KAPITEL 8

Allmählich bekam Pitt ein immer deutlicheres Bild der Ägypterin wie auch von den Menschen und den politischen Zusammenhängen, die sie beeinflusst hatten. Während er aus dem Fenster seines Hotelzimmers in Richtung auf das Meer in die Nacht hinaussah, fiel ihm mit einem Mal ein, dass er überhaupt nicht wusste, wie sie aussah. Nicht einmal ein Bild von ihr hatte er gesehen, ging ihm überrascht auf. Er stellte sie sich als dunkelhäutig vor, und sicherlich war sie schön, denn diese Art von Kapital war seiner Ansicht nach für ihre Art zu leben unerlässlich. Während er dastand, den Blick zum sich weithin wölbenden Himmel mit den bleichen Sternen gerichtet, und wahrnahm, wie die an der Hauswand emporrankenden Kletterpflanzen sacht in der leisen Brise schwankten, die den Geruch von Gewürzen und vom Meer den nach Salz herübertrug, überlegte er, dass er sie inzwischen gänzlich anders einschätzte als am Anfang. Er sah sie als willensstarken, intelligenten Menschen, eine Frau, die für Überzeugungen kämpfte, die er gut nachvollziehen konnte. Was würde er empfinden, wenn beispielsweise England von einem anderen Volk besetzt, ja, geradezu beherrscht würde, dessen Angehörige nicht nur anders sprachen und aussahen, sondern auch einen anderen Glauben und eine andere kulturelle Überlieferung hatten, ein vergleichsweise unreifes Volk, dessen Menschen noch Barbaren waren zu einer Zeit, da das eigene Volk bereits zivilisiert war, bedeutende Bauten errichtet, Dichter hervorgebracht und gewaltige Pläne verwirklicht hatte?

Der Wind trug Gelächter herüber. Erst erkannte er die Stimme eines Mannes, dann die einer Frau und schließlich die Melodie eines Saiteninstruments voll sonderbarer Halbtöne. Er legte das Jackett ab, das er zum Abendessen getragen hatte, um der Form zu genügen. Selbst um diese Zeit war es noch so warm, dass das Baumwollhemd vollauf genügte.

Er ließ den Blick schweifen, versuchte sich möglichst viel einzuprägen, um Charlotte davon berichten zu können: die Geräusche, die so völlig anders waren als in England, die Luft, die man fast auf der Haut spüren konnte, die schweren Gerüche, auch nach Schweiß, sodass es einem mitunter fast den Atem benahm, und natürlich die allgegenwärtigen Fliegen. Der Wind war ohne jede Schärfe. Er wirkte träge wie alles um ihn herum, doch war ihm klar, dass überall Gefahren lauerten, Ressentiment hinter lächelnden Mienen verborgen lag.

Unwillkürlich kamen ihm die Völker in den Sinn, die im Laufe der Jahrhunderte hierher gekommen waren, Welle auf Welle – Soldaten, religiöse Eroberer, Forscher, Kaufleute oder Siedler. Sie alle hatte die Stadt in sich aufgenommen, und alle hatten deren Gesicht damit verändert, dass sie geblieben waren.

Jetzt also war die Zeit seines eigenen Volkes gekommen, die Zeit der Engländer, die hier mit ihrer bleichen Haut, ihrer angelsächsischen Stimme, ihrer übertrieben aufrechten Haltung und ihren unerschütterlichen Vorstellungen von Recht und Unrecht immer fremdländisch wirken würden. Dass sie dennoch blieben, war zugleich bewundernswert und widersinnig, vor allem aber unfassbar ungehörig. Alexandria war eine ägyptische Stadt, und uneingeladen hatten sie kein Recht, sich dort aufzuhalten.

Er dachte an Trenchard und dessen unübersehbare Liebe zu diesem Land und seinen Menschen. Nach ihrem gemeinsamen Einkauf im Basar hatte er Pitt ein wenig über sein Leben im Lande berichtet. Wie es aussah, besaß er in England keine nahen Angehörigen mehr, und die Frau, die er geliebt, wenn auch nicht geheiratet hatte, war Ägypterin. Er hatte nur kurz über sie gesprochen. Sie war vor nicht einmal einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen, über den er nicht reden mochte. Selbstverständlich war Pitt nicht weiter in ihn gedrungen.

Jetzt stand Pitt in einem Aufruhr der Gefühle da. Es hatte keinen Sinn, zu Bett zu gehen, denn er wusste, dass ihn der Schlaf fliehen würde. Er konnte Miss Sachari gut verstehen – hier ihre Vaterlandsliebe, ihre Empörung über die Art, wie man ihr Volk ausraubte, über die Armut und die unnötige Unwissenheit, und dort in London der Widerstreit der Gefühle wegen ihrer Beziehung zu Ryerson.

Aber ob das zum Mord geführt hatte? Noch hatte er sich nicht von dem Gedanken gelöst, dass sie die Tat begangen hatte. Wenn nicht sie es gewesen war — wer dann?

Gleich am nächsten Vormittag würde er sich daran machen, möglichst viel über Edwin Lovat in Erfahrung zu bringen. Es musste noch Menschen geben, die sich an ihn erinnerten, die genauere, lebendigere und möglicherweise auch ehrlichere Erinnerungen an ihn hatten als bloße Archivunterlagen.

Er wandte sich vom Fenster ab und machte sich zum Schlafengehen bereit.

 

Es dauerte nicht lange, bis er wusste, wo Lovat den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte. Auf dem Weg dorthin kam er durch den Teppichbasar, dessen vielleicht zehn bis zwölf Meter breiten festgetretenen Lehmboden in einer Höhe von etwa drei Stockwerken ein riesiges Balkendach überspannte. Da dessen Zwischenräume mit Latten ausgefüllt waren, unterbrachen immer wieder helle Lichtflecken den Schatten, der auf den Boden fiel. Zusätzlich befanden sich über allen Eingängen und Fenstern Markisen; bisweilen war auch einfach ein Stück Stoff zwischen auf dem Boden verankerten Pfosten aufgespannt.

Man sah nahezu ausschließlich Männer. Sie saßen zu Dutzenden inmitten ihrer Stoffballen, Messingartikel oder aufgerollten Teppiche und sogen bedächtig an prächtig verzierten Wasserpfeifen. Es gab eine Unzahl von Rottönen — Scharlach, Karmesin, Zinnober, Purpur —, außerdem Beigetöne, warme bräunliche Erdfarben und Schwarz. Pitt fühlte sich von allen Seiten bedrängt – von der Hitze, vom Lärm und sogar von den Farben.

Er bahnte sich seinen Weg, bemüht, den Eindruck zu erwecken, dass er auf keinen Fall dort war, um etwas zu kaufen. Er war auf dem Weg zum östlichen Stadtrand in das Dorf, an dessen Rand sich Lovats Militärlager befunden hatte, in Richtung auf den nächstgelegenen Arm des Nildeltas und den Mahmudije-Kanal. Weiter im Osten ging es nach Kairo, und ganz in der Ferne, mitten in der Sandwüste, zum Suezkanal. Mit einem Mal entstand vor ihm ein Menschenauflauf, und zeternde Stimme wurden laut.

Anfangs vermutete er, ein Händler sei sich beim Feilschen mit einem Kunden in die Haare geraten, merkte dann aber, dass mindestens ein halbes Dutzend Männer an der hitzigen Auseinandersetzung beteiligt waren. Die Worte, die hin und her flogen, klangen sehr viel bedrohlicher als die Kommentare von Neugierigen, die sich an einem Streit erfreuen.

Er blieb stehen. Auf keinen Fall wollte er in eine Auseinandersetzung zwischen Einheimischen hineingezogen werden. Er konnte es sich nicht leisten, und sofern die Sache außer Kontrolle geriet, war es nicht seine Aufgabe, sondern die der örtlichen Polizei, sich darum zu kümmern. Also machte er kehrt, um diesen Teil der Straße zu umgehen. Das würde zwar länger dauern, war aber angesichts der Situation die bessere Lösung. Er beschleunigte den Schritt, doch wurde der Lärm hinter ihm immer lauter. Er wandte sich um. Zwei Männer in langen Gewändern stritten mit weit ausholenden Armbewegungen. Allem Anschein nach ging es um den Preis eines rot-schwarzen Teppichs, der vor einem der beiden lag.

Hinter ihm drängte sich eine Gruppe von Männern näher, die sehen wollten, was es gab.

Wieder wandte sich Pitt um, doch inzwischen war ihm der Weg versperrt. Er musste beiseite treten, um nicht in die Menge hineingezogen zu werden. Ein weiterer Teppich wurde ausgerollt, und damit war ihm der Rückzug endgültig abgeschnitten. Jemand rief etwas, das wie ein mahnender Ruf zur Vorsicht klang. Überall um ihn herum ertönten Stimmen. Er verstand kein Wort.

Trotz des gefleckten Schattens, den das Balkendach über ihm warf, war die Hitze kaum erträglich, denn es wehte nicht der leiseste Windhauch. Der Staub schien unter den Füßen zu brennen, und der Geruch nach Wolle, Gewürzen, Weihrauch und Schweiß lag schwer in der reglosen Luft. Er spürte einen Mückenstich und schlug mechanisch nach dem Insekt.

Ein junger Mann kam im Laufschritt vorüber und rief etwas. Dann fiel ein Pistolenschuss, und mit einem Mal schwiegen alle still. Doch gleich darauf ertönte wieder wütendes Geschrei. Am anderen Ende der Straße tauchten vier oder fünf Polizeibeamte auf, dann, nur zwei Schritt von ihm entfernt, ein weiterer. Es waren Europäer, vermutlich Engländer.

Aus der Menge wurde ein metallenes Gefäß geschleudert, das einen der Beamten seitlich am Kopf traf, sodass er ins Straucheln geriet.

Rufe ertönten, die unverkennbar Billigung und Bestärkung ausdrückten. Um das zu verstehen, brauchte man weder die Sprache zu kennen noch den Hass in den bärtigen Gesichtern zu sehen.

Im Versuch, sich von der immer unangenehmer werdenden Szene zu entfernen, stieß Pitt gegen einen Teppichstapel, der ins Wanken geriet. Rasch drehte er sich um, um ihn am Fallen zu hindern, doch obwohl er die Finger beider Hände mit aller Kraft in die feste Wolle grub, gelang es ihm nicht. Er spürte, wie es ihn nach vorn riss und er das Gleichgewicht verlor. Im nächsten Augenblick fiel er mit den Teppichen und rollte in den Straßenstaub.

Mit wehenden Gewändern kamen Männer herbeigeeilt. Fast alle waren dunkelhäutig und trugen Turbane, wirkten eher afrikanisch als mediterran. Weitere Rufe ertönten. Man hörte Stahl auf Stahl schlagen, wieder fielen Schüsse. Pitt versuchte auf die Füße zu kommen und stolperte über ein Tongefäß. Es fiel um, rollte ein Stück weit und stieß mit Schwung einem andern Mann gegen die Beine, der das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, wobei er wild fluchte — auf Englisch.

Pitt kam auf die Füße und lief auf den Mann zu, der allem Anschein nach benommen am Boden lag. Als er ihm die Arme entgegenstreckte, um ihm aufzuhelfen, bekam er von hinten einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Er versank in tiefe Bewusstlosigkeit.

Er erwachte, auf dem Rücken liegend, mit pochenden Kopfschmerzen. Er nahm an, es seien nur wenige Augenblicke vergangen und er befinde sich nach wie vor auf dem Teppichbasar. Als er aber die Augen öffnete, sah er über sich eine schmutzig weiße Zimmerdecke und erkannte bei einer leichten Kopfdrehung Wände. Statt der vielen kräftigen Rottöne der Teppiche sah er einen Haufen aus gestreiftem Ocker, Schwarz und ungebleichtem Leinen.

Vorsichtig setzte er sich auf. In seinem Kopf verschwamm alles. Reglos und erstickend stand die Hitze im Raum. Überall waren Fliegen, so viele, dass jeder Versuch, nach ihnen zu schlagen, sinnlos war. Nach einer Weile merkte er, dass in dem Kleiderhaufen ein bärtiger Mann steckte. Ein weiterer Mann saß an die gegenüberliegende Wand gelehnt und noch einer unter dem hohen vergitterten Fenster, hinter dem ein leuchtend blauer quadratischer Ausschnitt des Himmels zu sehen war.

Er musterte die Männer genauer. Der Bärtige trug einen Turban und hatte eine blutunterlaufene Schwellung um das linke Auge, die wahrscheinlich sehr schmerzhaft war. Der zweite war bis auf einen breiten schwarzen Schnurrbart glatt rasiert — vermutlich Grieche oder Armenier. Der dritte lächelte Pitt kopfschüttelnd zu und schürzte die Lippen. Dabei hielt er ihm einladend eine lederne Wasserflasche hin.

»Lachejm«, sagte er dazu. »Schön, dass Sie wieder da sind.«

»Danke.« Pitts Mund war ausgedörrt, und seine Kehle brannte. Ein Araber oder Türke, ein Grieche oder Armenier, ein Jude und er, ein Engländer. Wie war er in diesen Raum gekommen, allem Anschein nach eine Arrestzelle? Er wandte sich langsam um und suchte mit den Augen nach der Tür. Sie hatte keine Klinke.

»Wo sind wir?«, fragte er und nahm noch einen Schluck Wasser. Er sollte nicht so viel trinken — möglicherweise war das alles, was die Männer hatten. Er gab die Flasche zurück.

»Engländer«, sagte der Jude mit einer Belustigung, in die sich Staunen mischte. »Wieso helfen Sie den Ägyptern gegen die englische Polizei? Sie sind doch keiner von uns!«

Alle sahen ihn neugierig an.

Langsam ging ihm auf, dass man ihm seinen ungeschickten Sturz, mit dem er den anderen zu Fall gebracht hatte, als absichtlichen Angriff ausgelegt hatte, und so war er wohl als Beteiligter bei einer gewalttätigen Demonstration gegen die britische Herrschaft in Ägypten festgenommen worden. Schon in den allerersten Tagen seines Aufenthalts hatte er gespürt, dass Aufbegehren in der Luft lag, Wut ständig unter der Oberfläche glomm. Jetzt begriff er, wie weit verbreitet der gegen die Eindringlinge gerichtete Widerstand war und wie dünn der Firnis, der ihn im Alltagsleben vor den Blicken von Menschen verbarg, die nicht hinzuschauen verstanden. Wer weiß, vielleicht war es ein Glücksumstand, der ihn hierher gebracht hatte. Er musste ihn nur richtig nutzen und sich die richtige Antwort einfallen lassen.

»Ich bin mit der anderen Seite der Geschichte in Berührung gekommen«, gab er zur Antwort. »Ich kenne eine Ägypterin in London.« Er musste sorgfältig darauf achten, keinen Fehler zu machen. Falls man ihn bei einer Unwahrheit ertappte, konnte ihn das sehr teuer zu stehen kommen. »Von ihr habe ich gehört, wie es hier im Lande um die Baumwollindustrie steht ...« Er sah, wie sich das Gesicht des Arabers verdüsterte. »Sie hat mit guten Gründen die Forderung vertreten, die Fabriken in Ägypten zu errichten statt in England«, fuhr er fort. Dabei überlief ihn eine Gänsehaut. Er spürte den Geruch von Schweiß und Angst in der Luft. Seine Hände waren feucht.

»Wie heißt Ihr?«, fragte ihn der Araber unvermittelt.

»Thomas Pitt. Und Ihr?«

»Musa, das genügt für Euch«, bekam er zur Antwort.

Pitt wandte sich dem Juden zu. »Avram«, sagte dieser mit einem Lächeln.

»Kyril.« Auch der Grieche nannte nur seinen Vornamen.

»Was wird man mit uns tun?«, fragte Pitt. Würde er die Möglichkeit haben, Trenchard eine Mitteilung zukommen zu lassen? Und wäre dieser, falls das möglich war, bereit, ihm zu helfen?

Avram schüttelte den Kopf. »Entweder lässt man Euch laufen, weil Ihr Engländer seid«, sagte er, »oder man macht Euch den Prozess, weil Ihr Euer eigenes Volk verraten habt. Warum nur habt Ihr den Polizisten angegriffen? Auf diese Weise gründet man hier keine Baumwollfabriken!« Das Lächeln verschwand nicht von seinen Zügen, doch in seinen Augen glomm Misstrauen.

Die beiden anderen sahen aufmerksam zu. Pitt hatte das Gefühl, dass auch sie ihm nicht trauten.

Er erwiderte das Lächeln. »Habe ich gar nicht«, entgegnete er. »Ich bin über einen Teppich gestolpert.«

Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen, dann brüllte Avram vor Lachen, und im nächsten Augenblick stimmten die beiden anderen mit ein.

Doch nach wie vor schienen sie nicht sicher, wie sie ihn einzuschätzen hatten. Sicherlich gab es hier etwas zu erfahren, das war Pitt klar. Möglicherweise meinten die Männer, man habe ihn eingeschleust, um sie auszuhorchen und die Rädelsführer aufzuspüren. Gewiss gab es auch in Alexandria so etwas wie den Sicherheitsdienst. Auf keinen Fall durfte er Fragen stellen, höchstens nach Ayesha Sachari und vielleicht nach Lovat, obwohl sich dieser schon seit mehr als zwölf Jahren nicht mehr im Lande aufhielt. Es wurde immer wichtiger für ihn, dass er nicht nur erfuhr, wie sich die Dinge verhielten, sondern es auch verstand. Dabei hätte er Narraway den Grund für dies Bedürfnis nicht einmal nennen können, sofern ihn dieser danach gefragt hätte.

Die drei Männer warteten auf seine Erklärung. Sie musste unbedingt harmlos sein.

»So, so, über einen Teppich gestolpert«, wiederholte Avram mit bedächtigem Nicken, das Lachen noch in seinen Augen. »Möglicherweise glaubt man Euch das. Stammt Ihr aus einer bedeutenden Familie?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Pitt. »Mein Vater war Dienstbote auf dem Besitz eines reichen Mannes, und auch meine Mutter gehörte zum Personal. Beide leben nicht mehr.«

»Und der Reiche?«

Pitt zuckte die Achseln, doch trat ihm die Erinnerung deutlich vor Augen.

»Auch er lebt nicht mehr. Aber er war gut zu mir. Er hat mich zusammen mit seinem eigenen Sohn ausbilden lassen – um ihn anzuspornen.« Er fügte das hinzu, um seine gebildete Sprechweise zu erklären. Vermutlich konnten sie gut genug Englisch, um zu wissen, wie die Angehörigen der Unterschicht sprachen und wie die anderen.

Alle sahen zu ihm her: Kyril zweifelnd, Musa mit deutlicher Ablehnung. Draußen begann ein Hund zu kläffen. Die Hitze in dem Raum schien noch zuzunehmen. Pitt spürte, wie ihm am ganzen Leibe der Schweiß herablief.

»Und was wollt Ihr hier in Alexandria?«, fragte Musa mit rauer Stimme. »Ihr seid doch bestimmt nicht einfach gekommen, um zu sehen, ob wir Baumwollfabriken wollen. Da muss etwas anderes dahinter stecken!« Das war nicht nur eine Aufforderung, seine Anwesenheit zu erklären, sondern vielleicht auch eine Warnung.

Pitt beschloss, die Wahrheit ein wenig zu verbrämen. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ein britischer Diplomat ist getötet worden, ein früherer Soldat, der vor zwölf Jahren hier stationiert war. In London ist man der Ansicht, eine Ägypterin habe die Tat begangen, und meine Aufgabe ist es zu beweisen, dass sie es nicht war.«

»Aha, Polizist!«, knurrte Musa und machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen.

»Die Polizei hat die Aufgabe nachzuweisen, ob jemand eine Tat begangen hat, nicht aber, ob er schuldlos ist«, fuhr ihn Pitt an. »Jedenfalls ist das bei uns in England so! Nein, ich bin kein Polizist. Meint Ihr nicht auch, dass ich ansonsten längst nicht mehr hier wäre?«

»Ihr wart bewusstlos, als man Euch hereingebracht hat«, gab Avram zu bedenken. »Wem hättet Ihr das sagen sollen?«

»Gibt es da draußen keinen Wächter?« Pitt wies mit dem Kopf zur Tür.

Avram zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich schon. Allerdings glaubt wohl keiner, dass wir ausbrechen werden — leider.«

Pitt hob den Blick zum Fenster.

Kyril stand auf, ging hinüber und ruckte am mittleren Gitterstab. Dann wandte er sich mit spöttischem Lächeln zu Pitt um.

»Wer hier raus will, braucht Köpfchen. Mit Gewalt geht das nicht«, sagte Musa. »Oder Geld?« Er hob fragend eine Augenbraue.

Pitt angelte in seinem Schuh. Ob es sich lohnte, was er noch hatte — wenn er es noch hatte —, auszugeben, um sich Verbündete zu schaffen? Vermutlich wussten sie nichts über die Ägypterin oder Lovat, aber vielleicht konnten sie ihm helfen, etwas in Erfahrung zu bringen – sofern es überhaupt etwas gab, was sich zu erfahren lohnte. Allmählich bezweifelte er das.

Die Augen aller ruhten bewegungslos auf ihm.

Er holte etwa zweihundert Piaster hervor – genug, um acht Tage im Hotel zu bestreiten.

»Das reicht«, sagte Avram sofort. Bevor Pitt überlegen konnte, war das Geld aus seinen Händen verschwunden, und Avram hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.

Musa nickte. Seine Schultern entspannten sich. »Gut«, sagte er befriedigt. »Ja — gut.«

»Das sind zweihundert Piaster!«, entfuhr es Pitt spontan, bevor er hatte nachdenken können. »Dafür möchte ich eine Gegenleistung.«

Musa hob die Brauen. »Ach ja? Und was?«

Pitt überlegte fieberhaft. »Jemand soll mir helfen, etwas über Leutnant Lovat in Erfahrung zu bringen, der vor zwölf Jahren hier im britischen Heer gedient hat. Ich spreche kein Arabisch.«

»Ihr wollt also für fünfzig Piaster von meiner Zeit?«, fragte Musa. »Wenn ich im Gefängnis bin, geht das nicht, oder?«

»Ich möchte für hundertfünfzig Piaster von jemandes Zeit«, gab Pitt zur Antwort. »Oder wir alle bleiben hier.«

Avram sah belustigt drein. »Heißt das, Ihr handelt?«, fragte er neugierig.

»Ich weiß nicht«, gab Pitt zurück. »Tue ich das?«

Avrams Blick wanderte zwischen dem Fenster und der Tür hin und her. Er sah die anderen fragend mit gehobenen Brauen an und sagte etwas auf Arabisch. Nach kurzer Beratung sagte er schließlich zu Pitt: »Ja.«

Pitt wartete.

»Ich bringe Euch in das Dorf, wo die britischen Soldaten ihre Freizeit verbracht haben. Ich spreche für Euch mit den Ägyptern.« Er hielt ihm die Hand hin. »Jetzt aber raus hier, bevor sie kommen und es richtig unangenehm wird.«

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Pitt verstand nichts von dem, was die Männer dem Wächter sagten, sah aber, wie sein Geld den Besitzer wechselte. Eine halbe Stunde später folgte er Avram durch ein Gässchen am Rande der Stadt. Erneut ging es in Richtung Osten. Fliegen und Stechmücken waren die üblichen Wegbegleiter. Er hatte es sich angewöhnt, mechanisch nach ihnen zu schlagen. Sein Kopf schmerzte noch von dem Schlag, den er im Basar bekommen hatte.

Angenehme Düfte mischten sich mit den üblen Gerüchen der Straße, als sie an einer Garküche vorüberkamen. Der Koch saß am Boden, eine Schulter an eine Mauer gelehnt. Er trug ein unförmiges Gewand aus bräunlichem Leinen und flache Leinenschuhe. Einem großen tönernen Topf, der auf einer Feuerstelle aus lose aufgeschichteten Ziegelsteinen stand und in dem er rührte, entstieg der Geruch, der die Vorüberkommenden anlockte. Neben sich hatte er einen großen, flachen Korb mit Datteln, Zwiebeln und etwas, das wie eine Mohrrübe und ein Granatapfel aussah. Hinter ihm stand ein hohes Tongefäß, aus dessen Rand ein Stück herausgebrochen war. Die Haut des Mannes war so dunkel wie die Datteln, sein Bart kurz gestutzt und sein Kopf kahl rasiert. Das Ebenmaß und die Sanftheit seiner Züge ließen ihn beinahe schön erscheinen.

Er achtete weder auf Pitt noch auf Avram, als wären sie ebenso uninteressant wie die Esel, die über die staubige Straße zogen, oder das Kamel, das geduldig an der Einmündung des Platzes stand.

Avram war einige Schritte voraus, und Pitt beeilte sich, ihn einzuholen. Ihn hier aus den Augen zu verlieren würde nicht nur bedeuten, dass er Zeit verlor, es könnte auch gefährlich werden. Seit dem Zwischenfall auf dem Teppichbasar war er empfänglicher für die Stimmung der Männer, die miteinander zu feilschen oder sich müßig zu unterhalten schienen. Hinter dem gleichmütigen Ausdruck ihrer Gesichter, das begriff er jetzt, verbarg sich eine tief sitzende Wut, die sie nicht offen zu zeigen wagten. Das war ihr Land, und er war ein Fremdling, Angehöriger eines Volkes, das sich angeeignet hatte, was ihnen gehörte. Dabei spielte es keine Rolle, dass die Briten weit produktiver und sinnvoller mit allem umgingen als sie selbst.

Avram wandte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass Pitt noch da war, und bedeutete ihm, sich zu beeilen, damit er nicht den Anschluss verlor. Schweigend gingen sie weiter über die unbefestigte Straße, so schnell sie konnten. Es war schon später Nachmittag. Da die Nacht, wie er wusste, um diese Zeit des Jahres schnell hereinbrach, mussten sie das Dorf in der Nähe der Militäranlage unbedingt erreichen, bevor es dunkel wurde. Es sah aber ganz danach aus, dass es bis dorthin noch ziemlich weit war.

Während sich Pitt bemühte, mit seinem Begleiter Schritt zu halten, ging ihm durch den Kopf, dass sich ein fliegender Händler, der auf dem Markt ein todsicheres Mittel gegen Stechmücken anbieten konnte, vermutlich binnen einer Woche mit Gold aufwiegen lassen könnte.

Sie kamen an einer alten Frau vorüber, die allein unterwegs zu sein schien, danach an mehreren Männern, die Kamele am Halfter führten, und einem Jungen mit einem Esel. Eine Gruppe von Männern schien von einer Festlichkeit zurückzukommen, denn sie sangen fröhlich und schwangen munter die Arme.

Als die Sonne unterging und den Himmel mit einem sanften goldenen Glanz erfüllte, erreichten sie das Ufer einer breiten Wasserstraße. Drei, vier Watvögel mit langen Schnäbeln standen nah am Uferschilf im Wasser, und zwanzig Schritt weiter waren es doppelt so viele. Bald darauf waren sie am Rande des Dorfs. Einige Häuser waren aus Feldsteinen errichtet. Ihre Mauern schimmerten bronzefarben, und die in ihrer Nähe aufragenden Palmen wirkten wie sonderbare Kopfbedeckungen auf Stelzen, ragten wie Federschmuck in die reglose Luft. Das einzige Geräusch, das man hörte, kam von dem halben Dutzend Ochsen, die mit gesenktem Kopf knietief im Wasser standen und tranken. Ihre langen Hörner sahen im schwindenden Licht der Sonne aus wie poliertes Gold. Nach und nach verfärbten sich die Schatten purpurn, dann maulbeerfarben.

»Hier bleiben wir«, sagte Avram. »Wir werden essen, danach können wir damit anfangen, Eure Fragen zu stellen.«

Pitt stimmte zu. Er hätte ohnehin keine Wahl gehabt. Noch hatte er nichts erfahren, was Miss Sachari nützen konnte, geschweige denn Ryerson. Falls der Mord an Lovat mit irgendetwas zusammenhing, was hier in Ägypten geschehen war, ahnte Pitt nicht, worum es sich dabei handeln konnte, und lediglich Avram oder jemand wie er konnte die Menschen, die hier lebten, danach fragen.

Sie betraten ein kleines, aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtetes Gebäude. Ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann mit einer braun-rot gestreiften Dschellaba und einem Turban, dessen Farbe im düsteren Licht der Kerzen und des niedergebrannten Feuers nicht zu erkennen war, begrüßte Avram. Sie wechselten einige Worte miteinander. Offensichtlich sagte Avram, wer Pitt war, und erklärte wohl auch den Zweck ihres Besuchs.

Dann wandte sich Avram an Pitt: »Das ist Ishaq El Sharnoubi. Sein Vater Mohammed war ein Imam, ein Vorbeter in der Moschee. Er wusste viel über das, was früher hier geschehen ist, auch bei den britischen Soldaten. Ishaq hat gelegentlich Botengänge für sie unternommen, und er hat ein gutes Gedächtnis — wenn er will. Er versteht Englisch sehr viel besser, als er zugibt.«

Pitt lächelte. Er konnte sich die Situation recht gut ausmalen, wenn auch nicht unbedingt in Einzelheiten. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass ein junger Araber für britische Soldaten mehr oder weniger unsichtbar war, etwa so wie zu Hause in England ein Dienstbote für seine Herrschaft. In Anwesenheit solcher Menschen sagte man manches, ohne sich besonders zusammenzunehmen, weil man annahm, dass es nicht weitergetragen würde.

Er verneigte sich vor Ishaq.

Dieser erwiderte den Gruß. Seine Augen waren so dunkel, dass sie im flackernden Licht schwarz erschienen. Inzwischen war alle Helligkeit geschwunden, die Röte des Sonnenuntergangs einem dunklen Goldton gewichen. Die Ochsen draußen schienen sich im Wasser zu bewegen, denn Pitt hörte es platschen.

Avram hatte ihm klar gemacht, dass er die Gastfreundschaft ohne Gegenleistung annehmen müsse. Später konnte man etwas schenken, wenn es nicht nach einer Bezahlung aussah, denn das käme einer Beleidigung gleich. Auch hatte er darauf hingewiesen, dass Pitt seine Fragen erst am Ende der Mahlzeit stellen dürfe. Es sei Brauch, zuerst in aller Ruhe zu essen. Diese Belehrung war nicht nötig, hatte Pitt doch mittlerweile gelernt, dass selbst versteckte Andeutungen über den eigentlichen Zweck eines Besuchs als unhöflich dem Gastgeber gegenüber galten.

Mit untergeschlagenen Beinen nahm Pitt am Boden Platz, als man ihn zum Sitzen aufforderte. Er hoffte, dass er nach einer Stunde noch imstande sein würde, wieder aufzustehen. Im Laufe der Mahlzeit wuchsen seine diesbezüglichen Zweifel immer mehr. Er rutschte ein oder zwei Mal unruhig hin und her und fing sogleich Avrams warnenden Blick auf. Dieser schien die Suche zu seiner eigenen Sache gemacht zu haben, als sei es für ihn ebenso wichtig wie für Pitt, die Wahrheit über Lovats Dienstzeit zu erfahren. Pitt fragte sich, ob der Grund dafür eine dem Mann wesenseigene Neugier war, eine intellektuelle Freude, mittels seiner Klugheit Lösungen zu finden, oder ob auch er zu einem späteren Zeitpunkt ein angemessenes Geschenk erwartete. Im Augenblick kam es ihm, während er tausende Kilometer von daheim und fern von allem, was ihm auch nur annähernd vertraut war, äußerst unbehaglich in der lauen Nacht dasaß, ausschließlich darauf an, seinen sonderbaren Führer weder zu kränken noch zu enttäuschen. Nur wenn er sehr umsichtig zu Werke ging, konnte er Erfolg haben.

Endlich war die letzte Dattel gegessen, und Ishaq fragte Pitt mit einem Lächeln, was ihn nach Ägypten geführt habe: das Signal, dass er bereit war, ihm seine Hilfe angedeihen zu lassen.

»Ein britischer Soldat ist in London umgebracht worden«, sagte er in beiläufigem Ton und versuchte, seine Beine unauffällig ein wenig zu strecken und zugleich den Ausdruck des Schmerzes zu unterdrücken, mit dem dieser Versuch bestraft wurde. Er tat so, als müsse er husten, um sein Aufstöhnen zu tarnen. »Der Mann selbst ist nicht wichtig, doch sein Tod könnte einen Skandal hervorrufen, weil ein bedeutender Mann der Tat verdächtigt wird«, fuhr er fort. Befriedigt sah er, dass auf Ishaqs Gesicht der Ausdruck des Verstehens an die Stelle der Verwirrung trat. Wen interessiert es schon in Alexandria, wenn in London jemand getötet wird, der eine gewisse Beziehung zu Ägypten hat? Er nickte höflich.

»Der Ermordete hat vor knapp dreizehn Jahren hier im Heer gedient«, fuhr Pitt fort. »Ich möchte wissen, welchen Ruf er hatte und ob er sich unter seinesgleichen Feinde gemacht hatte. In England lässt sich darüber nichts Genaueres erfahren.« Sicher war es klug, den Namen Ayesha Sachari erst einmal nicht ins Spiel zu bringen. Das konnte er später immer noch tun, wenn es angebracht erschien. »Er hieß Edwin Lovat.«

Ishaq wartete, den Blick unausgesetzt auf Pitts Gesicht gerichtet.

Pitt nannte ihm Lovats Regiment und Dienstgrad, dann beschrieb er kurz dessen Äußeres und bemühte sich, keine Enttäuschung zu zeigen, als er auf Ishaqs Gesicht keinerlei Reaktion erkannte.

Dann aber nickte Ishaq. »Ich erinnere mich an die Männer«, sagte er ausdruckslos.

»Die Männer?«, fragte Pitt. Er verstand nicht. Vielleicht war für Ishaq ein britischer Soldat wie der andere. Er konnte ihm das nicht verdenken. Obwohl er selbst darin ausgebildet war, Menschen genau zu beobachten und zu identifizieren, wäre es ihm unmöglich gewesen, auf seinen Eid zu nehmen, dass er auf der Straße einen bestimmten Ägypter und nicht einen anderen gesehen hatte.

»Es waren vier«, erklärte Ishaq. »Sie waren immer zusammen. Blond, blaue Augen, gingen wie ...« Er gab es auf und sah Hilfe suchend Avram an. Dieser sagte etwas auf Arabisch und erklärte dann, zu Pitt gewandt: »Er meint stolzieren.«

»Kennt Ihr die Namen der anderen?«, fragte Pitt. Es wäre nicht schlimm, wenn er sie nicht wüsste, weil er sich ohne weiteres bei den Militärbehörden erkundigen konnte — das zumindest würde man ihm sagen. Mit welchen Kameraden ein Soldat in seiner Freizeit ausging, unterlag nicht der militärischen Geheimhaltung.

»Yeats«, sagte Ishaq. »Und Garrick«, fügte er hinzu. »Der Letzte fällt mir nicht ein.«

»Das ist ganz großartig. Danke«, sagte Pitt begeistert. »Waren es gute Soldaten, vor allem Lovat?« Im selben Augenblick hätte er sich ohrfeigen können. Wie konnte ein britischer Soldat in den Augen eines Ägypters auf irgendeine Weise »gut« sein?

Avram sagte etwas auf Arabisch, und Ishaq nickte. Er richtete die Antwort an Pitt, als hätte dieser ihm die Frage gestellt. »Er war mutig und hat sich an die Vorschriften gehalten, auf die es ankam.«

Mit einem Mal war Pitts Jagdinstinkt geweckt. »Und die anderen Vorschriften?«, fragte er leise.

Ishaq lächelte, sodass man im Schein des Feuers seine weißen Zähne leuchten sah. Dann sagte er mit völligem Ernst: »Bei den anderen hat er sorgfältig darauf geachtet, sie nur zu brechen, wenn es niemand merkte.«

Pitt holte Luft, um die nahe liegende Frage zu stellen, doch im selben Augenblick sagte Avram: »Er war tapfer. Das ist gut. Ein Feigling nützt niemandem. Und er war gehorsam, nicht wahr? Ein Soldat, der Befehlen nicht gehorcht, bedeutet für seine Kameraden eine Gefahr, oder nicht?« Diesmal sah er Pitt an.

»Gewiss«, stimmte Pitt zu. Er war nicht sicher, warum der Mann ihm das Wort abgeschnitten hatte. War er zu offen gewesen, oder konnte die Antwort auf diese Frage Ishaq in Verlegenheit bringen? Warum? Ging es dabei um ungesetzliche Dinge? Um unmoralische? »Haben die Soldaten ihre dienstfreie Zeit im Dorf oder in der Stadt verbracht?«, fragte er.

Ishaq spreizte die Finger. »Kommt darauf an, wie lange«, sagte er. »Hier gibt es nicht viel Interessantes, aber in Alexandria muss man für sein Vergnügen Geld haben.«

»Die Stadt ist wunderschön, und man kann einfach umherbummeln«, sagte Pitt. Es war ihm ernst. »Dabei kann man vieles über Geschichte und Kulturen anderer Länder erfahren: nicht nur die Ägyptens, sondern auch Griechenlands, Roms, der Türkei, Armeniens, Jerusalems ...« Als er den Ausdruck in Ishaqs Gesicht erkannte, hielt er inne. »Ich war mit Lovat nicht bekannt«, schloss er.

»Das habe ich gemerkt«, sagte Ishaq trocken. »Wenn Soldaten keinen Dienst haben, möchten sie essen und trinken, sich mit Frauen amüsieren, vielleicht ein bisschen nach alten Schätzen suchen.«

Zwar hielt Pitt es für Zeitverschwendung, dass sich Männer auf diese Dinge beschränkten, doch war alles, was da gesagt worden war, harmlos. Die Frage nach den nicht eingehaltenen Vorschriften war damit nicht einmal am Rande angesprochen. Es sah ganz so aus, als würde es ein langer Abend werden, aber immerhin saß Pitt nicht mehr mit gekreuzten Beinen auf dem harten Boden, und an die Stechmücken hatte er sich so gewöhnt, dass er es schon gar nicht mehr merkte, wenn er nach ihnen schlug.

»Was noch?«, fragte Avram gelangweilt, als wolle er lediglich die Stille überbrücken.

Ishaq zuckte die Achseln. »Sie haben in den Sümpfen Vögel gejagt«, sagte er beiläufig, »und gelegentlich nach Krokodilen Ausschau gehalten. Ich glaube, ein oder zwei Mal sind sie flussaufwärts gefahren. Ich habe das für sie organisiert.«

»Wollten sie sich die Tempel und Ruinen anschauen?«, fragte Pitt und bemühte sich, das in ebenso gleichgültigem Ton wie Avram zu sagen.

»Ich glaube schon. Einmal sind sie bis Kairo gefahren. Sie wollten sich die Pyramiden von Giseh ansehen und so weiter.« Mit breitem Grinsen fügte er hinzu: »Dabei sind sie in einen Sandsturm gekommen, haben sie jedenfalls gesagt. Meistens aber waren sie mehr in der Nähe.«

Der Sache weiter nachzugehen lohnte sich offenbar nicht, aber sonst gab es kaum etwas zu sagen, um das Gespräch in Gang zu halten. Allmählich gab Pitt die Hoffnung auf, etwas über Lovat zu erfahren, was ihm wenigstens einen Hinweis auf seinen Charakter lieferte, wenn schon nicht auf einen Grund, warum man ihn getötet hatte. Es sah ganz so aus, als würde er aus Ägypten lediglich die Erkenntnis mitbringen, dass es sich bei Ayesha Sachari um eine hoch gebildete, leidenschaftliche Patriotin und nicht um eine Frau handelte, die sich ihrer Schönheit bedient, um sich jeden Luxus leisten zu können.

»Die vier waren also gewöhnlich zusammen?«, fragte er. Vielleicht konnte er zumindest einen oder zwei der anderen aufspüren und aus ihrer Erinnerung Einzelheiten über Lovat erfahren.

»Meistens«, sagte Ishaq. »Allein umherzustreifen ist nicht besonders sicher.« Er musterte Pitt aufmerksam, um zu sehen, ob er verstanden hatte oder man ihm erklären musste, dass ein Brite als Angehöriger der bewaffneten Besatzungsmacht in einem fremden Land nicht bei allen Menschen wohlgelitten war und unter Umständen mit heftigen Reaktionen rechnen musste.

Pitt begriff durchaus. Er hatte es gemerkt, wenn er durch die Stadt ging, in der Luft gespürt, in den heimlichen Blicken der Männer wie Frauen gesehen, die sie tauschten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Schon möglich, dass sie für die mit der Anwesenheit der Fremden verbundenen finanziellen Vorteile dankbar waren, aber niemand stand gern in der Schuld anderer oder wollte von ihnen abhängig sein. Sicherlich gab es in Einzelfällen Zuneigung  – er musste an Trenchards Leidenschaft für seine ägyptische Geliebte denken —, aber ebenso sicher gab es auch Hass. Im Normalfall durfte man mit einer gewissen Achtung rechnen, möglicherweise auch mit Neugier, und gelegentlich unter Umständen mit einem gewissen Verständnis. Aber immer lauerte der Volkszorn dicht unter der Oberfläche. Gewiss hatte es diese Gefühle auch damals schon gegeben; sie waren durch die Beschießung Alexandrias höchstens noch verstärkt worden und mochten sich seither deutlicher zeigen als zuvor.

Schweigend saßen die drei Männer einige Minuten da. Das gleichmäßige Geräusch, das die im Wasser umherstapfenden Ochsen machten, wirkte beruhigend, da es aus der Natur kam. Der Nachtwind trug einen Hauch von Kühle herbei, die nach dem langen, heißen Tag erfrischend wirkte.

»Und dann war da natürlich die Frau«, sagte Ishaq mit betont teilnahmsloser Stimme. Es entging Pitt nicht, dass er ihn dabei aufmerksam ansah. »Wenn ihn aber jemand deswegen hätte umbringen wollen, wäre es damals passiert. Sie war Tochter eines reichen und gebildeten Mannes. Wäre sie Muslimin gewesen, hätte das Schwierigkeiten geben können ... große Schwierigkeiten. Aber sie war Christin. Übrigens war Mr Lovat ausgesprochen fromm.« Im Dunkel der Lehmhütte ließ sich der Ausdruck auf Ishaqs Gesicht nicht deuten, aber in seiner Stimme hörte Pitt ein Dutzend verschiedene Empfindungen mitschwingen. Bei einem Engländer hätte Pitt möglicherweise jede einzelne von ihnen deuten können, aber er befand sich in einem fremden Land mit einer unendlich komplexen alten Kultur und sprach mit einem Mann, dessen Vorfahren diese außerordentliche Zivilisation tausende von Jahren vor Christi Geburt, ganz zu schweigen von der Entstehung des britischen Weltreichs, geschaffen hatten. Ja, die Pharaonen waren bereits Herrscher über ein eigenes Großreich gewesen, bevor Moses geboren oder Lot bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha errettet wurde.

Er spürte den harten Boden unter sich, fühlte die schwere warme Luft und hörte, wie sich die Tiere draußen hin und wieder bewegten. Obwohl all das ebenso wirklich war wie das Sirren der Stechmücken, hatte er ein Gefühl von Unwirklichkeit, als wäre seine Anwesenheit dort ein Traum. Der Gedanke, dass Saville Ryerson in London im Gefängnis saß, bedrückte ihn ebenso wie der, dass Narraway erwartete, er werde eine Möglichkeit entdecken, wie sich ein Skandal abwenden ließ.

»Er war also sehr fromm?«, fragte er neugierig.

»Ja«, nickte Ishaq. Wieder ließ sich der Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. »Er hat sich häufig beim alten Heiligtum unten am Nil aufgehalten. Diesen Ort hat er gern aufgesucht. Er ist sehr heilig – auch wir haben ihn verehrt.«

»Wie?«, fragte Pitt verwirrt. »Angehörige des Islam?«

»Ja. Bevor er ...« Ishaq verstummte.

Avram warf ihm einen finsteren Blick zu.

Ishaq sah an Pitt vorbei. »Mein Vater hat sie alle beerdigt«, sagte er so leise, dass Pitt die Worte kaum hörte. »Ich weiß noch genau, wie sein Gesicht monatelang danach ausgesehen hat. Ich dachte, er würde nie darüber hinwegkommen. Vielleicht war es auch so — es hat ihn den Rest seines Lebens im Traum heimgesucht. Am schlimmsten war es, als er starb.« Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Sein Atem klang zittrig. »Ein treuer Diener hat sich um ihn gekümmert, hat getan, was er konnte, um es ihm zu erleichtern, aber er konnte nicht verhindern, dass die Geister immer wiederkehrten.« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, und seine Stimme bebte vor Mitgefühl. »Stundenlang hat er mit ihm gesprochen, ihm davon erzählt. Er musste es einfach tun. Er hatte grauenhafte Träume ... das Blut und die aufgeplatzten Gliedmaßen, wie gekochtes Fleisch, Gesichter, so verkohlt, dass man kaum noch Menschen in ihnen erkennen konnte ... Ich habe gehört, wie er geweint hat ...« Er sprach nicht weiter.

Pitt sah zu Avram hin. Dieser schüttelte den Kopf.

Sie warteten schweigend.

»Feuer«, sagte Ishaq schließlich. »Vierunddreißig, soweit es möglich war, die Reste in der Asche zu zählen. Sie waren darin gefangen.«

»Das tut mir Leid«, sagte Pitt leise. Er hatte in England Brände miterlebt, kannte die entsetzlichen Folgen, wusste, dass er den Geruch von brennendem Fleisch nie vergessen würde.

Ishaq schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist tot und der Diener auch.«

Avram fuhr auf. »Das wusste ich nicht.«

Ishaq biss sich auf die Lippe und schluckte. »In Alexandria — ein Unfall.«

»Das tut mir Leid«, sagte Avram kopfschüttelnd.

Ishaq öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch einen Augenblick lang brachte er es nicht fertig, seinen Kummer zu beherrschen.

Pitt und Avram schwiegen. Draußen war es vollständig dunkel. Durch die offenen Fenster sah man die Sterne im Samt des Himmels schimmern. Endlich wurde es kühler.

Schließlich hob Ishaq den Blick. »Ich glaube, das Feuer hat auch Leutnant Lovat zu schaffen gemacht«, sagte er. Seine Stimme klang wieder gefasst. »Bald darauf wurde er krank. Irgendein Fieber, sagte man. Es schien damals im Lager umzugehen. Er wurde nach Hause geschickt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.«

»Sind seine Freunde hier geblieben?«, fragte Pitt.

»Nein«, sagte Ishaq leise. »Alle sind fort, aus verschiedenen Gründen. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Vermutlich hat man sie woanders hingeschickt. Euer Reich ist sehr groß. Vielleicht nach Indien? Man braucht ja nur noch an Suez vorbei durch den neuen Kanal, von da aus liegt die halbe Welt offen vor einem.«

»Ja«, murmelte Pitt und hoffte aufrichtig, wenigstens einen dieser Männer in London ausfindig machen zu können, um die Befragung nicht telegrafisch durch irgendeinen Beamten der Militärbürokratie durchführen lassen zu müssen. Ishaq hatte Recht: Durch das Meisterwerk aus Verhandlungskunst und Technik, das der Suezkanal bedeutete, stand Großbritannien die halbe Welt offen. Wegen seiner großen Bedeutung für die Wirtschaft und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im ganzen Reich war es undenkbar, dass man Ägypten je die vollständige Selbstbestimmung zugestehen würde. Die Baumwolle spielte bei dieser Frage nur eine untergeordnete Rolle. Wie hatte Miss Sachari je auf den Gedanken kommen können, ihr Vorhaben lasse sich verwirklichen? Als Geisel wirtschaftlicher Abhängigkeit war Ägypten viel zu kostbar, als dass man es freigeben könnte.

Er kam sich vor wie jemand, der einen komplizierten Knoten zu lösen versucht und feststellen muss, dass dieser immer fester wird, je mehr er an den einzelnen Fäden zieht. Die ganze Angelegenheit bedrückte ihn immer mehr.

»Danke für Eure Gastfreundschaft«, sagte er und verneigte sich vor Ishaq. »Die Mahlzeit wie das Gespräch waren mir sehr willkommen. Ich stehe tief in Eurer Schuld.«

Man konnte sehen, dass sich Ishaq über seine Worte freute, doch lag in seinem Ausdruck etwas Unbestimmbares. Im Licht der tiefergebrannten Kerzen konnte Pitt kaum noch Ishaqs Körperumriss ausmachen.

Nach wenigen Minuten verließen Avram und Pitt unter wiederholten Dankesbezeugungen Ishaqs Behausung.

Auf dem Rückweg konnten sie kaum erkennen, wo sie gingen. Nur noch gelegentlich brach sich das Licht eines Sterns im Wasser wie eine leichte Welle. Mit einem Mal merkte Pitt, wie müde er war. Er fühlte sich wie zerschlagen. Das lag nicht nur am langen Sitzen auf dem Boden, sondern auch an den Prellungen und Blutergüssen, die er bei dem Zwischenfall im Teppichbasar davongetragen hatte. Sein Kopf schmerzte nach wie vor von dem Schlag des Polizisten. Im Augenblick kannte er keinen sehnlicheren Wunsch, als sich auf ein weiches Lager sinken zu lassen und lange und tief zu schlafen. Dahinter trat sogar sein Bestreben zurück, eine Erklärung für Lovats Tod zu finden, die sowohl Ryerson als auch die Ägypterin von jedem Schuldvorwurf freisprach.

Während er Avram folgte, ließ er sich mindestens ebenso sehr vom Geräusch seiner Schritte auf dem ausgedörrten Boden leiten wie vom dunklen Umriss seines Körpers, den er undeutlich vor sich wahrnahm. Nach knapp zwei Kilometern stießen sie auf ein einsam stehendes Haus fern vom Wasser. Dort nahm man sie über Nacht auf. Avram bezahlte, nicht ohne sich von Pitt versprechen zu lassen, dass dieser nach seiner Rückkehr nach Alexandria seinen Anteil begleichen würde. Wenn er weiter so mit dem Geld um sich warf, würde das, was er im Hotel hatte, nicht genügen, und er würde Trenchard bitten müssen, ihm einen Vorschuss zu geben. Mochten sich das Konsulat und Narraway über die Rückerstattung einigen.

 

Am nächsten Morgen war es kühler als sonst. So weit außerhalb Alexandrias wirkte die Luft silbrig und durchscheinend. Die Landschaft zwischen dem Mahmudije-Kanal, der zum Meer führte, und dem großen Binnensee südlich der Stadt, auf dessen Fläche sich das Licht des frühen Morgens spiegelte, war von berückender Schönheit. Die dunklen Umrisse von Kamelen, die lautlos mit wiegendem Schritt dahinzogen, schienen eher ein Traumbild als Wirklichkeit zu sein.

Noch am selben Tage wollte Pitt die Zuständigen in der Garnison aufsuchen, in der Lovat gedient hatte. Gleich nach dem Frühstück, das aus Datteln und anderen Früchten, Brot und starkem schwarzen Kaffee in Tässchen bestand, die kaum größer waren als ein Fingerhut, brach er auf. Avram begleitete ihn, obwohl seine Gegenwart eigentlich nicht nötig war. Pitt nahm an, er komme hauptsächlich mit, um ihm keine Gelegenheit zu geben, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen. Zwar hätte er selbst das gewiss nicht in so kränkender Weise gesagt, aber ihm dürfte daran gelegen sein, seine finanziellen Interessen zu wahren.

Erst nachdem er nahezu eine Stunde lang argumentiert und all seine Überredungskunst aufgeboten hatte, sah sich Pitt schließlich einem schmächtigen, schlecht gelaunten Offizier mit sonnengebräunter Haut gegenüber, einem gewissen Oberst Margason. Avram musste unterdessen vor dem Tor der Kaserne warten. Während Pitt neben dem Oberst auf einer kleinen, schattigen Veranda stand, von wo aus der Blick auf den in der Sonne brütenden Exerzierplatz fiel, den sand- und erdfarbene Gebäude umstanden, fragte dieser mit offenkundigem Abscheu und ohne seine tiefe Abneigung neugierigen Zivilisten gegenüber im Geringsten zu verhehlen: »Sie sind also vom Sicherheitsdienst. Ist das irgendeine spezielle Abteilung der Polizei? Großer Gott! Wo soll das hinführen? Ich hätte nie geglaubt, dass man sich in London zu so etwas hergibt!« Er funkelte Pitt an. »Nun, was wollen Sie? Ich weiß von keinem Skandal, und falls mir so etwas zu Ohren käme, würde ich das dem Mann ins Gesicht sagen und nicht hinter seinem Rücken darüber tratschen.«

Pitt war müde, alles schmerzte ihn, und er war über und über von Mückenstichen bedeckt. Es gab kaum eine Stelle seines Körpers, die er nicht spürte.

»Wenn ich Sie recht verstehe, brauchte ich von Ihnen keinerlei Unterstützung zu erwarten, sofern ich das Pech hätte, mit dem Auftrag hergeschickt zu werden, in den Reihen der Ihnen unterstellten Männer einen Spion zu enttarnen ... Sir!«, gab Pitt gereizt zurück. Er sah, wie Margason die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Mein Auftrag lautet, mich nach einem Mann zu erkundigen«, fuhr er fort, »der in London ermordet wurde. Auf die eine oder andere Weise scheint es da eine Verbindung zu Ägypten zu geben. Bekannt ist uns lediglich, dass er vor zwölf, dreizehn Jahren hier draußen Dienst getan hat. Es wäre wünschenswert, wenn wir bei der Verhandlung die Möglichkeit hätten, jeden Anwurf gegen ihn zu entkräften, statt einfach alles abstreiten zu müssen. So etwas wirkt meist ohnehin nicht glaubwürdig.«

Margason knurrte. Die gegenseitige Abneigung nahm erkennbar zu, doch konnte er die Berechtigung von Pitts Anliegen nicht bestreiten. Ganz gleich, was er von ihm halten mochte, er würde auf jeden Fall alles tun, um den Ehrenschild seines Regiments rein zu halten. »Wie hieß der Mann?«, fragte er.

»Edwin Lovat«, sagte Pitt und nahm vorsichtig auf einem der Stühle Platz, als wolle er damit seine Absicht untermauern, erst zu gehen, wenn er alles erfahren hatte, was er wissen wollte. Da der harte Sitz alles andere als bequem war, reizte er dieselben Stellen wie der Erdboden am Vorabend, ganz zu schweigen von dem Strohsack, auf dem er die Nacht verbracht hatte.

»Hm, Lovat«, wiederholte Margason, der stehen geblieben war, nachdenklich. »Das war vor meiner Zeit, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Damals war Garrick hier Garnisonskommandeur. Ist nach England zurückgekehrt. Vermutlich können Sie ihn in London finden.« Er lächelte sarkastisch. »Sie hätten sich die Reise also sparen können! Sind Sie eigentlich nicht auf den Gedanken gekommen, sich vorher zu erkundigen? Gott bewahre uns vor diesem ›Sicherheitsdienst‹, wenn Sie ein typischer Vertreter davon sind.«

»Wir begnügen uns nicht mit der Ansicht von Einzelpersonen, sondern suchen nach weiterem Material«, sagte Pitt, so beherrscht er konnte. »Außerdem verlassen wir uns nicht ausschließlich auf die Angaben des Militärs. Der Mann ist unter außergewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen, und ein Kabinettsmitglied ist in den Fall verwickelt. Wir können es uns nicht leisten, selbst noch so unbedeutende Spuren außer Acht zu lassen.«

Erneut knurrte Margason, wobei er den Blick auf den kahlen Exerzierplatz gerichtet hielt, den tausende von Stiefelsohlen festgetreten hatten. »So was les ich in der Zeitung nicht. Dafür fehlt mir die Zeit. Hab hier draußen genug zu tun.« Er warf einen Blick zur Sonne empor, die vom Himmel herunterbrannte. »Hier herrscht große Unruhe. Mehr, als die Bürohengste in London annehmen. Der kleinste Funke genügt, und das Pulverfass kann in die Luft gehen.«

»Das habe ich gesehen«, gab ihm Pitt Recht. »Gestern bei einem ziemlich üblen Zwischenfall auf dem Teppichbasar. Mit viel Glück ist ein britischer Offizier mit dem Leben davongekommen.«

Margasons Lippen wurden schmal. »Das bleibt nicht aus. Wir haben die Rechnung immer noch nicht beglichen, dass sie Gordon in Khartoum umgebracht haben. Der verdammte Mahdi ist zwar tot, aber das hat nicht viel zu bedeuten. Da im Sudan wimmelt es von Derwischen — verdammte Irre!« Seine Stimme zitterte ganz leicht. »Wenn die eine Gelegenheit dazu hätten, würden die jeden Einzelnen von uns umbringen. Und jetzt kommen Sie her, um sich nach dem Ruf eines einzelnen Soldaten zu erkundigen, der vor zwölf Jahren in Alexandria gedient hat und in London umgebracht wurde. Mann Gottes, sind Sie denn nicht fähig, einen verdammten Minister aus der Sache rauszuhalten, ohne hier herumzutapsen und meine Zeit mit Fragen zu vergeuden?«

»Ich würde weniger davon vergeuden, wenn Sie mir etwas über Lovat erzählen würden«, gab Pitt zurück. »Können Sie mir keinen Offizier nennen, von dem ich Genaueres und Ehrlicheres erfahren kann als das, was in den Unterlagen des Militärarchivs steht? Lovat hat die Frau, die unter Anklage steht, hier kennen gelernt.«

»Tatsächlich? Er hat sie sitzen lassen, und sie hat ihm das all die Jahre nachgetragen? Bemerkenswert. Geht es um Vergewaltigung?« Margason klang verächtlich, schien sich aber nicht sonderlich betroffen zu fühlen. Pitt war nicht einmal sicher, ob sein Abscheu Lovat oder dessen Opfer galt.

»Kommt es oft vor, dass Ihre Leute hier in der Gegend Frauen vergewaltigen?«, erkundigte sich Pitt mit unschuldig klingender Stimme. »Vielleicht hätten Sie weniger Schwierigkeiten, Ausbrüche von Feindseligkeit zu verhindern, wenn Sie dem einen Riegel vorschieben würden.«

»Hören Sie, Sie unverschämter ...«, stieß Margason hervor und fuhr wie ein angreifendes Raubtier zu Pitt herum.

Dieser rührte sich nicht. »Ja?«, fragte er mit gehobenen Brauen.

Margason richtete sich wieder auf. »Ich war zu der Zeit, um die es geht, auch hier, damals noch im Rang eines Majors. Über Lovat ist mir lediglich bekannt, dass er ein guter Soldat war, wenn auch kein herausragender. Er hat einer Einheimischen den Hof gemacht, aber soweit ich gehört habe, gab es dabei keine Komplikationen. Eine einfache Geschichte: ein junger Mann, der sich romantische Vorstellungen von einer exotischen Frau macht. Sie hat sich nie beschwert, und er wurde als dienstuntauglich nach Hause geschickt.«

»Aus welchem Grund?«

»Was weiß ich? Irgendein Fieber. Damals hat niemand besonders darauf geachtet. Es war die Zeit kurz nach dem Zwischenfall am Heiligtum, das von Moslems wie Christen verehrt wurde, und wir mussten täglich mit einem Aufstand rechnen. Mehr als dreißig Menschen sind da bei einem Feuer umgekommen, lauter Moslems. Da können Sie sich denken, dass die Atmosphäre äußerst angespannt war. Man musste befürchten, dass es zu religiös motivierten Übergriffen kam. Oberst Garrick hat eine ganz entschiedene Linie vertreten und die Sache im Keim erstickt: Er hat dafür gesorgt, dass die Toten beerdigt wurden, ein Denkmal bekamen, und auch einen Posten dahin gestellt. Wenn er dahinterkam, dass jemand einen Moslem nicht mit der nötigen Achtung behandelte, kriegte der Betreffende Kasernenarrest.«

»Und ist es zu weiteren Zwischenfällen gekommen?«, fragte Pitt. Ihm kam in den Sinn, was Ishaq gesagt hatte.

»Nein«, gab Margason ohne Zögern zur Antwort. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, Garrick wusste, was er tat. Allerdings musste er sein ganzes Geschick aufbieten und für strengste Disziplin sorgen, um Ruhe zu schaffen. In einer solchen Lage denkt wohl niemand an einen Mann, der sich von einem Fieberanfall erholt.«

»Ist es üblich, Fieberkranke in die Heimat zu entlassen?«

»Bei einem periodisch wiederkehrenden Fieber wie Malaria oder dergleichen durchaus.« Der Oberst schüttelte den Kopf. »Von mir aus können Sie sich gern den Bericht des Regimentsarztes ansehen. Ich habe allerdings keine Zeit, ihn herauszusuchen. Soweit ich weiß, war Lovat ein guter Offizier, den man aus gesundheitlichen Gründen entlassen hat. Ein Verlust für die Armee, doch gibt es für Leute wie ihn auch in England reichlich Arbeit. Sprechen Sie, mit wem Sie wollen, aber setzen Sie bloß keine Gerüchte in die Welt, und vergeuden Sie unsere Zeit nicht.«

Pitt erhob sich. Es war deutlich, dass Margason ihm mehr nicht sagen würde, und da er auch seine eigene Zeit nicht vergeuden wollte, dankte er ihm.

Er verbrachte den Rest des Tages damit, andere Soldaten nach Lovat zu fragen. Während er ihnen zuhörte, gewann er einen weit umfassenderen Eindruck von dem Mann. Besonders nützlich war ihm, was ein hagerer, wettergegerbter Hauptfeldwebel zu berichten hatte, der schließlich bereit war, offen zu sprechen. Allerdings hatte es eine Weile gedauert, bis Pitt sein Vertrauen so weit gewonnen hatte. Er hatte dazu Erinnerungen an das Londoner East End heraufbeschwören müssen, wo der Mann aufgewachsen war, die er mit leicht sentimental angehauchten Beschreibungen der Hafenanlagen und der Themse auf ihrem Weg nach Greenwich angereichert hatte. Am Ende aber gab ihm der Mann die Auskünfte, die er brauchte. Im pfirsichfarbenen Schimmer der allmählich sinkenden Sonne schritten sie gemächlich an einem der vielen Arme des Deltas entlang, das die Mündung eines der größten Flüsse Afrikas bildete.

»Ich konnte den Burschen nich verknusen«, sagte der Mann mit unverhohlener Abneigung, während sein Blick einem Schwarm Vögel folgte, die sich schwarz vor dem Himmel abzeichneten. »Aber’n schlechter Soldat war er nich.«

»Aus welchem Grund konnten Sie ihn nicht leiden?«, wollte Pitt wissen.

»Weil er ’n selbstgerechter Scheißkerl war. Ich geh immer danach, wie sich einer benimmt, wenn ’s knüppeldick kommt oder wenn er einen sitzen hat. Da sieht man gleich, ob er was taugt oder nich.« Mit einem Seitenblick zu Pitt hin vergewisserte er sich, ob ihn dieser verstand. Er schien mit dem Ergebnis seiner Beobachtung zufrieden zu sein. »Kann nix mit ’nem Mann anfangen, der sein’ christlichen Glauben vor sich herträgt. Versteh’n Se mich nich falsch – ich hab nix für diesen Mohammed und auch nix für das übrig, was er sagt; und wie die Leute hier ihre Frauen behandeln, is einfach widerlich. Aber wir sind manchmal auch nich besser. Ich sag immer: leben und leben lassen.«

»Hat denn Lovat die islamische Religion nicht geachtet?«, hakte Pitt nach. Er war nicht sicher, ob das von Bedeutung war, denn selbst wenn es sich so verhielt, dürfte man ihn kaum deswegen nach so vielen Jahren im fernen London getötet haben.

»Schlimmer«, sagte der Mann und verzog das Gesicht, dessen Haut im schwindenden Tageslicht so dunkel wirkte wie die Bronze einer Statue. »Er hat denen nix gegönnt, wenn es was war, wovon er meinte, dass es den Christen gehören müsste. Er is nie drüber weggekommen, dass die Jerusalem eingenommen ha’m. ›Heilige Stadt‹, hat er immer gesagt — und auch all die anderen Orte da.«

»Trotzdem hat er sich in eine Ägypterin verliebt«, erinnerte ihn Pitt.

»Schon. Weiß ich selber. Er war verrückt nach ihr, und ’ne Zeit lang konnte man mit ihm kein vernünftiges Wort reden. Aber das war ’ne koptische Christin, und damit war die Sache für ihn in Ordnung.« Angewidert verzog er das Gesicht. »Geheiratet hätt er se aber trotzdem nich. Die Sache mit ihr war so was, was man macht, wenn man jung und im Ausland is. Seine Leute hätt’n Kopf gestand’n, wenn er zu Hause mit ’ner Ausländerin angetanzt war’!«

»Haben Sie sie gekannt?«, fragte Pitt.

»›Kennen‹ is nich der richtige Ausdruck, aber geseh’n hab ich sie natürlich. Sie war schön«, sagte er mit sehnsüchtig klingender Stimme. »Bewegt hat se sich wie ’n Vogel in der Luft.« Er wies auf einen weiteren Schwarm von Wasservögeln, die vor der sinkenden Sonne dahinschwebten.

»Haben Sie Lovats Kameraden Garrick und Yeats gekannt?«, fuhr Pitt fort.

»Na klar, und auch Sandeman. Sind alle nach Hause gefahren. Sind einer wie der andere zur selben Zeit krank geworden —hatten wohl alle dasselbe Fieber.«

»Und hat man sie alle entlassen?«

Der Hauptfeldwebel zuckte die Achseln. »Weiß nich. Yeats soll tot sein, soweit ich gehört hab, armer Kerl. Is bei irgend ’nem Kommandounternehmen umgekomm’. Da muss er wohl beim Militär geblieben und woanders hingegangen sein, wo das Klima besser is. Woll’n Se über die andern auch was wiss’n? Glau’m Se etwa, einer von denen hätte ’n umgebracht?« Er schüttelte den Kopf. »Wüsste nich, warum. Aber das is Ihre Sache. Gott sei Dank hab ich nix damit zu tun. Ich muss nur darauf acht’n, dass die Jungs hier in Ägypten für Ordnung sorg’n.« Dabei wies er mit einer Hand auf die dunklen Umrisse der Kaserne.

»Denken Sie, dass das schwierig sein wird?«, fragte Pitt, mehr um etwas zu sagen, als weil er der Ansicht war, der Mann wisse etwas darüber. Doch fiel ihm auf, dass ihm die Antwort wichtig war. Die zeitlose Schönheit des Landes würde ihn begleiten, wenn er in die Hektik des modernen Lebens in London zurückkehrte. Er würde immer wünschen, er hätte genug Zeit und Geld gehabt, den Nil hinaufzufahren, das Tal der Könige zu sehen, die großartigen Tempel und Ruinen aus einer Zeit, in der die Pharaonen die damalige bekannte Welt beherrschten, lange bevor Christus geboren wurde.

Außerdem erkannte er seinen tiefen Wunsch, die Ägypterin möge schuldlos sein und er eine Möglichkeit haben, das zu beweisen. Inzwischen war er überzeugt, dass sie nach England gegangen war, weil sie versuchen wollte, etwas für die Befreiung ihres Volkes von den wirtschaftlichen Zwängen zu unternehmen, die ihm die Briten auferlegt hatten. Da sie das Machtspiel der Politik nicht durchschaute, konnte sie nicht wissen, dass man ihrem Volk die Art Gerechtigkeit, nach der sie strebte, nie gewähren würde, solange die Baumwollindustrie in der Grafschaft Lancashire eine Million Menschen ernährte. Zwar waren auch sie arm, lebten in Elend und Krankheit, dennoch waren sie ein entscheidender Faktor im Machtkalkül der Politiker in London. Noch wichtiger aber war, dass nur wenige Meilen von dort, wo sich Pitt jetzt befand, jenseits der Wüste, die älter war als die Menschheit und jetzt im Schimmer der ersten Sterne ockerfarbene Schatten warf, das moderne Wunderwerk eines Kanals lag, der vom Mittelmeer ins Rote Meer führte und den Briten den Zugang zur anderen Hälfte ihres Reiches ermöglichte.

Neben dem Hauptfeldwebel stehend, sah Pitt zu, wie die letzte dünne Linie des Tageslichts schwand. Dann dankte er ihm und suchte Avram auf, um ihm zu sagen, dass sie am folgenden Morgen nach Alexandria zurückkehren würden. Dort wollte er ihm eine angemessene Belohnung für seine Hilfe geben.