Die Notbremse

Das Hotel Saskia war ein altes Gebäude, das irgendwie zwischen ein umgebautes Lagerhaus und einen Wohnblock gezwängt worden war. Es hatte nur fünf Gästezimmer, übereinandergestapelt wie in einem Kartenhaus. Aber dafür hatten alle Blick auf den Kanal. Nicht weit vom Hotel entfernt war ein Blumenmarkt, und selbst jetzt, mitten in der Nacht, hing ein süßer Blumenduft in der Luft. Jack hatte das Hotel ausgesucht, weil es klein war und in einer schmalen Gasse fern vom Rummel der Innenstadt lag. Irgendwie hatte sie wohl gehofft, dass man sie hier nicht ganz so leicht finden würde.

Als Alex am nächsten Morgen um acht Uhr die Augen aufschlug, fand er sich in einem Zimmer mit völlig ungleichen Wänden wieder. Es lag im obersten Stockwerk, direkt unter dem Dach. In der Nacht hatte er nicht mehr die Kraft gehabt, die Fensterläden zu schließen. Jetzt strömte das morgendliche Sonnenlicht durch das Fenster herein. Vorsichtig setzte er sich im Bett auf, denn jede einzelne Muskelfaser schien sich über die schlechte Behandlung beschweren zu wollen, die man seinem Körper in der letzten Nacht zugefügt hatte. Seine Kleider hingen ordentlich gefaltet über einem Stuhl, obwohl er sich absolut nicht mehr daran erinnern konnte, sie überhaupt ausgezogen zu haben. Sein Blick wanderte durch das Zimmer und blieb an einem Zettel hängen, der am Spiegel klebte:

Frühstück gibt’s bis 10.
Hoffe, du schaffst es bis zum Erdgeschoss!
Jack

Er grinste, als er Jacks Zettel las.

Zum Zimmer gehörte ein winziges Bad, kaum größer als ein Kleiderschrank. Alex wusch sich gründlich und putzte die Zähne. Er genoss den Pfefferminzgeschmack der Zahncreme, denn selbst nach zehn Stunden hatte er immer noch den ekligen Geschmack von dem Schlangenblut im Mund. Während er sich anzog, fiel ihm wieder ein, wie er in der Nacht ins Hotel gehumpelt war. Neben der kleinen Rezeption standen ein paar antike Stühle, dort hatte Jack auf ihn gewartet. Bis zu diesem Moment hatte Alex nicht angenommen, dass er viele sichtbare Verletzungen hatte, aber ein Blick in Jacks Gesicht genügte, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Beim Nachtportier– dem bei Alex’ Anblick fast die Augen aus dem Kopf fielen– bestellte sie ein großes Sandwich und heißen Kakao, führte Alex dann wortlos zu dem winzigen Lift und brachte ihn in sein Zimmer. Sie stellte keine einzige Frage, und Alex war ihr dafür sehr dankbar. Er wäre wahrscheinlich schon bei der ersten Frage eingeschlafen.

Jack überredete ihn zu duschen, und während er unter dem heißen Wasserstrahl stand, schaffte sie es irgendwie, einen großen Packen Pflaster, Binden und eine Tube mit antiseptischer Creme zu besorgen. Alex wehrte sich nur schwach, als sie ihn zu verarzten begann. Als das Sandwich und der Kakao aufs Zimmer gebracht wurden, fühlte er sich viel zu müde, um noch essen zu können. Doch nach dem ersten Bissen stellte er fest, wie unendlich groß sein Hunger war, und so schlang er das Sandwich förmlich hinunter. Dann endlich hatte er sich auf dem Bett ausgestreckt. Und war auf der Stelle eingeschlafen.

Jetzt zog er sich an, betrachtete noch einmal seine Wunden und Blutergüsse im Spiegel und ging zum Frühstück. Der alte, knarrende Lift brachte ihn hinunter zum Frühstücksraum, der sich in einem Gewölbekeller unter der Rezeption befand. Das Frühstück bestand aus verschiedenen Wurst- und Käsesorten und Brötchen; dazu gab es Kaffee. Jack saß allein an einem kleinen Tisch in einer Ecke. Er setzte sich ihr gegenüber.

»Guten Morgen, Alex«, sagte sie, offensichtlich erleichtert, dass er allmählich wieder wie der alte Alex aussah. »Gut geschlafen?«

»Wie ein Murmeltier«, sagte er. »Jetzt wirst du mich wohl gleich mit Fragen bombardieren, was gestern Nacht los war?«

»Noch nicht. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es mir den Appetit verderben würde.«

Er nickte grinsend und sie aßen schweigend. Danach erzählte er ihr alles, was passiert war, von dem Moment an, in dem er sich mit den Magneten an den Truck gehängt und in Crays Firmengelände eingeschlichen hatte. Als er damit fertig war, sagte Jack lange Zeit kein Wort. Ihr Kaffee war bereits kalt geworden.

»Cray ist verrückt!«, brach es schließlich aus ihr heraus. »Ich sag dir was, Alex: Nie mehr kaufe ich eine CD von ihm!« Sie trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und stellte die Tasse wieder weg. »Aber eins verstehe ich immer noch nicht: Warum, verdammt noch mal, macht er das eigentlich? Ich meine, der Mann ist doch so eine Art Nationalheld. Hat damals sogar bei Prinz Charles’ Hochzeit gesungen!«

»Geburtstag«, verbesserte Alex.

»Egal. Und er hat Millionen für gute Zwecke gespendet! Ich war sogar mal bei einem seiner Konzerte. Die gesamten Einnahmen gingen an Rettet die Kinder, jeder einzelne Penny! Oder vielleicht hab ich das falsch verstanden? Vielleicht hat er Misshandelt die Kinder gemeint? Oder Tötet die Kinder? Was zum Teufel hat Cray bloß vor?«

»Weiß ich nicht, Jack. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sinnloser kommt mir das alles vor.«

»Ich will schon gar nicht mehr darüber nachdenken. Bin nur einfach froh, dass du halbwegs heil und lebend aus der Sache herausgekommen bist. Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich dich allein habe gehen lassen.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, du hast jetzt alles getan, was du tun konntest«, fuhr sie fort. »Jetzt gehst du zu MI6 und erzählst ihnen alles, was du weißt. Du bringst ihnen den Flash Drive. Dieses Mal müssen sie dir glauben.«

»Du hast völlig Recht«, stimmte Alex zu. »Aber erst einmal müssen wir aus Amsterdam verschwinden. Wir müssen dabei sehr vorsichtig sein. Cray hat mit Sicherheit seine Leute am Bahnhof stationiert. Und bestimmt auch am Flughafen.«

Jack nickte. »Dann fahren wir eben mit einem Bus«, schlug sie vor. »Wir fahren zuerst nach Rotterdam oder Antwerpen. Vielleicht können wir von dort nach Hause fliegen.«

Sie beendeten das Frühstück, packten und verließen das Hotel. Jack zahlte bar, denn sie glaubte allen Ernstes, dass Cray mit all seinen technischen Möglichkeiten herausfinden könnte, wann und wo sie ihre Kreditkarte benutzte. Vor dem Blumenmarkt winkten sie ein Taxi herbei und fuhren in einen der Vororte, wo sie in einen Nahverkehrsbus stiegen. Alex wurde allmählich klar, dass die Heimreise sehr lange dauern würde, und das machte ihm Sorgen. Es waren bereits zwölf Stunden vergangen, seit Cray angekündigt hatte, dass Eagle Strike in zwei Tagen beginnen würde. Es blieben also nur noch 36Stunden.

Damian Cray war sehr früh aufgewacht. Er saß in einem Himmelbett mit malvenfarbenen Seidenbezügen, umgeben von mindestens einem Dutzend Kissen. Vor ihm stand ein Tablett, das ihm sein Zimmermädchen gebracht hatte. Die Morgenzeitungen lagen darauf, eigens für ihn aus London eingeflogen. Cray aß sein übliches Frühstück– Haferschleim aus organischem Anbau, Honig aus Mexiko (aus Crays eigener Imkerei), Sojamilch und amerikanische Preiselbeeren. Die ganze Welt wusste, dass Cray Vegetarier war. Früher hatte er nacheinander eine Propagandakampagne gegen Legebatterien veranstaltet, dann gegen Tiertransporte und gegen den Import von Gänseleberpastete. An diesem Morgen war ihm der Appetit zwar absolut vergangen, aber er aß trotzdem tapfer weiter. Sein Leibarzt achtete streng darauf, dass er immer ein ordentliches Frühstück einnahm.

Damit war er noch immer beschäftigt, als es klopfte und Yassen Gregorovich eintrat.

»Na?«, wollte Cray sofort wissen. Es machte ihm nichts aus, wenn die Leute in sein Schlafzimmer kamen. Schließlich hatte er seine besten Songs im Bett komponiert.

»Ich habe alles veranlasst, wie Sie es befohlen haben. Unsere Männer sind am Zentralbahnhof stationiert, in Amsterdam Zuid, Lelylaan, De Vlugtlaan… überhaupt an allen Vorortbahnhöfen. Natürlich auch am Flughafen Schiphol. Wir lassen sogar die Häfen überwachen. Aber ich glaube nicht, dass Alex dort irgendwo auftaucht.«

»Wo könnte er sonst noch sein?«

»An seiner Stelle würde ich nach Brüssel oder Paris fahren. In beiden Städten habe ich Kontaktmänner bei der Polizei. Ich habe ihnen schon befohlen, nach ihm Ausschau zu halten. Wenn er sich irgendwo blicken lässt, werden wir es sofort erfahren. Aber ich vermute, dass wir ihn nicht finden werden, bevor er wieder in England ist. Er wird direkt zu MI6 gehen und ihnen den Flash Drive übergeben.«

Cray warf wütend den Löffel auf das Tablett. »Das scheint Sie ja völlig kalt zu lassen!«, bemerkte er bissig.

Yassen gab keine Antwort.

»Ich muss schon sagen, Sie enttäuschen mich sehr, Gregorovich. Als ich diese Operation begann, wurden Sie mir empfohlen, weil Sie der Beste seien. Angeblich soll Ihnen noch niemals ein Fehler unterlaufen sein.«

Yassen gab immer noch keine Antwort.

Cray runzelte verärgert die Stirn. »Ich wollte Ihnen eine ordentliche Stange Geld zahlen! Aber das können Sie jetzt vergessen. Die Sache ist zu Ende. Vorbei. Eagle Strike wird nicht stattfinden. Und was wird aus mir? MI6 wird irgendwann hinter die ganze Angelegenheit kommen, und dann werden sie sich mit mir beschäftigen…« Seine Stimme brach. »Das sollte mein größter Triumph werden! Meine Ruhmestat! Mein Lebenswerk! Jetzt ist alles kaputt, und das habe ich nur Ihnen zu verdanken!«

»Nichts ist vorbei«, sagte Yassen. Er blieb völlig gelassen, aber in seiner Stimme lag ein eisiger Unterton, der Cray hätte warnen sollen, dass er wieder einmal einem plötzlichen und vorzeitigen Tod verdammt nahegekommen war. Der Russe blickte auf den kleinen Mann hinunter, der sich, von einem Dutzend Kissen gestützt, in seinem Bett aufplusterte. »Aber wir müssen gewissermaßen die Notbremse ziehen. Ich habe auch Kontaktmänner in England. Sie werden Ihren Flash Drive schneller zurückbekommen, als Sie glauben.«

»Notbremse? Was soll das nun wieder heißen?«, wollte Cray wissen. Er schien starke Zweifel zu haben.

»Ich habe gründlich über die Situation nachgedacht. Bisher habe ich immer geglaubt, dass Alex aus eigenem Antrieb handelt. Dass er nur zufällig in unsere Sache hineingeraten ist.«

»Sie haben also geglaubt, dass er in diesem Haus in Südfrankreich wirklich nur Ferien machte, nichts weiter?«

»Richtig.«

»Und wie erklären Sie sich jetzt die Sache?«

»Denken Sie mal nach. Warum war Alex wegen des… Zwischenfalls mit dem Journalisten so aufgebracht? Das hatte doch gar nichts mit ihm zu tun! Aber er war wirklich wütend. Er riskierte sein Leben, als er auf die Jacht kam. Die Antwort liegt auf der Hand. Die Person, mit der er die Ferien verbrachte, war ein Mädchen.«

»Ach, hat der Kleine etwa schon eine Freundin?«, spottete Cray.

»Jedenfalls hegt er gewisse Gefühle für sie«, nickte Yassen. »Deshalb hat er sich an unsere Fersen geheftet.«

»Und Sie glauben, dass dieses Mädchen…« Cray erkannte allmählich, worauf der Russe hinauswollte. Plötzlich kam ihm seine eigene Zukunft nicht mehr ganz so düster vor. Er ließ sich in die Kissen zurücksinken. Das Frühstückstablett kippte beinahe um.

»Wie heißt sie?«, fragte er.

»Sabina Pleasure«, antwortete Yassen.

Sabina hasste Krankenhäuser, und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ihr das Krankenhaus von Whitchurch dazu jeden Anlass geboten.

Dieses Krankenhaus war riesig. Durchaus denkbar, dass man aus diesem unübersichtlichen Gebäude nie mehr herausfinden würde, sobald man die gewaltigen Drehtüren hinter sich hatte. Wer eingeliefert wurde, um hier drin zu sterben, konnte sich einfach von diesem riesenhaften Apparat verschlucken lassen. Dem Apparat war das egal. Hier war alles völlig unpersönlich. Vielleicht hatte man schon bei der Bauplanung größten Wert darauf gelegt, dass sich die Patienten wie Fließbandprodukte fühlten. Unentwegt eilten Ärzte und Krankenschwestern durch die endlosen Korridore, und immer sahen sie gehetzt, erschöpft und niedergeschlagen aus. Schon der bloße Anblick des Krankenhauses bedrückte Sabina.

Das Gebäude war brandneu und stand im Süden Londons. Sabinas Mutter hatte sie hergefahren; jetzt saßen sie in Liz Pleasures VW Golf auf dem Parkplatz.

»Bist du sicher, dass du allein zu ihm gehen willst?«, fragte ihre Mutter.

»Ja. Es macht mir nichts aus.«

»Er ist immer noch derselbe, Sabina, vergiss das nicht. Natürlich ist er sehr schwer verletzt, und du wirst sicherlich einen Schock erleben, wenn du ihn siehst. Aber im Innern ist er immer noch derselbe.«

»Will er überhaupt, dass ich ihn besuche?«

»Ja, natürlich! Er freut sich so darauf! Aber bleib nicht zu lange. Er wird sehr schnell müde.«

Es war das erste Mal, dass Sabina ihren Vater besuchen konnte, seit er aus Frankreich zurückgeflogen worden war. Bis jetzt war er zu schwach gewesen, um Besucher zu empfangen. Heute fühlte sie sich selbst zu schwach, um ihn zu besuchen. Irgendwie fürchtete sie sich vor diesem Besuch. Immer wieder hatte sie sich vorzustellen versucht, wie es wohl sein mochte, wenn sie ihn wiedersah. Er hatte schlimme Verbrennungen erlitten und konnte immer noch nicht gehen.

In ihren Träumen war er jedoch ihr alter Vater. Ein Foto von ihm stand auf ihrem Nachttisch und jede Nacht, bevor sie einschlief, betrachtete sie es: ihr Vater, wie er immer gewesen war– mit widerspenstigem Haar und Brille, eben ein echter Bücherwurm, aber immer gesund und mit einem Lächeln im Gesicht. Doch Sabina war klar, dass sie einen äußerlich sehr veränderten Vater vorfinden würde, sobald sie das Krankenzimmer betrat.

Sie holte tief Luft, stieg aus dem Wagen und ging über den Parkplatz. Auf dem Weg zum Haupteingang kam sie an den Zufahrten zur Notaufnahme und zur Unfallklinik vorbei. Die gewaltigen Schwingtüren schienen sie förmlich in das Gebäude zu saugen. Jetzt stand sie in der Aufnahmehalle, die ihr viel zu geschäftig und viel zu grell beleuchtet vorkam. Sie konnte den Lärm und die vielen hektischen Menschen kaum ertragen– alles hier wirkte überhaupt nicht wie ein Krankenhaus, sondern eher wie ein Einkaufszentrum. Tatsächlich gab es hier auch ein paar Läden– einen Blumenladen, daneben ein Café und einen kleinen Delikatessenladen, in dem die Besucher Obst, Pralinen oder Snacks für ihre Verwandten oder Freunde kaufen konnten, die sie besuchen wollten. Wegweiser zeigten in alle möglichen Richtungen. Kardiologie. Pädiatrie. Radiologie. Selbst die Abteilungsnamen klangen irgendwie bedrohlich.

Edward Pleasures Zimmer befand sich im Lister Ward. Diese Krankenstation war nach einem Arzt benannt, der im 19.Jahrhundert gelebt hatte. Sabina wusste, dass das Zimmer im dritten Stock lag, konnte aber nirgends einen Lift oder einen Treppenaufgang entdecken. Gerade wollte sie sich am Aufnahmeschalter danach erkundigen, als ihr ein junger Mann plötzlich in den Weg trat.

»Hast du dich verirrt?«, fragte er. Er mochte Mitte zwanzig sein, hatte dunkle Haare und trug einen weiten weißen Arztkittel. In der Hand hielt er einen leeren Wasserbecher. Er hätte genauso gut in einer Fernsehserie auftreten können. Er grinste, denn offenbar fand er die Szene recht komisch. Sabina wurde klar, dass es tatsächlich komisch aussehen musste, denn sie war von unzähligen Wegweisern umgeben.

»Ich suche eine Krankenstation, Lister Ward«, sagte sie.

»Dritter Stock. Da will ich auch gerade hin. Leider sind die Aufzüge zurzeit außer Betrieb«, sagte der Arzt.

Das war seltsam. Ihre Mutter hatte nichts davon erwähnt, obwohl sie erst am Abend zuvor hier gewesen war. Aber Sabina dachte, dass in einem so großen Krankenhaus wohl immer etwas außer Betrieb war.

»Dort hinten ist das Treppenhaus. Komm doch einfach mit mir.«

Der Arzt zerknüllte den Plastikbecher und warf ihn in einen Abfalleimer. Er ging quer durch die Aufnahmehalle und Sabina folgte ihm.

»Wen willst du denn besuchen?«, fragte er.

»Meinen Vater.«

»Was fehlt ihm?«

»Er hatte einen Unfall.«

»Das tut mir leid. Wie geht es ihm?«

»Ich darf ihn heute zum ersten Mal besuchen. Es geht ihm schon etwas besser, glaube ich.«

Sie gingen durch eine Doppeltür und einen Flur entlang. Sabina fiel auf, dass hier keine anderen Besucher zu sehen waren. Der Flur war sehr lang und absolut menschenleer. Er mündete in einen Durchgang und traf dort mit vier weiteren Fluren zusammen. Auf einer Seite führte eine Treppe nach oben, aber der Arzt ging daran vorbei. »Geht’s nicht da rauf?«, fragte Sabina.

»Nein.« Der Arzt wandte sich zu ihr um und lächelte ihr zu. Er schien überhaupt sehr oft zu lächeln. »Die Treppe führt zur Urologie. Von dort gelangt man zwar auch zum Lister Ward, aber wir gehen hier entlang, das ist der kürzere Weg.« Er öffnete eine Tür und ließ Sabina den Vortritt.

Zu ihrer Überraschung befand sie sich jetzt plötzlich wieder im Freien. Die Tür führte zu einem teilweise überdachten Bereich auf der Seite des Krankenhauses. Autos waren hier geparkt und in der Nähe befand sich eine Laderampe, auf der mehrere Kisten aufeinandergetürmt waren. An einer Wand standen Mülltonnen.

»Entschuldigen Sie, aber ich glaube wirklich…« Sabina brach abrupt ab, als der Arzt sich von hinten auf sie stürzte. Noch bevor sie richtig realisiert hatte, was geschah, hatte er sie mit beiden Händen am Hals gepackt. Ihr erster Gedanke war, dass sie irgendeinem Verrückten in die Hände gefallen sein musste. Sie reagierte blitzschnell. Sabina hatte mehrere Kurse in Selbstverteidigung absolviert, denn darauf hatten ihre Eltern bestanden. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, wirbelte sie herum und versuchte, dem Angreifer das Knie zwischen die Beine zu rammen. Gleichzeitig versuchte sie zu schreien. Sie hatte gelernt, dass Angreifer in einer solchen Situation Lärm am meisten fürchteten.

Aber er war zu schnell. Der Schrei erstickte in ihrer Kehle, denn er presste ihr bereits die Hand über den Mund. Und auf den Tritt mit dem Knie war er ebenfalls vorbereitet gewesen und hatte geistesgegenwärtig seinen Körper halb weggedreht. Mit einer Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der anderen presste er sie an sich. Sabina wusste jetzt, dass sie einfach zu gutgläubig gewesen war. Der Mann trug zwar einen weißen Arztkittel und hielt sich im Krankenhaus auf. Aber natürlich hieß das nicht, dass er tatsächlich dort arbeitete. Absolut dumme Idee, ihm einfach zu folgen. Geh nie mit einem Fremden. Wie oft hatten ihre Eltern ihr das eingeschärft?

In diesem Moment fuhr ein Krankenwagen sehr schnell rückwärts in die Ladezone. Sabina spürte neue Hoffnung und das verlieh ihr Kraft. Was immer ihr Angreifer geplant haben mochte, er hatte jedenfalls den absolut ungeeignetsten Ort ausgesucht. Der Krankenwagen kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Gleich würde sie dieser Wahnsinnige loslassen und fliehen. Doch das Gegenteil war der Fall, der Mann reagierte ganz anders. Offenbar hatte er den Krankenwagen erwartet, denn er zerrte sie grob darauf zu. Sabina starrte ungläubig auf die Hecktüren, als diese aufflogen und zwei Männer heraussprangen. Das war eine abgekartete Sache! Die drei steckten unter einer Decke. Anscheinend hatten sie gewusst, dass sie heute ihren Vater besuchen wollte, und hatten sie nun in ihre Gewalt gebracht.

Irgendwie gelang es ihr, kräftig in die Hand zu beißen, die auf ihren Mund gepresst war. Der falsche Arzt fluchte und sein Griff lockerte sich. Sabina stieß mit dem Ellbogen zu und traf ihn auf die Nase. Er taumelte rückwärts und ließ sie los. Plötzlich war sie frei. Wieder versuchte sie um Hilfe zu schreien, aber schon warfen sich die beiden Männer aus dem Ambulanzfahrzeug auf sie. Einer hielt einen silbern glänzenden, spitzen Gegenstand in der Hand. Dass es sich um eine Spritze handelte, merkte Sabina erst, als die Nadel in ihren Arm gestoßen wurde. Sie versuchte sich loszureißen, kickte wild um sich, aber dann verließen sie ihre Kräfte so schnell, als hätte jemand einen Stecker aus der Steckdose gezogen. Ihre Beine gaben nach und sie wäre gestürzt, wenn die beiden Männer sie nicht aufgefangen hätten. Die ganze Zeit war sie allerdings immer noch bei vollem Bewusstsein; sie konnte völlig klar denken. Und so erkannte sie, dass sie sich in einer äußerst gefährlichen Lage befand. Aber sie hatte keine Ahnung, worum es ging.

Wehrlos ließ sie sich zum Krankenwagen schleppen und hineinwerfen. Im Inneren befand sich eine Krankentrage, die ihren Sturz auffing. Die Türen knallten zu; sie hörte, dass sie abgeschlossen wurden. Jetzt war sie allein und in einem Krankenwagen gefangen, unfähig, sich zu bewegen, da die Spritze jetzt voll wirkte. Sabina überließ sich der Verzweiflung.

Die beiden Männer gingen über das Krankenhausgelände, als ob nichts passiert wäre. Der falsche Arzt zog seinen weißen Arztkittel aus und stopfte ihn hastig in eine der Mülltonnen. Unter dem Kittel trug er einen ganz gewöhnlichen Anzug. Er bemerkte, dass sein Hemd blutverschmiert war. Seine Nase blutete immer noch. Aber in dieser Umgebung fiel das nicht weiter auf. Wenn er jetzt ins Krankenhaus zurückgegangen wäre, hätten ihn wahrscheinlich alle für einen Patienten gehalten.

Er stieg ein und der Krankenwagen fuhr langsam davon. Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, genauer hinzusehen, hätte er bemerkt, dass der Fahrer genau dieselbe Kleidung trug wie die beiden anderen Männer. Liz Pleasure blickte dem Krankenwagen sogar gedankenverloren nach, als er aus dem Gelände hinausfuhr. Sie saß in ihrem VW auf dem Parkplatz, und eine halbe Stunde später saß sie immer noch dort und begann sich allmählich zu fragen, warum Sabina so lange bei ihrem Vater blieb. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie entdeckte, dass ihre Tochter spurlos verschwunden war.