kasteit, sondern das auch von allen anderen verlangt. Ich würde sagen, damit verhält es sich wie mit Lebertran — er mag gelegentlich Recht damit haben, aber es fällt ungeheuer schwer, es zu mögen.« Der Ausdruck, mit dem sich Charlotte ein Lächeln verbiss, zeigte Vespasia, dass sie verstanden worden war.
»Wie gesagt, es hat mit Mr Ryerson überhaupt nichts zu tun«, wiederholte Charlotte. »Thomas ist gegenwärtig wegen der Mordgeschichte in Alexandria. Er hofft dort mehr über Miss Sachari herauszubekommen«, erläuterte sie.
Vespasia saß reglos da. Zwei vorüberschlendernde Herren zogen den Hut. Sie schien sie nicht einmal gesehen zu haben.
»Grundgütiger, wieso Alexandria?«, murmelte sie vor sich hin. »Entschuldige bitte, das war eine törichte Frage. Ich nehme an, dass ihn Victor Narraway dort hingeschickt hat, sonst wäre er wohl kaum dort.« Sie atmete betont langsam aus. »Er geht also jeder Fährte nach. Das höre ich gern. Wann ist er abgereist?«
»Vor vier Tagen«, gab Charlotte zurück und merkte überrascht, dass ihr die Zeit sehr viel länger vorgekommen war. Zwar war er auch sonst nicht ständig zu Hause, kehrte aber abends zurück. Die Nächte ohne ihn schienen ihr fürchterlich unbehaglich, so als hätte sie vergessen, im Kamin der einzelnen Zimmer Feuer zu machen. Die Wärme des Herzens war fort. Fehlte sie ihm bei den wenigen Gelegenheiten, da sie nicht zu Hause war, ebenso sehr? Sie hoffte es von ganzem Herzen. »Inzwischen müsste er dort sein«, fügte sie hinzu.
»Das denke ich auch«, gab ihr Vespasia Recht. »Alles dort wird ihm außerordentlich fesselnd erscheinen. Vermutlich hat sich nicht viel geändert, seit ich da war, jedenfalls nichts Wesentliches.« Sie verzog ein wenig den Mund. »Allerdings war das, bevor Mr Gladstone die Stadt hat beschießen lassen. Weiß der Kuckuck, warum ihm das angebracht erschien. Das wird die Zuneigung, die ihre Bewohner uns Briten entgegenbringen, nicht gesteigert haben, doch lassen wir uns von so etwas normalerweise nicht sonderlich beeindrucken. Diese Stadt ist nicht nachtragend. Sie nimmt einfach alles in sich auf, ungefähr so, wie der menschliche Körper die Nahrung, und verwandelt es in einen Bestandteil ihrer selbst. So war es, als die Araber kamen, die Griechen, die Römer, die Armenier, die Kinder Israels und die Franzosen — warum sollte es bei uns Briten anders sein? Wir haben etwas anzubieten, und sie nimmt alles an. Diese Stadt hat einen allumfassenden Geschmack— darin liegt ihre Genialität.«
Auch wenn Charlotte sie gern dies und jenes gefragt und ihr am liebsten den ganzen Tag zugehört hätte, bemühte sie sich, Vespasias Aufmerksamkeit auf die Angelegenheit zu lenken, derentwegen sie gekommen war.
»Ich muss etwas über Ferdinand Garrick wissen, weil der Bruder einer Freundin von Gracie verschwunden ist«, erklärte sie.
»Dein Dienstmädchen?«, fragte Vespasia mit neu erwachter Aufmerksamkeit. »Die Kleine, deren Temperament gut und gern für zwei reicht, die doppelt so groß sind wie sie? Wo wird der junge Mann vermisst, und wieso hat das ausgerechnet mit Ferdinand Garrick zu tun? Sofern er einen Dienstboten entlässt, wird er überzeugt sein, dass er dafür einen triftigen Grund hatte, und man wird keinesfalls mit ihm darüber reden können. Er hat unverrückbare Vorstellungen von Tugendhaftigkeit – und in seinen Augen ist Gerechtigkeit ein weit höheres Gut als Gnade.«
»Soweit wir wissen, hat er ihn nicht entlassen«, gab Charlotte zurück. Zugleich lief es ihr kalt über den Rücken, als sie die Besorgnis in Vespasias Augen sah, die nach wie vor in munterem Ton sprach. Es war Charlotte klar, dass sie ihre Worte ganz bewusst wählte, insbesondere, was den Hinweis auf Gnade betraf. »Genau genommen, hat Martin für Garricks Sohn Stephen gearbeitet. Er war sein Kammerdiener.« Ungehalten über sich selbst fügte sie hinzu: »Ich weiß gar nicht, warum ich ›war‹ gesagt habe. Soweit wir wissen, ist er es immer noch. Nur hat er sich eben seit nahezu drei Wochen nicht bei seiner Schwester Tilda gemeldet, der einzigen Verwandten, die er noch hat, und das ist noch nie zuvor geschehen. Gracie hat sich unauffällig im Hause Garrick umgehört und den Eindruck gewonnen, dass das Personal nicht weiß, wo sich Martin aufhält. Auch Stephen Garrick scheint nicht mehr dort zu sein. Anfangs hatten die Leute wohl angenommen, er habe sich in sein Zimmer zurückgezogen, was von Zeit zu Zeit vorzukommen scheint. Aber weder wurde Essen hingeschickt, noch kam Wäsche zum Waschen herunter.«
»Gracie war in dem Haus?«, fragte Vespasia mit einem Unterton von Bewunderung. »Das hätte ich gern gesehen! Was hat sie noch erfahren, außer dass sich weder Herr noch Diener im Hause befindet und das Personal nichts über ihren Verbleib weiß beziehungsweise nicht bereit ist, etwas darüber zu sagen?«
»Dass Stephen Garrick ein unglücklicher Mensch ist, der zu viel trinkt und zu Tobsuchtsanfällen neigt. In solchen Augenblicken wird offenbar außer Martin Garvie niemand mit ihm fertig«, fasste Charlotte zusammen. »Es wäre also ausgesprochen unvernünftig, den jungen Mann zu entlassen, da es alles andere als leicht fallen dürfte, für ihn Ersatz zu finden.«
Vespasia saß eine Weile still da, als wäre sie in die Betrachtung derer versunken, die da vorüberflanierten: Damen in ihren herrlichsten Gewändern am Arm von Herren im dunklen Cut oder in leuchtend bunter Uniform.
»Es sei denn, er hatte das Unglück, Zeuge eines besonders unangenehmen Zwischenfalls zu werden«, sagte sie schließlich leise und betrübt, »und die Stirn, für sein Schweigen Geld zu verlangen. In dem Fall hat man ihn unter Umständen für zu teuer gehalten und ohne Zeugnis entlassen.«
»Wäre das nicht in hohem Maße unvernünftig?«, hielt Charlotte dagegen. »Falls ich Angestellte hätte, die meine Familiengeheimnisse kennen, läge es doch in meinem ureigensten Interesse, dafür zu sorgen, dass sie sich ständig in meiner Nähe aufhalten und nicht mit einem – noch dazu gerechtfertigten – Groll auf mich woanders Arbeit suchen.«
Vespasia schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Meine Liebe, ein Mann wie Ferdinand Garrick lässt sich nicht zu Auskünften herab, und wer Personal einstellen möchte, fragt frühere Arbeitgeber nicht nach den Gründen ihres Handelns. Falls aber doch, würde sich jeder mit der Erklärung zufrieden geben, dass der Dienstbote gedroht habe, Tratsch über die Familie Garrick zu verbreiten. Taktlosigkeit ist die schlimmste Sünde, die sich Hauspersonal zuschulden kommen lassen kann. Mit dem Familiensilber zu verschwinden ist nicht so schlimm, wie dem Ruf der Familie zu schaden. Silber kann man nachkaufen oder, wenn es gar nicht anders geht, auch darauf verzichten. Ohne seinen guten Ruf aber kann niemand leben.«
Charlotte wusste, dass sie Recht hatte. »Trotzdem muss ich wissen, was mit Martin geschehen ist. Nehmen wir an, er wäre entlassen worden: Warum hat er Tilda nichts davon gesagt? Vor allem, wenn die Entlassung ungerechtfertigt war!«
»Das weiß ich nicht«, gab Vespasia zu und nickte huldvoll einem Bekannten zu, der sie gesehen und den Hut gelüftet hatte. Dann sah sie rasch wieder Charlotte an, damit der Mann die Erwiderung seines Grußes nicht als Einladung auffasste, zu ihnen zu treten. »Ich glaube, du hast allen Grund, dir Sorgen zu machen.«
»Was für ein Mensch ist dieser Ferdinand Garrick, von seiner Frömmelei abgesehen?« Charlotte setzte den Fuß probehalber auf, um zu sehen, ob die Blase weniger drückte. Das war nicht der Fall.
»Um Gottes willen, Kind, zieh doch einfach den Schuh aus«, riet ihr Vespasia.
»Hier?«, fragte Charlotte verblüfft.
Vespasia lächelte. »Mit nur einem Schuh fällst du weniger auf, als wenn du die ganze Rotten Row entlang bis zu meiner Kutsche humpelst. Die Leute würden glauben, dass du betrunken bist! Ich kenne den Mann nicht besonders gut und verspüre auch nicht den Wunsch, ihn näher kennen zu lernen. Leute seines Schlages sagen mir nicht zu. Er ist völlig humorlos, und ich bin nun einmal im Laufe meines Lebens zu der Ansicht gekommen, dass Humor so etwas wie die Fähigkeit ist, die Dinge im richtigen Verhältnis zueinander zu sehen. Sicherlich hat das mit dem gesunden Menschenverstand zu tun.« Begeistert sah sie einem herumtollenden Welpen zu, der mit den Hinterläufen Steinchen emporschleuderte. »Was uns zum Lachen reizt, ist die Unverhältnismäßigkeit von Dingen. Es ist nun einmal sehr amüsant, mit anzusehen, wie einem aufgeblasenen Menschen die Luft abgelassen wird. Wenn alles auf der Welt so wäre, wie es sich angeblich gehört, wäre das Leben von unerträglicher Langeweile. Wo es nichts zu lachen gibt, fehlt ihm etwas«, sagte sie leise und lächelte. Im nächsten Augenblick aber trat ihr tiefe Bekümmernis in die Augen.
Sie hob das Kinn. »Trotz allem werde ich Ferdinand Garrick aufsuchen und sehen, was ich feststellen kann. Ich habe sonst nichts Interessantes zu tun, und auf keinen Fall etwas, das wichtiger wäre. Vielleicht liegt darin der größte Widersinn?« Der Welpe war über den Rasen verschwunden. Vespasia richtete den Blick auf ein nach der neuesten Mode gekleidetes Paar, das in der Mitte des Weges entlangschritt. Gelegentlich nickten die beiden, die Mitte fünfzig sein mochten, gnädig, wenn ihnen jemand begegnete. Bald zeigte sich, dass dahinter ein System steckte. Den Gruß mancher erwiderten sie, andere hingegen übersahen sie. Von Zeit zu Zeit zögerten sie einen Augenblick und sahen einander an, wohl um zu entscheiden, wie sie sich zu verhalten hatten.
»Man füllt seine Zeit mit Gesellschaftsspielen«, führte Vespasia das Gespräch fort, »und bildet sich ein, das sei von Bedeutung, weil einem entweder nichts Wichtigeres einfällt oder weil man keine Lust hat, es zu tun.«
»Tante Vespasia«, sagte Charlotte mit leicht unsicherer Stimme.
Sie wandte sich ihr mit fragendem Blick zu.
»Ich weiß, dass dir die Vorstellung nicht zusagt, Mr Ryerson könnte Lovat getötet haben«, sagte Charlotte, »oder Miss Sachari mit voller Absicht geholfen haben, damit niemand eine Möglichkeit hatte, ihr den Mord nachzuweisen. Aber überleg bitte einmal, wie es wirklich gewesen sein könnte. Was glaubst du?« Sie sah Vespasia lächeln. »Wir können uns nur dann vor dem Schlimmsten schützen, wenn wir es an uns heranlassen«, sagte Charlotte, der klar war, in welche Richtung Vespasias Sympathie ging. »Was für ein Mann ist er? Ich will nicht wissen, was die Polizei sowieso herausbekommt, sondern Dinge, die dir bekannt sind.«
Vespasia schwieg so lange, dass Charlotte schon annahm, sie werde keine Antwort bekommen. Während sie wartete, beugte sie sich vor, um ihren Stiefel vollständig aufzuknöpfen. Es schmerzte, als sie ihn vom Fuß zog. Sie entdeckte ein Loch in der Ferse ihres Strumpfs — das also war es! Noch hatte sich die Blase nicht geöffnet.
Sie spürte eine Berührung an ihrem Arm und hob den Blick. Vespasia hielt ihr ein seidenes Tuch und eine winzige Nagelschere hin.
»Schneid den Strumpf ab und binde das Tuch um den Fuß«, sagte sie, »dann schaffst du es bis nach Hause, ohne dass es schlimmer wird.«
Charlotte dankte ihr und malte sich aus, welches Bild sie bieten würde, wenn beim Gehen das bunte Tuch unter dem schwingenden Rock aus dem halbhohen Stiefel hervorsah.
»Einfach lächeln«, riet ihr Vespasia. »Es ist besser, du fällst den Leuten durch eine exzentrische Fußbekleidung auf als durch eine saure Miene. Außerdem wirst du wohl kaum einem der Menschen, die dich hier sehen, noch einmal begegnen. Im Übrigen nehme ich an, dass du dir nicht das Geringste aus dem machst, was sie über dich denken?«
»Das stimmt«, bestätigte Charlotte mit einem Lächeln, das vermutlich sehr viel breiter ausfiel, als Lady Vespasia erwartet hatte.
»Du stellst mir da ausgesprochen zartfühlende Fragen, meine Liebe«, fuhr Vespasia fort, den Blick auf die Bäume in der Ferne gerichtet, deren Laub noch kaum die warmen Farben des Herbstes zeigte. »Aber du hast Recht. Saville Ryerson ist tiefer Empfindungen fähig. Darüber hinaus ist er impulsiv und ... und er kann durchaus rabiat werden.« Sie biss sich ein wenig auf die Lippe. »Er hat im Jahre einundsiebzig bei einem schrecklichen Unglück seine Frau verloren. Aber das ist es nicht allein, es war auch Untreue im Spiel. Allerdings weiß ich keine Einzelheiten darüber, und schon gar nicht, um wen es dabei ging.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Er war fuchsteufelswild. Sie hatten sich fürchterlich gestritten, und vermutlich war es für ihn gerade deshalb umso schwerer zu ertragen, dass sie gleich darauf ums Leben kam. Ebenso sehr wie über ihren Tod grämte er sich darüber, dass er sie nicht zu retten vermocht hatte. Verstärkt wurde das alles durch das Bewusstsein, dass er eine Schuld auf sich geladen hatte und das Gesagte nie wieder zurücknehmen konnte. Dabei spielt es keine Rolle, dass er von der Richtigkeit seiner Anschuldigungen überzeugt war.«
Charlotte knöpfte ihren Stiefel wieder zu. »Das muss sehr schlimm für ihn gewesen sein. Aber kann Lovat damit etwas zu tun gehabt haben? Wie du sagst, liegt die Sache über zwanzig Jahre zurück.«
»Nein, nicht das Geringste«, stimmte ihr Vespasia zu. »Ich habe dir das nur erzählt, damit du dir ein besseres Bild von ihm machen kannst. Seither ist er allein, hat seiner Partei und seinen Wählern gedient. Beide waren strenge Zuchtmeister, unbeständig und fordernd. Von ihnen hat er kaum etwas zurückbekommen – bisweilen haben sie nicht einmal zu ihm gestanden. Manche allerdings, die besten, haben ihn geliebt, und das war ihm bewusst. Doch hat ihn dieser Dienst, den er völlig auf sich allein gestellt geleistet hat, ausgehöhlt.« Sie machte eine leicht wegwerfende Bewegung mit ihrer behandschuhten Hand. »Damit soll nicht gesagt sein, dass er sich die Befriedigung seiner Bedürfnisse versagt hat, doch ist er dabei stets mit der gebotenen Diskretion vorgegangen, und seine Gefühle waren daran überhaupt nicht oder nur wenig beteiligt.«
»Bis Miss Sachari auf der Bildfläche...«
»Genau. Und wenn sich ein leidenschaftlicher Mann verliebt, der über zwanzig Jahre lang Gefühle weder geschenkt noch empfangen hat, tut er das Hals über Kopf. Er brennt gleichsam lichterloh und wird damit zutiefst verletzbar.« Sie sagte das so gefühlvoll, als habe auch sie so etwas erlebt.
»Ja ...«, sagte Charlotte nachdenklich. Sie versuchte sich das vorzustellen: das Warten, die Einsamkeit der Jahre und dann die verheerende Gewalt, mit der das Gefühl über einen Menschen hereinbrach.
»Allerdings verstehe ich nicht«, fügte Vespasia nachdenklich hinzu, mit einem Mal wieder ganz praktischer Verstand, »warum die Frau Lovat erschossen hat. Vorausgesetzt, er war kein besonders angenehmer Zeitgenosse und er hat sie belästigt — warum konnte sie ihn dann nicht einfach ignorieren oder die Polizei rufen, falls er wirklich unerträglich geworden sein sollte?«
Ein grässlicher Verdacht meldete sich bei Charlotte. »Könnte es sein, dass er sie erpresst hat, möglicherweise im Zusammenhang mit Vorfällen in Alexandria? Wenn er nun gedroht hätte, Ryerson davon zu berichten? Das wäre doch eine Erklärung dafür, warum sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte.«
Vespasia richtete den Blick auf das Gras zu ihren Füßen. »Möglich wäre es«, räumte sie zögernd ein. »Aber ich hoffe aus tiefster Seele, dass es nicht zutrifft. Auch sollte man annehmen, dass sie so etwas nicht ausgerechnet in einer Nacht tun würde, in der sie Ryerson erwartete. Aber vielleicht haben ihr die Umstände keine Wahl gelassen.«
»Das wäre auch ein Grund dafür, warum sie nach wie vor niemandem vertraut«, fügte Charlotte hinzu. Sie verabscheute ihre eigenen Gedanken, aber es war sicher besser, all das jetzt zu sagen, als sie immer heftiger und ohne Antwort in ihrem Kopf kreisen zu lassen. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, womit er sie erpresst haben sollte – es sei denn, es war etwas, was Ryerson kompromittieren konnte ... etwas, was mit seiner Stellung in der Regierung zu tun hatte.«
»Hältst du den Mann für einen Spion?«, fragte Vespasia. »Oder, besser gesagt, für einen agent provocateur? Dann wäre der arme Saville wieder einmal Opfer eines Vertrauensbruchs.« Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Es klang wie ein Seufzen. »Wie verwundbar wir sind.« Sie stand auf. »Wie unendlich verletzlich.«
Rasch erhob sich Charlotte und bot ihr den Arm.
»Danke«, sagte Vespasia trocken. »Zwar weine ich innerlich wegen der Qualen eines Mannes, den ich immer gut leiden konnte, doch bin ich durchaus noch imstande, aus eigener Kraft aufzustehen, zumal ich keine Blase am Fuß habe. Vielleicht willst du dich lieber bis zu meiner Kutsche auf meinen Arm stützen? Ich bringe dich gern nach Hause, falls du dorthin willst.«
Charlotte konnte das Lächeln, das ihr unwillkürlich auf die Lippen trat, kaum verbergen. Mit den Worten: »Das ist sehr freundlich«, nahm sie den angebotenen Arm, ohne sich darauf zu stützen. »Ja, ich möchte in die Keppel Street. Darf ich dir dort vielleicht eine Tasse Tee anbieten?«
»Danke, gern«, nahm Vespasia mit einem kaum wahrnehmbaren belustigten Schimmer in ihren grauen Augen an. »Sicherlich wird uns den die wunderbare Gracie machen und mir dabei mehr über diesen verschwundenen Kammerdiener berichten?«
Vespasia bestand darauf, den Tee in der Küche zu trinken, einem Raum, den sie in ihrem eigenen Hause allein schon deshalb nie aufsuchte, weil ihre Köchin, wenn sie sich erst einmal von ihrer Verblüffung erholt hätte, gekränkt gewesen wäre. Sie suchte die Hausherrin jeden Morgen in ihrem Boudoir auf, um sich deren Vorstellungen von dem anzuhören, was auf den Tisch kommen sollte, und gegebenenfalls Gegenvorschläge zu machen, bis sie sich schließlich auf einen Kompromiss einigten. Die im gegenseitigen Einverständnis getroffene stillschweigende Übereinkunft lautete, dass sie nie einen Fuß in den Salon setzte und Vespasia nicht in die Küche eindrang.
Im Hause Pitt hingegen war die Küche der Mittelpunkt des Familienlebens. Alle Mahlzeiten wurden dort nicht nur zubereitet, sondern auch eingenommen. Das Licht der Gaslampen brach sich im polierten Kupfer der Töpfe, vom zur Decke emporgezogenen Trockengestell verbreitete sich der Geruch frischer Wäsche, und der Holztisch wie auch die Bodendielen blitzten vor Sauberkeit, da sie täglich gescheuert wurden.
Ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gesprächigkeit war Gracie anfangs still, so sehr beeindruckte sie die Anwesenheit einer richtigen Angehörigen des Hochadels in ihrer Küche, die noch dazu ganz wie ein gewöhnlicher Mensch an ihrem Tisch saß. Auch jetzt war sie mit ihrem silbrig glänzenden Haar, den überschatteten Augen, den zerbrechlich wirkenden hohen Wangenknochen und der porzellanfarbenen Haut die schönste Frau, die Gracie je gesehen hatte.
Allmählich aber gewann ihr Drang zu sagen, was ihr am Herzen lag, die Oberhand, und so begann sie Vespasia ihre Vermutungen und Befürchtungen haarklein auseinander zu setzen, sodass diese bei ihrem Aufbruch ebenso viel über die Sache wusste wie Gracie selbst und Charlotte.
Das war der Auslöser dafür, dass Vespasia an jenem Abend kurz nach halb acht in ihrem lavendelfarbenen Seidenkleid wartend im Foyer des Königlichen Opernhauses mit seinen Rosa- und Goldtönen stand.
Die Diamanten ihrer Tiara blitzten bei jeder noch so kleinen Bewegung, während sie die an ihr vorüberdefilierende Menschenmenge musterte, in der Hoffnung, den ihr flüchtig bekannten Ferdinand Garrick zu entdecken. Es hatte sie den größten Teil des Nachmittags gekostet, mit äußerster Diskretion festzustellen, wo er den Abend zu verbringen gedachte, und dann einen guten Bekannten, der ihr einen Gefallen schuldete, dazu zu überreden, dass er ihr die eigenen Karten für den Abend überließ.
Als Letztes hatte sie den Richter Theloneus Quade angerufen und ihn gebeten, sie zu begleiten. Sie hatte dabei ein schlechtes Gewissen gehabt, denn ihr war klar, dass er ihr nie im Leben einen Korb geben würde. Sie wusste, was er für sie empfand, und nach Mario Corenas Rückkehr war es ein Gebot des Anstands gewesen, niemanden in die Irre zu führen und auch nicht den Anschein zu erwecken, dass sie die ihr durchaus bekannten Gefühle anderer ausnutzte. Mit ihm war die leidenschaftliche Liebe ihrer prägendsten Jahre zurückgekommen, und sie war von einer neuen Zärtlichkeit erfüllt gewesen, die alle anderen Möglichkeiten in den Hintergrund drängte. Noch war sie nicht bereit, diese Empfindungen aufzugeben, auch wenn Mario inzwischen nicht mehr lebte. Was sie für ihn empfand, war auf alle Zeiten mit in ihr Wesen verwoben.
Jetzt aber ging es darum, etwas gegen die Gefahr zu unternehmen, in der Martin Garvie ihrer festen Überzeugung nach schwebte. Sie hatte weder Gracie noch Charlotte gezeigt, wie sehr der Fall sie beunruhigte. Sie wusste dies und jenes über Ferdinand Garrick und empfand diesem Tugendbold gegenüber eine instinktive Abneigung, für die sie keinesfalls einen Grund hätte nennen können.
Selbstverständlich hatte sie Theloneus ins Vertrauen gezogen. Da sie seine Freundschaft und Diskretion zu schätzen wusste, nahm sie seine Hilfe bei diesem Fall, dessen Lösung ihrer festen Überzeugung nach alles andere als einfach sein würde, gern in Anspruch. Und ohnehin schuldete sie ihm zumindest eine Erklärung dafür, warum sie so überstürzt eine Opernaufführung besuchen wollte, obwohl ihr klar war, dass ihm ebenso wenig daran lag wie ihr.
Sie und er sahen Garrick im selben Augenblick.
»Wollen wir?«, fragte er leise. Es klang mehr nach einer Aufforderung als nach einer Frage.
Mit den Worten: »Wer A sagt, muss auch B sagen«, nahm sie seinen Arm und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Bis sie Garrick erreicht hatten, befand sich dieser in einer angeregten Unterhaltung mit einem äußerst konservativen Bischof, den Vespasia nicht ausstehen konnte. Dreimal setzte sie an, um in das Gespräch einzugreifen, doch jedes Mal erstarben ihr die Worte auf den Lippen. Nicht einmal um einer so würdigen und bedeutenden Sache willen brachte sie es über sich, die Heuchelei so auf die Spitze zu treiben. Ohne Theloneus anzusehen, spürte sie, dass er sich amüsierte.
»Es gibt zwei Pausen«, flüsterte er ihr zu, als Garrick und der Bischof gegangen waren und auch sie ihre Plätze aufsuchen mussten.
Zwar war die Oper ein barockes Meisterwerk voll Raffinement und Licht, doch fehlten Vespasia die vertrauten Melodien, die Leidenschaft und die tiefen Gefühle Verdis, den sie liebte. Sie legte sich Pläne für die erste Pause zurecht. Unter keinen Umständen konnte sie es sich leisten, bis zur zweiten Pause zu warten, denn sie musste damit rechnen, dass sie nicht sofort an Garrick herankam. Je nachdem, mit wem er sprach, konnte sie sich unmöglich einfach einmischen. Ohne ein gewisses Fingerspitzengefühl würde es nicht gehen, denn er hatte für sie ebenso wenig übrig wie sie für ihn.
Als sich der Vorhang unter begeistertem Beifall senkte, sprang sie auf, als wäre sie von der Vorstellung hingerissen.
»Ich wusste gar nicht, dass dir das so sehr gefällt«, sagte Theloneus überrascht. »Danach hat dein Gesicht überhaupt nicht ausgesehen.«
»Tut es auch nicht«, gab sie zurück. Dass er sie beobachtet hatte, statt auf die Bühne zu sehen, brachte sie ein wenig aus dem Konzept. Ihr war gar nicht mehr bewusst gewesen, wie tief seine Gefühle für sie waren. »Ich möchte zu Garrick, bevor er seine Loge verlässt und jemand anders das Gespräch an sich reißt«, erklärte sie.
»Falls der Bischof da ist, werde ich so tun, als könne er mich zu seiner Anschauung bekehren«, erbot sich Theloneus mit schalkhaftem Lächeln. Ihm war klar, dass sie wusste, welches Opfer das für ihn bedeutete.
»Niemand liebt mehr als der, der sein Leben für seine Freunde opfert«, murmelte sie leise vor sich hin und fügte etwas lauter hinzu: »Ich werde dir dafür zu tiefem Dank verpflichtet sein.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte er mit Nachdruck.
Sein Eingreifen erwies sich als dringend erforderlich. Fast wäre Vespasia vor Garricks Loge mit dem Bischof zusammengestoßen.
»Guten Abend, Eure Exzellenz«, sagte sie mit einem eisigen Lächeln. »Wie schön zu sehen, dass Sie eine Oper gefunden haben, deren Handlung Ihren Moralvorstellungen nicht zuwiderläuft.«
Kaum hatte sie diese von Sarkasmus triefende Äußerung getan — denn in dem Stück ging es um Inzest und Mord —, tat sie ihr schon Leid, und zwar bereits bevor sie hörte, wie Theloneus seinen Lachdrang hinter einem vorgetäuschten Hustenanfall verbarg. Das Gesicht des Bischofs verfärbte sich hochrot.
»Guten Abend, Lady Vespasia«, gab er kalt zurück. »Sie sind doch Lady Vespasia Cumming-Gould, nicht wahr?« Er wusste sehr wohl, wen er vor sich hatte; diese Kränkung war seine Rache für ihre Gehässigkeit.
Sie warf ihm ein bezauberndes Lächeln von der Art zu, bei dessen Anblick in ihren jüngeren Jahren Prinzen dahingeschmolzen waren.
»Gewiss«, sagte sie. »Darf ich Ihnen Richter Quade vorstellen?« Sie machte eine leichte Handbewegung. »Der Bischof von Putney, glaube ich, jedenfalls irgendwo in der Gegend da unten. Ein weithin gerühmter Hüter christlicher Tugenden, allen voran der Reinheit des Denkens.«
»Aha«, murmelte Theloneus. »Wie geht es Ihnen?« Auf seine asketischen Züge trat der Ausdruck großen Interesses, und er sagte, wobei seine blauen Augen sanft leuchteten: »Wie gut es sich doch trifft, dass ich Sie kennen lerne. Ich wüsste zu gern, was Sie als wohlunterrichteter und zugleich aufgeklärter Geist dazu sagen, dass der Komponist für seine herrliche Musik gerade auf diese Handlung verfallen ist. Kann der Mensch aus einem solch widerlichen Verhalten etwas lernen, zum Beispiel, dass das Böse am Ende immer bestraft wird? Oder fürchten Sie eher, dass die Schönheit, mit der diese Schandtaten dargestellt werden, den Menschen verderben, sodass er nicht imstande ist, die dahinter stehende Moral mit seinem Verstand zu erfassen?«
»Nun ...«, setzte der Bischof an.
Ohne sich länger bei den beiden aufzuhalten, klopfte Vespasia an die Logentür und öffnete sie, sobald sie Garricks Aufforderung gehört hatte einzutreten. Die gezwungene Unterhaltung, die ihr bevorstand, war ihr schon im Voraus widerwärtig, denn beiden war klar, dass sie keinerlei gemeinsame Interessen hatten und sie ihn auf keinen Fall aus Freundschaft aufsuchte.
In der Loge befanden sich neben Garrick seine Schwester mit ihrem im Bankwesen tätigen Mann sowie eine mit den beiden befreundete Witwe, die aus einer der umliegenden Grafschaften zu einem Besuch in die Hauptstadt gekommen war. Sie lieferte Vespasia den Vorwand, den sie brauchte.
»Lady Vespasia?«, sagte Garrick mit leicht gehobenen Brauen. Das war alles andere als ein Ausdruck des Willkommens. »Wie schön, Sie zu sehen.« Seine Worte klangen etwa so begeistert, als hätte er in seinem Nachtisch das Kerngehäuse eines Apfels gefunden.
Sie neigte den Kopf. »Sie sind zu gütig, wie immer«, gab sie in einem Ton zurück, als hätte er eine Äußerung von unentschuldbarer Vulgarität getan.
Seine Züge verfinsterten sich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Schwester samt Schwager und Besucherin vorzustellen, eine gewisse Mrs Arbuthnott. Drückend lastete das Bewusstsein in der Loge, dass Vespasia keinen wirklichen Grund hatte, den kleinen Kreis zu stören. Zwar fragte Garrick nicht offen heraus nach dem Anlass ihrer Anwesenheit, doch verlangte seine Körperhaltung mit dem erwartungsvoll vorgereckten Kopf unabweisbar nach einer Erklärung.
Sie lächelte Mrs Arbuthnott zu. »Eine gute Bekannte, Lady Wilmslow, hat mir gegenüber in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen«, log sie dreist, »und gesagt, dass ich unbedingt Ihre Bekanntschaft machen müsse.«
Mrs Arbuthnott wusste nicht, wie ihr geschah. Zwar hatte sie noch nie im Leben von einer Lady Wilmslow gehört, was kein Wunder war, da sich Vespasia diese Dame aus den Fingern gesogen hatte, doch wusste sie selbstverständlich, wer Lady Vespasia war, und fühlte sich daher unendlich geschmeichelt.
Vespasia tilgte ihre Schuld mit dem großzügigen Anerbieten: »Sollten Sie sich bis Ende des Monats in der Stadt aufhalten — ich empfange montags und mittwochs. Sofern Sie Gelegenheit zu einem Besuch haben, sind Sie mir hochwillkommen.« Sie entnahm dem silbernen Etui in ihrem Ridikül eine Karte mit ihrer Anschrift und gab sie der Dame, die sie entgegennahm, als handele es sich um ein kostbares Juwel. Das war sie nach den Maßstäben der Londoner Gesellschaft auch, und noch dazu eines, das man für Geld nicht kaufen konnte. Während sie ihren Dank stammelte, gelang es Garricks Schwester nur mit Mühe, zu verbergen, wie neidisch sie war. Dazu aber bestand nicht der geringste Anlass, denn als Gastgeberin Mrs Arbuthnotts konnte sie sie begleiten, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nehmen würde.
Dann wandte sich Vespasia an Garrick. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Ferdinand?« Auch wenn es sich um eine reine Höflichkeitsfloskel handelte, verlangten die Umgangsformen, dass er darauf einging. »Glänzend. Aber auch mit Ihrer Gesundheit scheint es erfreulicherweise zum Besten zu stehen. Allerdings habe ich Sie auch nie anders erlebt.« Um nichts in der Welt würde er sich zu einem Verstoß gegen die Etikette hinreißen lassen, schon gar nicht vor seinen Gästen.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, als hätte er ihr ein großes Kompliment gemacht, während ihr selbstverständlich bewusst war, dass er mit seinen Worten nichts dergleichen gemeint hatte.
»Danke. Sie sagen das mit solcher Herzenswärme, dass es unmöglich wäre, Ihre Großzügigkeit als bloße Floskel abzutun.« Bei diesem Spiel empfand sie eine so spitzbübische Freude, dass sie darüber ganz vergaß, wie sehr ihr Garrick zuwider war. Er erinnerte sie an andere Tugendbolde in ihrem engeren Bekanntenkreis, die geradezu besessen darauf achteten, dass andere Menschen Regeln einhielten und Selbstzucht übten, ewige Rechthaber, die so schnell nichts verziehen und denen es schon verdächtig war, wenn jemand lachte. Möglicherweise gründete sich Vespasias Ablehnung mehr auf Vermutungen als auf Wissen, womit sie eben der Sünde schuldig gewesen wäre, die sie ihm vorwarf. Später, wenn sie wieder allein war, musste sie unbedingt versuchen, sich zu erinnern, was sie in Wahrheit über ihn wusste.
Mit betont freundlicher und interessierter Miene erkundigte sie sich: »Wie geht es Ihrem Sohn Stephen? Kann es sein, dass ich ihn kürzlich im Park vorüberreiten habe sehen? Es kam mir ganz so vor, als wäre er in Begleitung der jungen Marsh gewesen, wie heißt sie noch, die mit dem unglaublich vollen Haar?«
Garrick stand reglos wie ein Standbild da. Er ließ sich nichts anmerken, doch war sie überzeugt, dass sich seine Gedanken auf der Suche nach einer Antwort jagten.
»Nein«, sagte er schließlich. »Das muss jemand anders gewesen sein.«
Sie sah ihn weiterhin erwartungsvoll an, als verlange die Höflichkeit, dass er noch mehr sagte, und als komme es einer Zurückweisung gleich, wenn er schwieg.
Der Ausdruck von Ärger trat auf sein Gesicht, verschwand aber gleich wieder.
Vespasia überlegte, ob sie sich anmerken lassen sollte, dass ihr das nicht entgangen war, unterließ es aber, weil sie fürchtete, er werde dann das Thema wechseln.
»Bitte verzeihen Sie«, sagte sie rasch, bevor sich sein Schwager ins Zeug legen und ihn retten konnte. »Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Zornesröte stieg ihm in die Wangen, und die Muskeln seines ganzen Leibes spannten sich. »Lachhaft!«, sagte er aufbrausend und durchbohrte sie mit Blicken. »Ich habe nur überlegt, wen Sie da gesehen haben könnten. Stephen geht es in letzter Zeit nicht gut, und der kommende Winter wird ihm noch mehr zu schaffen machen.« Er holte tief Luft. »Er ist für eine Weile nach Südfrankreich gereist. Dort ist das Klima milder und trockener.«
»Eine sehr kluge Entscheidung«, sagte Vespasia, unsicher, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Zwar klang die Erklärung in jeder Hinsicht vernünftig, doch passte sie in keiner Weise zu dem, was Gracie vom Küchenpersonal im Haus am Torrington Square gehört hatte. »Ich hoffe, dass sich ein verlässlicher Mensch um ihn kümmert«, sagte sie mit höflichem Interesse.
»Gewiss«, gab er zur Antwort. Wieder holte er Luft. »Er hat natürlich seinen Kammerdiener mitgenommen.«
Sie konnte nichts weiter sagen, ohne eine ungehörige Neugier an den Tag zu legen, ein Verstoß gegen die Regeln der Gesellschaft, dessen sie sich noch nie schuldig gemacht hatte. Neugier war ordinär und ein Hinweis darauf, dass es dem eigenen Leben an Interessantem fehlte und man nicht wusste, womit man sich beschäftigen sollte. Eine solche Unfähigkeit hätte niemand zugegeben.
So sagte sie: »Ich denke, dass ihm das gut tun wird. Ich muss sagen, dass mir die Monate Januar und Februar hier auch nicht besonders behagen. Früher, als ich noch viel auf dem Lande lebte, war das anders. Ein Waldspaziergang macht zu jeder Jahreszeit Freude, während einem die Straßen Londons, wenn Schnee liegt, höchstens nasse Röcke bis hinauf zu den Knien bescheren. Da wirkt der Gedanke an Südfrankreich richtig verlockend.«
Er fixierte sie mit einem steinernen Blick. Sicherlich war es keine Einbildung, dass Feindseligkeit darin lag und die Gewissheit, dass sie keinesfalls aus Höflichkeit einer Frau ihre Aufwartung gemacht hatte, die sie nicht kannte.
Mit den Worten: »Sie kennen zu lernen war mir ein aufrichtiges Vergnügen, Mrs Arbuthnott«, verabschiedete sich Vespasia liebenswürdig. »Sicherlich wird Ihnen Ihr Aufenthalt in London gefallen.« Garricks Schwester und Schwager nickte sie freundlich zu. »Guten Abend, Ferdinand«, sagte sie noch, wandte sich dann um, ohne auf seine Antwort zu warten, und trat auf den Gang hinter den Logen hinaus. In Armeslänge entfernt stand Theloneus nach wie vor im Gespräch mit dem Bischof. Sein Gesicht wirkte wie erstarrt.
»... falsch verstandene Tugend ist einer der Flüche des modernen Lebens«, sagte der Bischof voll Eifer. Theloneus bedurfte unübersehbar der Errettung.
»Bischof, wollen Sie auf ein Gläschen Champagner mit uns kommen?«, fragte Vespasia mit berückendem Lächeln. »Oder würden Sie sagen, dass wir ohnehin zu viel davon trinken? Bestimmt haben Sie Recht, und selbstverständlich erwartet man von Ihnen, dass Sie uns allen mit leuchtendem Beispiel vorangehen. Es war erfrischend, Sie hier zu sehen. Weiterhin viel Vergnügen.« Mit diesen Worten bot sie Theloneus den Arm, den er sogleich nahm, erkennbar bemüht, nicht vor Lachen herauszuplatzen.
Ein Besuch bei Saville Ryerson ließ sich weit schwieriger bewerkstelligen. Obwohl sie trotz Garricks Behauptung, sein Sohn befinde sich mit Martin Garvie in Südfrankreich, fürchtete, Tildas Bruder könne etwas zugestoßen sein, ging ihre Sorge um Ryerson noch tiefer. Bestenfalls würde er von der Frau enttäuscht sein, die er rückhaltlos geliebt hatte, so unklug das gewesen sein mochte. Von einem anderen Menschen hintergangen zu werden, zu sehen, wie jede Hoffnung zuschanden wird, alle Träume zerplatzen, war eine der härtesten Prüfungen der menschlichen Seele. Im schlimmsten Fall musste er damit rechnen, sich auf der Anklagebank neben seiner Geliebten wiederzufinden und möglicherweise wie sie am Galgen zu enden.
Die einfachen Möglichkeiten, zu Ryerson zu gelangen, probierte Vespasia gar nicht erst aus. Sie konnte es sich nicht leisten, mit Fehlschlägen Zeit zu verlieren, und schon gar nicht wollte sie dadurch, dass sie von Menschen einen Gefallen einforderte, den diese ihr schuldeten, einen Hinweis darauf liefern, wie wichtig es ihr war, mit ihm in Verbindung zu treten.
So entschloss sie sich, gleich den höchsten Beamten im Polizeipräsidium aufzusuchen, dessen Abteilung für den Fall zuständig war. Er hatte ihr vor langer Zeit, als beide deutlich jünger waren, den Hof gemacht. Später, längst verheiratet, hatten sie gemeinsam ein langes Wochenende als Gäste auf einem der Landsitze irgendeines Herzogs verbracht. Ganz besonders vor Augen stand ihr ein bestimmter Nachmittag in einer Eibenlaube. Sie erinnerte andere nur ungern an Derartiges, denn stilvoll war das nicht – aber bisweilen äußerst nützlich. Angesichts der Situation, in der sich Ryerson befand, konnte sie auf solche Feinheiten keine Rücksicht nehmen.
Sie brauchte nicht zu warten. Als sie in Arthurs Büro geführt wurde, begrüßte er sie, in der Mitte des Raumes stehend. Die Zeit war gnädig mit ihm verfahren, wenn auch nicht ganz so gnädig wie mit ihr. Er wirkte schmaler als damals, und seine Haare waren vollständig ergraut.
»Meine Liebe ...«, begann er und schien dann nicht recht zu wissen, wie er sie anreden sollte. Ihre Vertrautheit lag viele Jahre zurück.
Um ihm über die Peinlichkeit hinwegzuhelfen, sagte sie schnell: »Wie großzügig von dir, mich so rasch zu empfangen, wo dir sicherlich klar ist, dass ich einen Gefallen von dir erwarte — sonst wäre ich nicht in so unvornehmer Eile gekommen.« Wie immer trug sie ihre Lieblingsfarben Taubengrau und Elfenbein, und die Perlenkette um ihren Hals warf einen sanften Schimmer auf ihre Züge. Die Jahre hatten sie gelehrt, dass es Materialien und Farben gibt, die nicht einmal der schönsten und jüngsten Frau schmeicheln, und sie wusste, was ihr am besten stand.
»Dich zu sehen, ganz gleich, aus welchem Anlass, ist immer ein Vergnügen«, sagte er. Auch wenn er das wahrscheinlich nur tat, weil es sich so gehörte, lag in seinen Worten eine Aufrichtigkeit, der man unwillkürlich Glauben schenken musste. »Bitte ...« Er wies auf den Besuchersessel neben seinem Schreibtisch und wartete, bis sie Platz genommen und mit einer einzigen Handbewegung ihre Röcke so geordnet hatte, dass sie faltenfrei fielen. »Was kann ich für dich tun?«, erkundigte er sich.
Sie hatte eine Weile hin und her überlegt, ob sie sich dem Thema auf Umwegen nähern oder den Stier bei den Hörnern packen sollte. Soweit sie sich erinnerte, war Arthur nicht unbedingt ein Kirchenlicht gewesen, aber vielleicht hatte sich das im Lauf der Jahre geändert. Auf jeden Fall war er nicht mehr in sie verliebt, und das allein schon dürfte sein Urteilsvermögen schärfen. So beschloss sie, ohne Umschweife auf ihr Ziel loszugehen. Sie hielt den Versuch, ihn in die Irre zu führen, für kränkend. Aber ebenso kränkend wäre es wohl, wenn sie einfach mit der Tür ins Haus fiele, ohne zumindest ein Lippenbekenntnis zu dem abzulegen, was in der Vergangenheit geschehen war.
»Ich habe seit unserer letzten Begegnung einige außergewöhnliche Verwandte hinzugewonnen«, sagte sie, als gebe es auf der Welt kein natürlicheres Thema. »Natürlich angeheiratet. Ich nehme an, du erinnerst dich noch an meinen Großneffen George Ashworth, der leider nicht mehr lebt?«
Sogleich legte sich eine Betrübnis auf Arthurs Züge, die durchaus echt wirkte. »Das tut mir sehr Leid! Eine wahre Tragödie.«
Seine Worte ersparten ihr langatmige Erklärungen.
»Tragisch war es in der Tat«, sagte sie mit dem Anflug eines trübseligen Lächelns. »Aber seine Eheschließung hat mir eine Großnichte eingetragen, deren Schwester mit einem Kriminalbeamten verheiratet ist – ein bemerkenswert fähiger Mann.« Er sah sie verblüfft an. »Von Zeit zu Zeit war ich in bestimmte Fälle mit einbezogen und habe gelernt, manche Ursachen für ein Verbrechen zu verstehen, was früher nicht der Fall war. Ich nehme an, dir ist es ähnlich ergangen ...« Sie beendete den Satz nicht.
»Ja, Polizeiarbeit ist ...« Er hob die Schultern. Wieder fiel ihr auf, dass er deutlich schmaler geworden war. Es stand ihm aber durchaus gut.
»Eben!«, stimmte sie mit Nachdruck zu. »Deshalb habe ich dich auch aufgesucht. Du bist in der einzigartigen Lage, mir einen kleinen Dienst erweisen zu können.« Bevor er fragen konnte, worum es dabei ging, fuhr sie rasch fort: »Bestimmt setzt dir diese elende Geschichte von Eden Lodge ebenso zu wie mir. Ich kenne Saville Ryerson seit vielen Jahren ...«
Arthur schüttelte den Kopf.»Ich kann dir nichts sagen, Vespasia, und zwar einfach deshalb, weil ich nichts weiß.«
»Verständlich«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich will auch keineswegs Informationen, mein Lieber. So etwas von dir zu erwarten wäre ungehörig. Ich möchte einfach ein Gespräch mit Ryerson, unter vier Augen, und möglichst bald.« Sie hoffte, keine Erklärung für ihren Wunsch abgeben zu müssen, hatte sich aber vorsichtshalber eine zurechtgelegt.
»Das wäre aber äußerst unangenehm für dich«, sagte er unbehaglich. »Außerdem kannst du mit Sicherheit nichts für ihn tun. Er hat alles, was er braucht, und man gewährt ihm jede statthafte Erleichterung. Immerhin lautet die Anklage auf Mittäterschaft in einem Mordfall. Das ist immer ein schwerwiegender Vorwurf, und für einen Mann in seiner Position, einen Menschen, der in der Öffentlichkeit so großes Vertrauen genießt, ist er vernichtend.«
»All das ist mir bewusst, Arthur. Seit der arme George tot ist, habe ich, wie gesagt, dadurch, dass ich meinem angeheirateten Großneffen hin und wieder mit seinen Fällen behilflich war, sehr viel über die weniger angenehmen Seiten der Menschennatur erfahren. Sofern ich dich mit meiner Bitte in eine schwierige Lage bringe und du sie abschlagen musst, tu mir aus alter Freundschaft den Gefallen, das offen zu sagen.«
»Nein, so ist das nicht«, sagte er rasch. »Ich – ich dachte nur, dass es dir unangenehm und schmerzlich sein könnte zu sehen, dass sich Ryerson stark ... verändert hat. Möglicherweise wirst du den Eindruck gewinnen, dass er unter Umständen doch schuldig ist. Ich ...«
»Um Gottes willen, Arthur!«, sagte sie ungeduldig. »Hast du mich etwa in den angenehmen Sommern unserer Vergangenheit mit einer anderen verwechselt? Ich habe achtundvierzig auf den Barrikaden von Rom gekämpft. Mir sind unangenehme Dinge keineswegs unbekannt! Ich habe Elend, Verrat und Tod in mancherlei Form miterlebt — zum Teil in den höchsten Kreisen! Lässt du mich zu Saville Ryerson – oder nicht?«
»Aber natürlich, meine Liebe. Ich werde gleich heute Nachmittag die nötigen Anordnungen treffen. Vielleicht erweist du mir die Ehre, mit mir zu Mittag zu essen? Dabei können wir uns über die Gesellschaften unterhalten, an denen wir teilgenommen haben, als die Sommer länger waren – und, wie es scheint, wärmer als jetzt.«
Sie lächelte ihm mit ungeheuchelter Herzlichkeit zu, wobei sie an die Eibenlaube und eine bestimmte Rabatte dachte, in der blau der Rittersporn geleuchtet hatte. »Danke, Arthur. Das wäre mir ein ausgesprochenes Vergnügen.«
Ein Beamter führte sie in den Raum, in dem sie mit Ryerson zusammentreffen sollte, und zog sich dann zurück. Sie war allein. Es war kurz vor sechs Uhr, und die Gaslampen brannten bereits, denn das einzige Fenster war klein und lag ziemlich hoch.
Sie musste nicht lange warten, bis sich die Tür erneut öffnete und Ryerson eintrat. Obwohl er müde und blass aussah und ohne das übliche makellose Hemd mit Krawatte recht ungepflegt wirkte, war er nach wie vor eindrucksvoll und hielt sich aufrecht. Die Angst, die sie in seinen Augen erkannte, als sich die Tür schloss und er auf sie zutrat, hatte ihn offenkundig nicht gebeugt.
»Guten Abend, Saville«, sagte sie mit beherrschter Stimme. »Nehmen Sie doch Platz. Ich möchte mir nicht den Hals ausrenken müssen, um Ihr Gesicht sehen zu können.«
»Warum sind Sie gekommen?«, fragte er mit trauriger Miene, als er mit leicht gesenkten Schultern ihrer Aufforderung nachkam. »Das hier ist kein Aufenthaltsort für Sie, und Sie schulden mir diesen Besuch auch nicht. Bestimmt gehört es nicht zu Ihren Kreuzzügen im Interesse sozialer Gerechtigkeit, dass Sie die Schuldigen aufsuchen.« Er mied ihren Blick nicht. »Und schuldig bin ich, Vespasia. Es war meine Absicht, gemeinsam mit Ayesha den Toten in den Park zu bringen und dort abzuladen. Ich hatte ihn ja schon auf die Schubkarre gelegt ... auch die Waffe habe ich vom Boden aufgehoben. Ich weiß Ihre Güte zu schätzen, aber ich fürchte, Sie deuten die Fakten falsch.«
»Großer Gott, Saville!«, verwies sie ihn. »Ich bin kein Dummkopf! Mir ist klar, dass Sie die Leiche dieses Burschen aufgehoben haben und so weiter! Thomas Pitt ist mein Großneffe — natürlich durch Heirat. Möglicherweise weiß ich mehr über den Fall als Sie selbst!« Befriedigt sah sie, dass er aufrichtig verblüfft wirkte.
»Und wessen Heirat war das, um alles in der Welt?«, fragte er.
»Dumme Frage — seine natürlich!«, gab sie zurück. »Meine wird es jawohl kaum gewesen sein!«
Ein Lächeln löste seine Züge, und sogar die Anspannung seiner Schultern ließ ein wenig nach. »Auch wenn Sie mir nicht helfen können, Vespasia, so bringen Sie doch Licht in meine Finsternis, und dafür danke ich Ihnen.« Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie über den zwischen ihnen stehenden Tisch hinweg berühren, überlegte es sich dann aber anders und zog die Hand zurück.
»Das freut mich, ist aber nebensächlich. Ich würde liebend gern etwas weit Nützlicheres tun, was eine dauerhaftere Wirkung hätte. Thomas ist nach Alexandria gereist, um zu sehen, was er dort über Ayesha Sachari und Edwin Lovat in Erfahrung bringen kann — sofern es da etwas zu erfahren gibt.« Sie sah, wie er sich erneut anspannte. »Haben Sie etwa Angst vor der Wahrheit?«
»Ganz und gar nicht!«, sagte er ohne zu zögern, fast bevor sie ihren Satz beendet hatte.
»Gut!«, fuhr sie fort. »Dann sollten wir die Dinge beim Namen nennen und auch unangenehmen Tatsachen nicht ausweichen. Wo haben Sie Miss Sachari kennen gelernt?«
»Wie?«, fragte er verblüfft.
»Saville!«, sagte sie ungeduldig. »Sie sind ein Mann von Mitte fünfzig, der dem englischen Kabinett angehört; die Frau ist Ägypterin und — wie alt, fünfunddreißig? Die Kreise, in denen Sie beide verkehren, berühren sich nicht, geschweige denn, dass sie sich überschneiden würden. Sie vertreten im Unterhaus den Wahlkreis Manchester, wo Baumwolle verarbeitet wird, während die Frau aus einem Teil Ägyptens kommt, in dem man Baumwolle anbaut. Stellen Sie sich nicht unwissend!«
Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte Haar. »Natürlich ist sie ursprünglich wegen der Baumwolle auf mich verfallen«, sagte er matt. »Und natürlich sollte ich dafür sorgen, dass die Industrie in Manchester vermindert wird und wir in ihrer Heimat investieren, damit die Leute dort ihre Baumwolle selbst spinnen und weben können. Würden Sie von einer ägyptischen Patriotin etwas anderes erwarten?« Er sah sie herausfordernd mit Augen an, die so dunkel brannten, als wären es die der Ägypterin.
Sie lächelte. »Ich habe weder etwas gegen Patrioten, Saville, noch gegen ihre Forderung, dem eigenen Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wäre ich an der Stelle dieser Frau, würde ich hoffentlich ihren Mut und die Leidenschaft aufbringen, das Gleiche zu tun. Doch wie gerecht eine Sache auch immer sein mag, so manches, was in ihrem Namen unternommen wird, lässt sich nicht rechtfertigen.«
»Sie hat Lovat nicht umgebracht«, stellte er sachlich fest.
»Vermuten Sie das, oder wissen Sie es?«, fragte sie.
Eine Weile hielt er dem stetigen Blick ihrer silbergrauen Augen stand, dann sah er beiseite. »Ich bin fest davon überzeugt, Vespasia. Sie hat mir geschworen, dass es sich so verhält. Wenn ich ihr nicht traue, bedeutet das, dass ich an allem zweifle, was ich liebe und schätze und was mir das Leben kostbar macht.«
Sie setzte zum Sprechen an, merkte dann aber, dass sie nichts hätte sagen können, was ihm helfen oder nützen konnte. Er war ein impulsiver Mensch, der seine Natur lange verleugnet hatte und jetzt, da der Damm gebrochen war, voll Leidenschaft liebte. »Wer war es dann?«, fragte sie stattdessen. »Und was ist der Grund?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab er ruhig zurück. »Aber bevor Sie mit der Vermutung kommen, jemand habe die Sache eingefädelt, damit ich mit Schande bedeckt zurücktreten muss, sollten Sie bedenken, dass das der Baumwollindustrie Ägyptens kaum nützen würde. Jeder, der mir im Amt folgt, dürfte weniger bereit sein, diesen Leuten zu helfen, als ich es war. Kein einzelner Mensch hat die Macht, eine ganze Industrie umzukrempeln, ganz gleich, wie dringend er das möchte. Mittlerweile hat Ayesha das wohl auch eingesehen, auch wenn sie anfangs gemeint hat, sie könne mich überreden, eine solche Reform in die Wege zu leiten.«
»Warum war sie dann nach wie vor hier in London?« Sofern Vespasia mit ihrem Besuch nicht nur Trost spenden, der ohnehin nicht länger vorhalten würde, als sie sich in diesem Raum befand, sondern etwas erreichen wollte, musste sie rücksichtslos sein.
»Es war mein Wunsch«, gab er zur Antwort. Dann fuhr er zögernd fort, als fürchte er mehr oder weniger, sie werde ihm nicht glauben: »Und ich bin überzeugt, dass sie mich ebenso aufrichtig liebt wie ich sie.«
Zu ihrer Überraschung zweifelte sie nicht an der Wahrheit seiner Worte, jedenfalls, was seine Gefühle betraf. In Bezug auf Miss Sachari war sie nicht so sicher, doch wie sie Ryerson ansah, wirkte er überzeugend, unerschütterlich und auf eine Weise sicher, dass sie sich gut vorstellen konnte, wie sich eine junge Frau angesichts eines so intensiven Gefühls über die Schranken von Alter, Kultur und gegebenenfalls sogar der Religion hinwegsetzte. Auch glaubte sie, dass Ryerson eher die Verhandlung vor dem Schwurgericht bis hin zu einer Verurteilung auf sich nehmen, als einen Vertrauensbruch an seiner Geliebten begehen würde. Er war schon immer ein Mann des Absoluten gewesen, seit sie ihn kannte, und dies Wesensmerkmal hatte sich im Laufe der Zeit nicht etwa abgeschwächt, sondern war eher noch mehr hervorgetreten. Zwar war er weiser geworden, weniger aufbrausend und reifer als in jungen Jahren, hatte gelernt, abgewogene Urteile zu fällen, doch wenn es darauf ankam, würde sein Herz stets über seinen Kopf bestimmen. Aus diesem Holz waren Märtyrer geschnitzt, Menschen, die sich für eine Sache aufopferten.
Was Pitt wohl in Alexandria finden mochte? Vermutlich nicht viel. Er kannte dort niemanden — verstand die Sprache nicht, wusste nichts von den Überzeugungen der Menschen, den verworrenen Beziehungen von Schuld und Hass zwischen ihnen, den Verbindungen, die Geld und Glaube stiften. Sofern Lovat oder die Frau nicht außergewöhnlich sorglos gewesen waren, dürfte es für einen ausländischen Polizeibeamten, der nicht einmal wusste, wonach er suchte, nicht viel zu finden geben.
Diese Überlegung veranlasste sie zu der Frage, warum Narraway ihn dorthin geschickt haben mochte. Welchen Zweck verfolgte er damit, dass sich Pitt in Alexandria aufhielt – oder ging es eher darum, dass er ihn nicht in London haben wollte?
Sie blieb eine weitere Viertelstunde bei Ryerson, erfuhr aber weiter nichts, was ihr hätte nützen können. Statt ihm mit heuchlerischen Worten Trost zu spenden, fragte sie lediglich, ob sie ihm etwas schicken könne, um ihm das Leben dort etwas erträglicher zu machen.
»Nein, danke«, sagte er sofort. »Ich habe alles, was ich brauche. Aber ... aber es wäre mir äußerst lieb, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass Ayesha etwas bekommt, was ihre Lage erleichtert. Zumindest saubere Wäsche, Toilettenartikel ... Ich — eine andere Frau hätte ...«
»Selbstverständlich«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich nehme zwar nicht an, dass man mich zu ihr lässt, werde ihr aber diese Dinge schicken lassen. Da ich mir gut vorstellen kann, was ich in einer solchen Situation gern hätte, werde ich dafür sorgen, dass sie es bekommt.«
Erleichterung zeigte sich auf seinen Zügen. »Danke ...« Seine Stimme versagte vor Rührung. »Ich bin Ihnen zutiefst ...«
»Ach was!«, tat sie seinen Dank ab. »Das ist doch nicht der Rede wert.« Sie war bereits aufgestanden. »Ich höre, dass man kommt, um mich zu holen.« Sie sahen einander in die Augen. Sie wollte noch etwas sagen, aber die Worte erstarben ihr im Mund. Mit einem Lächeln wandte sie sich zum Gehen.
Es kostete sie einen ganzen Tag, ein wenig Schmeichelei und einen Großteil ihres betörenden Charmes, bis sie nach aufwändigen Nachforschungen – in deren Verlauf sie wieder die eine oder andere alte Dankesschuld eintreiben musste — wusste, wo sie Victor Narraway finden und wie sie es so einrichten konnte, dass sie bei einem Empfang mit ihm zusammentraf. Ursprünglich hatte sie die Absicht gehabt, nicht hinzugehen, und es war ihr unangenehm, dass sie einen Vorwand erfinden musste, um ihre Absage der Einladung rückgängig zu machen.
Wegen dieser unbehaglichen Situation war sie der Ansicht, sie müsse sich entweder sehr unauffällig und konservativ oder so gewagt und schockierend wie möglich kleiden. Mochte man sich ruhig das Maul über ihren Sinneswandel zerreißen ... Vermutlich würde ihr Gespräch mit Narraway weniger Aufmerksamkeit erregen und man sie weniger unterbrechen, wenn sie sich für zurückhaltende, gedämpfte Farben entschied, doch auffallen würde sie auf jeden Fall, ganz gleich, was sie trug. So entschied sie sich für die andere Möglichkeit und ließ sich von ihrer Zofe ein indigofarbenes Seidenkleid herauslegen, das sie für eine ganz besondere Gelegenheit gekauft hatte. Der Stoff war so fein, dass er in der Luft zu schweben schien, und der tiefe Ausschnitt war wie die Taille in einem mittelalterlichen Vorbildern nachempfundenen, üppigen Muster mit Silberfaden und Perlen bestickt. Als einzigen Schmuck würde sie Perlenohrringe dazu tragen.
Während sie sich vor dem Spiegel betrachtete, war sie selbst von dem Eindruck überrascht, den sie machte. Gewöhnlich entschied sie sich für aristokratische Zurückhaltung: Satin und Spitze in neutralen Tönen, die zu ihrem silbernen Haar und ihren hellen Augen passten. Doch das hier war großartig, wirkte mit seiner einfachen Linie atemberaubend, und die dunkle Farbe war wie ein Flüstern der Nacht, elementar und geheimnisvoll.
Sie traf unbeabsichtigt ziemlich spät ein, und ihr Eintreten erregte beträchtliches Aufsehen. So auffällig in Erscheinung zu treten entsprach nicht ihrer Gewohnheit. Sie hatte die Zeit für die Fahrt zu großzügig kalkuliert und, da sie auf keinen Fall zu früh kommen wollte, ihren Kutscher angewiesen, einmal um den Hyde Park zu fahren. Wegen eines Verkehrsunfalls — vermutlich hatte eine Kutsche ein Rad verloren oder dergleichen – war die Straße versperrt, und so war sie später eingetroffen als geplant.
Während sie allein in den Raum trat, erstarben alle Gespräche mit einem Schlag. Manche der Gäste, vor allem Männer, starrten sie ungeniert an. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob es ein Fehler gewesen war, sich für das Kleid zu entscheiden. War sie für einen solch üppigen Farbton vielleicht zu blass?
Sie sah, wie der Prinz von Wales die Augen aufriss — erst vor Verblüffung, dann aber voll Billigung. Ein jüngerer Mann an seiner Seite, den sie nicht kannte, räusperte sich, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Die Gastgeberin begrüßte sie und stellte sie nach wenigen Minuten dem Prinzen vor. Offensichtlich hatte er den Wunsch geäußert, mit ihr zu sprechen. Zwar kannten sie einander schon seit vielen Jahren, doch liefen solche Begegnungen nach wie vor nach allen Regeln des Hofzeremoniells ab. Man konnte nicht einfach auf einen Kronprinzen zugehen, das ziemte sich nicht.
Es dauerte über eine Stunde, bis sie eine Möglichkeit fand, ohne Zeugen mit Victor Narraway zu sprechen.
Mit den Worten: »Guten Abend, Victor«, trat sie auf ihn zu und legte mit dieser Begrüßung die Bedingungen fest, unter denen das Gespräch ablaufen würde. Auch wenn sie ihn nicht besonders gut kannte, war ihr durchaus klar, wer er war und was man in den höchsten politischen Kreisen von seinen Vorzügen und Nachteilen hielt. Doch über den Privatmann wusste sie kaum etwas, zumal er zu den Menschen gehörte, die sich nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit heraushielten. Wichtig war er ihr wegen Ryerson und, wie sie sich jetzt eingestand, mehr noch, weil Thomas Pitts Zukunft in seinen Händen lag.
»Guten Abend, Lady Vespasia«, gab er zurück. Auch wenn sein Blick leicht belustigt wirkte, erkannte sie darin waches Misstrauen. Er war nicht von so schlichtem Gemüt, dass er angenommen hätte, ihre Begegnung sei ein bloßer Zufall.
Es gab keine Zeit zu verlieren. Jeden Augenblick musste sie damit rechnen, dass andere Gäste zu ihnen traten. »Ich war gestern bei Saville Ryerson«, begann sie. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Geringsten. »Er wird Ihnen nichts sagen, und zwar vermutlich zum Teil einfach deshalb, weil er nichts weiß. Die Annahme, die Frau könnte versucht haben, ihn in der Hoffnung zugrunde zu richten, dass ein anderer seine Stelle einnehmen würde, der den Interessen Ägyptens wohlwollender gegenübersteht, ergibt keinen Sinn. Ein solcher Mensch existiert nicht, und das muss ihr ebenso klar gewesen sein wie uns.«
»Gewiss«, gab er ihr Recht. Sofern er den Wunsch verspürte zu erfahren, was sie von ihm wollte, würde er nie und nimmer zulassen, dass sie das merkte. Er blieb höflich interessiert, wie sich das gegenüber einer älteren Dame gehört, die einen hohen gesellschaftlichen Rang einnimmt, aber davon abgesehen nicht weiter bedeutend ist.
Das ärgerte sie. »Behandeln Sie mich nicht wie einen Trottel!«, sagte sie leise, aber mit schneidender Schärfe in der Stimme. »Ich weiß, dass Sie Thomas nach Alexandria geschickt haben. Was zum Kuckuck versprechen Sie sich davon? Da liegt doch die Vermutung nahe, dass er Ihnen hier in London im Wege war.« Befriedigt sah sie, dass sich sein Körper kaum wahrnehmbar anspannte.
»Lovat und die Sachari kannten einander aus Alexandria«, sagte er. Die Worte klangen harmlos, doch sein Blick drang tief in ihre Augen. Unübersehbar wollte er erkunden, welchen Zweck sie verfolgte. »Diesem Punkt nicht nachzugehen wäre ein unentschuldbares Versäumnis.«
»Und was soll er da ermitteln?«, fragte sie mit leicht gehobenen Brauen. »Dass die beiden eine Affäre hatten? Das nimmt doch ohnehin alle Welt an. Ryerson liebt sie, und ich vermute, dass er keinen Wert darauf legt, etwas über ihre früheren Bewunderer zu erfahren. Andererseits ist er nicht so naiv zu glauben, es hätte keine gegeben.«
Sie verstummte, als eine zierliche Dame in einem pfirsichfarbenen Seidenkleid an der Seite eines Herrn mit Stirnglatze an ihnen vorüberkam.
Narraway lächelte in sich hinein, bewahrte aber nach außen hin vollkommene Haltung.
Vespasia wünschte, dass sie ihn besser gekannt hätte. Seine Unzugänglichkeit war herausfordernd. Sie überlegte, dass sie ihn in jüngeren Jahren wohl recht anziehend gefunden hätte. Diese Vorstellung belustigte sie. Hinter seiner kalten Intelligenz verbargen sich Gefühle, doch wusste sie nicht, welcher Art sie waren. Gehörte er zu den Menschen, die den Mut haben, zu ihren Ansichten zu stehen? Wegen der Macht, die er über Pitt hatte, war ihr die Antwort auf diese Frage wichtig.
»Wenn Sie vermuten, es könnte einen Skandal gegeben haben, der Lovat in den Stand gesetzt hat, sie zu erpressen«, fuhr sie fort, als sie wieder allein waren, »hätten Sie eine briefliche Anfrage an die britischen Behörden in Alexandria schicken können. Sicherlich sind diese Leute imstande, das für Sie zu ermitteln und Ihnen die entsprechende Mitteilung zu machen. Sie kennen nicht nur die Sprache des Landes, sondern auch die Stadt und ihre Bewohner, außerdem haben sie Kontakte zu der Art von Menschen, die solche Informationen liefern können.«
Narraway holte Luft, als wolle er ihr widersprechen, sah sie dann aber aufmerksam an und sagte lediglich: »Das kann schon sein. Aber diese Leute würden ausschließlich Fragen beantworten, die ich ihnen ausdrücklich stelle. Pitt hingegen findet unter Umständen Antworten auf Fragen, die mir nicht eingefallen sind.«
»Ah ...« Sie glaubte ihm, zumindest in Bezug auf das, was er ausgesprochen hatte. Ihr war klar, dass er manches nicht sagte, aber wenn sie imstande gewesen wäre, ihm etwas darüber zu entlocken, hieße das, dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Dies Bewusstsein würde in ihr eine tiefe und dauerhafte Angst hervorrufen.
Allmählich trat ein Lächeln auf seine Züge. Es wirkte so bezaubernd, dass sie sich wunderte und insgeheim überlegte, ob er je so viel Liebe für eine Frau empfunden hatte, dass diese eine Möglichkeit hatte, durch die dicke Schicht des Selbstschutzes zu der dahinter liegenden Persönlichkeit vorzudringen, und falls ja, was für eine Frau das gewesen sein mochte.
»Und hier in London ziehen Sie natürlich Ihre Erkundigungen über Ryerson und Lovats andere Kontakte ein oder lassen das einen anderen machen«, sagte sie. »Man fragt sich, ob er für diese Aufgabe geeigneter ist als Thomas – oder ob er sie weniger gut durchführt als er seine in Alexandria.« Sie sagte das nicht im Frageton, weil ihr klar war, dass er ihr darauf keine Antwort geben würde.
Sein Lächeln veränderte sich nicht, aber seine Anspannung nahm wieder ein wenig zu. Vielleicht kam ihr das wegen seiner völligen Reglosigkeit auch nur so vor. »Das ist eine delikate Angelegenheit«, sagte er so leise, dass sie es kaum hörte. »Bezüglich dessen, dass es keinerlei Sinn ergibt, wenn wir nur von dem ausgehen, was wir bisher wissen, stimme ich völlig mit Ihnen überein. Lovat war ein Niemand. Der Versuch, Miss Sachari zu erpressen, könnte sich unter Umständen gelohnt haben, aber ich bezweifle sehr, dass sich Ryerson in seinen Empfindungen für sie hätte beeinflussen lassen, ganz gleich, was ihm ein Mann wie Lovat gesagt hätte. Damit hätte Lovat eher erreicht, dass man ihm den Prozess gemacht oder ihn einfach aus dem diplomatischen Dienst entlassen hätte. In einem solchen Fall wäre er nirgendwo wieder untergekommen, und wahrscheinlich hätten ihn sogar seine Klubs ausgeschlossen. Er hatte sich ohnehin schon mehr als genug Feinde gemacht. Auch lässt sich Miss Sacharis Vaterlandsliebe zwar leicht verstehen, doch setzt die Annahme, sie könne die britische Ägyptenpolitik beeinflussen, ein Ausmaß an Einfalt voraus, wie man es bei einer klugen Frau, die sich längere Zeit hier in London aufgehalten hat, nicht erwarten darf.«
»Genauso ist es«, stimmte Vespasia zu und ließ sich nicht die kleinste Regung in seinem Gesicht entgehen.
»Daher muss ich überlegen«, sagte er finster und in einem Flüstern, das kaum mehr war als ein Seufzer, »welche Sache, die wir noch nicht in Erwägung gezogen haben, es wert ist, dafür zu morden und den Galgen zu riskieren.«
Vespasia gab ihm keine Antwort darauf. Sie hatte diesem Gedanken auszuweichen versucht, doch jetzt zeichnete er sich in ihrem Kopf ebenso finster und unausweichlich ab wie in dem Victor Narraways.