Eagle Strike

Alex und Sabina wurden grob in einen Kellerraum gestoßen. Die Tür fiel krachend hinter ihnen ins Schloss. Sie waren allein.

Alex gab Sabina ein Zeichen, nicht zu sprechen. Schnell durchsuchte er den Raum. Die Tür bestand aus starkem Eichenholz, war von außen verschlossen, und wahrscheinlich hatte man auch noch einen Riegel vorgeschoben. Das einzige Fenster war quadratisch, ziemlich hoch angebracht und vergittert, aber es wäre sowieso zu klein gewesen, um hinausklettern zu können. Der Raum mochte einmal ein Weinkeller gewesen sein. Die Wände waren kahl und ohne Verzierungen, der Boden aus Beton. Abgesehen von ein paar Regalen enthielt er keine Möbel. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne.

Alex suchte nach Abhörwanzen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sich Cray die Mühe machte, seine beiden Gefangenen abzuhören, aber trotzdem wollte Alex ganz sicher sein, dass sie ungestört reden konnten.

Erst als er jeden Quadratzentimeter untersucht hatte, wandte er sich an Sabina. Sie machte einen erstaunlich gefassten Eindruck. Er dachte an all das, was ihr zugefügt worden war. Sie war gekidnappt, eingesperrt und sogar gefesselt und geknebelt worden. Sie hatte dem Mann gegenübergestanden, der die Ermordung ihres Vaters befohlen hatte. Sie hatte seine wahnsinnigen Pläne mitanhören müssen, seine Pläne, die halbe Welt zu zerstören. Und jetzt war sie erneut eingesperrt und konnte sich ebenso gut wie Alex denken, dass sie hier vermutlich nicht lebend wieder herauskommen würde. Sabina hätte außer sich vor Angst sein müssen. Stattdessen wartete sie still, bis Alex seine Suche beendet hatte. Sie beobachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal.

»Alles okay?«, fragte er schließlich.

»Alex…« Erst als sie zu sprechen versuchte, brachen ihre Gefühle durch. Sie holte tief Luft und brachte sich nur mühsam unter Kontrolle. »Ich kann es einfach nicht glauben, was ich hier erlebe.«

»Geht mir genauso. Ich wünschte, es wäre alles nur ein böser Traum.« Alex wusste nicht, was er sonst noch sagen konnte. »Wann haben sie dich gekidnappt?«, fragte er schließlich.

»Im Krankenhaus. Sie waren zu dritt.«

»Haben sie dir wehgetan?«

»Sie haben mir furchtbare Angst eingejagt. Und sie haben mir irgendeine Spritze verpasst.« Sie wurde richtig wütend. »Großer Gott, dieser Damian Cray ist widerlich! Und ich hätte auch nie gedacht, dass er so klein ist!«

Darüber musste Alex trotz allem lachen. Typisch Sabina.

Aber sie blieb todernst. »Als ich ihn zum ersten Mal zu sehen bekam, dachte ich sofort an dich. Schlagartig wurde mir klar, dass du immer die Wahrheit gesagt hattest. Ich fühlte mich entsetzlich, weil ich dir nicht geglaubt hatte!« Sie sah ihn an, dann fügte sie hinzu: »Du bist wirklich, was du behauptet hast– ein Spion!«

»Eigentlich nicht.«

»Weiß MI6, wo du jetzt gerade bist?«

»Nein.«

»Aber du hast doch sicher irgendwelche Tricksachen dabei. Davon hast du mir doch erzählt. Hast du keine explodierenden Schnürsenkel oder so was Ähnliches, mit denen wir uns befreien könnten?«

»Leider nicht. Im Moment hab ich gar nichts bei mir. MI6 weiß nicht einmal, was ich mache oder wo ich bin. Nach allem, was sich in der Bank in der Liverpool Street abspielte, habe ich mich ganz allein an Crays Fersen geheftet. Ich hatte eben eine wahnsinnige Wut auf die Leute von MI6, weil sie dich austricksten und all die Lügen über mich erzählten. Aber am Schluss ging dann doch alles schief. Ich hatte ja den Flash Drive schon in der Hand und jetzt habe ich ihn wieder an Cray verloren!«

Sabina verstand, was er sagen wollte. »Du bist also nur hierhergekommen, um mich zu befreien«, stellte sie fest.

»Scheint mir ja voll gelungen zu sein«, sagte er bitter.

»So, wie ich dich behandelt habe, hättest du mich ja auch einfach vergessen können.«

»Unsinn, Sabina. Natürlich hatte ich das ziemlich genau geplant. Dachte ich jedenfalls. Ich dachte wirklich, dass sie dich freilassen würden und dass dann alles okay wäre. Ich hatte keine Ahnung…« Er kickte wütend gegen die Tür. Sie war so solide wie ein Fels. »Wir müssen ihn daran hindern. Wir müssen etwas unternehmen!«

»Vielleicht hat er das alles nur erfunden«, überlegte Sabina. »Denk doch mal nach. Er behauptet, dass er 25Raketen auf Ziele in der ganzen Welt abfeuern könne. Aber Atomraketen können doch nur vom Weißen Haus ausgelöst werden, oder? Nur der amerikanische Präsident kann befehlen, dass sie abgefeuert werden. Das weiß doch jeder. Also, was kann Cray schon tun? Nach Washington fliegen und ins Weiße Haus einbrechen?«

»Wäre schön, wenn du Recht hättest.« Alex schüttelte den Kopf. »Cray hat eine riesige Organisation zur Verfügung, und er hat jahrelange Arbeit und viele Millionen Pfund in die Planung gesteckt. Außerdem arbeitet Yassen Gregorovich für ihn. Cray weiß sicherlich viel mehr als wir.«

Er ging zu ihr, wollte sie in die Arme nehmen, stattdessen blieb er unbeholfen vor ihr stehen. »Hör mal«, sagte er schließlich, »ich weiß, dass das jetzt ziemlich eingebildet klingt, und normalerweise kommandiere ich niemanden herum. Aber es ist eben so, dass ich schon mal in einer solchen Situation war…«

»Was? Du bist schon mal eingesperrt worden? Von irgendeinem Wahnsinnigen, der die Welt zerstören will?«

Alex zuckte verlegen mit den Schultern. »Na ja, stimmt. Ist mir schon mal passiert. Mein Onkel hat nämlich schon versucht, mich zum Spion zu erziehen, als ich noch nicht einmal richtig laufen konnte. Ohne dass ich es merkte, hat er mich zum Geheimagenten ausgebildet. Was ich dir erzählt habe, stimmt aufs Wort. Ich habe dann tatsächlich beim SAS eine Kurzausbildung absolviert. Und es stimmt auch, dass ich… nun… dass ich über manche Dinge ziemlich gut Bescheid weiß. Vielleicht haben wir tatsächlich eine Chance, Cray noch rechtzeitig zu erwischen. Aber wenn es so weit kommt, darfst du dich nicht einmischen. Überlass alles mir. Du musst genau das tun, was ich dir sage. Ohne zu widersprechen…«

»Das kannst du vergessen«, unterbrach ihn Sabina grob. »Okay, ich werde tun, was du sagst. Aber er hat schließlich versucht, meinen Vater umzubringen. Ich sage dir: Wenn Cray irgendwo auch nur ein Obstmesser herumliegen lässt, schiebe ich es ihm zwischen die Rippen.«

»Vielleicht ist es schon zu spät dafür«, sagte Alex niedergeschlagen. »Vielleicht lässt uns Cray einfach hier verrotten. Gut möglich, dass er schon weg ist.«

»Glaube ich nicht. Ich glaube, dass er dich braucht, Alex, aber ich weiß nicht, warum. Vielleicht deshalb, weil du tatsächlich so nahe dran warst wie sonst niemand, ihn zu schlagen.«

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte er.

Sabina starrte ihn an. »Ich nicht.«

Zehn Minuten später flog die Tür auf und Yassen Gregorovich kam herein. Er trug zwei Kleidungsstücke über dem Arm, weiße Overalls mit roten Nummern auf den Ärmeln, offensichtlich Seriennummern. »Zieht die hier an«, befahl er knapp und warf ihnen die Anzüge zu.

»Warum?«, wollte Alex wissen.

»Cray hat es befohlen. Ihr kommt mit uns. Und jetzt beeilt euch.«

Aber Alex zögerte noch immer. »Wozu sind die Klamotten?«, fragte er. Irgendwie hatte er das unangenehme Gefühl, schon mal ähnliche Overalls gesehen zu haben.

»Es sind Schutzanzüge aus Polyamid«, erklärte Yassen, aber das sagte Alex nichts. »Sie werden beim Umgang mit biochemischen Waffen eingesetzt. Und jetzt zieht sie endlich an!«

Alex zog den Overall über seine Kleidung und Sabina tat es ihm nach. Sein Unbehagen wuchs schnell. Die Overalls bedeckten ihre Körper vollständig; sie hatten Kapuzen, die tief über die Köpfe gezogen werden konnten. Die Anzüge hüllten sie vollständig ein, sodass niemand mehr erkennen konnte, dass sie keine Erwachsenen waren, sondern Jugendliche.

»Los, kommt mit mir!«, befahl Yassen.

Er führte sie ins Haus und von dort in den Innenhof des Klosters. Auf dem Rasen waren drei Fahrzeuge geparkt: ein Jeep und zwei LKW mit weißen Planen, auf denen dieselben roten Markierungen zu sehen waren wie auf den Schutzanzügen.

Etwa zwanzig Männer standen herum, alle in Schutzanzügen. Auf dem Rücksitz des Jeeps saß Henryk, der niederländische Pilot, und putzte nervös seine Brille. Damian Cray stand neben dem Fahrzeug und redete mit ihm, aber als er Alex sah, kam er auf ihn zu. Crays Gang war sprunghaft, er schien vor Aufregung förmlich zu vibrieren und seine Augen glänzten heller als gewöhnlich.

»Da seid ihr ja!«, rief er aus, als begrüße er Alex und Sabina auf einer Geburtstagsparty. »Wunderbar! Ich habe mich nämlich entschlossen, euch mitzunehmen. MrGregorovich wollte mir das ausreden, aber so ist das eben mit den Russen. Keinerlei Sinn für Humor. Du musst nämlich wissen, Alex, dass das alles ohne dich gar nicht stattfinden würde. Du hast mir den Flash Drive zurückgebracht, also ist es nur fair, dass du zuschauen darfst, wenn ich ihn benutze.«

»Ich würde lieber zuschauen, wenn Sie in Broadmoor in eine Zelle gesperrt werden!«, gab Alex zurück.

Cray lachte nur. »Das gefällt mir am besten an dir!«, rief er aus. »Du sagst immer, was du denkst! Aber ich muss dich warnen. Yassen wird dich wie ein Falke beobachten. Oder vielleicht sollte ich sagen: wie ein Adler. Wenn du irgendetwas versuchst, um uns zu schaden, wenn du auch nur ohne Erlaubnis blinzelst, wird er zuerst deine Freundin umlegen. Und danach dich. Hast du das kapiert?«

»Wohin gehen wir?«, fragte Alex.

»Wir fahren auf der Autobahn nach London. Dazu brauchen wir etwa zwei Stunden. Ihr beide fahrt im ersten der beiden LKW mit, zusammen mit Yassen. Eagle Strike hat übrigens jetzt begonnen. Alles ist vorbereitet. Ich denke, dass es euch gefallen wird.«

Er wandte sich ab und ging zum Jeep. Ein paar Minuten später rollte der kleine Konvoi durch das Tor und über die Zufahrt zur Landstraße. Alex und Sabina saßen nebeneinander auf einer Holzbank. Im LKW befanden sich sechs Männer, die alle automatische Waffen bei sich trugen. Alex glaubte, eines der Gesichter wiederzuerkennen; diesen Typ hatte er wahrscheinlich auf dem Firmengelände bei Amsterdam schon einmal gesehen– blasses Gesicht, stumpfes Haar, dunkle Augen mit leerem Blick.

Yassen saß Alex gegenüber, auch er trug einen Schutzanzug. Er ließ Alex nicht aus den Augen, aber er sagte kein Wort und sein Gesicht war ausdruckslos.

Sie fuhren zwei Stunden lang auf der Autobahn M4 in Richtung London. Alex schaute Sabina ab und zu an; einmal fing sie seinen Blick auf und lächelte nervös. Das hier passte nicht in ihre heile Welt. Die Männer, die Maschinenpistolen, die Schutzanzüge… Alles gehörte zu einem Albtraum, der völlig unerwartet über Sabina gekommen war und der ihr immer noch absolut sinnlos vorkam– und aus dem es keinen Ausweg zu geben schien.

Alex dachte immer noch über die Schutzanzüge nach. War das ein Zeichen, dass Cray nicht nur Atomraketen, sondern auch biochemische Waffen einsetzen wollte?

Schließlich fuhren die Fahrzeuge von der Autobahn ab. An der Rückseite des Trucks flatterte die Plane im Fahrtwind, und Alex erhaschte einen Blick auf einen Wegweiser: Flughafen Heathrow. Plötzlich wurde ihm klar, dass der Flughafen ihr Ziel sein musste. Er erinnerte sich an das Flugzeug, das er auf dem Betriebsgelände von Crays Softwarefabrik gesehen hatte. Und an das, was ihm Cray beim Tee auf der Terrasse erzählt hatte: Henryk ist sehr wertvoll für mich. Er fliegt Jumbo-Jets. Der Flughafen musste bei Crays Plan eine wichtige Rolle spielen, aber das erklärte noch lange nicht alles. Der Präsident der Vereinigten Staaten. Atomraketen. Und der Name der ganzen Sache, Eagle Strike. Alex verfluchte sich selbst. Er hatte alle Informationen. Langsam begann er klarer zu sehen. Aber das Bild war immer noch nicht scharf genug.

Sie hielten an. Niemand bewegte sich. Doch dann machte Yassen zum ersten Mal den Mund auf. »Raus!«, befahl er knapp.

Alex stieg aus und half Sabina von der Pritsche herunter. Die Berührung ihrer Hand tat ihm gut. Brüllender Lärm dröhnte ihnen entgegen, und als er aufblickte, sah er ein großes Flugzeug, das gerade auf die Landebahn zuschwebte. Er erkannte, wo sie sich befanden: auf dem obersten Deck eines nicht mehr benutzten Parkhauses– das Sir Arthur Lunt, Crays Vater, der Nachwelt hinterlassen hatte. Es stand am Rande des Flughafengeländes, in der Nähe der Hauptlandebahn. Das einzige andere Fahrzeug, das sich hier oben befand, war ein ausgebranntes Autowrack. Der Boden war übersät von Mauerbruchstücken, Abfällen und rostigen Ölfässern. Alex hatte keine Ahnung, warum der Konvoi ausgerechnet hierher gefahren war. Cray schien auf irgendetwas zu warten. Etwas würde bald passieren. Aber was?

Alex blickte auf die Uhr, es war genau halb zwei. Cray rief ihn und Sabina zu sich. Er war zusammen mit Henryk im Jeep gefahren und Alex sah, dass auf dem Rücksitz ein Funkgerät stand. Henryk stellte gerade die Frequenz ein und ein lautes Heulen war zu hören. Cray schien entschlossen, die Sache wie eine seiner Shows abzuziehen, denn am Funkgerät war ein Lautsprecher angeschlossen, sodass alle mithören konnten.

»Jetzt geht’s los!«, rief Cray aufgeregt und kicherte. »Auf die Minute pünktlich!«

Wieder schwebte ein Flugzeug herab. Es war noch zu weit entfernt und zu klein, um schon Details erkennen zu lassen, aber dennoch kam Alex die Form des Flugzeugs bekannt vor. Plötzlich schallte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher im Jeep.

»Achtung, Flugverkehrsleitung. Hier spricht Millennium Air, Flug118, von Amsterdam. Wir haben ein Problem.«

Die Stimme sprach Englisch, aber mit schwerem niederländischen Akzent. Eine kurze Pause trat ein, in der nur ein leeres Zischen zu hören war, dann antwortete eine Frauenstimme: »Roger, MA118. Was für ein Problem? Over.«

»Mayday! Mayday!« Die Stimme des Piloten war plötzlich sehr viel lauter. »Hier spricht MA118. Wir haben Feuer an Bord! Bitte um sofortige Landeerlaubnis!«

Wieder eine kleine Pause. Alex konnte sich lebhaft vorstellen, dass sich im Tower von Heathrow Airport jetzt Panik ausbreitete. Aber als die Frau wieder sprach, klang ihre Stimme professionell und ruhig. »Notruf verstanden. Wir haben Sie auf dem Schirm. Gehen Sie auf Kurs0-90 und auf 3000Fuß herunter.«

»Air Traffic Control«, rief der Pilot wieder. »Hier spricht Kapitän Schroeder von Flug MA118. Ich muss darauf hinweisen, dass wir eine extrem gefährliche biochemische Ladung an Bord haben. Wir fliegen im Auftrag des Verteidigungsministeriums. Es handelt sich um eine Notsituation. Bitte um Anweisungen.«

Die Fluglotsin antwortete sofort: »Wir müssen wissen, was sich an Bord befindet, wo im Flugzeug und in welchen Mengen.«

»Air Traffic Control, wir haben ein Nervengas an Bord. Genauere Angaben sind nicht möglich. Es ist ein unerprobtes Gas und extrem gefährlich. Im Laderaum befinden sich drei Kanister davon. Das Feuer hat jetzt die Hauptkabine erfasst. Mayday! Mayday!«

Alex schaute genauer hin. Das Flugzeug flog inzwischen sehr viel tiefer und jetzt erkannte er endlich, wo er es schon einmal gesehen hatte: Es war das Transportflugzeug von Crays Firmengelände bei Amsterdam. Rauch quoll aus den Rumpfseiten und plötzlich schlugen Flammen heraus und breiteten sich rasch auf den Tragflächen aus. Jedem Beobachter musste es scheinen, als ob sich das Flugzeug in furchtbarer Gefahr befand. Aber Alex wusste, dass alles nur Täuschung war.

Vom Tower aus wurde das Flugzeug genau beobachtet. »MA118, alle Rettungsdienste sind alarmiert. Wir haben die sofortige Evakuierung des gesamten Flughafens angeordnet. Sie haben Landeerlaubnis auf 27 links.«

Fast gleichzeitig hörte Alex, dass überall auf dem Flughafen Alarmsirenen losschrillten. Das Flugzeug befand sich noch immer in rund 800 bis 1000Meter Höhe, lodernde Flammen hinter sich herziehend. Er musste zugeben, dass die Sache ausgesprochen echt wirkte. Plötzlich schienen verschiedene Teile des Puzzles zusammenzupassen– Alex erkannte allmählich, was Cray plante.

»Los geht’s!«, rief Cray.

Alex und Sabina wurden wieder zum LKW geführt; Cray stieg in den Jeep und setzte sich neben Henryk, der am Steuer saß. Sie fuhren los. Alex konnte nicht sehen, was draußen los war, da er nur durch die flatternde Plane an der Rückseite blicken konnte, aber er vermutete, dass sie jetzt das Parkhaus verlassen hatten und am Zaun entlangfuhren, der den ganzen Flughafen umgab. Die Sirenen wurden lauter, wahrscheinlich näherten sie sich den Gebäuden. Aus der Ferne klangen Polizeisirenen und Alex fiel auf, dass die Straße ungewöhnlich belebt war. Autos jagten vorbei, offenbar hatten es die Fahrer eilig, aus der Gefahrenzone zu kommen.

»Was hat er vor?«, flüsterte Sabina geschockt.

»Das Feuer im Flugzeug ist nicht echt«, erklärte ihr Alex. »Cray hat sie hereingelegt. Er will erreichen, dass der Flughafen evakuiert wird, damit wir dann rein können.«

»Aber warum?«

»Das reicht!«, fuhr Yassen dazwischen. »Jetzt wird nicht mehr geredet.« Er griff unter seinen Sitz und zog zwei Gasmasken hervor, die er Sabina und Alex reichte. »Anlegen.«

»Wozu brauche ich die?«, wollte Sabina wissen.

»Tu, was ich sage.«

»Aber was um Himmels willen haben Sie vor?«, stammelte sie, gehorchte jedoch trotzdem.

Auch Alex, Yassen und die übrigen Männer legten ihre Gasmasken an. Jetzt waren alle plötzlich völlig anonym. Alex musste zugeben, dass Crays Plan geradezu genial war. Der perfekte Weg, in den Flughafen einzudringen. Inzwischen wusste sicherlich das gesamte Sicherheitspersonal des Airports Bescheid, dass ein Flugzeug mit einer Ladung tödlichen Nervengiftes jede Minute bruchlanden würde. Auf dem gesamten Flughafen lief bereits eine hektische Notfallevakuierung ab. Wenn Cray und seine Miniarmee vor dem Hauptzufahrtstor ankamen, würde sich wohl niemand die Zeit nehmen, nach Ausweisen zu fragen. In ihren Schutzanzügen sahen sie alle sehr offiziell aus und sie fuhren auch offiziell wirkende Fahrzeuge. Selbst die Tatsache, dass sie in Rekordzeit am Flughafen ankamen, würde niemandem verdächtig erscheinen. Wenn jemand überhaupt darüber nachdachte, würde er es eher als kleines Wunder betrachten.

Crays Plan schien aufzugehen.

Der Jeep hielt an einem Tor an der Südseite des Flughafens. Die Wachleute waren beide sehr jung. Einer von ihnen hatte den Job erst vor ein paar Wochen angetreten, und als jetzt höchste Alarmstufe gegeben wurde, war er schlicht in Panik geraten. Das Frachtflugzeug war zwar noch nicht gelandet, aber es kam immer näher, taumelte sozusagen aus der Luft herunter. Das Feuer schien sich weiter ausgebreitet zu haben und war eindeutig außer Kontrolle geraten. Und jetzt kamen auch noch ein Armeefahrzeug und zwei weiße Trucks voller Männer in weißen Anzügen, die Kapuzen über den Köpfen hatten und Gasmasken trugen! Der Junge hatte nicht die Absicht, diese Leute unnötig lange aufzuhalten.

Cray lehnte sich aus dem Jeep. Da die Gasmaske sein Gesicht verbarg, war er genauso unkenntlich wie der Rest seiner Leute. »Verteidigungsministerium!«, bellte er. »Abteilung biochemische Waffen!«

»Fahren Sie weiter!« Der Wächter konnte sie nicht schnell genug durchwinken.

In diesem Augenblick setzte das Flugzeug auf. Zwei Feuerwehren und eine kleine Armada von Rettungsfahrzeugen setzten sich in Bewegung und rasten zur Landebahn. Alex’ LKW überholte den Jeep und hielt an. Die Rückseite der Plane des Trucks hatte sich verfangen, sodass Alex alles sehen konnte, was sich hinter dem LKW abspielte.

Damian Cray saß auf dem Beifahrersitz und hielt ein Funkgerät in der Hand. »Höchste Zeit, den Einsatz in die Höhe zu treiben«, sagte er. »Es soll schließlich wie ein richtiger Notfall aussehen.«

Alex ahnte bereits, was jetzt geschehen würde. Cray drückte auf einen Knopf und das Flugzeug explodierte sofort. Es verschwand einfach in einem gewaltigen Feuerball, der aus ihm herausschoss und es gleichzeitig völlig auffraß. Holz- und Metallstücke wirbelten in allen Richtungen durch die Luft. Brennendes Kerosin ergoss sich über die Landebahn, sodass auch sie zu brennen schien. Die Rettungsfahrzeuge schwenkten in weitem Bogen um das Flugzeug, als wollten sie das Wrack nach allen Seiten sichern, aber dann wurde Alex klar, dass sie wahrscheinlich soeben einen neuen Befehl vom Tower erhalten hatten– sie konnten nichts mehr tun. Der Pilot und seine Besatzung waren mit absoluter Sicherheit tot. Irgendein unbekanntes Nervengas würde jetzt in die Atmosphäre entweichen können. Abdrehen! Weg vom Flugzeug! Sofort!

Alex wusste, dass Cray auch den Flugzeugpiloten und seine Besatzung getäuscht hatte– er hatte sie mit derselben Kaltblütigkeit in den Tod geschickt, mit der er auch alle anderen Menschen getötet hatte, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Der Pilot war vermutlich dafür bezahlt worden, dass er den falschen Alarm auslöste und dann eine Notlandung vortäuschte. Ganz bestimmt hatte er nicht geahnt, dass eine Ladung Sprengstoff an Bord versteckt war. Vielleicht hatte er einen längeren Aufenthalt in einem britischen Gefängnis in Kauf genommen. Aber dass sein Job darin bestand zu sterben, war ihm sicherlich nicht gesagt worden.

Sabina schaute nicht mehr hin. Alex konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn die Gläser der Gasmaske waren beschlagen. Sie hatte den Kopf abgewandt. Einen Augenblick lang fühlte er tiefes Mitleid. Wie war sie nur in diese Sache hineingeraten? Man durfte gar nicht daran denken, wie harmlos das alles angefangen hatte– während der Ferien in Südfrankreich!

Der LKW setzte sich ruckartig in Bewegung. Sie waren jetzt auf dem Flughafengelände, und Cray hatte es tatsächlich geschafft, das gesamte Sicherheitssystem kurzzuschließen. Niemand würde sie bemerken, jedenfalls für eine Weile. Aber eine Frage blieb offen: Warum waren sie überhaupt hierhergekommen?

Erneut hielten die Trucks an, und wieder schaute Alex hinaus. Und jetzt endlich fand er die Antwort auf seine Frage.

Sie standen vor einem Flugzeug, einer Boeing747-200B. Aber es war weit mehr als nur ein normaler Jumbo-Jet. Sein Rumpf war blau-weiß; der Schriftzug United States of America zog sich über die gesamte Länge und auf dem Leitwerk prangte das Sterne- und Streifenmuster der US-Flagge. Und knapp unterhalb der Tür war eine Art Wappen angebracht. Es zeigte einen Adler, der ein Schild in den Klauen hielt. Es war, als ob sich der Adler über Alex lustig machte, weil der es nicht früher erraten hatte. Der Adler, der der Operation Eagle Strike den Namen gab. Das Wappen war das Siegel des US-Präsidenten. Und das hier war Air Force One, die Maschine des Präsidenten. Das Flugzeug war der Grund, warum Damian Cray hier war.

Alex hatte das Flugzeug in Alan Blunts Büro im Fernsehen gesehen, als es den amerikanischen Präsidenten nach England brachte. Dieses Flugzeug flog ihn in alle Welt. Es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit knapp unterhalb der Schallgrenze. Alex wusste nicht viel darüber, denn alle Informationen über Air Force One wurden streng geheim gehalten. Er wusste nur eines: So ziemlich alles, was man im Weißen Haus tun konnte, war auch in diesem Flugzeug möglich, selbst dann, wenn es sich in der Luft befand.

So ziemlich alles. Zum Beispiel auch einen Atomkrieg auszulösen.

An der Treppe, die zur offenen Tür führte, standen zwei Soldaten in khakifarbenen Kampfanzügen und schwarzen Baretts. Als Cray aus dem Jeep stieg, hoben sie ihre Waffen und nahmen Bereitschaftshaltung an. Sie hatten den Alarm gehört; sie wussten, dass auf dem Flughafen etwas geschehen sein musste, aber sie waren nicht sicher, ob sie davon betroffen waren.

»Was ist los?«, fragte einer.

Damian Cray gab keine Antwort. Seine Hand zuckte hoch; er hielt eine Pistole. Zwei Schüsse wurden abgefeuert, leise, kaum hörbar– oder vielleicht wurde ihr Lärm von dem riesigen Flugzeug verschluckt. Die beiden Soldaten wurden herumgeschleudert und stürzten auf den Asphaltbelag. Niemand hatte den Zwischenfall beobachtet, denn alle Augen waren auf die Landebahn und das noch immer brennende Wrack des Frachtflugzeugs gerichtet.

Alex wurde von einem irrsinnigen Hass auf Crays Feigheit gepackt. Die amerikanischen Soldaten hatten sicherlich nicht mit Problemen gerechnet; schließlich war der Präsident nicht in der Nähe des Flughafens. Air Force One sollte erst übermorgen starten. Cray hätte sie ebenso gut betäuben oder gefangen nehmen können. Aber es war ihm wohl einfacher erschienen, sie kaltblütig zu erschießen. Jetzt steckte er gelassen die Pistole wieder in die Tasche; zwei Menschenleben hatte er ausgelöscht und bereits wieder vergessen. Sabina stand neben Alex und starrte ungläubig auf die Szene.

»Wartet hier«, befahl Cray. Er nahm die Gasmaske ab. Sein Gesicht war rot vor Erregung.

Yassen Gregorovich und ein Teil der Männer stürmten die Treppe hinauf und in das Flugzeug. Die übrigen Männer zogen die weißen Schutzanzüge aus; darunter trugen sie amerikanische Militäruniformen. Cray hatte wirklich an alles gedacht! Sollte jemand zufällig den Blick vom brennenden Frachtflugzeug abwenden, würde es so aussehen, als stünde Air Force One unter schärfster Bewachung und als sei alles unter Kontrolle. Tatsächlich gab es keine Erklärung, die weiter von der Wahrheit entfernt war.

Aus dem Innern der Boeing waren Schüsse zu hören. Cray hatte nicht vor, Gefangene zu machen. Wer ihm im Weg stand, wurde ohne Zögern und unbarmherzig eliminiert.

Cray trat neben Alex. »Willkommen in der VIP-Lounge«, sagte er. »Es wird dich vielleicht interessieren, dass sie diesen Teil des Flughafens tatsächlich VIP-Lounge nennen.« Er deutete auf ein Gebäude aus Stahl und Glas, das hinter dem Flugzeug emporragte. »Dort gehen sie hinein, die Präsidenten und Premierminister. Ich war tatsächlich selbst ein- oder zweimal dort drin. Sehr bequeme Einrichtung, und man muss nie vor der Passkontrolle Schlange stehen!«

»Lassen Sie uns gehen«, sagte Alex. »Sie brauchen uns jetzt nicht mehr.«

»Ach, soll ich dich lieber jetzt umlegen als später?«

Sabina warf Alex einen verängstigten Blick zu, sagte aber nichts.

Yassen erschien wieder in der Flugzeugtür und hob den Daumen; sie hatten Air Force One eingenommen. Crays Männer kamen nacheinander heraus und stiegen die Treppe herunter. Einer war verletzt, sein Ärmel war blutverschmiert. Also hatte doch noch jemand versucht, sich zu wehren!

»Ich glaube, wir können jetzt an Bord gehen«, sagte Cray.

Seine Männer hatten die Schutzanzüge abgelegt; alle waren jetzt als amerikanische Soldaten verkleidet. Sie standen im Halbkreis um die Treppe, die zur Flugzeugtür führte, bildeten praktisch einen Verteidigungsring für den Fall eines Gegenangriffs. Henryk war bereits im Flugzeug; Alex und Sabina stiegen die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Damian Cray, der eine Pistole in der Hand hielt. Offensichtlich würden nur fünf Personen mitfliegen.

Sabina bewegte sich wie betäubt, wie hypnotisiert. Alex konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Auch seine eigenen Beine wollten den Dienst versagen, wollten nicht diese Treppe hinaufsteigen, die eigentlich für den mächtigsten Mann dieses Planeten reserviert war. Wie ein dunkles Schicksalstor ragte die offene Tür über ihm auf, daneben das Siegel des Präsidenten. Yassen erschien in der Tür; er zog eine Leiche hinter sich her, die mit blauer Hose und blauer Weste bekleidet war, offenbar einer der Stewards. Noch ein Unschuldiger, der für Crays wahnsinnigen Traum hatte sterben müssen.

Alex betrat die Flugzeugkabine.

Air Force One ist einzigartig auf der Welt. Hier standen keine Sitze in eng gedrängten Reihen, hier gab es keine Economy Class, überhaupt nichts, was auch nur entfernt an die normale Inneneinrichtung eines Jumbo-Jets erinnert hätte. Das Flugzeug war ausschließlich für den Präsidenten und seine Begleitung ausgestattet worden, und zwar auf allen drei Ebenen: Büros und Schlafzimmer, Konferenzraum und Küche… insgesamt 370Quadratmeter Kabinenraum. Irgendwo tief im Innern befand sich sogar ein Operationstisch, der jedoch noch nie benutzt worden war. Alex stand in einem weiten, offenen Wohnraum. Alles war auf höchste Bequemlichkeit ausgerichtet– ein dichter, weicher Teppich, niedrige Sofas, Sessel und Tische mit altmodischen Lampen. Die vorherrschenden Farben waren Beige und Braun, sanft beleuchtet von Dutzenden Strahlern, die in die Decke eingelassen waren. Auf einer Seite erstreckte sich ein langer Flur, von dem eine Reihe schick eingerichteter Büros abgingen. Dazwischen immer wieder Sitzecken mit weiteren Sofas und Tischen. Rehfarbene Blenden waren vor die Fenster gezogen.

Yassen hatte alle Leichen weggebracht, aber auf dem Teppich befand sich noch ein erschreckend auffälliger Blutfleck. Ansonsten schien jedoch alles makellos sauber. Yassens Leute hatten sich offensichtlich nach dem Gemetzel als Putzkolonne betätigt. An einer der Wände stand ein Rollwagen, auf dem Kristallgläser mit der eingravierten Inschrift Air Force One und einem Bild des Flugzeugs glitzerten. Auf der unteren Fläche des Rollwagens standen Flaschen mit diversen Spirituosen und erlesenen Weinen. Der Service dieser Fluglinie ließ offenbar nichts zu wünschen übrig. In diesem Flugzeug reisen zu dürfen, war das Privileg sehr weniger Menschen, die hier in absolutem Luxus schwelgen konnten.

Selbst Cray, der einen eigenen Privatjet besaß, war beeindruckt. Er warf Yassen einen kurzen Blick zu: »Alles klar?«, fragte er. »Haben wir alle umgelegt, die umgelegt werden wollten?«

Yassen nickte.

»Okay, fangen wir an. Ich übernehme Alex. Ich möchte ihm zeigen… Sie bleiben hier.«

Cray nickte Alex zu. Der Junge wusste, dass er keine Wahl hatte. Er warf Sabina einen letzten Blick zu, mit dem er ihr sagen wollte: Mir wird schon etwas einfallen. Ich hole uns hier raus. Aber daran zweifelte er selbst. Denn erst jetzt begann er die enorme Dimension von Eagle Strike wirklich zu begreifen. Air Force One! Das Präsidentenflugzeug. Das noch nie jemand auf diese Weise gekapert hatte– was auch kein Wunder war. Bisher war niemand verrückt genug gewesen, auch nur daran zu denken.

Cray stieß Alex die Pistolenmündung in den Rücken und zwang ihn die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Alex hoffte flüchtig, dass jemand von oben eingreifen würde. Nur ein Soldat oder ein Crewmitglied… Vielleicht war jemand der Schießerei entkommen und lauerte dort oben auf Cray. Aber es war klar, dass Yassen immer sehr gründlich arbeitete. Wenn er Cray gemeldet hatte, dass man sich um die gesamte Crew gekümmert habe, dann war es so. Alex wagte gar nicht daran zu denken, wie viele Männer und Frauen an Bord gewesen sein mochten.

Cray stieß Alex in einen Raum, der von unten bis oben mit elektronischer Ausrüstung vollgestopft war. Hochkomplizierte Computer waren neben nicht weniger komplizierten Telefonanlagen installiert worden, daneben diverse Radarschirme mit ganzen Batterien von Schaltknöpfen, Leuchtdioden und Reglern. Selbst an der Decke waren Geräte montiert. Offenbar war dies das Kommunikationszentrum von Air Force One. Alex konnte sich nicht vorstellen, dass sich niemand in diesem Raum befunden hatte, als Cray das Flugzeug stürmen ließ. Jedenfalls war die Tür nicht verschlossen gewesen.

»Niemand zu Hause«, grinste Cray. »Ich fürchte, dass niemand unseren Besuch erwartete. Wir haben also das ganze Flugzeug für uns allein.« Er nahm den Flash Drive aus der Tasche. »Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen, Alex«, sagte er feierlich. »Und das habe ich dir zu verdanken. Aber bitte, bleib ganz still. Ich will dich nicht töten, bevor du das gesehen hast, aber wenn du auch nur einen Mucks machst, werde ich dich sofort erschießen müssen, fürchte ich.«

Cray wusste genau, was er tat. Er legte die Pistole so auf einen Tisch, dass sie sich niemals mehr als ein paar Zentimeter von seiner Hand entfernt befand. Dann öffnete er die kleine Plastikbox, in der sich der Flash Drive befand, und schob das Gerät in einen der Anschlüsse an der Vorderseite des Computers. Er setzte sich und gab auf der Tastatur eine Reihe von Befehlen ein.

»Ich kann dir leider nicht erklären, wie die Sache funktioniert«, sagte er, während er weitertippte. »Dazu haben wir nicht genügend Zeit. Überhaupt habe ich Computer und das ganze elektronische Zeug immer reichlich langweilig gefunden. Aber die Computer hier sind dieselben wie im Weißen Haus, und alle sind direkt mit Mount Cheyenne vernetzt, denn dort haben unsere amerikanischen Freunde ihr höchst geheimes unterirdisches Atomwaffenkontrollzentrum. Nun, wenn man ein paar Atomraketen losschicken will, braucht man zuallererst die Startcodes. Die Codes werden jeden Tag gewechselt und von der National Security Agency dem Präsidenten mitgeteilt, wo immer er sich auch gerade aufhält.– Ich hoffe, ich langweile dich nicht, Alex?«

Alex gab keine Antwort. Er starrte die Pistole an und berechnete die Entfernung.

»Der Präsident trägt die Codes immer bei sich. Weißt du eigentlich, dass Präsident Carter die Codes tatsächlich einmal verloren hat? Er schickte sie mit seinem Anzug zur chemischen Reinigung. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die Codes werden übrigens von Milstar übermittelt, das ist die Abkürzung für das Military Strategic and Tactical Relay Satellite System. Eine Ausfertigung der Codes geht an das Verteidigungsministerium, das Pentagon, die andere hierher. Die Codes sind in diesem Computer gespeichert und…«

Ein Summton setzte ein; mehrere Anzeigen auf dem Kontrollpaneel leuchteten grün auf. Cray stieß einen Freudenschrei aus. Sein Gesicht glänzte grünlich im Widerschein der Lampen.

»und hier sind sie schon! Das war aber verdammt schnell! Klingt zwar seltsam, aber jetzt habe ich die Kontrolle über so ziemlich alle Atomraketen in den Vereinigten Staaten. Ist das nicht super?«

Er hackte noch schneller auf die Tastatur ein und für einen Augenblick wirkte er wie verwandelt. Während seine Finger über die Tasten hüpften, erinnerte er Alex an den Damian Cray, den er im Earls’ Court und im Wembley-Stadion auf dem Flügel spielen gesehen hatte. Auf Crays Gesicht lag ein verträumtes Lächeln.

»Natürlich ist da noch eine zusätzliche Sicherung eingebaut«, fuhr er selbstzufrieden fort. »Die Amerikaner können doch nicht dulden, dass irgendjemand daherkommt und ihre Raketen abfeuert, oder? Nein– das kann nur der Präsident, und zwar wegen dieses kleinen Teils…«

Cray zog einen kleinen silbernen Schlüssel aus der Tasche. Alex vermutete, dass es ein Duplikat sein musste, das ebenfalls Charlie Roper geliefert hatte. Cray steckte den Schlüssel in ein kompliziert aussehendes Schloss unterhalb des Rechners und öffnete eine Klappe. Darin wurden zwei rote Schaltknöpfe sichtbar. Einer, um die Raketen zu starten. Der andere war mit zwei Wörtern gekennzeichnet, die Alex weit mehr interessierten: SELF-DESTRUCT. Selbstzerstörung.

Cray war natürlich nur am ersten Knopf interessiert.

»Das ist der Schaltknopf«, verkündete er. »Der Große Knopf! Der Schalter, über den man so viel liest. Der das Ende der Welt bedeuten kann. Aber er kann nur mit einem bestimmten Fingerabdruck aktiviert werden. Und wenn man nicht den Fingerabdruck des Präsidenten hat, kann man genauso gut nach Hause gehen.« Er drückte auf den Knopf. Nichts geschah. »Siehst du? Funktioniert nicht!«

»Dann war das alles reine Zeitverschwendung!«, sagte Alex hoffnungsvoll.

»Aber nein, mein lieber Alex! Denn, verstehst du, ich hatte ja das große Vergnügen– das große Privileg sozusagen–, dem Präsidenten persönlich die Hand schütteln zu dürfen. Ich bestand darauf. Für mich war das ausgesprochen wichtig. Aber ich trug auf meiner Hand eine spezielle Latexschicht, und als wir uns die Hände schüttelten, nahm ich gleichzeitig seine Fingerabdrücke. War das nicht unglaublich clever?«

Cray zog einen sehr dünnen Plastikhandschuh aus der Tasche und zog ihn über die Hand. Es war deutlich zu sehen, dass die Fingerkuppen des Handschuhs in bestimmter Weise geformt waren. Alex begriff sofort, was das bedeutete: Die Fingerkuppen des Präsidenten waren auf die Latexschicht geprägt worden.

Cray hatte also tatsächlich die Macht, einen Atomangriff auszulösen.

»Warten Sie«, stieß Alex hervor. Ihm war übel vor Angst.

»Was ist?«, fragte Cray ungeduldig.

»Sie machen einen Fehler. Einen furchtbaren Fehler«, sagte Alex nervös und hastig. »Sie glauben, dass Sie alles besser machen, aber genau das wird nicht passieren!« Er rang um die richtigen Worte. »Sie töten Tausende Menschen! Hunderttausende, und die allermeisten sind völlig unschuldig! Sie haben gar nichts mit Drogen zu tun.«

»Man muss Opfer bringen. Was ist so falsch daran, dass tausend Menschen sterben, wenn man dadurch eine Million retten kann?«

»Alles ist daran falsch! Und was ist mit dem radioaktiven Niederschlag? Haben Sie überhaupt daran gedacht, was Sie dem Rest der Welt antun? Ich dachte, Sie machen sich wegen der Umwelt Sorgen! Stattdessen zerstören Sie sie.«

»Es ist die Sache wert, dass wir diesen Preis zahlen. Eines Tages wird das die ganze Welt einsehen. Man muss grausam sein, um barmherzig sein zu können.«

»So etwas kann nur ein Wahnsinniger behaupten!«

Cray streckte die Hand aus. Sein Finger berührte den Startknopf.

Alex hechtete auf ihn zu. Seine eigene Sicherheit war ihm jetzt völlig gleichgültig. Er dachte nicht einmal mehr daran, Sabina zu schützen. Schon möglich, dass sie beide getötet würden, aber jedenfalls musste er versuchen, Cray aufzuhalten. Er musste die Millionen Menschen retten, die überall auf der Welt sterben würden, wenn Cray seinen Plan ausführen durfte. 25Atomraketen, die gleichzeitig aus dem Himmel fielen! Dieser Gedanke überstieg jede Vorstellungskraft.

Aber Cray hatte mit Alex’ Angriff gerechnet. Plötzlich hatte er die Pistole wieder in seiner Hand und schlug zu. Schmerzen zuckten durch Alex’ Kopf, als die Pistole gegen seinen Schädel krachte. Halb betäubt taumelte er rückwärts; der Raum verschwamm vor seinen Augen und er stürzte zu Boden.

»Zu spät«, murmelte Cray.

Genüsslich hob er die Hand. Sein Zeigefinger kreiste über dem roten Knopf.

Blieb unbeweglich darüber stehen.

Dann stieß der Finger auf den Startknopf herab wie ein Adler auf seine Beute.