KAPITEL 9
Gracie saß Tellman in einer Ecke der Gaststube gegenüber. Er sah sie aufmerksamer an, als es für das, was sie ihm zu berichten hatte, nötig war. Mit einer Mischung aus Freude und Befangenheit begriff sie, dass er sie ebenso ansehen würde, wenn sie völligen Unsinn erzählte. Damit würde sie sich früher oder später beschäftigen müssen. Er hatte ihr gegenüber schon alle möglichen Empfindungen an den Tag gelegt: ganz zu Anfang Desinteresse, dann Ärger darüber, dass sie sich zur Dienstbotin hergab, die wirtschaftlich vollständig von ihrer Herrschaft abhängig war, und nach einer Weile, als sie Pitt bei einigen Fällen geholfen hatte, eine Artwiderwilliger Hochachtung vor ihrer Intelligenz. Zum Schluss dann hatte er ihr, deutlicher, als ihm selbst klar war, gezeigt, dass er sich in sie verliebt hatte, obwohl er sich nach Kräften bemühte, es vor allen verborgen zu halten, ganz besonders vor sich selbst. Immerhin tat er inzwischen nicht mehr so, als habe er nichts für sie übrig — zumindest nicht immer.
Einmal, als er von seinen Gefühlen übermannt worden war, hatte er ihr einen Kuss gegeben. Sie konnte sich noch gut daran erinnern. Wenn sie die Augen schloss und alles andere um sich herum vergaß, spürte sie die Süße dieses Kusses noch, als läge er erst wenige Augenblicke zurück. Als ihr diese Erinnerung einmal auf einer windigen Straße gekommen war, wo sie völlig allein war, gestand sie sich mit einem Lächeln ein, dass auch sie ihn liebte.
Das aber hieß noch lange nicht, dass sie auch bereit war, ihn das merken zu lassen. Trotzdem war es gut zu wissen, was sie wollte, auch wenn sie noch nicht wusste, wann es so weit sein würde.
Jetzt berichtete sie ihm, was Lady Vespasia über die Familie Garrick in Erfahrung gebracht hatte, und teilte ihm mit, dass Stephen Garrick angeblich aus Gesundheitsgründen nach Südfrankreich gereist war.
»Aber das is schon so lange her, da hätt Martin doch längst an Tilda schrei’m könn’, oder nich?«, beendete sie ihren Bericht. »Er hätt das sogar schon tun könn’, bevor er gegangen is! Das is doch nich schwer, und bestimmt hätt der junge Mr Garrick nix dageg’n gehabt.«
Tellman machte ein finsteres Gesicht. Das Leben als Dienstbote im Hause anderer war ein wunder Punkt, über den sie sich schon oft in die Haare geraten waren. Er hielt nichts davon, dass Menschen zur Erledigung alltäglicher Familienangelegenheiten die Erlaubnis anderer einholen mussten.
»Dagegen dürfte er eigentlich nichts haben«, sagte er mit Nachdruck. »Aber man weiß nie.« Er sah sie so aufmerksam an, als sei keiner der anderen Menschen im Raum. »Aber nach Südfrankreich müsste er Gepäck mitgenommen haben, außerdem sind sie in dem Fall entweder mit einer Droschke oder der eigenen Kutsche gefahren, zumindest bis zum Bahnhof. Alle Kanalfähren haben eine Passagierliste. Wenn wir die Namen da finden, wissen wir mit Sicherheit, ob Martin Garvie bei ihm war oder nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum von ihm kein Brief gekommen sein soll.«
»Vielleicht könnten wir den alten Mr Garrick nach der Adresse fragen?«, schlug Gracie vor. »Dagegen kann er nix haben. Die Eltern wissen doch bestimmt, wohin die ihrem Sohn schreiben können.«
Tellman verzog den Mund. »Sicher«, sagte er, »aber erinnern Sie sich, dass dabei schon einmal nichts herausgekommen ist — erst hat Tilda es versucht, und dann Sie; beide Male ohne Ergebnis. Ich werde sehen, was ich feststellen kann.«
Sie sah ihn aufmerksam an. Sie kannte jeden Ausdruck seines Gesichts, hätte es mit geschlossenen Augen beschreiben können. Ihr war klar, dass er sich Sorgen machte, und auch, dass er das vor ihr nicht zeigen wollte — teils, um sie nicht zu beunruhigen, teils, weil er seiner Sache nicht sicher war.
»Sie denken, dass da was faul is, was?«, fragte sie leise. »Kein Mensch erzählt ohne Grund Lügengeschichten.«
Vorsichtig sagte er: »Ich weiß es nicht. Können Sie sich übermorgen Abend freinehmen?«
»Wenn es sein muss. Warum?«
»Ich sage Ihnen dann, was ich herausbekommen habe. Es kann aber eine Weile dauern, bis ich etwas weiß. Ich muss Zeugen finden, mich bei der Bahn- und Fährgesellschaft erkundigen und so weiter.«
»Natürlich. Mrs Pitt würde nie Nein sag’n, wenn’s um ’ne Nachforschung geht. Ich komm. Sag’n Se mir einfach, wann.«
»Ginge es ziemlich früh am Abend? Wir könnten ins Varietee gehen, uns etwas Nettes ansehen.« An seinem fragenden Blick erkannte sie, dass er hoffte, sie würde annehmen, und zugleich nicht sicher war, ob es ihr recht wäre. Immerhin war das eine private Verabredung, die nichts mit dem Fall zu tun hatte. Es handelte sich um seine erste Einladung dieser Art, und das war beiden durchaus bewusst.
Sie wollte ganz beiläufig reagieren, so tun, als sei das nichts Ungewöhnliches, doch es gelang ihr nicht. Sie merkte, dass sie errötete; ihre Wangen brannten heiß.
»Ja ...«, sagte sie unbehaglich und mit leicht heiserer Stimme. Bald würde sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen, für die sie noch nicht bereit war, obwohl sie schon seit längerem wusste, was sie empfand, und viel Zeit gehabt hatte, es sich zu überlegen. »Ja, ich hör gern Musik.« Was sollte sie anziehen? Es musste etwas Besonderes sein. Sie wollte ihm gefallen, fürchtete es aber zugleich. Wenn ihn nun seine Gefühle übermannten und sie nicht wusste, was sie tun sollte? Vielleicht hätte sie doch Nein sagen und die Sache auf seiner beruflichen Ebene belassen sollen.
»Gut.« Jetzt war es zu spät, es sich anders zu überlegen. Hatte er die Unentschlossenheit auf ihrem Gesicht erkannt?
»Nun ...«, setzte sie an.
»Ich schlage sieben Uhr vor«, sagte er ein wenig zu rasch. »Erst essen wir etwas. Dabei sage ich Ihnen, was ich herausbekommen habe, dann können wir ins Varietee gehen.« Er stand auf, als fühle auch er sich befangen und wolle sich davonmachen, bevor er etwas tat, wobei er sich noch törichter vorkam.
Auch sie stand auf. Dabei stieß sie ungeschickt gegen den Tisch. Zum Glück stand nichts darauf, was umfallen und auslaufen konnte. Nur die Gläser klirrten ein wenig.
Am Ausgang ließ er ihr den Vortritt. Draußen auf der Straße war es schwieriger, offen miteinander zu sprechen. Schwerfällig wurde ein Fuhrwerk voller Bierfässer rückwärts um die Ecke in den Hof rangiert. Der Kutscher hielt das Leitpferd am Zaum und rief seine Befehle. Ein Stück weiter zog ein Mann ein halbes Dutzend kleiner Fässer auf einem Handwagen, der laut über die Pflastersteine polterte. Auf der Straße ertönte Hufschlag und klirrte Pferdegeschirr.
Gracie war froh über den Lärm und die Ablenkung. Bei einem raschen Blick auf Tellmans Gesicht glaubte sie zu sehen, dass es ihm ebenso ging. Ob er kalte Füße bekommen hatte und nun ewig nichts mehr sagen würde? Damit hätte sie Zeit zum Nachdenken gewonnen. Worüber? Es war klar, dass sie Ja sagen würde; sie musste sich nur noch überlegen, auf welche Weise. Veränderungen machten ihr Angst. Seit sie dreizehn war, lebte sie in Pitts Haus. Sie konnte die Familie unmöglich verlassen!
Tellman sagte über den Lärm hinweg etwas zu ihr.
»Ja«, bestätigte sie nickend. »Übermorgen um sieben hier. Sie stellen fest, was mit Martin Garvie is. Wiederseh’n.« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich mit einem frohen Lächeln auf dem Absatz um.
Zwei Abende später trafen sie sich am selben Tisch in der Ecke des Gasthauses. Zu einem einfachen dunklen Jackett trug Tellman ein weißes Hemd, dessen Kragen noch steifer wirkte als sonst. Gracie hatte ihr bestes blaues Kleid angezogen und als einziges Zugeständnis daran, dass es sich um eine besondere Gelegenheit handelte, das Haar nicht ganz so straffnach hinten gekämmt wie sonst, sodass es ein wenig unter ihrer Haube hervorsah. Kaum hatte sie einen Blick auf Tellmans Gesicht geworfen, als jeder Gedanke an sie selbst mit einem Schlage verschwand.
»Was is?«, fragte sie eindringlich, sobald sie sich gesetzt und ihre Bestellung, Strandschnecken mit Brot und Butter, aufgegeben hatten. »Was is, Samuel?« Sie merkte nicht einmal, dass sie seinen Vornamen benutzte.
Er beugte sich vor. »Mehrere Leute haben gesehen, wie Stephen Garrick das Haus verlassen hat, und sie haben den jungen Mann beschrieben, der bei ihm war: blond, Anfang zwanzig, angenehme Züge. Ihren Worten nach hat es sich um einen Dienstboten gehandelt, höchstwahrscheinlich um einen Kammerdiener. Sie hatten nur zwei kleine Gepäckstücke mit, weder Reisekoffer noch Schrankkoffer. Mr Garrick sei so krank gewesen, dass man ihn fast aus dem Haus habe tragen müssen. Zwei Männer mussten ihm dabei helfen, in die Kutsche zu steigen. Es war seine eigene, kein Krankenwagen, und auf dem Bock saß der Kutscher der Familie Garrick.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie rasch.
»Vom Laternenanzünder«, sagte er. »Er fing gerade mit seiner Arbeit an.«
»Is sechs Uhr abends nich ’ne komische Zeit, um nach Frankreich zu fahren?«, fragte sie überrascht. »Hat das womöglich mit den Gezeiten oder so zu tun? Von wo aus is er denn gefahren — vom Londoner Hafen?«
»Es war sechs Uhr morgens«, entgegnete er. »Er hat die Laternen ausgemacht, nicht an. Das Sonderbare ist: Ich habe die Liste aller Abfahrten vom Londoner Hafen an jenem Tag durchgesehen — auf keinem der Schiffe nach Frankreich war ein Mr Garrick, weder allein noch in Begleitung.«
Das Bestellte wurde gebracht. Tellman dankte der Bedienung und erklärte Gracie, die Strandschnecken seien hier besonders gut. Sie nahm den langen Dorn zur Hand, mit dem man das Fleisch aus dem Gehäuse hervorholte, fragte aber, bevor sie sich endgültig ihrer Mahlzeit zuwandte: »Vielleicht sind die von Dover aus gefahren? Manche Leute machen das doch, oder?«
»Schon. Aber ich habe mich am Bahnhof erkundigt, und der Gepäckträger, der an dem Tag auf dem Bahnsteig war, von wo die Züge nach Dover fahren, hat gesagt, den ganzen Tag sei niemand dagewesen, auf den die Beschreibung gepasst hätte. Bestimmt hätte er sich an jemanden erinnert, der besondere Hilfe brauchte, aber so jemand sei nicht aufgetaucht, nur Leute mit viel und schwerem Gepäck.«
Sie war verwirrt. »Wenn sie nich von London und nich von Dover gefahren sind – von wo dann?«
»Sie könnten von einem anderen Hafen in ein anderes Land auf dem Kontinent gereist sein, aber ebenso gut auch an einen beliebigen Ort in England oder Schottland«, gab er zur Antwort. »Doch wissen wir, dass Stephen Garrick nicht gesund ist und das englische Klima ihm nicht bekommt. Da wird er kaum den Winter in Schottland verbringen wollen!« Er schob das letzte Schneckenhaus beiseite und schluckte den letzten Bissen Brot herunter.
Jetzt wusste Gracie erst recht nicht, was sie von der Sache halten sollte. »Aber der alte Mr Garrick hat ganz deutlich gesagt, dass sein Sohn nach Südfrankreich is«, wandte sie ein. »Warum sollte er Lady Vespasia belüg’n? Reiche Leute verreis’n doch oft, wenn se krank sind.«
»Ich weiß nicht recht«, gab Tellman zu. »All das ergibt keinen Sinn. Aber ganz gleich, wohin sie wollten, sie sind auf keinen Fall an dem Tag auf ein Schiff gegangen und nach Frankreich gefahren.« Er machte ein sehr bedenkliches Gesicht. »Sie haben Recht, dass Sie sich Sorgen machen, Gracie. Wenn Menschen ohne erkennbaren Grund die Unwahrheit sagen, bedeutet das gewöhnlich, dass etwas Schlimmeres dahintersteckt, als man auf den ersten Blick annimmt.« Er schwieg eine Weile, das Gesicht nachdenklich verzogen.
»Was?«, bedrängte sie ihn.
Er sah sie an. »Wenn die beiden weder einen Zug noch ein Schiff erreichen wollten, warum sind sie dann in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen? Sie müssen ja um fünf aufgestanden sein, als es noch dunkel war.«
Ein bedrückender Gedanke kam ihr. »Weil se nich wollt’n, dass man se sieht«, sagte sie. Mit einem Mal war die Frage, wer wen liebte und was man da sagen oder tun sollte, in die Ferne gerückt. Sie sah ihn an und sagte flehentlich: »Wir müss’n das unbedingt rauskrieg’n, Samuel. Wenn so einer wie der alte Mr Garrick sogar das eig’ne Personal belügt un Tilda nich weiß, wo ihr Bruder is, hat das bestimmt nix Gutes zu bedeut’n.«
Er widersprach nicht. »Der Haken ist, dass man uns kein Verbrechen gemeldet hat«, sagte er finster. »Mr Pitt ist in Ägypten, da können wir ihn nicht einmal um Hilfe bitten.«
»Dann müssen wir das eb’n selbst mach’n«, sagte sie entschlossen. »Das is mir zwar nich recht, Samuel, aber was bleibt uns übrig?«
Ganz spontan legte er seine Hand auf ihre, sodass sie völlig darunter verschwand. »Mir auch nicht, aber Sie haben Recht — uns bleibt keine Wahl. Wir würden es uns nie verzeihen, wenn wir der Sache nicht nachgingen. Aber dazu müssen wir mehr wissen. Im Augenblick haben wir keine Fährte, der wir folgen könnten. Wir werden also morgen noch einmal mit Tilda sprechen; sie soll uns alles berichten, was Martin je über die Familie Garrick gesagt hat.«
»Ich hol se, wenn se ihre Besorgung’n macht, so gegen halb zehn«, nickte Gracie. »Aber sie hat mir nie gesagt, was Martin ihr über die Garricks erzählt hat, da weiß se vielleicht gar nix. Was mach’n wir dann?«
»Noch einmal mit dem Dienstmädchen im Hause Garrick reden. Sie scheint ihn doch recht gut gekannt zu haben«, sagte Tellman. »Allerdings wäre das nicht so einfach. Wenn etwas nicht stimmt, kann sie nicht offen sprechen, solange sie dort ist, weil sie fürchten muss, ihre Stellung zu verlieren.« Er bemühte sich sehr, nicht zu zeigen, was er empfand, doch gelang ihm das nicht. »Möchten Sie als Nachtisch ein Stück Apfelkuchen?«, fragte er unvermittelt.
»Ja ... bitte.« Die Strandschnecken waren in der Tat köstlich gewesen, hatten sie aber trotz Brot und Butter nicht richtig satt gemacht. Außerdem gab es nichts Besseres als ein Stück Apfelkuchen mit so viel Sahne darauf, dass ein Löffel darin stehen kann.
Also ließ Tellman den Nachtisch kommen, zahlte zum Schluss, und sie verließen das Gasthaus. Draußen in der Abendkühle schlenderten sie etwa einen Kilometer nebeneinander über den belebten Gehweg zum Varietee-Theater. Ein Leierkastenmann spielte ein beliebtes Lied, und eine Hand voll Leute stimmte mit ein. Droschken hielten an, denen weitere Besucher entstiegen. Fliegende Händler priesen Süßigkeiten an, Getränke, heiße Pasteten, Blumen und allerlei Plunder. Dutzende Menschen wie sie drängten sich vor dem Eingang, meist Paare, Arm in Arm. Manche waren etwas auffälliger gekleidet, einige Männer gingen gekünstelt aufrecht, Frauen lachten und drehten sich dabei, dass die Röcke flogen. Weil alle darauf bedacht schienen, möglichst rasch in das Theater zu gelangen, gab es ein richtiges Gedränge.
Gracie musste sich bei Tellman einhängen, um nicht von der Menge weggerissen zu werden. Im Foyer herrschte lautes, aufgeregtes Stimmengewirr, und immer wieder stieß jemand sie an oder trat ihr auf den Fuß.
Endlich waren sie im Zuschauerraum. Tellman hatte Sitzplätze ziemlich weit vorn im Parkett besorgt, sodass sie gut hören und sehen konnten. Das war wunderbar, ganz anders als bei den wenigen Malen, die sie bisher im Varietee gewesen war. Da hatte sie ganz hinten gestanden und kaum etwas mitbekommen. Ihr war bewusst, dass sie eigentlich der armen Tilda helfen und darüber nachdenken müsste, was sie tun konnten, um festzustellen, was mit Martin Garvie geschehen war, selbst wenn es möglicherweise zu spät war, um ihm zu helfen. Aber für den Augenblick vertrieben die Lichter, die ganze Atmosphäre und das Bewusstsein, das allmählich von ihr Besitz ergriff, dass es sich hier nicht um ein Einzelereignis handelte, sondern um den Anfang von etwas Dauerhaftem, alles andere aus ihren Gedanken.
Das Orchester setzte ein. Der Conferencier machte einige herrliche Späße, die das Publikum zum Lachen brachten und ihm Äußerungen der Bewunderung entlockten. Dann hob sich der Vorhang vor der leeren Bühne. Eine junge Frau in einem mit blitzenden Pailletten besetzten Kleid trat ins grelle Scheinwerferlicht. Sie sang ziemlich gewagte beschwingte Lieder, und obwohl Gracie genau wusste, was sie bedeuteten, schloss sie sich an, als das Publikum mit einstimmte. Es waren glückliche Augenblicke, in denen sie sich von der Hochstimmung um sie herum getragen fühlte.
Auf die Sängerin folgte ein Clown in einem viel zu weiten Anzug, während sein Partner wohl der größte und dürrste Mensch war, den es auf der Welt gab. Das Publikum brüllte immer noch vor Lachen, als der Schlangenmensch auftrat, dem ein Jongleur, Akrobaten, ein Zauberkünstler und zum Schluss Tänzerinnen folgten.
Gracie fand alle gut, aber am besten von allem gefiel ihr die Musik, ganz gleich, ob es traurige oder fröhliche Lieder waren, Einzelgesänge oder Duette. Am allerschönsten war es für sie, wenn das Publikum den Refrain mitsang. Erst als sie Tellman am Hintereingang des Hauses in der Keppel Street dankte und sich von ihm verabschiedete, kam ihr die Welt außerhalb des kleinen Zauberkreises, in dem sie sich bewegt hatte, wieder zu Bewusstsein.
Eigentlich hatte sie mit einer gewissen Würde sagen wollen, es sei sehr schön gewesen, damit es ihm nicht zu Kopf stieg und er womöglich annahm, er habe sie an einen Ort mitgenommen, wo sie noch nie zuvor war. Es war nicht gut, wenn man zuließ, dass sich ein Mann einbildete, man halte ihn für etwas Besonderes oder man müsse ihm für etwas dankbar sein.
Doch vergaß sie all ihre Vorsätze und sagte voller Begeisterung: »Das war herrlich! Noch nie hab ich so fantastische ...« Sie hielt erschrocken inne. Jetzt war es zu spät für die damenhafte Haltung, die sie sich vorgenommen hatte. Sie holte tief Luft. Im Licht der Straßenlaterne sah sie die Freude auf seinem Gesicht, und mit einem Mal war sie ganz und gar sicher, wie wichtig ihm das alles war. Er wirkte so verletzlich, dass sie keinen anderen Wunsch kannte, als ihn wissen zu lassen, wie glücklich sie war. Rasch beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.
»Danke, Samuel. Das war der schönste Abend, den ich je erlebt hab.«
Bevor sie einen Schritt zurück tun konnte, legte er den Arm um sie und drehte seinen Kopf ein wenig, um sie auf den Mund küssen zu können. So sanft er das tat, so deutlich war zu erkennen, dass er nicht im Traum daran dachte, sie loszulassen. Sie versuchte, sich ein wenig zurückzuziehen, einfach um zu sehen, ob das ging, und spürte mit einem Wonneschauer, dass es unmöglich war.
Als er seinen Kuss bekommen hatte, ließ er sie los, und sie rang nach Atem. Sie wollte etwas Witziges oder zumindest Lustiges sagen, aber ihr fiel nichts ein. Es war nicht der richtige Augenblick für Worte, die nichts bedeuteten.
»Gute Nacht«, sagte sie atemlos.
»Gute Nacht, Gracie.« Auch seine Stimme klang ein wenig belegt, als überrasche ihn die Situation selbst.
Sie wandte sich um, tastete nach dem Türknauf, drehte ihn und ging in die Spülküche. Während ihr Herz wie ein Hammer schlug, lächelte sie, als habe ihr soeben jemand das Lustigste und zugleich Herrlichste auf der Welt erzählt.
Am nächsten Vormittag spürte Gracie ihre Freundin Tilda bei ihren Besorgungen auf und brachte sie in die Küche in der Keppel Street, wo Tellman bereits mit Charlotte am Tisch saß, um die Sache zu bereden. So flüchtig, dass niemand es merkte, sahen sie und Tellman einander in die Augen, und sie erkannte auf seinen Lippen den Anflug eines warmen Lächelns, das aber sogleich wieder verschwand. Er wandte sich dem Thema zu, das alle beschäftigte.
»Nehmen Sie Platz, Tilda«, sagte Charlotte freundlich und wies auf einen freien Stuhl. Da bereits eine Kanne Tee auf dem Tisch stand, sodass keine Pflichten zu erfüllen waren, setzte sich Gracie dazu.
»Ha’m Se was rausgekriegt?«, erkundigte sich Tilda besorgt. »Gracie wollte mir auf der Straße nix sagen.«
»Wir wissen noch nicht, wo er sich aufhält«, sagte Charlotte. Es war sinnlos, der jungen Frau falsche Hoffnungen zu machen; die Enttäuschung wäre danach nur um so grausamer. »Aber wir haben etwas in Erfahrung gebracht. Der alte Mr Garrick hat einer Bekannten von mir im Gespräch gesagt, sein Sohn Stephen sei wegen seiner Gesundheit in den Süden Frankreichs gereist und habe seinen Kammerdiener mitgenommen, damit sich dieser um ihn kümmern kann.« Als sie sah, wie Erleichterung auf Tildas Züge trat, empfand sie sogleich Gewissensbisse. »Mr Tellman hier hat beim Versuch festzustellen, ob es sich so verhält, jemanden getroffen, der gesehen hat, dass zwei Personen, die höchstwahrscheinlich Stephen Garrick und Ihr Bruder Martin waren, das Haus am Torrington Square verlassen haben. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass sie von London oder Dover aus mit dem Schiff nach Frankreich gefahren sind. Auch lässt sich kein Zug ermitteln, den sie benutzt haben. Es sieht also ganz so aus, als wäre Ihr Bruder Martin nicht entlassen worden, doch wissen wir nicht, wo er sich aufhält oder warum er Ihnen nichts darüber mitgeteilt hat.«
Tilda sah sie fragend an. Offensichtlich kostete es sie Mühe zu verstehen, was das bedeutete. »Wenn se nich in Frankreich sind, wo sind se dann?«
»Das wissen wir nicht, werden uns aber bemühen, das festzustellen«, sagte Charlotte. »Gibt es noch etwas, was Sie uns über Ihren Bruder oder Mr Stephen berichten können?« Sie erkannte die Verwirrung auf Tildas Zügen und wünschte, sie hätte die Möglichkeit, sich deutlicher auszudrücken, doch wusste sie selbst nicht, wonach sie fragen sollte. »Versuchen Sie zu überlegen, was Ihnen Ihr Bruder über die Familie Garrick und ganz besonders über Stephen Garrick gesagt hat. Er hat doch gewiss mitunter über sein Leben dort gesprochen.«
Es sah aus, als werde Tilda jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Sie gab sich große Mühe, ihre Angst und das Gefühl von Einsamkeit zu unterdrücken, das sie empfand. Sie hatte keinen Angehörigen mehr außer ihrem Bruder. Auf ihn konzentrierten sich all ihre Erinnerungen, denn die Eltern waren so früh gestorben, dass sie nichts mehr von ihnen wusste.
Gracie beugte sich vor, ohne auf die Tasse Tee zu achten, die ihr Tellman eingegossen hatte.
»Das is nich der richtige Augenblick, was für dich zu behalten«, drängte sie. »Angehörigen sagt man doch alles. Bestimmt hat er dir was über das Leben im Haus gesagt, denn er hat dir doch sicher vertraut. War das Essen gut? Hatte die Köchin schlechte Laune? War der Butler ’n Miesepeter? Wer hatte zu sagen – die Hausdame?«
Tilda entspannte sich ein wenig, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nee, die nich«, sagte sie. »Un der Butler hat dem Gnädigen immer nach’m Mund geredet. Aber wehe, wenn der mal nich da war: Dann kriegten die andern aber was zu hören! Jedenfalls hat mir Martin das gesagt. Der Butler hat das Personal nach Strich und Faden kujoniert, nur Martin nich, wegen Mr Stephen. Er war doch der Einzige, der sich um ihn kümmern konnte, un die andern wollten das auch gar nich, ha’m immer nur ganz hilfsbereit getan.«
»Warum wollten sie nicht helfen?«, fragte Charlotte. »War er schwierig?«
»Wenn der seine wild’n fünf Minut’n hatte, war er unausstehlich«, sagte Tilda ganz ruhig. »Aber Martin würd mir nie verzeih’ n, wenn er dahinterkäm, dass ich das gesagt hab! Man darf auf kein’ Fall weitertratsch’n, was bei den Herrschaft’n passiert, sonst findet man nie wieder Arbeit. Da sitzt man ganz schnell auf ’er Straße, und kein Mensch will noch was von ei’m wiss’n. Außerdem gehört sich das nich, weil das Vertrauensbruch is.« Sie sprach mit leiser Stimme, als mache sie sich schon durch diese Äußerung schuldig.
»Was meinen Sie mit ›wilde fünf Minuten‹?«, fragte Charlotte, bemüht, so neutral zu sprechen, als gehe es um ein Kochrezept.
»So genau weiß ich das auch nich«, sagte Tilda so freimütig, dass ihr Charlotte glauben musste.
Tellman stellte seine Tasse hin. »War Ihr Bruder früher schon einmal mit Mr Stephen irgendwo in den Ferien?«
Tilda schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nix, sonst hätt ich’s gesagt.«
»Was ist mit Freunden?«, fuhr Tellman fort. »Wo hat der junge Garrick seine Freizeit verbracht? Was hat er getan – hat er sich mit Musik oder Sport beschäftigt, mit Frauen, was auch immer?«
»Weiß nich«, sagte sie betrübt. »Dem is es ziemlich dreckig gegang’n. Martin hat gesagt, er hätt an nix Freude. Er hat schlecht geschlaf’n und entsetzlich geträumt. Der war wohl ziemlich krank.« So leise, dass man sie kaum hören konnte, fügte sie hinzu: »Martin hat gesagt, er wollte ’nen Priester für ihn suchen ... einen, der sich um frühere Soldat’n kümmert.«
»Einen Priester?«, fragte Tellman überrascht. Er warf einen Blick zu Gracie und Charlotte hinüber, dann sah er Tilda erneut an. »Wissen Sie, ob Mr Garrick fromm ist?«
Tilda überlegte einen Augenblick. »Ich ... glaub schon«, sagte sie bedächtig. »Sein Vater jedenfalls is fromm — hat Martin gesagt. In dem Haus geht’s zu wie bei ’nem Pfarrer. Die Dienstbot’n bet’n je’n Morg’n und je’n Abend. Und vor jeder Mahlzeit. Je’nfalls die meist’n. Das is aber noch nich alles. Jeder im Haus musste ganz früh aufsteh’n un sich kalt wasch’n und immer besonders sauber sein. Martin hat gesagt, dass se sich vor ’m Frühstück alle in ’ner Reihe aufstell’n und für die Königin und das Reich bet’n musst’n, un abends noch mal, bevor se schlaf’n geh’n durft’n. Der Butler hat immer vorgebetet. Desweg’n nehm ich an, dass auch Mr Stephen fromm ist. So was bleibt doch nich aus.«
»Hätte der junge Herr da nicht mit dem Gemeindepfarrer sprechen können?«, fragte Charlotte in die Runde. An Tilda gewandt, fuhr sie fort: »Bestimmt sind die Leute doch sonntags zur Kirche gegangen?«
»Aber ja«, sagte Tilda. »Darauf achtet Mr Garrick sehr streng. Je’n Sonntag, da konnte komm’, was wollte. Der ganze Haushalt. Zu Mittag gab’s immer ’ne vorbereitete kalte Platte, un die Köchin hat schnell Gemüse aufgewärmt, wenn se aus der Kirche zurückgekomm’ sind.«
»Und warum hat Ihr Bruder dann einen speziellen Priester für Mr Stephen suchen müssen?«, fragte Charlotte nachdenklich.
Tilda schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber er hat es mir gesagt. Jemand, den Mr Stephen von früher kannte. Er hat mit Soldat’n zu tun, denen ’s schlecht geht, solche, die trinken, Opium nehm’n und so.« Ein leichter Schauer überlief sie. »Das soll bei Seven Dials sein, wo ’s ziemlich wild zugeht. Die arm’n Kerle ha’m nix zu essen, frier’n, schlaf’n in irgendwelch’n Hauseingäng’n un wär’n am liebsten tot. Dass ’n Soldat uns’rer Königin so endet, gehört sich nich.«
Niemand sagte etwas. Gracie sah Charlotte an und erkannte Mitleid und Ratlosigkeit auf ihren Zügen. Als sie sich Tellman zuwandte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass diesem eine Idee kam. »Was is?«, fragte sie.
Er fragte Tilda: »Hat Ihr Bruder diesen Mann gefunden?«
»Wie er gesagt hat, ja. Warum woll’n Se das wiss’n? Glau’m Se, der weiß, was mit Martin is?« In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.
»Möglich«, sagte Tellman zurückhaltend. Er wollte die junge Frau nicht unnötig enttäuschen. »Können Sie sich erinnern, ob er seinen Namen genannt hat?«
»Ja ...« Tilda verzog vor Anstrengung das Gesicht. »Sand ... irgendwas mit Sand ...«
Tellman sah zu Gracie hin, dann wieder auf Tilda. »Etwa Sandeman?«
Tilda riss die Augen weit auf. »Genau der! Kenn’ Se den etwa?«
»Ich habe von ihm gehört.« Tellman sah zu Charlotte hin.
»Sie haben Recht«, stimmte sie zu, bevor er seine Frage gestellt hatte. »Wir sollten unbedingt versuchen, ihn zu finden. Wenn ihm Martin etwas gesagt hat, könnte das wichtig sein.« Sie biss sich auf die Lippe. »Außerdem haben wir keine bessere Möglichkeit.«
»Es könnte schwierig sein, den Mann zu finden«, gab Tellman zu bedenken. »Das kann gut und gern eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Es gibt nach wie vor keinen Hinweis auf ein Verbrechen, also ...«
»Ich kümmere mich darum«, fiel ihm Charlotte ins Wort.
»Sie wollen in die Gegend von Seven Dials?« Tellman schüttelte den Kopf. »Sie haben keine Vorstellung, wie es da zugeht.«
»Ich gehe bei Tageslicht hin«, sagte sie rasch. »Und ich ziehe meine ältesten Kleider an — Sie dürfen mir glauben, man wird mich für eine Frau aus dem Viertel dort halten. Zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends sind dort bestimmt viele Frauen auf der Straße. Ich höre mich nach dem Priester um. Sicher tun das auch andere Frauen, deren Angehörige beim Militär waren.«
Tellman sah erst sie und dann Gracie an. Auf seinem Gesicht ließen sich die widerstreitenden Empfindungen deutlich erkennen.
Charlotte lächelte. »Ich gehe«, sagte sie entschlossen. »Wenn ich ihn finde, habe ich eine bessere Aussicht, etwas über Martin zu erfahren, als Sie, sofern er wirklich in Stephen Garricks Auftrag dort war. Ich mache mich gleich fertig.« Sie wandte sich Tilda zu. »Sie können jetzt an Ihre Aufgaben zurückkehren. Gehen Sie jetzt besser. Sie können es sich nicht leisten, von Ihrer Herrschaft entlassen zu werden, weil Sie zu lange ausgeblieben sind.« Sie sah zu Tellman hin. »Danke für alles, was Sie getan haben. Ich weiß, dass es Sie einen großen Teil Ihrer Zeit gekostet hat ...« Wortlos tat er das mit einer Handbewegung ab. Er hätte ihr nicht sagen können, warum ihm die Sache wichtig war – vermutlich hätte er sich mit Worten nicht einmal selbst Rechenschaft darüber ablegen können.
Sie stand auf, und die anderen betrachteten das als Aufforderung zu gehen.
Ab Mittag zog Charlotte durch die Straßen um Seven Dials. Der sehr alte Rock, den sie trug, hatte einen Riss, dessen Reparatur ihr nicht besonders gelungen war. Statt einer Jacke trug sie über ihrer schlichten Bluse ein Umschlagtuch, weil das besser zu der Art passte, wie sich die anderen Frauen kleideten, die in diesem Teil der Stadt einkaufen gingen oder arbeiteten. Sie hatte zu wissen geglaubt, was sie erwartete, aber damit, dass so viele Menschen auf den Gehwegen saßen, sich in Hauseingängen drängten oder mit trübseligem Blick vor einem Haufen Lumpen oder alter Stiefel standen, in der Hoffnung, jemand würde kommen und ihnen etwas davon abkaufen, hatte sie nicht gerechnet. Jeder sah auf den ersten Blick, dass sie nicht dorthin gehörte.
Die Armut hatte einen ganz eigenen Geruch, der überall in der Luft lag. Wohin sie auch den Fuß setzte, überall stieß sie auf Schmutz. Das wenige saubere Wasser, das den Menschen dort zur Verfügung stand, genügte kaum zum Stillen des Durstes, ganz davon abgesehen, dass sie keine Seife hatten. Wegen des zu geringen Gefälles stand das nach Fäkalien riechende Abwasser in der offenen Rinne mitten auf der Straße und lief kaum ab. Nirgends war es trocken, nirgends warm, und es war offensichtlich, dass es nichts gab, was den Hunger der viel zu dicht aufeinander lebenden Menschen hätte lindern können.
Mit gesenktem Kopf bahnte sich Charlotte ihren Weg zwischen ihnen, einerseits, um ebenso vom Leben gebeugt auszusehen wie die anderen, aber auch, weil sie ihren Anblick nicht ertragen konnte, sie nicht anzusehen wagte, im vollen Bewusstsein, dass sie bald wieder fortgehen würde, sie hingegen immer dort leben mussten.
Zögernd fragte sie nach einem Priester, der sich um frühere Soldaten kümmerte. Es kostete sie beträchtliche Überwindung, an Leute heranzutreten und sie anzusprechen. Sofort verriet ihre Stimme sie als Außenseiterin, als Menschen, der nicht dort hingehörte. Es wäre sinnlos gewesen, die Sprechweise der anderen nachzuahmen, denn damit hätten sie sich nicht nur verspottet gefühlt, man hätte sie auch als Heuchlerin betrachtet, noch bevor sie Gelegenheit hatte, eine Frage zu stellen. Mit einer Antwort hätte sie in dem Fall erst gar nicht zu rechnen brauchen.
So gelang es ihr am ersten Tag lediglich, bestimmte Möglichkeiten auszuschließen. Erst als sie folgenden Tages noch einmal hinging, hatte sie am Nachmittag in der Dudley Street unerwartet Erfolg. Dort lagen gebrauchte Schuhe zuhauf, nicht nur auf den unebenen Steinen des Gehwegs, sondern sogar auf der Fahrbahn. Neben diesem Berg saßen Kinder, um die sich niemand kümmerte. Manche weinten, andere sahen einfach mit ausdruckslosem Blick den Vorübergehenden zu.
Ein schlanker Mann von etwa Anfang vierzig bahnte sich mühelos seinen Weg durch das Tohuwabohu; er war ganz offensichtlich daran gewöhnt. Da er barhäuptig ging, sah man, dass seine Haare dringend geschnitten werden mussten. In seinem zerfetzten Mantel wirkte er dort gänzlich unauffällig.
Er schritt kräftig und zielbewusst aus, und da sie ihn nicht behindern wollte, blieb Charlotte stehen, um ihn vorbeizulassen.
Zu ihrer Überraschung blieb er inmitten der Schuhhaufen stehen. »Ich habe gehört, dass Sie nach mir gefragt haben.« Er sprach mit einer angenehm klingenden Stimme, die Bildung verriet. »Ich heiße Morgan Sandeman und kümmere mich hier im Viertel um jeden, der mich braucht, ganz besonders aber um ehemalige Soldaten.«
»Mr Sandeman?«, fragte Charlotte, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Man hätte glauben können, sie sei wirklich verzweifelt auf der Suche nach ihrem verschwundenen Mann und hoffe, dass er ihn kenne.
»Ja. Womit kann ich Ihnen helfen?«
Es wäre sinnlos gewesen, ihm etwas vorzumachen, ganz davon abgesehen, dass die Zeit möglicherweise drängte. »Ich suche jemanden, der verschwunden ist. Es ist denkbar, dass er mit Ihnen gesprochen hat, kurz bevor er zum letzten Mal gesehen wurde. Könnten Sie mir ein wenig Ihrer Zeit widmen ... bitte?«
»Selbstverständlich.« Er machte eine einladende Gebärde. »Wenn Sie mit mir kommen wollen, können wir in mein Arbeitszimmer gehen. Leider habe ich statt einer Kirche nur eine Art Lagerhalle zur Verfügung, die aber ihren Zweck erfüllt.«
»Gern«, sagte sie ohne das geringste Zögern.
Wortlos ging er ihr voraus, und sie folgte ihm um eine Ecke und durch eine Gasse, vorüber an den schweigsamen Menschen zu einem winzigen Platz. Den vier oder fünf Stockwerke hohen einander zugeneigten schmalen Häusern sah man auf den ersten Blick an, dass sich lange niemand um sie gekümmert hatte. Überall hing der Geruch nach verfaulendem Holz in der Luft. Es kam ihr vor, als müsse sie ersticken. Obwohl sie kein bestimmtes Geräusch hätte benennen können, war es an dem Platz alles andere als ruhig. Ratten huschten über das Steinpflaster, Wasser tropfte, die leichte Brise trieb Abfälle hin und her, arbeitendes Gebälk knarrte und stöhnte.
»Dort drüben«, sagte Sandeman und wies auf eine von Flecken übersäte Tür, die sich fast von selbst öffnete, als er sie anstieß. Hinter einem kleinen Vorraum sah man einen langen Gang, an dessen Ende in einer Art Saal ein großes Feuer im Kamin brannte. Ein halbes Dutzend Menschen saßen am Boden davor. Sie drängten sich dicht aneinander, ohne miteinander zu sprechen. Es dauerte eine Weile, bis Charlotte begriff, dass sie entweder schliefen oder bewusstlos waren.
Mit erhobenem Finger mahnte Sandeman sie zu schweigen und ging nahezu geräuschlos über den Steinfußboden zu einem Tisch in der rechten Ecke des Raumes, an dem zwei Stühle standen.
Sie folgte ihm und setzte sich.
»Entschuldigung«, sagte er. »Ich kann Ihnen nichts anbieten und habe auch keinen besseren Raum als diesen zur Verfügung.« In dem bedauernden Lächeln, mit dem er das sagte, lag keinerlei Verlegenheit. Auf seinem abgezehrten Gesicht ließen sich deutlich die Spuren des Hungers erkennen. »Um wen geht es?«, fragte er. »Falls ich Ihnen nicht sagen kann, wo er sich befindet, kann ich ihn zumindest wissen lassen, dass Sie nach ihm gefragt haben. Vielleicht sucht er Sie dann ja auf. Sie werden gewiss verstehen, dass ich nicht weitergeben darf, was man mir vertraulich mitteilt. Es kommt vor, dass ein Mann ...« Er zögerte, sah sie aufmerksam an, vielleicht, weil er versuchte, aus ihren Empfindungen auf den Mann zu schließen, nach dem sie suchte.
Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor und versuchte sich die verzweifelten Frauen vorzustellen, die hergekommen waren, weil sie hofften, einen geliebten Gatten, Bruder oder Sohn wiederzufinden, den sie verloren hatten durch Erlebnisse, die er nicht mit ihnen teilen konnte oder deren Last er ohne das Vergessen, das Alkohol oder Opium schenkt, nicht zu ertragen vermochte.
Sie musste ihm unbedingt reinen Wein einschenken. »Es geht nicht um jemanden, der mir nahe steht, sondern um den Bruder einer mir bekannten jungen Frau, der verschwunden ist. Ihr Kummer ist zu groß, als dass sie selbst nach ihm suchen könnte, auch hätte sie nicht die Zeit dazu. Sie könnte darüber leicht ihre Stellung verlieren und nicht ohne weiteres eine andere finden.«
Sein besorgter Ausdruck änderte sich nicht. »Und um wen geht es?«
Bevor sie antworten konnte, wurde die Eingangstür aufgerissen, krachte gegen die Wand und prallte zurück, wobei sie den Menschen traf, der gerade hereinkam. So heftig war der Stoß, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel, wo er wie ein Lumpenbündel liegen blieb.
Nach einem kurzen Blick auf Charlotte stand Sandeman wortlos auf und ging hinüber. Er bückte sich, schob die Hände unter den Mann und stellte ihn mit beträchtlicher Anstrengung auf die Füße. Ganz offensichtlich war der Mann betrunken. Er mochte Mitte fünfzig sein, Tränensäcke hingen unter seinen Augen, die vor sich hinstarrten, ohne etwas zu erfassen. Er war völlig verdreckt, sein Haar war verfilzt, er hatte sich mehrere Tage nicht rasiert und roch so stark, dass Charlotte das sogar von ihrem Platz aus wahrnahm.
Sandeman sah ihn verzweifelt an. »Komm rein, Herbert, und setz dich. Du bist ja bis auf die Haut nass.«
»Bin hingefallen«, brummelte der Ankömmling vor sich hin und folgte Sandeman mit schleppendem Schritt.
»In den Rinnstein, wie es aussieht«, erwiderte Sandeman trocken.
Und so riecht es auch, ging es Charlotte durch den Kopf. Sie hatte das Bedürfnis, ihren Stuhl ein Stück wegzurücken, doch schämte sie sich, als sie sah, wie achtungsvoll Sandeman mit dem Mann umging.
Dieser gab keine Antwort, ließ sich aber zu der Bank vor dem inzwischen niedergebrannten Feuer führen und sank darauf nieder, als sei er am Ende seiner Kräfte. Keiner der anderen dort nahm die geringste Notiz von ihm.
Sandeman ging zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Er nahm einen Schlüssel vom Ring, den er am Gürtel trug, schloss die Tür auf und suchte eine Weile in dem Schrank. Schließlich holte er eine große graue Decke hervor, die zwar grob aussah, aber zweifellos wärmen würde.
Neugierig sah ihm Charlotte zu. Für ein Nachtlager, überlegte sie, dürfte das kaum genügen, doch sah es nicht so aus, als würde dem Mann eine kurze Ruhepause helfen.
Sandeman schloss den Schrank wieder und trat mit der Decke zu dem Mann.
»Zieh die nassen Sachen aus«, wies er ihn an. »Und wickel das um dich. Das wird dich wärmen.«
Der Mann sah zu Charlotte herüber.
»Sie dreht sich um«, versprach Sandeman. Er sagte es so laut, dass sie es hören konnte. Gehorsam drehte sie sich mit dem Stuhl in die entgegengesetzte Richtung. Zwar hörte sie nicht, wie der Mann aufstand, wohl aber das Rascheln von Kleidungsstücken und das leise Geräusch, mit dem sie zu Boden sanken.
»Ich geb dir heiße Suppe und Brot«, fuhr Sandeman fort. »Das beruhigt deinen Magen.« Er versuchte gar nicht, den Mann zu ermahnen, dass er mit dem Trinken aufhören sollte, weil ihn der Alkohol vergiftete. Vermutlich war all das bereits gesagt worden, ohne dass es etwas genützt hätte. »Ich wasch deine Sachen aus. Du musst hier warten, bis sie trocken sind.« Charlotte hörte, wie Sandeman näher kam. »Sie können sich wieder umdrehen«, sagte er ruhig. »Ich habe leider etwas zu tun, kann aber dabei mit Ihnen reden.«
»Vielleicht kann ich das Brot und die Suppe holen?«, bot sie an. Der Gestank, der den Kleidern entstieg, drehte ihr den Magen um, doch bemühte sie sich, das nicht zu zeigen.
»Danke«, sagte er. »Da hinten ist die Küche.« Er wies auf eine Tür links vom Kamin. »Wir können miteinander reden, während ich das hier auswasche. Dabei kann uns niemand hören.« Er nahm die Kleider wieder auf und ging damit voran in einen kleinen Raum mit Steinfußboden, in dem auf einem Herd zwei Teekessel standen sowie ein großer Topf, in dem eine Suppe vor sich hin köchelte. Außerdem standen mehrere alte Töpfe mit heißem Wasser darauf, vermutlich, damit man jederzeit Kleidungsstücke waschen konnte. Eine Zinkbadewanne auf einem niedrigen Tisch diente als Waschbecken, und auf dem Boden standen einige Eimer mit kaltem Wasser, das von der nächstgelegenen Pumpe stammen dürfte, die vermutlich eine oder zwei Straßen weiter lag.
Charlotte fand das Brot und das Messer und schnitt zwei ziemlich dicke Scheiben ab. Es ließ sich gut schneiden, weil es altbacken war. Sie sah sich nach Aufstrich um, fand aber keine Butter. Vielleicht konnte der Mann es zusammen mit der Suppe trocken essen. Alles, was den Alkohol wenigstens zum Teil aufnahm, würde ihm gut tun. Als sie den Deckel von dem großen Topf hob, sah sie eine dicke Erbsensuppe, an deren Oberfläche von Zeit zu Zeit Blasen platzten. Auf einer Bank standen Schüsseln. Sie nahm eine und füllte sie mit dem Schöpflöffel.
Den Brotteller in der einen und die Suppenschüssel samt einem Löffel in der anderen Hand, um die sie zum Schutz gegen die Hitze ein Tuch gewickelt hatte, kehrte sie in den Saal zurück. Sie trat zu dem Mann, und er hob den Blick zu ihr auf. Sein Gesicht zeigte ihr, dass er aufstehen wollte: Anerzogene Gewohnheiten hatten ein zähes Leben. Offensichtlich war er Soldat gewesen, bevor ihn welche Art von Qual oder Verzweiflung auch immer zerstört hatte. Das Bewusstsein, dass er lediglich eine Decke um den Leib gewickelt trug und nicht sicher war, ob er sie fest genug halten konnte, mochte der Grund sein, warum er es vorzog, nicht aufzustehen. Dieser fremden Frau seine seelische Blöße zu zeigen war schon schlimm genug.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte sie rasch, als hätte er sich bereits halb erhoben. »Sie müssen die Schüssel mit beiden Händen halten, aber passen Sie auf – sie ist sehr heiß.«
»Danke, Ma’am«, murmelte er, nahm ihr die Suppenschüssel mit unsicheren Fingern aus der Hand und stellte sie gleich auf die von der Decke geschützten Knie. Offenbar war ihm klar, dass er sie mit den Händen nicht lange würde halten können.
Sie lächelte ihm zu. Zuerst glaubte sie, er habe es nicht gemerkt, dann ging ihr auf, dass ihm ihre Gegenwart möglicherweise peinlich war. Sie wandte sich ab und kehrte in die Küche zurück.
Über die Zinkbadewanne gebeugt, wusch Sandeman die Kleidungsstücke aus. Dazu benutzte er eine aus Pottasche, Lauge und Karbol hergestellte grobe Seife, die zwar nicht gut für die Haut war, aber den schlimmsten Schmutz und zweifellos auch die mit ihm vermengten Läuse, den Geruch und die Krankheitserreger beseitigen würde.
»Mr Sandeman«, setzte Charlotte an. »Ich muss wirklich mit Ihnen sprechen. Es kann sein, dass dieser junge Mann, der verschwunden ist, in Gefahr schwebt. Jemand hat uns gesagt, dass er nach Ihnen gesucht hat. Falls er hier war, hat er möglicherweise etwas gesagt, was mir einen Hinweis darauf liefern könnte, wohin er gegangen ist und warum.«
Er sah sie von der Seite her an, die mageren Arme auf den Rand der Wanne gestützt. Diese Art zu waschen war Knochenarbeit. »Wie heißt er?«, fragte er.
»Martin Garvie.«
Kaum hatte sie den Namen gesagt, als er sichtbar erstarrte. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und kehrte gleich darauf zurück, als wäre ihm das Blut rasch wieder in den Kopf gestiegen.
Angst umklammerte ihr Herz. Ihre Lippen waren so reglos, dass es ihr kaum gelang, Worte zu bilden. »Was ist mit ihm geschehen?« , fragte sie ängstlich.
»Ich weiß es nicht.« Ganz langsam richtete er sich auf. Ohne weiter auf die nassen Kleidungsstücke zu achten, die in die Wanne zurücksanken, sah er sie an. »Ich bedaure, aber ich kann Ihnen nichts sagen, was Ihnen weiterhilft. Wirklich nichts.« Er atmete schwer, als würde seine Brust zusammengepresst, sodass er heftig nach Luft ringen musste.
»Er schwebt unter Umständen in großer Gefahr, Mr Sandeman«, sagte sie rasch. »Er ist verschwunden! Seit drei Wochen hat ihn niemand gesehen oder etwas von ihm gehört! Seine Schwester grämt sich zu Tode. Nicht einmal sein Herr, Mr Stephen Garrick, scheint an den Ort gereist zu sein, wohin er angeblich wollte. Man hat weder bei der Bahn noch in den Passagierlisten der Kanalfähren eine Spur von ihm gefunden. Wir brauchen jeden Hinweis, der uns hilft zu erfahren, was da geschehen ist.«
Es war unübersehbar, dass Sandeman unter starkem Druck stand. Er atmete stoßweise und zitterte unwillkürlich. Doch als er schließlich seine Stimme wiederfand, lag in ihr nicht die geringste Unentschlossenheit, kein Hinweis darauf, dass er seine Haltung geändert hätte.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, wiederholte er. »Was mir in der Beichte gesagt wird, ist heilig.«
»Auch wenn das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht?«, hielt sie dagegen, im vollen Bewusstsein dessen, dass sie damit nichts erreichen würde. Sie konnte es an seinen Augen ablesen, seinem bleichen Gesicht, den angespannten Kiefer- und Nackenmuskeln.
»Ich kann mein Vertrauen ausschließlich auf Gott setzen«, sagte er so leise, dass sie es kaum hörte. »Alles liegt in Seinen Händen. Was mir Martin Garvie anvertraut hat, muss ich für mich behalten. Ehrlich gesagt, bin ich nicht einmal sicher, dass es Ihnen dabei helfen würde, ihn zu finden, wenn ich Ihnen alles sagen dürfte, was ich weiß.«
»Ist ... ist er noch am Leben?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie holte Luft, um es noch einmal zu versuchen, stieß sie dann aber seufzend aus, als sie die Endgültigkeit in seinen Augen erkannte. Sie sah beiseite, wusste nicht, was sie noch sagen sollte.
»Mrs ...«, setzte er an, ohne fortzufahren, denn er wusste ihren Namen nicht.
»Pitt«, sagte sie. »Charlotte Pitt.«
»Mrs Pitt, zu viele andere Menschen sind davon betroffen. Sofern es ausschließlich mein Geheimnis wäre und es etwas Gutes bewirken würde, wenn ich es Ihnen sagte, sähe das anders aus ... aber genau das ist nicht der Fall. Es ist eine alte Geschichte, an der sich jetzt nichts mehr ändern lässt.«
»Hat sie mit Martin Garvie zu tun?« Sie war verwirrt. »Er hat Ihnen offenbar etwas gesagt ...«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mrs Pitt. Gehen Sie bitte nach Hause. Sie gehören nicht in diese Gegend, und Sie können hier nichts ausrichten. Es ist nicht auszuschließen, dass Ihnen etwas zustößt. Glauben Sie mir. Obwohl ich in diesem Viertel lebe und es so gut kenne, wie das einem Außenstehenden möglich ist, gehe auch ich nur selten nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus. Kommen Sie jetzt. Ich bringe Sie zur Dudley Street, damit Sie sich nicht verlaufen ...« Seine Stimme klang eindringlich, und in seinen dunklen Augen erkannte sie Besorgnis. Er trocknete sich die Hände an einem Stofffetzen ab und zog seinen Mantel wieder an. »Wissen Sie, wie Sie von der Dudley Street nach Hause kommen?«
»Ja ... danke.« Ihr blieb nichts anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen, wenn sie ihre Würde wahren wollte. Das aber wollte sie, denn sie gestand sich ein, dass ihr wichtig war, was dieser Mann von ihr dachte.
Da Pitt nicht zu Hause war, schien Charlotte die Aussicht nicht verlockend, im Wohnzimmer Feuer zu machen und sich allein dort hinzusetzen, nachdem Daniel und Jemima zu Bett gegangen waren. Stattdessen ging sie in die warme, helle Küche, in der es sich die Katzen im Flickkorb neben dem Herd gemütlich gemacht hatten, ohne auf den Regen zu achten, der an die Fensterscheiben klopfte, und berichtete Gracie über ihren Besuch bei Sandeman. Keiner von beiden fiel etwas ein, was sie noch unternehmen konnten, solange sie nicht mehr über die Sache wussten. Trotz der warmen, angenehmen Atmosphäre in der Küche hatten beide das Gefühl, eine bittere Niederlage erlitten zu haben.
Zwar hatte sich am nächsten Abend nichts geändert, aber es gab dies und jenes im Haushalt zu tun, was sie ablenkte. Alles war besser, als müßig herumzusitzen. Gracie machte Ordnung in den Schränken, und Charlotte flickte Kissenbezüge, als es kurz nach neun an der Haustür klingelte.
Da Gracie gerade mit den Armen voller Wäsche auf einem Hocker stand, öffnete Charlotte selbst.
Vor der Tür stand ein ausgesprochen elegant gekleideter Herr in einem Anzug, bei dessen Anblick Pitt die Augen weit aufgerissen hätte. In sein intelligentes schmales Gesicht waren tiefe Linien eingegraben, und seine Augen waren so dunkel, dass sie im Licht der Straßenlaterne schwarz zu sein schienen. Sein dichtes, dunkles Haar war von vielen grauen Fäden durchzogen.
»Mrs Pitt«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung.
»Ja«, gab sie zurückhaltend zur Antwort. Auf keinen Fall würde sie einen Fremden ins Haus lassen, und es war vermutlich nicht angeraten, ihm zu sagen, dass Pitt nicht da war. »Was kann ich für Sie tun?«
In seinem kaum wahrnehmbaren Lächeln lagen Selbstironie und ein guter Schuss Selbstsicherheit. Wahrscheinlich war ihm nicht bewusst, wie charmant er wirkte.
»Guten Abend. Ich heiße Victor Narraway. Da sich Ihr Mann in Alexandria befindet, wohin ich ihn bedauerlicherweise schicken musste, wollte ich Ihnen einen Besuch abstatten, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht – und dass das auch so bleibt.«
»Haben Sie Zweifel daran, Mr Narraway?« Sie war verblüfft angesichts der Erkenntnis, wer der Besucher war, und in ihr regte sich eine leise Furcht, dass er etwas Schlimmes über Pitt wissen mochte, was ihr unbekannt war. Bisher hatte sie noch nichts von ihm gehört, aber dazu war es auch viel zu früh, denn ein Brief würde viele Tage brauchen. Sie bemühte sich um Haltung. »Warum sind Sie gekommen, Mr Narraway? Seien Sie bitte ehrlich.«
»Ich habe es Ihnen gesagt, Mrs Pitt«, erwiderte er. »Darf ich hereinkommen?«
Stumm trat sie einen Schritt zurück, er kam herein und warf dabei einen flüchtigen Blick auf den Stuck an der Decke der Diele. Nachdem sie die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, machte sie eine einladende Handbewegung zum Wohnzimmer.
Sie folgte ihm hinein und drehte die Gaslampen hoch. Da sie kein Feuer gemacht hatte, hoffte sie, er werde nicht lange bleiben. Mit pochendem Herzen sah sie ihn beinahe herausfordernd an. »Haben Sie etwas über meinen Mann gehört?«
»Nein, Mrs Pitt«, sagte er sofort. »Ich bitte um Entschuldigung, falls ich Ihnen diesen Eindruck vermittelt habe. Soweit ich weiß, ist er gesund, und es fehlt ihm nichts. Andernfalls hätte man mich vom Gegenteil informiert. Ich bin ausschließlich hier, weil mir Ihre Sicherheit am Herzen liegt.«
Bei aller Höflichkeit schien ihr in der Art, wie er das sagte, eine gewisse Überheblichkeit mitzuschwingen. Hatte es damit zu tun, dass er ein Herr war, Pitt hingegen der Sohn eines Wildhüters, woran auch seine einwandfreie Sprechweise nichts änderte? Eine Selbstsicherheit, die jemand nicht erworben, sondern die man ihm in die Wiege gelegt hatte, ließ sich jederzeit an Haltung und Auftreten eines Menschen erkennen.
Auch wenn Charlotte nicht wie Vespasia dem Hochadel angehörte, stammte sie doch aus einer guten Familie. So sah sie ihn mit einer kühlen Herablassung an, für die sich nicht einmal Vespasia hätte zu schämen brauchen. Dass sie ein altes Kleid mit geflickten Manschetten trug, war dabei unerheblich.
»Tatsächlich? Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Narraway, aber durchaus unnötig. Mein Mann hat vor seiner Abreise alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, sodass es mir an nichts fehlt.« Sie meinte damit die finanziellen Angelegenheiten, doch wäre es stillos gewesen, das zu sagen.
Narraway lächelte kaum wahrnehmbar. Eigentlich war es nur ein leichtes Nachlassen der Spannung seiner Lippen. »Das hatte ich nicht anders erwartet«, sagte er. »Aber vielleicht haben Sie ihm nichts von Ihrer Absicht mitgeteilt, dem augenscheinlichen Verschwinden eines der Dienstboten Ferdinand Garricks nachzuspüren.«
Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und suchte nach einer Antwort, die ihn auf Abstand hielt und daran hinderte, in ihre Gedanken einzudringen.
»Augenscheinlich?«, fragte sie und sah ihn verwundert an. »Das klingt ja, als wüssten Sie etwas darüber. Heißt das, dass Sie dem Fall ebenfalls auf der Spur sind? Das freut mich, ja, es begeistert mich geradezu. Dafür sind nämlich mehr Hilfsmittel erforderlich, als mir zur Verfügung stehen.«
Jetzt war er an der Reihe, verblüfft dreinzublicken, doch überspielte er das so geschickt, dass sie es kaum merkte.
»Ich glaube nicht, dass Sie verstehen, welche Gefahr Ihnen drohen kann, wenn Sie die Sache weiterverfolgen«, gab er zu bedenken, den Blick seiner dunklen Augen unausgesetzt auf sie gerichtet, als wolle er sich vergewissern, dass sie die Ernsthaftigkeit seiner Worte begriff.
Spontan bedachte sie ihn mit einem berückenden Lächeln. »Dann wäre es wohl an der Zeit, mich aufzuklären, Mr Narraway. Worin besteht diese Gefahr? Wer könnte mir schaden, und auf welche Weise? Offensichtlich wissen Sie das alles, sonst hätten Sie nicht Ihren eigenen Fall ruhen lassen und wären hergekommen, um mir das zu sagen ... zu dieser Tageszeit.«
Er war aus dem Konzept gebracht. Auch wenn er es nur einen winzigen Augenblick zeigte, merkte sie es doch tief befriedigt. Er war überzeugt gewesen, sie durch sein Auftreten einschüchtern zu können, doch hatte sie seine eigene Drohung gegen ihn gekehrt.
Er wich der Herausforderung aus, die in ihren Worten lag. »Sie befürchten also, dass Martin Garvie etwas zugestoßen sein könnte?« , fragte er.
Sie war nicht bereit, klein beizugeben. »Ja«, sagte sie offen heraus. »Mr Ferdinand Garrick sagt, sein Sohn und Garvie seien nach Südfrankreich gereist, doch warum hat der junge Mann drei Wochen lang seiner Schwester nichts davon geschrieben, falls es sich so verhält?« Keinesfalls wollte sie Narraway einen Hinweis darauf liefern, dass sich Tellman vergeblich bemüht hatte, etwas über die Abreise der beiden zu erfahren oder einen Zeugen zu finden, der sie den Zug hatte besteigen sehen. Unter keinen Umständen durfte Tellmans neuer Vorgesetzter etwas erfahren, was nicht ganz einwandfrei war, und sie hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Narraway sein Wissen auf jede Weise nutzen würde, die seinen jeweiligen Zielen dienlich war.
»Befürchten Sie etwa, dass er einem Unfall zum Opfer gefallen sein könnte?«, wollte er wissen.
Sie erkannte, dass er mit ihr spielte. »Welche Art Unfall sollte das sein?«, fragte sie mit gehobenen Brauen. »Ich kann mir keinen denken, bei dem ich auf die von Ihnen angedeutete Weise gefährdet sein könnte.«
Er gab nach und sagte lächelnd: »Touché. Ich will ganz offen sein, Mrs Pitt. Mir ist bekannt, dass Sie sich nach dem Verbleib dieses augenscheinlich verschwundenen jungen Mannes erkundigt haben, der Mr Stephen Garricks Kammerdiener ist oder war. Die Garricks sind in der Gesellschaft wie in der Regierung nicht ohne Einfluss. Ferdinand Garrick war ein geachteter Berufsoffizier, der seine Laufbahn als Generalleutnant beendet hat. Ein Gott, der Königin und dem Land bis zum letzten Blutstropfen ergebener prinzipientreuer Mann.«
Charlotte wusste nicht, was sie denken sollte. Sie stand in der Mitte des Zimmers und sah Narraway an, der sich mit jedem Augenblick mehr entspannte. Falls Garrick so aufrecht und ehrenwert war, wie er ihr da geschildert wurde, ganz der Musterchrist, von dem Vespasia gesprochen hatte, gab es nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass er einen Dienstboten auf die Weise behandelte, wie das Gracie und sie befürchteten.
Narraway merkte, dass sie unsicher wurde. »Aber er kennt keine Gnade, wenn er sich angegriffen fühlt«, fuhr er fort. »Er würde nicht dulden, dass wer auch immer seine Handlungsweise infrage stellt. Er hat seinen Stolz und ist, wie das bei solchen Leuten häufig der Fall ist, sehr darauf bedacht, seine Privatangelegenheiten aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.«
Charlotte hob das Kinn ein wenig. »Und was könnte er mir antun, Mr Narraway? Meinen Ruf in der Gesellschaft zugrunde richten? Ich habe keinen. Mein Mann ist Beamter im Sicherheitsdienst. Zwar bedienen sich die Behörden seiner, tun aber zugleich so, als existiere er nicht. Als er die Polizeiwache in der Bow Street leitete, hätte ich vielleicht gesellschaftlichen Ehrgeiz entwickeln können — jetzt j a wohl kaum.«
Er errötete ein wenig. »All das ist mir bekannt, Mrs Pitt. Viele Menschen tun Bedeutendes, ohne in der Öffentlichkeit Anerkennung zu finden, ja, möglicherweise nicht einmal Dank. In einem solchen Fall liegt der einzige Trost darin, dass zumindest nicht für sein Versagen getadelt werden kann, wer für seine Erfolge nicht gelobt wird.« Ein Schatten legte sich auf seine Züge. Er war sichtlich bemüht, seine Gefühle zu beherrschen. »Irgendwann versagt jeder von uns einmal.«
Trotz aller Sorgfalt, nicht durchblicken zu lassen, woran er dabei dachte, schwang in seinen Worten eine so tiefe Bedeutung mit, dass sie begriff: Er sprach von sich selbst und von etwas, was er auf schmerzliche Weise gelernt und nicht etwa bei anderen beobachtet hatte. Hinter seinen Worten stand keine Vermutung, sondern Wissen.
»Ich mache mir aufrichtig Sorgen um Sie, Mrs Pitt«, fuhr er fort. »Natürlich hat der Mann keinen Einfluss auf das, was Ihre Freunde von Ihnen halten, wohl aber kann er grausam in das Geschick Ihrer Familie eingreifen, wenn ihm danach zumute ist oder er sich verletzlich vorkommt.« Er sah sie aufmerksam an. Sie hatte das Empfinden, als lasse sein Blick sie nicht los — fast so, als halte er sie körperlich fest.
»Glauben Sie, dass Martin Garvie ein Leid geschehen ist?«, fragte sie. »Bitte sagen Sie offen, ob ich etwas tun kann, um zu helfen. Eine Lüge, wie tröstlich sie auch klingen mag, wird an meinem Verhalten nichts ändern, das sage ich Ihnen gleich.«
In seine Augen trat neben alle anderen Empfindungen ein Funke von Humor. »Ich habe keine Ahnung. Ich kann mir auch keinen Grund dafür denken. Wie viel wissen Sie über ihn?«
»Sehr wenig. Aber seine Schwester Matilda kennt ihn von klein auf, und sie hat Angst«, sagte sie.
»Könnte es sein, dass sie gekränkt ist?«, fragte er mit minimal gehobenen Brauen. »Dass sie sich einander entfremdet haben und sie nicht damit zurechtkommt? Möglicherweise fühlt sie sich einsam und stärker an ihn gebunden als er sich an sie? Kann es sein, dass sie bereit ist, sich alles Mögliche einzubilden, bis hin zu Gefahren, vor denen sie ihn bewahren muss, weil all das für sie einfacher wäre als das Bewusstsein, dass er sie in Wahrheit nicht braucht?«
Wieder nahm sie Trauer in seiner Stimme wahr, sah, wie das Licht der Gaslampe die Spur eines alten Schmerzes nachzeichnete, von dem davor nichts zu sehen war. Ganz offenkundig hatte er sich auch über Tilda informiert.
»Möglich ist all das selbstverständlich«, räumte sie bereitwillig ein. »Aber das ändert nichts daran, dass man sich nach seinem Ergehen erkundigen muss.« Fast hätte sie hinzugefügt, dass ihm das ebenso klar sein müsse wie ihr, doch da sie erkannte, dass er sie verstand, ließ sie es ungesagt.
Eine Weile standen sie einander schweigend gegenüber. Dann richtete er sich zu voller Größe auf. »Trotzdem muss ich Sie ersuchen, Mrs Pitt, im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit keine weiteren Nachforschungen in Bezug auf Mr Garrick anzustellen. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass er einem Dienstboten etwas angetan haben könnte, von einer Rufschädigung abgesehen, und daran könnten Sie ohnehin nichts ändern.«
»Ich würde Ihren Rat gern befolgen, Mr Narraway«, sagte sie gleichmütig, »doch sofern ich eine Möglichkeit sehe, Tilda Garvie zu helfen, werde ich das auf jeden Fall tun. Ich kann mir nicht denken, auf welche Weise das Mr Garrick schaden könnte, es sei denn, er hätte sich eine Ungerechtigkeit zuschulden kommen lassen. In dem Fall aber müsste er wie jeder andere Rechenschaft dafür ablegen.«
Ärger trat auf Narraways Züge. »Aber doch nicht Ihnen, Mrs Pitt! Haben Sie denn nicht ...« Er hielt inne.
Sie lächelte ihn bezaubernd an. »Nein«, sagte sie. »Habe ich nicht. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Zwar nur in der Küche, aber dennoch von Herzen.«
Er stand reglos da, als wenn von seiner Entscheidung große Dinge abhingen. Man hätte glauben können, er sei imstande, vom Wohnzimmer aus die Wärme, die vertraute Behaglichkeit gescheuerten Holzes, reiner Wäsche, glänzenden Porzellans auf der Anrichte und den angenehmen Geruch von Essen in der Küche wahrzunehmen.
»Nein, danke«, sagte er schließlich. »Ich muss nach Hause.« In seiner Stimme lag ein Bedauern, das er nicht in Worte fasste. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mr Narraway.« Sie brachte ihn zur Tür und sah der schmalen, sehr aufrechten Gestalt nach, die mit beinahe militärischer Eleganz über den regennassen Gartenpfad der Straße entgegenstrebte.