KAPITEL 5
Charlotte dachte oft an Martin Garvie und überlegte, was ihm zugestoßen sein mochte. Ihr war bekannt, dass Dienstboten nicht selten ein unangenehmes oder gar tragisches Schicksal erlitten, aber auch, dass so mancher sein Missgeschick selbst über sich brachte. Dass Tilda große Stücke auf ihren Bruder hielt, ging zum Teil auf ihre Geschwisterliebe und zum Teil darauf zurück, dass eine junge Frau, die so wenig Lebenserfahrung hatte wie sie, der Welt mitunter recht treuherzig gegenüberstand. Um ihrer selbst willen hätte ihr Charlotte auch gar nichts anderes gewünscht. Obwohl sie etwa in Gracies Alter sein musste, hatte sie nichts von deren Lebhaftigkeit oder Wissbegierde an sich. Womöglich war ihr die bittere Erfahrung des Lebens auf der Straße erspart geblieben, das Gracie in früher Jugend geprägt hatte. Ob Martin sie davor bewahrt hatte?
Charlotte saß mit Gracie in der Küche. Pitt hatte das Haus vor weniger als einer Stunde verlassen.
»Was soll’n wir nur mach’n?«, fragte Gracie beklommen mit einer Mischung aus Respekt und Entschlossenheit. Zwar war sie gewillt, sich durch nichts von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, doch war ihr klar, dass sie dabei auf Charlottes Unterstützung angewiesen war. Sie schämte sich, Tellman vor den Kopf gestoßen zu haben, war verwirrt und empfand zum ersten Mal leise Furcht vor ihren Gefühlen.
Charlotte bemühte sich eifrig, einen Fettfleck aus Pitts Jackett zu entfernen. Dazu hatte sie bereits ein feines Pulver aus zermahlenen Schafsfüßen hergestellt. Davon, wie auch von anderen Bestandteilen, aus denen sich Reinigungsmittel machen ließen, hatte sie gewöhnlich einen gewissen Vorrat im Haus: Kerzenstümpfe, Kalk, den Saft von Sauerampfer, Zitronen und Zwiebeln sowie – saubere – Hornspäne von Pferdehufen. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit und betupfte den Fleck mit einem mit Terpentin getränkten Lappen. Während sie sprach, sah sie Gracie nicht an, um ihren Worten die Schwere zu nehmen.
»Vermutlich sollten wir als Erstes noch einmal mit deiner Freundin Tilda sprechen«, sagte sie und nahm das Pulver, das ihr Gracie reichte. Sie schüttete ein wenig davon auf den feuchten Fleck und beäugte ihn kritisch. »Es wäre hilfreich, wenn sie uns ihren Bruder beschreiben könnte.«
»Wir suchen also nach Martin?«, fragte Gracie überrascht. »Wo fangen wir an? Er könnte sonstwo sein, weit weg ... vielleicht sogar...« Sie hielt inne.
Charlotte wusste, dass sie hatte sagen wollen, er könne tot sein. Auch sie hatte schon an diese Möglichkeit gedacht. »Es ist nicht einfach, sich nach jemandem zu erkundigen, von dem man nicht weiß, wie er aussieht«, sagte sie und entfernte das Pulver mittels einer kleinen harten Bürste. Jetzt sah die Stelle schon besser aus. Noch ein Durchgang, und das Jackett wäre wieder sauber. »Außerdem würden die Leute dann annehmen, dass wir ihn nicht kennen«, fügte sie mit leichtem Lächeln hinzu. »Das stimmt zwar, aber die Wahrheit wirkt nicht immer besonders überzeugend.«
»Ich kann Tilda holen, damit sie’s uns sagt«, erbot sich Gracie rasch. »Sie macht ihre Besorgungen meistens um dieselbe Zeit.« Dann verzog sie schmerzlich das Gesicht. »Aber bestimmt will se nich herkomm’n, damit se ihre Stellung nich verliert. Wer rausfliegt un selber schuld is, findet so leicht nix. Un falls Martin was passiert is ...«
»Ich komme mit«, unterbrach Charlotte sie.
Gracie machte große Augen. Offensichtlich war es Charlotte ernst mit ihrer Bereitschaft zu helfen, sonst würde sie nicht mit ihr durch die Straßen ziehen und warten, bis ein fremdes Dienstmädchen vorbeikam. Das war nicht nur ein außerordentlicher Freundschaftsbeweis, es zeigte auch deutlich, dass Charlotte überzeugt war, Martin Garvie könne in großer Gefahr schweben.
»Um welche Zeit ist Tilda denn unterwegs?«
»So um diese Zeit«, sagte Gracie.
»Dann gieß bitte noch etwas Wasser in den Topf mit der Gemüsebrühe, und rück ihn auf die Seite, damit er nicht durchbrennt. Danach können wir gehen.«
Mit einem Blick auf Pitts Jackett sah Gracie Charlotte fragend an. »Das mache ich fertig, wenn wir zurück sind«, sagte sie, wischte sich die Hände an der Schürze ab und hängte sie an die Tür. »Hol deinen Mantel.«
Es dauerte fast eine Stunde, bis Tilda endlich kam. Erst als Gracie sie zweimal angesprochen hatte, fiel ihr auf, dass jemand das Wort an sie gerichtet hatte, so sehr war sie in ihre Gedanken vertieft.
»Ach, du bist das!«, sagte sie erleichtert, und die Sorgenfalten schwanden aus ihrem Gesicht. »Ich bin ja so froh, dich zu seh’n! Hast du schon was rausgekriegt? Nein? Na klar, is wohl noch zu früh. War dumm von mir zu frag’n. Ich hab auch noch kein Wort gehört.« Wieder bildeten sich die Falten, und Tränen traten ihr in die Augen. Es kostete sie offensichtlich alle Willenskraft, Haltung zu bewahren.
»Komm mit«, forderte Gracie sie auf, nahm sie beim Arm und führte sie einige Schritte beiseite, aus dem Strom der Fußgänger heraus. »Ich hab Mrs Pitt mitgebracht. Se muss dich Verschiedenes frag’n, weil se dir helfen will.«
Mit großen ängstlichen Augen sah Tilda zu Charlotte hin, die jetzt neben die beiden getreten war.
»Guten Morgen, Tilda. Können Sie eine halbe Stunde erübrigen, ohne dass Ihre Herrschaft ungehalten wird? Ich wüsste gern ein wenig mehr über Ihren Bruder, damit wir besser nach ihm suchen können.«
Einen Augenblick lang wusste Tilda nicht, was sie sagen sollte, dann aber zeigte sich, dass ihre Angst stärker war als ihre Schüchternheit. »Ja, Ma’am. Ich bin sicher, es is nich so schlimm, wenn ich sag, dass es mit Martin zu tun hat. Ich hab denen schon gesagt, dass er verschwund’n is.«
»Gut«, sagte Charlotte. »Das dürfte angesichts der Umstände das Klügste sein.« Sie hob den Blick zum mit Wolken verhangenen grauen Himmel. »Ich denke, es spricht sich besser bei einer Tasse heißem Tee.« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich um und ging in einen kleinen Bäckerladen voraus, der auch Erfrischungen feilbot. Als sie sich zu Tildas Erstaunen an einen Tisch gesetzt hatten, bestellte sie Tee und warmes Gebäck dazu.
»Wie alt ist Ihr Bruder?«, fragte sie.
»Dreiundzwanzig«, antwortete Tilda.
Charlotte war beeindruckt. Für einen Kammerdiener war das bemerkenswert jung. Immerhin handelte es sich dabei um eine Vertrauensstellung, für die man außerdem gewisse Kenntnisse brauchte. In diesem Alter war ein junger Diener normalerweise höchstens Lakai. Entweder stand er schon seit früher Kindheit im Dienst, oder er besaß eine ungewöhnlich gute Auffassungsgabe.
»Wie lange ist er schon im Hause Garrick?«, fragte sie weiter.
»Da is er mit siebzehn hingekomm’n«, sagte Tilda. »Vorher war er Stiefelputzer bei den Furnivals. Weil die keine zwei Lakaien brauchen konnt’n, hat er sich ’ne and’re Stellung gesucht un sich dabei sogar verbessert. Angefangen hat er bei den Garricks als Lakai, aber Mr Stephen is gleich gut mit ihm zurechtgekomm’n.« Stolz lag in ihrer Stimme. Unwillkürlich setzte sie sich bei diesen Worten ein wenig aufrechter hin und straffte die schmalen Schultern.
»Dann muss er seine Arbeit wohl sehr gut tun«, sagte Charlotte und sah, wie Tilda dankbar lächelte. »Wissen Sie, ob er dort glücklich war?«
Tilda beugte sich ein wenig vor. »Aber ja! Das is es ja grade ... Er hat nie gesagt, dass jemand mit ’m unzufried’n war. Das hätt ich gewusst. Wir ha’m uns immer alles gesagt.«
Zwar war Charlotte davon überzeugt, dass das für Tilda galt, die Jüngere und bei weitem Abhängigere der beiden, während es ohne weiteres möglich war, dass ihr Bruder manches für sich behielt. Doch würde es zu nichts führen, der jungen Frau gegenüber solche Erwägungen anzustellen. Stattdessen fragte sie: »Wie sieht er aus?«
»So ungefähr wie ich«, gab sie zur Antwort. »Natürlich größer un breiter, aber Augen un Haare sind wie bei mir un die Nase auch.« Sie wies auf ihr hübsches Gesichtchen.
»Aha. Das hilft uns sicher weiter. Können Sie uns noch etwas über ihn mitteilen, was für uns wichtig sein könnte?«, fragte Charlotte. »Gibt es eine junge Dame, die er bewundert – oder vielleicht eine, die ihn bewundert?«
»Sie meinen, eine hätt ’n Auge auf ihn geworfen un verrückt gespielt, wie er se nich wollte?«, fragte Tilda. Ein Schauer überlief sie.
Die Bedienung brachte den Tee und das Gebäck. Charlotte goss den Tee ein und forderte die beiden jungen Frauen auf zuzulangen. Als die Bedienung gegangen war, sagte sie: »Möglich wäre das. Wir müssen sehr viel mehr in Erfahrung bringen. Da man im Hause Garrick offensichtlich nicht bereit ist, uns Auskunft zu geben, müssen wir auf eigene Faust festzustellen versuchen, was geschehen ist, und das so bald wie möglich. Da Sie dort nach einer Erklärung gefragt haben, kennt man Sie dort bereits. Am besten dürfte es sein, nicht wieder hinzugehen, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Ich kenne die Garricks nicht – aber das ließe sich möglicherweise ändern. Gracie, es sieht ganz so aus, als ob du den Anfang machen müsstest.«
»Wie soll ich das anstell’n?«, fragte Gracie, die gerade von ihrem Gebäck abbeißen wollte. In ihrer Stimme mischten sich Entschlossenheit und Furcht. Sie bemühte sich, nicht zu Tilda hinzusehen.
Trotz allen Kopfzerbrechens war Charlotte noch kein Einfall gekommen. »Darüber reden wir zu Hause«, sagte sie. Falls Gracie gemerkt hatte, dass sie selbst noch nicht wusste, wie sie vorgehen sollten, würde sie das vor Tilda auf keinen Fall zeigen. »Noch etwas Tee?«, fragte sie.
Sie aßen das Gebäck auf, und Charlotte bezahlte. Kaum waren sie draußen, als Tilda, der wohl zu Bewusstsein kam, wie lange sie fort gewesen war, beiden eilig dankte und sich verabschiedete. So viel Zeit, wie sie da im Gespräch verbracht hatte, ließ sich mit keinem noch so langen Schlangestehen bei ihren Besorgungen erklären.
»Wie soll ich denn in das Haus kommen und die Leute fragen?«, wollte Gracie wissen, als sie mit Charlotte allein war. An der Art, wie sie fast um Verzeihung für ihre Frage bat, als sei ihr klar, dass sie Charlotte damit unabsichtlich Ungelegenheiten bereitete, ließ sich erkennen, dass auch ihr noch nichts eingefallen war.
»Nun, mit der Wahrheit kommen wir unter keinen Umständen zum Ziel«, erklärte Charlotte und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, während sie weiter der Keppel Street entgegenstrebten. »Das ist wirklich schade, denn die kann man sich am leichtesten merken. Wir werden uns also etwas ausdenken müssen.« Sie vermied das Wort ›lügen‹. Da sie im Dienst einer höheren Wahrheit handelten, konnte ihrer Ansicht nach von einer wirklichen Täuschung keine Rede sein.
»Ich hab nix dageg’n, denen was aufzutisch’n«, formulierte Gracie ihre eigene Haltung, »aber wie soll ich nur da reinkomm’n? Ich hab schon hin un her überlegt, aber mir fällt nix ein. Wenn mir Tellman doch nur glau’m würde, dass hier tatsächlich was faul is! Ich weiß, er is ’n Dickkopf, aber das is ja schlimmer wie wenn man ’n Maultier rückwärts vor ’n Wag’n treibt, um ’s anzuschirr’n! Mein Opa hat Kohl’n ausgefahr’n, der hatte so’n Maultier. So’n störrisches Vieh wie das hat die Welt noch nich geseh’n. Man hätte glau’m könn’, dass dem die Hufe am Bod’n festgeklebt war’n.«
Charlotte musste über den Vergleich lächeln, doch auch ihr fiel nichts ein. Als sie auf der Francis Street um die Ecke bogen, wehte ihnen mit einem Mal der Wind ins Gesicht. Hastig griff ein Zeitungsjunge nach seiner Reklametafel, die bedenklich schwankte und auf ihn zu fallen drohte. Gracie eilte hin und half ihm.
»Danke, Frollein«, sagte er zu Gracie und bemühte sich, die Tafel wieder gerade hinzustellen. Charlotte warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, die Gracie davor bewahrt hatte, davongeweht zu werden.
»Da steht nix Gutes drin, gnä’ Frau«, sagte der Junge und verzog angewidert das Gesicht. »Die Cholera is jetz auch in Wien. Der Franzmann kämpft in Mada-irgendwas und behauptet, schuld da dran wär’n uns’re Missionare, also wir Engländer.«
»Madagaskar?«, riet Charlotte.
»Ja ... könnte sein«, sagte er. »Zwanzig Tote bei ’nem Zugunglück in Frankreich, un das grade jetz, wo se ’ne neue Eisenbahn von Jaffa – keine Ahnung wo das liegt – nach Jerusalem eröffnet ha’m. De Russ’n ha’m Kanadier verhaftet, die Robb’n geklaut ha’m soll’n oder so. Woll’n Se eine?«, fragte er mit hoffnungsvoller Stimme.
Lächelnd hielt ihm Charlotte eine Münze hin und nahm das oberste Exemplar vom Stapel, das beträchtlich zerknittert war.
»Recht hat er«, sagte Gracie finster. »Da steht nix Gutes drin.« Sie wies auf die Zeitung in Charlottes Hand. »Immer nur Krieg un so’n Unsinn!«
»Offenbar betrachten wir nur solche Dinge als Nachrichten«, gab ihr Charlotte Recht. »Das Gute ist, wie es scheint, nicht berichtenswert.« Sie hatte unterwegs immer wieder über die Frage nachgedacht, wie man Gracie Zutritt zum Haus der Familie Garrick verschaffen könnte. Allmählich zeichnete sich ein Plan ab. »Gracie ...«, sagte sie zögernd. »Wenn Tilda krank wäre und du nicht wüsstest, dass Martin nicht mehr dort ist, wäre es da nicht das Natürlichste, dass du hingingest, um ihm zu berichten, wie es seiner Schwester geht? Vielleicht ist sie so krank, dass sie nicht schreiben kann – wenn sie es überhaupt kann.«
Gracies Augen leuchteten auf, und ein leichtes Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Ja! Das würd ’ne Freundin wohl mach’n, nich wahr? Tilda is plötzlich schwer krank geword’n, un ich soll das dem armen Martin sag’n, damit er se besuch’n kommt. Weil wir beide gute Freundinnen sind – das stimmt ja auch –, weiß ich, wo er arbeitet. Am besten geh ich so bald wie möglich hin, was? Ich hab das gehört, meine Herrschaft gefragt, ob ich mal schnell weg darf, un weil die Gnädige Verständnis hat, sagt sie, ich soll das gleich mach’n!« Mit einem Mal erhellte ein breites Lächeln ihr schmales Gesicht und ließ sie erstaunlich unternehmungslustig wirken.
»Ja«, stimmte Charlotte zu, die unwillkürlich den Schritt beschleunigt hatte. Wieder ging es um eine Straßenecke, wo der Wind sie erfasste, sodass ihre Röcke wehten und die Blätter der Zeitung unter ihrem Arm hin und her gezerrt wurden. »Je eher du gehst, desto besser. Die Hausarbeit kann warten.«
Sicher war es das Beste, sofort etwas zu unternehmen, denn die Dinge würden durch Abwarten bestimmt nicht besser. Sie hatte die Pflicht, diese Aufgabe für Tilda zu erledigen – und natürlich für Martin. Wenn es nur nicht schon zu spät war! Eine halbe Stunde darauf machte sich Gracie auf den Weg, durch eine weitere Tasse Tee gestärkt. Sie war außerordentlich nervös und fürchtete so sehr, etwas falsch zu machen, dass ihr flau im Magen wurde. Ganz bewusst langsam ein- und ausatmend, übte sie, ihre auswendig gelernten Sätze sorgfältig auszusprechen, um nicht über die Wörter zu stolpern. Sie zog den Mantel noch einmal gerade, schluckte kräftig und klopfte dann am Dienstboteneingang des Hauses am Torrington Square.
Sie hatte sich genau zurechtgelegt, was sie sagen wollte, sobald sich die Tür öffnete. Doch sie musste noch einmal klopfen, lauter als beim vorigen Mal. Als die Tür endlich aufging, wäre sie fast ins Haus gefallen. Mit Mühe gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten. Lediglich zwei Handbreit vor ihr stand die Spülmagd, eine hellhäutige junge Frau, einen halben Kopf größer als sie, deren Haar sich aus den Nadeln gelöst hatte.
Sie setzte zum Sprechen an und schüttelte dabei den Kopf. »Wir ha’m nix ...«
»Guten Tag«, sagte Gracie im selben Augenblick und sprach weiter, als die andere innehielt. Auf keinen Fall durfte sie sich abweisen lassen. »Ich hab ’ne wichtige Mitteilung. Tut mir Leid, dass ich so kurz vor Mittag stör. Ich weiß, dass da schrecklich viel zu tun is, aber ich muss es unbedingt sag’n.« Sie brauchte keine Besorgtheit vorzuspiegeln. Die Tiefe ihrer Empfindung war wohl in jedem ihrer Züge zu erkennen, denn sogleich zeigten sich Wohlwollen und Mitgefühl auf dem Gesicht der anderen.
»Komm doch rein«, forderte sie Gracie auf und trat beiseite.
Gracie wusste die Großzügigkeit dieser Geste zu schätzen und bedankte sich artig. Das war ein guter Anfang, genau gesagt die einzige Möglichkeit, wenn es überhaupt weitergehen sollte. Sie lächelte die andere schüchtern an. »Ich heiß’ Gracie Phipps. Ich komm’ aus der Keppel Street, gleich um die Ecke. Damit hat das aber nix zu tun. Es geht um was ganz anderes.« Sie sah sich in der gut gefüllten Vorratskammer um: Zwiebelzöpfe hingen von der Decke, Säcke mit Kartoffeln standen am Boden, und feste Weißkohlköpfe sowie verschiedene Wurzelgemüse lagen ordentlich auf Lattengestellen. Haken an den Wänden trugen an ihren Henkeln aufgehängte große Kochgefäße, und am Boden standen in einer Ecke Krüge, die verschiedene Arten von Essig, Öl und möglicherweise Kochwein enthalten mochten.
»Ich heiß’ Dorothy«, erklärte die andere. »Meine Mama hat mich Dora gerufen, aber hier sag’n alle Dottie. Das stört mich aber nich weiter. Zu wem willst du denn?«
Gracie öffnete und schloss die Augen, als müsse sie gegen ihre Tränen kämpfen. Sie konnte unmöglich sofort den Namen Martin Garvie nennen, sonst würde man ihr rundheraus mitteilen, er sei nicht da, und sie fortschicken. Das brächte sie keinen Schritt weiter. Vielleicht war hier ein wenig Schauspielerei am Platze. »Es geht um meine Freundin Tilda«, sagte sie. »Die is schwer krank un hat sons kein’ Mensch’n. Von ihrer ganz’n Verwandtschaft lebt nur noch der Bruder, un dem muss ich das sag’n, bevor ...« Sie hielt inne. Sie wollte nicht so weit gehen zu behaupten, dass Tilda im Sterben liege, solange es nicht unerlässlich war, aber sie hatte nichts dagegen, wenn man ihre Worte so auslegte. Wo es keine andere Möglichkeit gab, waren alle Mittel erlaubt!
Im Stillen hoffte sie, Tilda möge, als sie sich dort nach Martin erkundigt hatte, so elend ausgesehen haben, dass ihre schwere Krankheit glaubwürdig war.
»Ach je«, sagte Dottie voll Mitgefühl. »Wie schrecklich!«
»Ich muss es ihm unbedingt sag’n«, wiederholte Gracie. »Die beid’n haben nur noch sich. Bestimmt nimmt ’n das schrecklich mit ...« Sie überließ es der Vorstellungskraft der anderen, sich das Bild auszumalen.
»Is ja klar«, gab ihr Dottie Recht und ging die Stufen zur Küche empor, von wo aus Wärme und angenehme Gerüche zu ihnen herübergeweht waren. »Komm mit und trink ’n Schluck Tee. Du siehs ja ganz mitgenommen aus.«
»Danke«, nahm Gracie die Einladung an. »Herzlichen Dank.« Zwar fror sie nicht – der Tag war herrlich, und sie war kräftig ausgeschritten –, aber die Angst, die in ihr aufgestiegen war, ließ sie wohl so verkrampft aussehen, als wenn ihr kalt wäre. Sie hatte ins Haus gelangen wollen, um sich ein Bild machen zu können, und der erste Schritt dazu war getan. Sie folgte Dottie die hölzernen Stufen empor in eine große Küche. Ein Trockengestell war hoch an die Decke gezogen, an dem zur Zeit lediglich Geschirrtücher und mehrere Büschel getrockneter Kräuter hingen. Schimmerndes Kupfergeschirr an den Wänden verbreitete einen warmen Glanz.
Die rundliche Köchin, die wohl gern probierte, was sie zubereitete, brummte etwas vor sich hin, während sie in einer außen braun und innen weiß glasierten Steingutschüssel einen Teig rührte. Sie hob den Blick, als Gracie ängstlich eintrat.
»Was ha’m wir denn da?«, fragte sie und sah sie mit ihren Knopfaugen an. »Wir brauchen keine Haushaltshilfe, un wenn aber doch, kümmern wir uns da selber drum. Du siehs j a aus wie ’n Strich in der Landschaft. Kriegst du eigentlich nix zu ess’n?«
Rasch schluckte Gracie die schlagfertige freche Erwiderung herunter, die ihr schon auf der Zunge lag – für diesen Akt der Selbstverleugnung würde Tilda ihr noch etwas schulden!
»Ich such keine Arbeit, Ma’am«, sagte sie respektvoll. »Ich hab ’ne gute Stellung als Dienstmädchen bei Herrschaft’n in der Keppel Street und kümmer mich da um das and’re Personal un zwei Kinder.« Zwar übertrieb sie damit, denn lediglich der Frau, die zum Putzen ins Haus kam, durfte sie Anweisungen erteilen, doch empfand sie das nicht als wirkliche Lüge. Befriedigt sah sie, wie der Ausdruck von Ungläubigkeit auf das Mondgesicht der Köchin trat. »Ich bring nur ’ne Nachricht«, sagte sie rasch.
»’ne Freundin von ihr liegt im Sterben, Mrs Culpepper«, fügte Dottie hilfsbereit hinzu. »Gracie will das dem Bruder sagen.«
»Im Sterben?«, entfuhr es der Köchin. Man konnte deutlich sehen, dass sie nicht von ferne an dergleichen gedacht hatte und es auch nicht wirklich glaubte. »Was hat se denn?«
Auf diese Frage war Gracie vorbereitet. »Rheumatisches Fieber«, sagte sie, ohne zu zögern. »Es geht ihr entsetzlich schlecht.« Es fiel ihr nicht schwer, die wirkliche Angst um Martin, die tief in ihr nagte, zu zeigen, sodass sie ganz gequält wirkte.
Diesen Ausdruck musste die Köchin erkannt haben. »Wie schrecklich«, sagte sie, und es kam Gracie so vor, als liege echtes Mitgefühl auf ihren Zügen. »Was willste dann hier? Steh nich rum, Dottie! Hol der Kleinen ’ne Tasse Tee!« Dann sah sie wieder zu Gracie hin. »Setz dich.« Sie wies auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Dottie ging zum Herd und schob den Wasserkessel in die Mitte der Herdplatte. Schon bald darauf begann er zu pfeifen.
Ohne die kreisförmigen Bewegungen ihres Holzlöffels ein einziges Mal zu unterbrechen, fuhr Mrs Culpepper fort: »Na, kleines Fräulein ...« Sie hatte Gracies Namen bereits vergessen. »Für wen is denn die Mitteilung bestimmt?«
Jetzt halfen keine Ausflüchte mehr. Aufmerksam sah Gracie zu der Köchin hin. Ihr Gesichtsausdruck konnte unter Umständen mehr verraten als Worte. »Martin Garvie«, sagte sie. »Das is ihr Bruder. Sie hat sons kein’ Mensch mehr. Die Eltern von den beid’n sind schon lange tot.«
Das Gesicht der Köchin ließ außer der leichten Trauer, die von vornherein darauf gelegen hatte, nichts erkennen, und sie rührte den Teig so geschäftig wie zuvor, ohne dass ihre Hand auch nur einen Augenblick stockte.
»Jammerschade«, sagte sie, ohne den Blick zu heben. »Der junge Mann is nich mehr hier, un ich kann auch nich sag’n, wo er sein könnte.«
Gracie war sicher, dass das nicht der Wahrheit entsprach, doch merkte sie auch, dass sich die Frau eher unglücklich als schuldbewusst fühlte. Mit einem Mal empfand sie eine Angst, die sie förmlich schüttelte, und die angenehm warme, duftende Küche mit den heißen Feuerstellen und dampfenden Töpfen begann sich um sie zu drehen. Sie schloss die Augen, damit die Bewegung zum Stillstand kam.
Als sie sie wieder öffnete, stand Dottie mit einer Tasse Tee in der Hand auf der anderen Seite des Tisches.
»Kopf zwischen die Knie«, empfahl die Köchin.
»Ich fall schon nich in Ohnmacht!«, sagte Gracie trotzig, war sich aber nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Zwar hatte sie keinerlei Grund zu bocken, behandelten diese Menschen sie doch sehr freundlich, aber sie wusste nicht, wohin mit ihren Empfindungen.
»Wenn er nich hier is, wo is er dann?«
»Das wiss’n wir nich«, sagte Dottie, bevor Mrs Culpepper mit ihrer Überlegung, was sie antworten sollte, zu Ende gekommen war. Sie warf dem Küchenmädchen einen tadelnden Blick zu, von dem Gracie nicht hätte sagen können, ob er sie aufforderte, ein Geheimnis zu bewahren oder niemandem unnötig Schmerzen zu bereiten.
»Un warum solltes du das auch wiss’n?« Mrs Culpepper hatte die Sprache wiedergefunden. »Es geht dich doch nix an, wohin der gnä’ Herr seine Leute schickt, oder?«
Dottie stellte den Tee vor Gracie hin. »Trink das«, sagte sie. »Natürlich nich, Mrs Culpepper«, fügte sie sich der Köchin. »Aber man könnte doch glau’m, dass Bellawas weiß.« Zu Gracie gewandt erklärte sie: »Das is unser Hausmädchen. Se konnte Martin gut leiden. Ich fand ’n auch nett ... aber nich so, wie du jetz denks«, fügte sie rasch hinzu.
»Du has ’ne lose Zunge«, bemerkte Mrs Culpepper kritisch. »Falls Bella wirklich was weiß, muss sie dir nix davon sag’n, oder?«
Dottie zuckte die Achseln. »Schon gut«, sagte sie ergeben. Dann umwölkte sich ihr Gesicht. »Aber ich möcht doch gerne wissen, was mit Martin is.«
»Komm mir bloß nich so, du dummes Kind!«, brach es mit plötzlichem Groll aus Mrs Culpepper heraus, deren Gesicht mit einem Mal hochrot war. Sie stellte die Schüssel mit Nachdruck auf den Tisch. »Man sollte meinen, dass er tot oder sonstwas mit ihm los is. Nix is ihm passiert! Er is nich hier, weiter nix. Halt den Rand und tu was. Steh nich rum wie dein eigenes Denkmal! Geh un reib die alt’n Kartoffeln – man hat nie genug Stärke im Haus.«
Achselzuckend strich sich Dottie das Haar aus der Stirn und trat den Weg nach unten in den Wirtschaftsraum an.
»Da bin ich aber froh, dass ’m nix fehlt«, sagte Gracie mit der gebotenen Zurückhaltung. »Aber ich muss ’m doch trotzdem das mit seiner Schwester sag’n.« Ihr war klar, dass sie damit viel riskierte, aber ihr blieb keine Wahl. Bisher hatte sie nicht mehr als das erfahren, was sie bereits von Tilda wusste. »Irgendjemand muss doch wissen, wo er is, oder?«
»Na klar doch«, erwiderte Mrs Culpepper und griff nach einer Backform sowie einem Stück Käseleinen, auf dem etwas Butter lag. Mit einer einzigen gekonnten Bewegung fettete sie die Form ein. »Aber ich bin das nich.«
Gracie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Tilda hat gesagt, dass er bei Mr Stephen Kammerdiener is. Hat der jetz ’nen neuen?«
Mrs Culpepper hob abrupt den Kopf. »Nein. Aber fang bloß nich ... Dann wurden ihre Züge weicher. »Sieh mal, Kleine, ich begreif ja, dass du durcheinander bis, un es is auch schlimm, wenn’s ei’m so dreckig geht un man nix mach’n kann. Man sollte kein’ Hund alleine ster’m lass’n, aber Gott is mein Zeuge, ich weiß nich, wo der Martin is. Das is die reine Wahrheit. Er is ’n or’ntlicher Junge, un ich glaub nich, dass er je mal ’nem Menschen Ärger gemacht hat.«
Der Gedanke an Tilda und die Angst in ihr trieben Gracie die Tränen in die Augen. Immerhin vermisste die Schwester ihn schon seit mehreren Tagen. Warum war weder ein Brief noch eine sonstige Nachricht gekommen? »Was für ’n Mensch is dieser Mr Stephen? Würd der jemand wegschick’n, wenn der nix angestellt hat?«
Mrs Culpepper wischte sich die Hände an der Schürze ab, ließ Teig und Backform stehen und goss sich eine Tasse Tee ein. »Gütiger Gott«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Mal so, mal so, der Arme. Aber so ’nen schlimmen Tag könnt der gar nich ha’m, dass er den Martin weggeschickt hätt. Immerhin is er der Einzige, der mit ’m zurechtkommt, wenn’s ’m nich gut geht.«
Trotz aller Bemühung, sich nichts anmerken zu lassen, zuckte es in Gracies Gesicht. Was sie da hörte, war ihr zwar nicht völlig neu, aber es beunruhigte sie, weil sie nicht verstand, worum es dabei ging. Sie hob den Blick zu Mrs Culpepper und zwinkerte einige Male, um sich nicht durch ihren Gesichtsausdruck zu verraten. »Sie meinen, wenn er krank is?«
Die Köchin fuhr kurz auf, sagte aber nichts.
Zwar fürchtete Gracie, einen schweren Fehler begangen zu haben, unternahm aber klugerweise keinen Versuch, ihn auszuwetzen. Stattdessen wartete sie wortlos, dass die Köchin weitersprach.
»So kann man das sag’n«, erklärte diese schließlich und hob die Tasse, die sie die ganze Zeit in der Luft gehalten hatte, an die Lippen. »Un ich sag es auch nich anders!« Das war eine unüberhörbare Warnung.
Gracie begriff sogleich. Das Wort »krank« war eine Beschönigung für etwas weit Schlimmeres. Vielleicht Volltrunkenheit? Manche Männer sanken, wenn sie zu viel getrunken hatten, einfach in sich zusammen, oder es war ihnen entsetzlich schlecht, andere aber wurden in diesem Zustand streitsüchtig, begannen sich zu prügeln, rissen Leuten die Kleider vom Leibe oder belästigten sie auf andere Weise. Was Gracie da gehört hatte, klang so, als gehöre Stephen Garrick zu dieser Sorte.
»Natürlich nich«, sagte Gracie und gab sich schüchtern. »Niemand tut das. Das gehört sich für unsereins nich.«
»Es is nich so, wie wenn ich es nich manchmal am liebsten tun würde!«, fügte Mrs Culpepper kampflustig hinzu, sagte aber nichts weiter, weil gerade das Hausmädchen in die Küche kam. Gracie fand sie außerordentlich hübsch, und das nicht nur wegen ihrer frisch gewaschenen und gestärkten weißen Schürze, die mit Spitzen besetzt war. »Se woll’n doch wohl nich schon das Mittagessen?« , fragte die Köchin erstaunt. »Mein Gott, wo is bloß die Zeit geblie’m? Ich bin noch lange nich fertig.«
»Aber nein«, beruhigte Bella sie. »Sie haben genug Zeit.« Sie warf Gracie einen neugierigen Blick zu. Vermutlich hatte sie die letzten Worte der Unterhaltung mitbekommen. »Ich hätte auch nichts gegen eine Tasse Tee, wenn er schön heiß ist«, fügte sie hinzu.
»Das is Gracie.« Mrs Culpepper schien der Name plötzlich wieder eingefallen zu sein. »Sie is hier, weil die Schwester vom Martin ’ne Freundin von ihr is. Die Ärmste hat rheuma’sches Fieber und liegt im Ster’m. Gracie is gekomm’n, weil se dem Martin Bescheid sag’n will.«
Betrübt schüttelte Bella den Kopf. »Wir würden Ihnen gern helfen, wissen aber nicht, wo er sich aufhält«, sagte sie offen heraus. »Normalerweise geht Mr Stephen im Laufe des Vormittags aus, und jeder im Haus weiß das schon Tage im Voraus. Aber diesmal war es anders. Er ist ... er ist einfach nicht da!«
Gracie war nicht bereit, sich geschlagen zu geben, bevor sie alle Mittel versucht hatte. »Mrs Culpepper war sehr freundlich«, sagte sie voll Wärme. »Sie hat mir gesagt, dass der junge Mr Garrick richtig auf Martin angewies’n is un er ’n deshalb auch nich weg’n ’ner Laune weggeschickt hätt.«
Bellas Gesicht verzog sich vor Zorn. »Manchmal war es mit ihm wirklich schlimm. Meine Mutter hätte mir mit dem Pantoffel das Hinterteil versohlt, wenn ich mich so hätte gehen lassen. Er hat um sich getreten, Leute angeschrien und –«
»Bella!«, mahnte Mrs Culpepper mit scharfer Stimme.
»Wenn es aber doch wahr ist! Manchmal führt er sich auf wie ein Dreijähriger!«, begehrte das Hausmädchen mit geröteten Wangen auf. »Und der arme Martin lässt sich das alles ohne ein Wort der Klage gefallen, räumt hinter ihm auf, hört sich an, wie er über alles Mögliche jammert und flennt oder einfach dasitzt wie ein Häufchen Elend. Am besten –«
»Am besten sollten Sie den Mund halt’n, sonst sitz’n Se selber bald da wie ’n Häufchen Elend!«, fuhr Mrs Culpepper sie an. »Schon möglich, dass Se gut ausseh’n und red’n wie ’ne feine Dame, aber wenn der Gnä’ge hört, was Se zu Fremd’n über Mr Stephen sag’n, steh’n Se in null Komma nix mit Ihr’m Koffer auf der Straße, un zwar ohne Zeugnis, so wahr ich hier sitz!« In ihrer Stimme lag eine unüberhörbare Dringlichkeit, und ihre schwarzen Augen blitzten. Gracie war sicher, dass sie weder aus Wut noch aus Abneigung so sprach, sondern ganz im Gegenteil freundschaftliche Gefühle für Bella hegte.
Mit wehenden Röcken setzte sich das Hausmädchen auf den anderen Küchenstuhl. »So etwas gehört sich einfach nicht!«, sagte sie aufgebracht. »Martin hat sich mehr gefallen lassen, als ein Mensch ertragen kann! Und wenn man ihn auf die Straße gesetzt hat ...«
»Stimmt doch gar nich. Was verzapf’n Se dummes Stück da für ’n Unsinn?« Ein junger Lakai mit einer kecken Haartolle über der Stirn trat ein. Gracie sah, dass seine Hose ziemlich lose an ihm herunterhing, und vermutete, dass er erst vor kurzem vom Stiefelputzer in seine neue Position aufgestiegen war.
»Und woher haben Sie diese Weisheit, Clarence Smith?«, fuhr Bella ihn an.
»Ich krieg Sach’n mit, die keiner von euch sieht!«, gab er zurück. »Wenn der mal richtig in Fahrt is, wird außer Martin keiner mit’m fertig, und wenn er seine verrückt’n fünf Minut’n kriegt, geh’n alle in Deckung. Ich jed’nfalls würd ’m da um nix auf der Welt inne Quere komm’n woll’n! Sogar Mr Lyman hat dann Schiss vor ihm ... un Mrs Somerton. Un die hat sons’ so schnell vor nix Bange! Im Kampf geg’n den Drach’n hätt ich nie auf’n heilig’n Georg gesetzt, aber hundertprozentig auf sie!«
»Kümmer dich um deine eig’nen Angeleg’nheit’n, Clarence, wenn du nich wills, dass ich Mr Lyman sag, was für Frechheit’n du dir rausnimms!«, sagte Mrs Culpepper drohend. »Wenn der dir auf die Schliche kommt, kanns du heute Abend in der Spülküche ess’n und darfs froh sein, wenn du ’n Schmalzbrot kriegs!«
»Stimmt aber doch!«, beharrte Clarence empört.
»Das hat gar nix damit zu tun, Dummkopf!«, wies sie ihn in die Schranken. »Man könnte meinen, du würdest von Tag zu Tag dümmer! Los, an die Arbeit, trag Bella die Kohl’n rein!«
»Ja, Mrs Culpepper«, sagte er gehorsam. Vielleicht hatte er gemerkt, dass in ihrer Stimme eher Besorgnis als Tadel lag.
Einen Augenblick lang überlegte Gracie, dass es schön sein müsste, ein, zwei Wochen in einem großen Haus zu arbeiten. Natürlich waren die zu erledigenden Aufgaben nicht annähernd so wichtig wie das, was sie im Hause Pitt tat. Sie sah zu, wie Clarence den Raum verließ, um zu tun, was man ihm aufgetragen hatte. Sie nahm ihre Teetasse und trank sie aus.
»Tut mir Leid, Kleine, aber wir könn’n dir nich helf’n«, sagte Mrs Culpepper kopfschüttelnd und füllte endlich den Teig in die Backform. »Ich muss mich jetz um das Teegebäck für heut Nachmittag kümmern. Man weiß nie, wer kommt, un da muss auf jed’n Fall was auf’m Tisch steh’n. Dottie! Komm und putz das Gemüse.«
Gracie erhob sich, um zu gehen, trug aber vorher noch ihre leere Tasse zum Abstellbrett neben dem Waschbecken. »Vielen Dank«, sagte sie aufrichtig. »Ich muss einfach zuseh’n, dass ich ’n find, auch wenn ich nich weiß, wo.«
Dottie kam aus dem Wirtschaftsraum zurück und wischte sich die Hände an einem Schürzenzipfel ab. »Er war mal bei ’nem Mr Sandeman irgendwo im East End«, sagte sie. »Vielleicht weiß der was?«
Gracie setzte die Tasse sorgfältig nieder, weil sie merkte, dass ihre Hände zitterten. »Sandeman?«, wiederholte sie. »Wer is das?«
Niedergeschlagen musste Dottie gestehen: »Keine Ahnung. Tut mir Leid.«
Gracie schluckte ihre Enttäuschung herunter. »Macht nix, vielleicht weiß es jemand anders. Danke, Mrs Culpepper.«
Die Köchin schüttelte den Kopf. »Tut mir wirklich Leid, armes Ding. Vielleicht kommt se ja wieder auf die Beine, man weiß nie.«
»Ja«, bekräftigte Gracie. »Man darf nie die Hoffnung aufge’m.« Das war von ihrem Standpunkt aus nicht gelogen, da sie an Martin und nicht an Tilda dachte.
Dottie brachte sie wieder zur Tür der Spülküche. Kaum war sie auf der Straße, als sie nach Hause eilte, so schnell die Füße sie trugen.
Selbstverständlich schilderte sie Charlotte ihren Besuch in allen Einzelheiten, sobald sie wieder in der Keppel Street war. Weit schwerer würde es sein, Tellman zu berichten, was sie am Torrington Square erfahren hatte. Dazu musste sie ihn erst einmal finden. Die einzigen Orte, an denen sie suchen konnte, waren die Polizeiwache in der Bow Street und das Haus, in dem er zur Miete wohnte. Es war ohne weiteres möglich, dass er nach Feierabend sogleich dorthin zurückkehrte, doch hatte sie keine Vorstellung, um wieviel Uhr das war, denn die Polizei hatte keine geregelten Arbeitszeiten. Andererseits wollte sie ihn auch nicht dadurch in Verlegenheit bringen, dass sie in seiner Dienststelle auftauchte, wo man auch dann wissen würde, wer sie war, wenn sie den Dienst habenden Beamten nicht nach Inspektor Tellman fragte. Wichtiger aber war noch eine andere Erwägung. Da den Leute bekannt war, dass sie im Hause Pitt arbeitete, würden sie annehmen, sie suche ihn im Auftrag ihres Dienstherrn auf. Ein solches Missverständnis könnte ihm das Leben unter seinem neuen Vorgesetzten, Oberinspektor Wetron, in höchstem Grade erschweren.
Schließlich stellte sie sich am frühen Abend vor dem Haus, in dem er wohnte, auf den Gehweg und sah zu den Fenstern seines Zimmers im zweiten Stock empor. Alles war dunkel. Wäre er zu Hause gewesen, wäre ein leichter Lichtschimmer durch die Vorhänge gefallen.
Unsicher blieb sie einige Minuten stehen. Dann fiel ihr ein, dass es ohne weiteres noch über eine Stunde dauern konnte, bis er kam, und sofern er an einem schwierigen Fall arbeitete, sogar noch länger. Sie kannte eine angenehme Teestube einige hundert Schritt weiter. Dort würde sie eine Weile warten und später noch einmal nachsehen, ob er inzwischen gekommen war.
Sie war gerade fünfzig Meter weit gegangen, als ihr der Gedanke kam, dass es unter Umständen ein halbes Dutzend Mal nötig sein konnte, zurückzugehen, bis sie ihn antraf, und sie andererseits möglicherweise unnötig lange wartete, falls er doch bald nach Hause kam. Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück, klopf te an die Haustür und teilte der Vermieterin äußerst höflich mit, sie habe wichtige Mitteilungen für Inspektor Tellman, und ob sie ihm ausrichten könne, dass er in die Teestube kommen solle, wo sie auf ihn warte.
Die Frau sah zwar ein wenig zweifelnd drein, versprach aber, ihm die Nachricht auszurichten. Zufrieden ging Gracie davon.
Eine knappe Stunde später trat Tellman müde und durchgefroren in die Teestube. Nach einem anstrengenden Tag hatte er sich darauf gefreut, rasch etwas zu essen und dann früh schlafen zu gehen. An seinem Gesicht wie an seiner Körperhaltung erkannte sie gleich, dass er ihren Streit noch nicht vergessen hatte und nicht so recht wusste, wie er mit ihr sprechen sollte. Ihr war klar, dass sie die Dinge womöglich verschlimmerte, weil sie gekommen war, um die Sache noch einmal aufzurühren, doch sie sah keinen anderen Ausweg. Immerhin stand Martin Garvies Leben unter Umständen auf dem Spiel. Was nützte Zuneigung oder Wohlwollen eines anderen Menschen, wenn dies Gefühl in einer widrigen Situation oder bei einer Meinungsverschiedenheit sogleich in sich zusammenfiel und dahinschwand?
»Samuel«, begann sie, als er ihr gegenüber Platz genommen und seine Bestellung aufgegeben hatte.
»Ja?«, fragte er zurückhaltend. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schluckte es aber herunter.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als offen heraus zu sagen, worum es ging. Je länger zwischen ihnen Schweigen herrschte oder sie eine gekünstelte Unterhaltung führten, bei der jeder etwas anderes meinte, als er sagte, umso schlimmer würde es. »Ich war in dem Haus, wo Martin Garvie arbeitet«, sagte sie und sah ihn über den Tisch hinweg an. Sie merkte, dass sich seine Haltung noch mehr versteifte, die Finger seiner verschränkt auf dem Tisch liegenden Hände wurden weiß. »Ich bin einfach in die Küche gegang’n«, fuhr sie rasch fort, »un hab der Köchin un der Spülmagd gesagt, dass Tilda krank is und außer Martin niemand mehr auf der Welt hat.«
»Ist sie denn krank?«, fragte er rasch.
»Vor Kummer«, gab sie aufrichtig Antwort. »Aber ich hab gesagt, dass sie’n schlimmes Fieber hat.« Das damit verbundene Eingeständnis, gelogen zu haben, machte sie verlegen, denn sie wusste, dass ihm jede Unwahrheit zuwider war. Wenn sie es aber nicht zugab, wäre sie ihm gegenüber unaufrichtig, und das wollte sie auf gar keinen Fall. Rasch sprach sie weiter. »Ich hab gesagt, ich wollte das ihr’m Bruder sagen. Die Leute wiss’n nich, wo er is, Samuel, wirklich nich! Se mach’n sich selber Sorg’n.« Sie beugte sich über den Tisch näher zu ihm vor. »Die ha’m gesagt, Mr Stephen trinkt viel zu viel. Dann kriegt er fürchterliche Tobsuchtsanfälle, oder das heulende Elend packt ’n. Das muss grauenhaft sein. Dann kann ihm nur Martin helf’n, und deshalb würd er ’n auch nie wegschick’ n.« Sie sah ihn flehend an und merkte, dass in seinen Augen Ungläubigkeit und Besorgnis miteinander im Widerstreit lagen.
»Sind Sie sicher, dass Ihnen die Leute all das gesagt haben?«, fragte er stirnrunzelnd. »Falls Mr Garrick das wüsste, würde er sie alle miteinander ohne Zeugnis zum Teufel jagen! Ich habe noch nie gehört, dass Dienstboten etwas über den Haushalt sagen, in dem sie arbeiten, außer wenn man sie ohnehin schon entlassen hatte und sie sich rächen wollten.«
»So Wort für Wort ha’m die das natürlich nich gesagt!«, erklärte sie geduldig. »Ich hab in der Küche gesess’n, und die ha’m mir ’ne Tasse Tee gege’m, während ich ihn’n die Sache mit Tilda erzählt hab. Dabei is dann rausgekomm’n, was für’n feiner Kerl Martin is und wie wichtig für sein’ Herrn.«
Ein leichtes Lächeln zuckte um Tellmans Mundwinkel. Es mochte Bewunderung bedeuten, vielleicht aber war es nur Belustigung.
Gracie merkte, dass sie errötete. Das kam bei ihr gewöhnlich nicht vor, und es ärgerte sie, weil es ihre Empfindungen zeigte. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich dieser Samuel Tellman einbildete, sie habe etwas für ihn übrig.
»Ich kann Leute gut ausfrag’n«, sagte sie hitzig. »Schließlich arbeit’ ich schon lange für Mr Pitt – länger wie Sie.«
Mit einem halben Lächeln sog er die Luft scharf ein und stieß sie wieder aus, ohne zu sagen, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. »Die Leute sind also sicher, dass Garrick den jungen Mann unter keinen Umständen hätte gehen lassen? Ist es denkbar, dass er Garricks Launen satt hatte und aus freien Stücken gegangen ist?«
»Ohne Tilda oder sons jemand was zu sag’n?«, fragte Gracie ungläubig. »Das is ja wohl nich Ihr Ernst. Man kündigt, wie sich das gehört, un haut nich einfach ab.« Sie sah den Anflug von Verachtung auf seinem Gesicht, ein Hinweis auf seine Ansichten zum Thema Dienstboten. »Komm’n Se mir ja nich wieder damit!«, mahnte sie ihn. »Hier is wirklich einer in Gefahr, un die Sache könnte schlimm werd’n. Wir ha’m keine Zeit, uns darüber zu streit’n, wie man leb’n sollte un wie nich.« Sie sah ihn beherrscht an, und ein Gefühl der Erregung und Vertrautheit überkam sie, als sie merkte, wie er ihren Blick erwiderte. Sie spürte die Hitze auf ihren Wangen und stellte fest, dass die Dinge anfingen, vor ihren Augen zu verschwimmen. »Wir müss’n unbedingt was tun, um ’m zu helf’n.« Das ›wir‹ betonte sie mit voller Absicht. »Ohne Sie komm ich nich weit, Samuel, un ich will’s nich allein probier’n müss’n.« Sie war das Wagnis eingegangen, das zwischen ihnen bestehende Vertrauensverhältnis in die Waagschale zu legen. Das erstaunte sie selbst, denn zwar war dies Verhältnis zerbrechlich, doch merkte sie verblüfft, dass es ihr weit mehr bedeutete, als sie bis dahin angenommen hatte. »Irgendwas muss mit ’m passiert sein«, fügte sie ruhig hinzu. »Vielleicht is dieser Mr Stephen tatsächlich verrückt, wie die Leute sag’n. Wenn er nun Martin umgebracht hat un die Familie das vertusch’n will? Dann is das ’n Verbrechen, auch wenn keiner was dageg’n tut, weil außer denen keiner was weiß.«
Er dankte der Bedienung, die sein Essen und eine weitere Kanne Tee brachte. Seine Entscheidung war bereits gefallen, doch hielt er Gracie hin, indem er so tat, als müsse er noch überlegen. Das war eine Frage der Selbstachtung, doch wussten beide, dass die Würfel gefallen waren.
»Ich sehe mir die Sache einmal an«, sagte er schließlich. »Da kein Verbrechen gemeldet worden ist, muss ich aber sehr vorsichtig sein. Ich werde Ihnen sagen, was ich herausbekomme.«
»Danke, Samuel«, sagte sie. Womöglich hatte er gemerkt, dass die Sanftmut in ihren Worten aufrichtig gemeint war, denn mit einem Mal lächelte er ihr auf eine Art zu, die ihr ungewohnt zärtlich erschien. Was sie dabei empfand, hätte sie zu niemandem gesagt, aber es kam ihr in diesem Augenblick so vor, als ob auf seinem Gesicht geradezu eine Art Schönheit läge.
Nachdem Pitt jedem Namen auf der Spur des Leidens nachgegangen war, die Edwin Lovat mit seinen Affären hinterlassen hatte, ohne dabei etwas anderes als Unglück und hilflosen Zorn zu entdecken, gab er die Fährte auf, da sie offenkundig zu keinem Ergebnis führte.
Beim Versuch, den Fall unter einem völlig anderen Blickwinkel zu betrachten, kam ihm ein verrückter Einfall. Mitunter lohnte es sich, sogar die nächstliegenden Annahmen zu verwerfen und so zu tun, als könnten sie auf keinen Fall die Lösung liefern. Lovat war mitten in der Nacht im Garten von Eden Lodge erschossen worden. Es schien ihm keinen Sinn zu ergeben, dass Miss Sachari hinausgegangen war, um nachzusehen, wer im Gebüsch lauern mochte, und dabei ihre Pistole mitgenommen hatte, denn das hätte ohne weiteres ihr Diener tun können. Ganz davon abgesehen, hatte sie ein Telefon im Hause, mit dem sie Hilfe herbeirufen konnte, ohne sich selbst zu gefährden.
Ursprünglich hatte Pitt vermutet, sie habe von Lovats Anwesenheit im Garten gewusst, doch konnte er sich keinen nachvollziehbaren Grund denken, warum sie den Mann hätte töten sollen. Wenn sie nicht mit ihm sprechen wollte, brauchte sie nur im Hause zu bleiben, und sofern sie nicht wusste, wer sich da mitten in der Nacht draußen herumtrieb, wäre das erst recht sinnvoll gewesen.
Was aber, wenn sie einen anderen hinter dem Haus vermutet und Lovat erst erkannt hatte, als er tot war? Im Garten war es dunkel, und die fragliche Stelle hätte auch dann noch im Schatten gelegen, wenn alle Erdgeschossräume hell erleuchtet gewesen wären, was um drei Uhr morgens so gut wie ausgeschlossen war.
Bestand die Lösung des Rätsels möglicherweise darin, dass sie Lovat mit einem anderen verwechselt hatte? Aber mit wem?
Als Erstes suchte er das Haus noch einmal auf. An diesem frischen Herbstmorgen, an dem das Licht in langen goldenen Strahlen quer über die stille Straße fiel, wirkte alles sonderbar leer. Völlige Windstille herrschte, nicht einmal das Birkenlaub rührte sich. Er konnte in der Ferne Hufschlag hören. Irgendwo über ihm sang ein Vogel. Eine kleine schwarze Katze schlich durch die verblühten Lilien, die zurückgeschnitten werden mussten.
Der Diener öffnete ihm.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er höflich, aber mit ausdruckslosem Gesicht. »Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Morgen«, gab Pitt zurück. »Sie können mir dabei helfen, einige Dinge zu klären.«
El Abd bat ihn einzutreten und führte ihn ins Empfangszimmer. Es schien ihm nicht recht zu sein, dass sich ein Polizeibeamter in diesem Teil des Hauses aufhielt. Immerhin gehörten Pitt und seine Herrin gesellschaftlich gesehen zwei völlig verschiedenen Welten an. Andererseits waren die Hauswirtschaftsräume sein Reich, dort wollte er keinen Außenstehenden haben. Vermutlich um Pitt die Situation zu verdeutlichen, unterließ er es, ihm eine Erfrischung anzubieten.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte er und blieb stehen, ein Zeichen für den Besucher, dass auch er sich nicht setzen sollte.
Pitt blieb nicht viel Zeit, sich in dem Raum umzusehen, doch fiel ihm auf, dass er in dezenten Farben gehalten und hell war. Alles war schlichter und weniger voll gestellt, als er es aus anderen Empfangszimmern kannte. Auf einem Tischchen sah er eine etwa einen halben Meter lange Plastik eines liegenden Tieres mit großen Ohren, das aussah wie ein Jagdhund. Es war eine herrliche Arbeit.
Es musste El Abd aufgefallen sein, dass sein Blick daran hängen geblieben war.
»Das ist Anubis, Sir«, sagte er. »Einer der alten Götter unseres Landes. Natürlich leben die Menschen, die an ihn glaubten, schon lange nicht mehr.«
»Das ändert nichts an der Schönheit dieses Kunstwerks«, erwiderte Pitt.
»Gewiss, Sir. Was wollen Sie von mir wissen?« Das Gesicht des Dieners wirkte nach wie vor undurchdringlich.
»Brannte in diesem Raum Licht, als Mr Lovat erschossen wurde?«
»Wie bitte, Sir? Ich verstehe nicht. Mr Lovat wurde im Garten erschossen ... Draußen. Er hat das Haus nicht betreten.«
»Sie waren also wach?«, fragte Pitt überrascht.
Einen Augenblick lang schien der Mann die Fassung zu verlieren, dann aber war sein Gesicht wieder so ausdruckslos wie zuvor. »Nein, mich hat der Schuss geweckt, danach bin ich aufgestanden. Da Miss Sachari gesagt hat, dass der Mann nicht hier im Haus war, gibt es für mich keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. In diesem Raum hier befand sich niemand, also brannte kein Licht.«
»Und was ist mit den anderen Räumen?«
»Im ganzen Erdgeschoss hat kein Licht gebrannt, Sir, außer im Vestibül. Die Lampen dort werden nie gelöscht.«
»Ich verstehe. Und oben?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir. In Miss Sacharis Schlafzimmer war das Licht an, wie auch im oberen Salon. Außerdem, wie immer, auf dem Treppenabsatz.«
»Gehen die Räume nach vorn oder nach hinten?«
»Nach vorn.« Das war eigentlich selbstverständlich. Die Schlafräume der Herrschaften lagen gewöhnlich in dieser Richtung.
»Das heißt, aus dem Haus ist kein Licht auf den Garten gefallen, dorthin, wo Mr Lovat erschossen wurde«, fasste Pitt zusammen.
Der Diener zögerte, als wittere er irgendeine Falle. »Nein, Sir ...«
»Ist es denkbar, dass Miss Sachari nicht gewusst hat, wer der Mann war? Könnte sie ihn mit einem anderen verwechselt haben?«
Auf diese Frage reagierte der Diener nicht etwa verblüfft, sondern so, als befinde er sich in höchster Gefahr. Im nächsten Augenblick aber sah er Pitt wieder fest in die Augen, wobei er nur leicht zwinkerte. »An eine solche Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht, Sir. Das kann ich nicht sagen. Falls ... falls sie ihn für einen Einbrecher gehalten hat, hätte sie doch wohl mich gerufen. Sie weiß, dass ich sie schützen würde. Das ist meine Pflicht.«
»Gewiss«, antwortete Pitt. »Ich dachte auch weniger an einen Einbrecher als an jemanden, den sie kannte und von dem sie sich auf die eine oder andere Weise bedroht gefühlt haben könnte.«
El Abd, der sein inneres Gleichgewicht nun wiedergefunden hatte, klang selbstsicher. »Von einem solchen Menschen ist mir nichts bekannt, Sir. Sofern es sich so verhielte, hätte sie doch vermutlich der Polizei gesagt, dass es sich um einen Unfall handelte? Einen Irrtum ... in Notwehr? Darf man in England in Notwehr schießen?«
»Ja, sofern man keine andere Möglichkeit hat, sich zu schützen«, sagte Pitt. »Ich dachte an einen Menschen, den sie kannte und der ihr Feind war. Der ihr nicht nach dem Leben trachtete, der ihr aber auf andere Weise schaden konnte, zum Beispiel, indem er ihren Ruf zugrunde richtete.«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir.« Wieder lag auf El Abds Gesicht die undurchdringliche glatte Maske des geschulten Dieners.
»Ihre Ergebenheit Ihrer Herrin gegenüber in allen Ehren«, sagte Pitt, bemüht, das nicht sarkastisch klingen zu lassen, »aber in diesem Zusammenhang führt sie zu nichts. Sollte man sie des Mordes an Mr Lovat für schuldig befinden, wird man sie dafür hängen. Sofern sie ihn aber mit einem Mann verwechselt hat, von dem ihr möglicherweise Gefahr drohte, kann sie gegebenenfalls mildernde Umstände erwarten.«
Es war bewundernswert, wie es dem Diener gelang, Verachtung anstelle seiner bisherigen Zuvorkommenheit zu zeigen, ohne seinen Gesichtsausdruck merklich zu ändern. »Ich denke, Sir, Sie sollten sich an Mr Ryerson wenden. Sofern ihm bekannt ist, warum Miss Sachari den Mann getötet hat, ganz gleich, für wen sie ihn gehalten hat, müsste er Ihnen die Wahrheit sagen und damit neben seiner eigenen auch ihre Verhaltensweise rechtfertigen. Falls er aber in dieser Richtung nichts weiß, ist er mitschuldig, ganz gleich, was Miss Sachari vermutet hat, denn als er am Tatort eintraf, hat er Mr Lovat tot vorgefunden. Habe ich Recht?«
»Ja«, sagte Pitt unbehaglich. »Sie haben Recht. Aber es ist denkbar, dass uns Miss Sachari nicht sagen will, was sie vermutet hat, weil ihr lieber ist, dass wir annehmen, sie habe Mr Lovat aus keinem erkennbaren Grund erschossen.«
Der Diener neigte mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf. »In dem Fall verlangt die Ergebenheit meiner Herrin gegenüber, dass ich mich ihrer Entscheidung anschließe, Sir. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Aber ja. Stellen Sie mir eine Liste aller Personen zusammen, die Miss Sachari seit ihrem Einzug hier besucht haben.«
»Wir haben ein Besucherbuch, Sir. Würde Ihnen das helfen?«
»Das bezweifle ich zwar, doch ist es ein Anfang. Allerdings brauche ich auch die Namen der anderen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte El Abd und zog sich vollkommen geräuschlos zurück. Nicht einmal auf dem polierten Holzboden des Vestibüls waren seine Schritte zu hören.
Eine Viertelstunde später brachte er Pitt ein in weißes Leder gebundenes Buch und ein Blatt Papier.
Pitt nahm beides dankend an sich und verabschiedete sich. Das Buch war durchaus aufschlussreich. Da es mehr Namen enthielt, als er angenommen hatte, würde er eine ganze Weile brauchen, um festzustellen, um wen es sich jeweils handelte. Von dem Blatt mit den Namen nahm er an, dass es für ihn nicht den geringsten Wert haben würde.
Er verbrachte den Rest des Tages damit, die im Buch vermerkten Besucher zu identifizieren. Tageszeiten waren nicht angegeben, lediglich Daten. Eine ganze Anzahl der Männer hatte auf die eine oder andere Weise mit dem Baumwollhandel zu tun, doch gab es auch Maler, Dichter, Musiker und Geisteswissenschaftler. Gern hätte er gewusst, aus welchem Anlass sie Miss Sachari aufgesucht hatten, was Saville Ryerson von diesen Besuchen hielt und ob er von ihnen wusste.
Am nächsten Morgen wurde Pitt beim Frühstück die Mitteilung überbracht, er solle sich binnen einer Stunde bei Narraway einfinden. Er legte Messer und Gabel beiseite. Mit einem Mal schmeckten ihm seine Bücklinge nicht mehr.
Es war ihm noch nicht bei allen Namen gelungen festzustellen, um wen es sich handelte, und es ärgerte ihn, dass er zum Rapport befohlen wurde, solange er nichts Rechtes vorzutragen hatte.
Eine halbe Stunde später berichtete er Narraway von seinem Besuch in Eden Lodge und den Namen, die er teils im Besucherbuch, teils auf der vom Diener der Ägypterin zusammengestellten Liste gefunden hatte.
Nachdenklich saß Narraway da. Wenn man sein Gesicht mit den unübersehbaren Spuren der Übermüdung sah, hätte man annehmen können, er habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Einen Moment lang trat eine Art Hoffnungsschimmer auf seine Züge, doch er bemühte sich sogleich, ihn zu unterdrücken.
»Und Sie glauben, dass sie Lovat für einen von denen gehalten hat?«, fragte er zweifelnd, lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete Pitt mit halb geschlossenen Lidern.
»Das scheint mir mehr Sinn zu ergeben als die Annahme, sie habe gewusst, dass es Lovat war, und ihn erschossen«, gab Pitt zur Antwort.
»Aber nein«, sagte Narraway bitter. »Nehmen wir einmal an, Lovat hätte sie erpresst und auf Zahlung bestanden. In dem Fall konnte sie die Gelegenheit nutzen, ihn zu erschießen und der Sache damit ein Ende zu bereiten. Das klingt absolut plausibel, und so werden die Geschworenen das wohl auch sehen.«
»Womit könnte er sie erpresst haben?«, fragte Pitt.
»Lieber Gott! Benutzen Sie Ihren Verstand! Diese Frau, über deren Hintergrund niemand etwas weiß, ist jung und schön. Ryerson ist zwanzig Jahre älter, wegen seiner hohen Position in der Öffentlichkeit bekannt und verletzlich ...« Das letzte Wort sagte er so bedrückt, als spräche er von seiner eigenen Seelenqual. Lautlos holte er Luft. »Möglicherweise ist ihm bewusst, dass sie andere Liebhaber hat – wenn er etwas anderes annähme, wäre er sogar ein ausgemachter Dummkopf. Das heißt aber nicht unbedingt, dass er alles über diese Männer wissen will, schon gar nicht in Einzelheiten.«
Pitt versuchte sich in Ryersons Lage zu versetzen, doch gelang es ihm nicht. Wer sich wegen ihrer körperlichen Vorzüge, ihres exotischen Hintergrundes und ihrer Bereitschaft, Geliebte statt Gattin zu sein, für eine Frau entschied, nahm doch sicherlich in Kauf, dass er weder der Erste war, noch der Letzte sein würde. Eine solche Beziehung hatte so lange Bestand, wie beide Seiten einen Vorteil daraus zogen.
Doch als er jetzt Narraway ansah, wies nichts darauf hin, dass dieser die Situation so betrachtete. Er erkannte lediglich den Ausdruck einer tief wurzelnden Empfindung, zu der er die Außenwelt nicht zuließ, und er hatte den Eindruck, wenn er Narraway jetzt provozierte, würde das zu einer Missstimmung zwischen ihnen führen, die sich nicht ohne weiteres ausräumen ließe. Er konnte sich nicht vorstellen, warum ihm die Sache so nahe gehen sollte, doch war das unübersehbar der Fall.
»Und Sie glauben also, dass Lovat sie erpresst haben könnte, damit sie Stillschweigen über etwas bewahrte, das in Ägypten vorgefallen ist?«, fragte er.
’Jedenfalls wird der Vertreter der Anklage das annehmen«, sagte Narraway »Würden Sie das an seiner Stelle nicht auch tun?«
»Ja, sofern es keine anderen Hinweise gäbe«, erwiderte Pitt. »Aber das müsste bewiesen werden.«
Narraway schoss mit dem Oberkörper vor wie ein Boxer beim Angriff. »Ach was«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Solange wir nichts Besseres anbieten, geht das automatisch durch. Überlegen Sie doch, Pitt! Ein mittelloser einstiger Liebhaber, ein gesellschaftlicher Niemand, wird um drei Uhr nachts tot im Garten dieser Frau aufgefunden. Sie steht da mit der Leiche auf der Schubkarre, und ihre Pistole liegt daneben im Gras. Was soll man da sonst denken?«
Pitt spürte fast körperlich, wie ihn die Dinge mit ihrem Gewicht zu erdrücken schienen. »Wollen Sie damit sagen, dass wir nur so tun, als suchten wir nach einer möglichen Verteidigung?«, fragte er ganz ruhig. »Warum? Damit Ryerson glaubt, man habe ihn nicht im Stich gelassen? Ist denn das so wichtig?«
Narraway wich seinem Blick aus. »Unser Auftrag kommt von Männern, die eine andere Sicht der Dinge haben als wir«, sagte er. »Ihnen liegt nicht das Geringste an Miss Sachari, aber sie brauchen Ryerson und wollen unbedingt, dass er heil aus der Geschichte herauskommt. Er hat seinem Land lange und gut gedient. Sein Verdienst ist es, dass die Baumwollindustrie mit ihren Zehntausenden von Arbeitsplätzen in und um Manchester herum gedeiht. Sofern es nicht zu einer Einigung über die Rohstoffpreise kommt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Streik geben. Haben Sie eine Ahnung von den Auswirkungen? Er würde nicht nur die Arbeiter in den Webereien treffen, sondern all die Menschen, deren Einkommen von ihnen abhängt – Exporteure, Händler, kleine Geschäftsinhaber und am Ende mehr oder weniger jeden, angefangen von den Immobilienmaklern bis hinunter zu den Männern, die auf der Straße den Pferdemist zusammenkehren, weil sie hoffen, dass ihnen jemand dafür ein paar Halfpennies zuwirft.«
»Für die Regierung wäre es ausgesprochen peinlich, wenn sich herausstellen sollte, dass Ryerson der Frau Beihilfe geleistet hat«, entgegnete Pitt, »aber falls es sich so verhält, muss man eben einen anderen ernennen, der sich um den Ägyptenhandel kümmert. Wenn ich überlege, wie sich Ryerson im Mordfall Lovat bisher verhalten hat, wäre es mir ehrlich gesagt lieber, mich bei einer nationalen Krise nicht auf ihn verlassen zu müssen.«
Narraway stieg die Röte in die bleichen Wangen, und seine Hand umklammerte die Schreibtischplatte, aber er unterdrückte seinen Zorn. »Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Pitt beugte sich zu ihm vor. »Dann sagen Sie es mir!«, verlangte er. »Bis jetzt habe ich nichts weiter gesehen als einen Mann, der eine Affäre mit einer äußerst unpassenden Frau kultiviert und entschlossen ist, ihr sogar dann beizustehen, wenn sie einen Mord auf sich geladen haben sollte. Er kann ihr nicht helfen, denn seine Aussage macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Entweder ist ihm das nicht klar, oder er ist von so unglaublicher Hochnäsigkeit, dass er annimmt, seine Mitwirkung an der Sache werde die Frau auf jeden Fall retten – oder ihm ist einfach alles völlig gleichgültig.«
Narraway drehte sich im Sessel beiseite. »Seien Sie nicht töricht, Pitt! Natürlich sind ihm die Konsequenzen klar. Die Sache wird ihn zugrunde richten. Wenn wir keinen anderen Hergang der Tat beweisen können, ist es sogar möglich, dass er ebenfalls gehängt wird.« Er sah Pitt wieder an und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Stellen Sie also fest, wer sonst noch mit der Frau zu tun hatte oder Lovat so sehr hasste, dass er Grund hatte, ihn umzubringen. Und liefern Sie mir Beweise. Haben Sie verstanden? Kein Wort zu wem auch immer. Seien Sie diskret, besser gesagt – gehen Sie so vor, dass niemand etwas merkt. Stellen Sie Ihre Fragen mit Umsicht und dem Feingefühl, für das Sie, wie mir Cornwallis versichert hat, berühmt sind. Bringen Sie alles in Erfahrung, reden Sie aber mit keiner Menschenseele über die Sache.« Er sah Pitt an, als könne er jeden einzelnen seiner Gedanken lesen. »Wenn Sie bei diesem Fall versagen, kann ich Sie nicht brauchen. Denken Sie daran! Ich will wissen, wie es wirklich war, und ich will der Einzige sein, der das erfährt.«
Ein kalter Schauer überlief Pitt. Er war wütend, zugleich aber hätte er auch gern gewusst, warum die Angelegenheit seinem Vorgesetzten so nahe ging. Es war unübersehbar, dass er ebenso viel Wissenswertes zurückhielt, wie er Pitt mitteilte, wenn nicht sogar mehr. Trotzdem verlangte er absolute Loyalität. Wen deckte er, und warum? Wollte er sich selbst oder gar Pitt vor einer Gefahr bewahren, die dieser nicht erkannte, weil er noch nicht lange beim Sicherheitsdienst tätig war? Oder ging es um Ryerson? Schuldete ihm Narraway aus irgendeinem Pitt unbekannten Grund dies Übermaß an Ergebenheit? Gern hätte er das Vertrauen seines Vorgesetzten gehabt – nicht nur, weil das seine Erfolgsaussichten gesteigert hätte, sondern auch, weil er sich in dem Fall selbst besser schützen konnte, wenn er auf Beweismittel stieß, die möglichen Gegnern gefährlich zu werden drohten. Aber es hatte keinen Sinn, ihn darum zu bitten. Narraway vertraute niemandem mehr, als unbedingt nötig war. Vielleicht hatte er auf diese Weise die Arbeit im Sicherheitsdienst überlebt, bei der man es mit einer Unzahl von Geheimnissen zu tun hatte und auf hunderterlei Arten verraten werden konnte.
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte Pitt kühl. »Und bestimmt werden Sie nicht der Einzige sein, der es erfährt!« Er sah, wie Narraway erstarrte, und empfand dabei eine gewisse Genugtuung, die dahinschwand, als er sich klar machte, wie wenig er wusste. »Ich bezweifle, dass ich mehr als einzelne Bruchstücke erfahren werde. Wer auch immer Lovat getötet hat, kennt die Wahrheit und wird in einem solchen Fall wissen, dass ich sie erfahren habe, vorausgesetzt, es handelt sich um einen ausgeklügelten Plan und nicht um die unbedachte Handlungsweise eines Menschen, der seine Gefühle nicht beherrscht, ob Mann oder Frau.«
»Aus genau diesem Grund habe ich Sie auf den Fall angesetzt, Pitt, und keinen meiner Spezialisten für die Jagd nach Anarchisten und Saboteuren«, sagte Narraway trocken. »Bei Ihnen darf man ein bisschen Takt und Fingerspitzengefühl voraussetzen. Zwar können Sie eine Bombe nicht von einer Obsttorte unterscheiden, aber man hat mir gesagt, dass Sie in Mordfällen ein fähiger Ermittler sind, vor allem bei Verbrechen, die aus Leidenschaft und nicht aus politischen Gründen begangen worden sind. Also machen Sie sich an die Arbeit! Spüren Sie die auf Ihrer Liste noch fehlenden Männer auf. Aber rasch! Es kann nicht mehr lange dauern, bis sich der Premierminister gezwungen sieht, Ryerson fallen zu lassen.«
Pitt stand auf. »Ja, Sir. Vermutlich können Sie mir sonst nichts sagen, was mir weiterhelfen würde?« Er gab sich keine Mühe zu verbergen, dass er Narraways Heimlichtuerei durchschaut hatte, wenn er auch nicht wusste, was ihm vorenthalten wurde.
Narraway zog die Brauen zusammen. »Cornwallis vertraut Ihnen, und ich werde das künftig vielleicht auch tun. Noch aber ist es nicht so weit. Dafür müssten Sie mir eigentlich dankbar sein. Es kann Ihnen nur nützen, wenn Ihnen manches von dem verborgen bleibt, was ich weiß. Unter Umständen werden Sie dies Vorrecht im Laufe der Zeit verlieren und sich dann möglicherweise nach dem Stand der Unschuld zurücksehnen.« Er beugte sich ein wenig über den Schreibtisch vor. »Aber glauben Sie mir, Pitt, ich möchte, dass Ryerson gerettet wird, wenn das irgendwie möglich ist. Falls es etwas gäbe, was ich Ihnen sagen könnte, um Ihnen dabei zu helfen, würde ich das tun, ganz gleich, um welchen Preis. Sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich um nichts weiter als einen einfachen Mord handelt und er mit dem Weibsstück gemeinsame Sache gemacht hat, um Lovat umzubringen oder auch nur um zu vertuschen, dass sie es getan hat, werde ich ihn ohne das geringste Zögern opfern. Es geht um bedeutendere Dinge, als Sie ahnen. Die darf man nicht aufgeben, um einen einzelnen Menschen zu retten... unabhängig davon, wer das ist.«
»Ein Streik der Baumwollarbeiter in Manchester?«, fragte Pitt gedehnt.
Narraway gab keine Antwort. »Gehen Sie an die Arbeit«, sagte er stattdessen. »Stehen Sie nicht herum und vergeuden Sie keine Zeit mit der Bitte um Hilfe, die ich Ihnen nicht gewähren kann.«
Pitt trat hinaus auf die Straße. Nach zwanzig Schritten kam er an einem Zeitungsjungen vorbei. Er sah, dass sich die Schlagzeilen geändert hatten, seit er aus der Gegenrichtung gekommen war, um Narraways Büro aufzusuchen.
Der Junge bemerkte sein Zögern. »Zeitung, Sir?«, fragte er eif rig. "Jetzt heißt es, man soll auch Mr Ryerson verhaften und zusammen mit der Ausländerin aufhängen! Woll’n Se alles darüber lesen, Sir?« Hoffnungsvoll hielt er ihm eine Zeitung hin.
Pitt musste sich sehr zusammennehmen, um den Jungen nicht barsch anzufahren. Er nahm das Blatt, zahlte und setzte seinen Weg rasch fort. Er wollte die Zeitung irgendwo in Ruhe lesen, wo ihn niemand dabei beobachten konnte. Überrascht merkte er, dass er keinem Menschen seine Empfindungen zeigen wollte, damit niemand sah, wie nah ihm diese Sache ging.
Er nahm einen Pferdeomnibus und stieg in der Nähe eines der zahlreichen begrünten kleinen Plätze aus. Er setzte sich auf eine leere Bank und schlug die Zeitung auf. Es war genauso, wie man es sich hätte denken können: Ein Abgeordneter der Oppositionspartei hatte im Unterhaus die Frage gestellt, warum man Miss Sachari wegen der Ermordung Lovats, eines ehrenwerten Offiziers ohne jeden Makel, inhaftiert hatte, während die Polizei Ryerson, für dessen Anwesenheit in ihrem Haus um drei Uhr nachts niemand eine Erklärung wusste – und wofür es wohl auch keine gab, die sich mit den Vorstellungen der Gesellschaft von Sitte und Anstand vereinbaren ließe –, in diesem Zusammenhang nicht einmal vernommen hatte. Dann hatte er den Premierminister »im Namen der Gerechtigkeit« aufgefordert, dem Parlament und der Öffentlichkeit eine Begründung dafür zu nennen und zugleich zu erklären, wie lange dieser Zustand noch andauern sollte.
Am Spätnachmittag hatte sich die Regierung gezwungen gesehen, dem Druck nachzugeben. Als die hereinbrechende Abenddämmerung den Horizont noch kaum verdunkelte und das Sonnenlicht noch auf den Blättern der Bäume tanzte, teilte der Innenminister dem Unterhaus mit, Mr Ryerson werde selbstverständlich alle Fragen der Polizei vollständig und in zufrieden stellender Weise beantworten.
Nur wenig später – die ersten Laternenanzünder machten sich gerade daran, ihre Runde zu gehen – befand sich Mr Ryerson in Haft.
Pitt kehrte in Narraways Büro zurück, ohne dass dieser nach ihm geschickt hatte. Er hatte keine weiteren Erkenntnisse von irgendwelchem Wert und war kaum bereit, das wenige zu berichten, was er wusste. Bis auf ein rundes halbes Dutzend, über die er noch nichts in Erfahrung gebracht hatte, waren die Männer, deren Namen im Besucherbuch standen, frei von jedem Verdacht einer Beteiligung an der Tat.
Er stand vor Narraways Tisch und wartete darauf, dass dieser etwas sagte.
»Ja ... ich weiß«, begann Narraway mit angespannten Kiefermuskeln, den Blick auf die polierte Tischplatte gerichtet, auf der sich Papiere türmten, die mit der beschriebenen Seite nach unten lagen. »Ich glaube nicht, dass er der Polizei etwas sagen wird, was er Ihnen nicht bereits gesagt hat.«
»Er kennt mich nicht«, erwiderte Pitt. Dabei hatte er den unerklärlichen Eindruck, seinerseits Ryerson durchaus zu kennen. Er konnte sich genau an dessen Gesicht erinnern, an jede Linie, jeden Schatten, an die Eindringlichkeit seiner Stimme und die Gefühle, die darin mitgeschwungen hatten, an sein eigenes Gefühl der Anteilnahme, als der Mann seine Handlungsweise zu erklären versucht und ihm mitgeteilt hatte, was er tun würde, falls man die Ägypterin vor Gericht stellte. »Er hatte keinen Grund, mir mehr zu vertrauen, als die Situation verlangte«, fuhr er fort. »Ihnen würde er vielleicht mehr sagen.« Er fügte nicht hinzu, dass die beiden denselben kulturellen Hintergrund hatten, derselben gesellschaftlichen Schicht angehörten und die Dinge in ähnlicher Weise sahen – das verstand sich von selbst.
Ohne darauf einzugehen, öffnete Narraway die Schublade seines Schreibtischs und nahm eine kleine Metallkassette heraus. Einen Schlüssel schien es nicht zu geben; er klappte einfach den Deckel hoch und entnahm ihr eine Hand voll Schatzwechsel, die bestimmt mindestens hundert Pfund wert waren. »Überlassen Sie mir Ihre Notizen. Ich werde mich um die Spuren hier in London kümmern«, sagte er, nach wie vor ohne Pitt anzusehen. »Sie fahren nach Alexandria, um so viel wie möglich über die Frau in Erfahrung zu bringen, aber auch über Lovat. Schließlich hat er sich jahrelang da unten aufgehalten ...«
Verblüfft sog Pitt den Atem ein. Es dauerte einen Augenblick, bis er sprechen konnte.
Narraway hatte allem Anschein nach den Betrag vorher abgezählt, denn er legte die Wechsel einfach auf den Tisch.
»Aber ich weiß doch nichts über Ägypten!«, begehrte Pitt auf. »Ich kann die Sprache nicht, die man da spricht! Ich...«
»Sie werden mit Englisch bestens zurechtkommen«, schnitt ihm Narraway das Wort ab. »Ich habe keinen Spezialisten für Ägypten. Sie sind ein guter Ermittler. Versuchen Sie, möglichst viel darüber herauszufinden, was Lovat dort getrieben hat. Vor allem aber bringen Sie so viel wie möglich über die Frau in Erfahrung: wen sie dort kennt, und an wem sie hängt. Versuchen Sie festzustellen, ob es etwas gibt, womit Lovat sie hätte erpressen können.« Deutlicher Abscheu trat auf seine Züge. »Was will sie überhaupt hier in England? Wer sind ihre Angehörigen? Hat sie in Ägypten Vermögen oder Liebhaber, hängt sie irgendwelchen religiösen oder politischen Überzeugungen an, schuldet sie jemandem Ergebenheit?«
Pitt sah ihn fassungslos an, während ihm nach und nach aufging, welch unglaubliche Aufgabe ihm da aufgebürdet wurde. Er hatte keine Vorstellung, wo er anfangen sollte, ganz davon zu schweigen, wie er Schlussfolgerungen bewerten sollte. Abgesehen von Wissensbrocken, die er in Unterhaltungen und bei der Zeitungslektüre aufgeschnappt hatte, war er nicht im Geringsten über Ägypten informiert. Seit neuestem besaß er gewisse Kenntnisse über den dortigen Baumwollanbau, hätte jedoch nicht sagen können, ob sie sich mit den Tatsachen deckten. Ganz davon abgesehen, kannte er Alexandria nicht. Er war überzeugt, dort unterzugehen. Bestimmt war alles völlig anders als in London: das Klima, die Art der Ernährung, die Kleidung und die Bräuche.
Doch im selben Augenblick, da ihn die Furcht erfasste, spürte er eine Art Erregung, die mit jeder Sekunde wuchs, und so hatte er zugestimmt, bevor ihm klar war, auf welche Weise er seinen Auf trag würde erfüllen können.
»Ich bin einverstanden, Sir. Wie stelle ich das am besten an ... Thomas Cook?«
Ein flüchtiges Lächeln trat auf Narraways Lippen. »Das war ein dienstlicher Befehl, Pitt, kein Vorschlag. Ihre einzige Alternative wäre Ihre Kündigung gewesen. Aber es freut mich, dass ich Ihnen das nicht vorbuchstabieren musste.« Dann wurde er ein wenig zugänglicher. »Seien Sie vorsichtig. Im Augenblick ist Ägypten ein schwieriges Pflaster, und die Fragen, denen Sie dort nachgehen müssen, sind heikel. Zwar will ich die Informationen, aber ich will Sie auch lebend wiedersehen. Ihr Tod in irgendeinem finsteren Gässchen würde meinem Ruf in der Branche sehr schaden.« Zusammen mit den Schatzwechseln nahm er einen neutralen Umschlag aus dem Schreibtisch. »Hier, Ihre Fahrkarten und Ihr Geld. Ich denke, es müsste genügen. Am besten suchen Sie Mr Trenchard im britischen Konsulat auf. Möglicherweise kann er Ihnen helfen.«
Pitt nahm beides entgegen. »Danke.«
»Ihr Schiff läuft morgen mit der Abendflut in Southampton aus«, fügte Narraway hinzu.
Pitt wandte sich zum Gehen. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, denn viel Zeit blieb ihm nicht, seine Vorbereitungen zu treffen und zu packen. Der Gedanke, dass ihm die Kleidungsstücke, die er besaß, dort kaum von Nutzen sein dürften, war ihm noch gar nicht gekommen.
»Pitt!«, meldete sich Narraway mit schneidender Stimme.
Er wandte sich ihm zu. »Ja?«
»Wie gesagt, seien Sie vorsichtig. Bei diesem Fall geht es vermutlich um das, wonach es aussieht: einen Mann mit mehr Gefühlen als Verstand. Sollte sich aber herausstellen, dass die Sache doch eine politische Dimension besitzt, mit Baumwolle oder ... oder ich weiß nicht was zu tun hat, hören Sie mehr zu, als Sie selbst sagen. Gewöhnen Sie sich an zu beobachten, ohne Fragen zu stellen. Sie sind nicht als Polizeibeamter in Alexandria.« Mit einem Mal wirkte Narraway ermattet, und die Spuren schrecklicher Ereignisse, die noch gar nicht eingetreten waren, schienen auf seinem Gesicht zu liegen. Vielleicht aber waren es auch Erinnerungen an frühere Vorfälle. »Niemand kann Sie da unten schützen. Dass Sie Weißer sind, ist Ihnen dort ebenso sehr von Nutzen, wie es Ihnen schaden kann. Passen Sie also um Gottes willen ein bisschen auf sich auf!« Er sagte das in so ärgerlichem Ton, als wäre es Pitts Gewohnheit, sich Hals über Kopf in Abenteuer zu stürzen. Dabei hatte er sein Leben nur selten aufs Spiel gesetzt, wenn überhaupt – außer vielleicht in Whitechapel, beim ersten Auftrag, den er für Narraway zu erledigen hatte. Er hatte sich immer auf die mit seiner Position verbundene Sicherheit verlassen, für die es nicht unbedingt einer Uniform bedurfte. Eine kalte Furcht kroch in ihm empor.
Er merkte, dass sein Mund wie ausgedörrt war, als er »Ja, Sir« sagte. Aus Sorge, seine Gefühle zu zeigen, ging er rasch hinaus, bevor Narraway noch etwas sagen konnte.