Rue Britannia
Stell dir das nur mal vor, Alex!«, sagte Jack aufgeregt. »Genau hier, wo wir jetzt sitzen, saß auch schon Pablo Picasso!« Sie holte tief Luft, bevor sie begeistert fortfuhr: »Und Marc Chagall! Und Salvador Dalí…«
»An diesem Tisch hier?«
»Na ja, auf jeden Fall in diesem Café. Alle berühmten Künstler waren schon hier.«
»Was willst du damit sagen, Jack?«
»Also– eigentlich möchte ich wissen, ob du das ganze Abenteuer nicht vergessen und mit mir ins Picasso-Museum gehen möchtest. Paris ist einfach super. Und es würde mir entschieden besser gefallen, Bilder in einem Museum anzuschauen, statt das Risiko einzugehen, erschossen zu werden.«
»Niemand erschießt dich, Jack.«
»Hoffen wir’s!«
Seit ihrer Ankunft in Paris war ein Tag vergangen. Sie hatten sich in einem kleinen Hotel einquartiert, das Jack bereits kannte und das in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame lag. Jack kannte die Stadt recht gut. Sie hatte vor einigen Jahren zwei Semester an der Sorbonne Kunst studiert und wäre vielleicht sogar irgendwann nach Paris zurückgegangen. Doch dann war plötzlich Ian Rider ermordet worden und sie war in London geblieben, um sich um Alex zu kümmern.
In einer Hinsicht hatte sie jedenfalls Recht gehabt: Es war sehr leicht gewesen, Marc Antonios Adresse herauszufinden. Drei Anrufe hatten genügt, bis sie auf die Agentur stießen, für die der Fotograf arbeitete. Dann hatte Jack ihren ganzen Charme– und ihre etwas eingerosteten Französischkenntnisse– einsetzen müssen, um dem Mädchen an der Telefonzentrale der Agentur Antonios Telefonnummer zu entlocken.
Als noch weit schwieriger erwies es sich jedoch, ihn selbst zu treffen.
Im Verlauf des Vormittags hatte sie die Nummer fast ein Dutzend Mal angerufen, bevor sich endlich jemand gemeldet hatte. Eine Männerstimme. Nein, er sei nicht Marc Antonio. Ja, das sei Marc Antonios Wohnung, aber er habe keine Ahnung, wo sich Marc aufhalte. Die Stimme klang sehr misstrauisch. Alex hatte sein Ohr mit an den Hörer gepresst und das Telefonat verfolgt. Jetzt nahm er selbst den Hörer.
»Hören Sie«, sagte er. Sein Französisch war fast so gut wie Jacks. »Mein Name ist Alex Rider. Ich bin ein sehr guter Freund von Edward Pleasure, einem englischen Journalisten…«
»Den kenne ich.«
»Wissen Sie auch schon, was vor ein paar Tagen mit ihm passiert ist?«
Eine Pause. »Was wollen Sie von Marc?«
»Ich muss dringend mit ihm sprechen. Ich habe ein paar wichtige Informationen für ihn.« Alex überlegte einen Moment. Sollte er dem Mann alles erzählen, was er wusste? »Es geht um Damian Cray«, sagte er schließlich.
Der Name schien zu wirken. Wieder trat eine Pause ein, dieses Mal jedoch länger.
»Kommen Sie zum La Palette. Das ist ein Café an der Rue de Seine. Wir treffen uns dort um ein Uhr.«
Ein Klicken. Der Mann hatte aufgelegt.
Und jetzt saßen Jack und Alex im La Palette. Es war zehn Minuten nach eins. Das Café lag an der Ecke eines Platzes, der von Kunstgalerien umgeben war. Es war klein und sehr gut besucht. Kellner mit langen weißen Schürzen eilten hin und her. Sie trugen schwer mit Getränken beladene Tabletts hoch über ihren Köpfen. Das Lokal war absolut überfüllt, aber Jack und Alex war es gelungen, einen Tisch am Rand der abgegrenzten Fläche zu bekommen, wo sie am leichtesten gesehen werden konnten. Jack trank ein Glas Bier, Alex hatte einen leuchtend roten Fruchtsaft vor sich stehen– Siroup de Grenadine mit Eis. Das war sein Lieblingsgetränk, wenn er in Frankreich war.
Allmählich hatte er Zweifel, ob sich der Mann, mit dem er am Telefon gesprochen hatte, wirklich blicken lassen würde. Konnte es sein, dass er schon da war? Wie sollten sie sich in dieser Menschenmenge überhaupt finden? Er blickte sich suchend um und bemerkte einen Motorradfahrer, der auf der anderen Straßenseite auf einer ziemlich mitgenommen aussehenden Vespa saß. Er war jung, trug eine Lederjacke, hatte lockiges schwarzes Haar und einen Dreitagebart. Ein paar Minuten zuvor hatte er dort angehalten, war aber nicht abgestiegen, als wartete er auf jemanden. Als Alex seinen Blick auffing, schien dem Mann plötzlich etwas klar zu werden. Er sah verwundert aus, stieg aber von seinem Motorroller und kam vorsichtig herüber, als befürchte er eine Falle.
»Bist du Alex Rider?«, fragte er. Sein Englisch hatte einen angenehmen französischen Akzent.
»Ja.«
»Mit einem Kind hatte ich aber nicht gerechnet.«
»Macht das einen Unterschied?«, wollte Jack wissen, um Alex zu verteidigen. »Sind Sie Marc Antonio?«
»Nein. Ich heiße Robert Guppy.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Er hat mich gebeten, Sie zu ihm zu bringen.« Guppy warf einen Blick zu seiner Vespa hinüber. »Aber ich kann nur eine Person mitnehmen.«
»Dann vergessen Sie es. Ich werde Alex nicht allein gehen lassen.«
»Das ist schon okay, Jack«, mischte sich Alex ein und grinste sie an. »Sieht so aus, als würdest du doch noch ins Picasso-Museum gehen können.«
Jack seufzte resigniert, aber dann nickte sie. »Okay, okay. Aber pass auf dich auf.«
Robert Guppy raste durch Paris. Ganz offensichtlich kannte er sich im Verkehrsgewühl der Stadt hervorragend aus– oder er war scharf darauf, bald darin umzukommen. Slalomartig kurvte er zwischen den Autos hindurch, ignorierte rote Ampeln und jagte über Kreuzungen hinweg, ständig verfolgt von einer Kakofonie wütender Autohupen. Alex klammerte sich an ihm fest, als sei seine letzte Stunde gekommen. Er hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt ging, aber es war ihm klar, dass Guppys lebensgefährliche Fahrweise einen guten Grund hatte: Er wollte sicher sein, dass sie nicht verfolgt wurden.
Erst als sie auf dem anderen Seineufer und am Rand des Marais-Bezirks in der Nähe des Forum des Halles ankamen, fuhr er wieder langsamer. Alex kannte die Gegend bereits, denn er war erst vor Kurzem unter dem Namen Alex Friend hier gewesen. Von hier aus hatte ihn eine grauenhafte Person namens MrsStellenbosch zur Akademie Point Blank begleitet. Guppy bremste ab und hielt schließlich in einer Straße an, die von typischen Pariser Häusern gesäumt war: sechs Stockwerke hoch, mit großen Türeingängen und hohen, halb blinden Fenstern. Auf dem Straßenschild stand Rue Britannia. Die Straße schien ins Niemandsland zu führen, denn die meisten Gebäude waren unbewohnt und heruntergekommen. Ein paar Häuser am Ende der Straße waren sogar eingerüstet; Schubkarren und Zementmischer standen herum, dazwischen immer wieder Bauschuttcontainer, in die Schuttröhren von den oberen Stockwerken mündeten. Bauarbeiter waren nicht zu sehen.
Guppy stieg vom Motorrad und wies auf eine Haustür. »Dort rein«, sagte er knapp, blickte schnell die Straße hinauf und hinunter und ging Alex voraus zur Tür.
Der Eingang führte in einen Innenhof, in dem ein paar alte Möbelstücke herumstanden. In einer Ecke lag ein Haufen rostiger Fahrräder. Guppy stieg eine kurze Treppe hinauf und stieß mit dem Fuß eine Tür auf. Jetzt befanden sie sich in einem riesigen Raum mit einer hohen Decke und geweißten Wänden. Der Boden war mit dunklen Holzdielen belegt und an beiden Längsseiten befanden sich hohe Fenster. Ein Fotostudio. Überall standen Reflexwände, Scheinwerfer auf Metallständern und silberne Schirmreflektoren herum. Aber das Studio diente zugleich als Wohnung, denn auf einer Seite befand sich eine Küchenzeile, auf deren Arbeitsfläche sich leere Dosen und schmutziges Geschirr häuften.
Robert Guppy schloss die Tür. Hinter einer der großen Reflexwände trat ein Mann hervor, barfuß, in einem Netzunterhemd und ausgebeulten Jeans. Alex schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre. Er war mager und unrasiert. Durch sein wirres schwarzes Haar zogen sich silbergraue Strähnen. Er schien nur noch ein Auge zu haben; das andere verbarg sich hinter einer schwarzen Augenklappe. Ein einäugiger Fotograf? Aber warum nicht?
Der Mann blickte ihn neugierig an, dann sagte er in schnellem Französisch zu seinem Freund.
»C’est lui qui a téléphoné?«
»Oui.«
»Sind Sie Marc Antonio?«, fragte Alex.
»Ja. Du behauptest also, mit Edward Pleasure befreundet zu sein? Ich wusste nicht, dass sich Edward mit Kindern abgibt.«
»Ich bin mit seiner Tochter befreundet und war in den Ferien mit ihr und ihren Eltern in Südfrankreich, als…« Alex zögerte. »Sie wissen doch, was mit Edward Pleasure passiert ist?«
»Natürlich weiß ich das. Sonst müsste ich mich ja nicht hier verstecken.« Antonio starrte Alex forschend an. »Am Telefon hast du behauptet, mir etwas über Damian Cray erzählen zu können. Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn vor genau zwei Tagen in London kennengelernt…«
»Cray ist nicht mehr in London«, mischte sich Robert Guppy ein, der am Türrahmen lehnte. »Er hat eine Softwarefirma in der Nähe von Amsterdam, in Sloterdijk. Dort ist er heute Früh angekommen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Nun, wir beobachten Sir Cray sehr aufmerksam.«
Alex wandte sich wieder an Marc Antonio. »Sie müssen mir erzählen, was Sie und Edward Pleasure über ihn herausgefunden haben«, sagte er. »An welcher Story haben Sie beide gearbeitet? Worum ging es bei dem geheimen Treffen, das MrPleasure hier in Paris hatte?«
Der Fotograf dachte kurz nach, dann verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen, das den Blick auf seine vom Nikotin gelb verfärbten Zähne freigab. »Alex Rider«, grummelte er, »du bist schon ein komischer Vogel. Da kommt so ein Bürschchen wie du daher, behauptet, Informationen für mich zu haben, und löchert mich dann mit Fragen! Du hast ja Nerven! Aber irgendwie gefällst du mir.« Er zog eine Packung Gauloise heraus, schob sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und blies den blauen Rauch in Richtung Decke. »Okay. Es geht mir zwar gegen den Strich, aber ich erzähle dir trotzdem, was ich weiß.«
Vor der Küchenarbeitsfläche standen zwei Barhocker. Antonio schwang sich auf einen und winkte Alex, sich auf den anderen zu setzen. Guppy lehnte immer noch am Türrahmen.
»Die Story, an der Ed arbeitete, hatte mit Damian Cray überhaupt nichts zu tun«, begann Antonio. »Jedenfalls nicht am Anfang. Ed war nie am Showgeschäft interessiert. Nein, er arbeitete an etwas viel Wichtigerem, an einer Story über die NSA. Du weißt doch, was das ist? Die National Security Agency der Vereinigten Staaten. Eine Organisation, die sich im Wesentlichen mit Terrorismusabwehr beschäftigt, aber auch mit Spionage und Datenschutz. Der größte Teil ihrer Arbeit ist streng geheim. Daten verschlüsseln, Codes knacken, Spione– du kannst es dir ja denken.
Irgendwann begann sich Ed für einen Mann namens Charlie Roper zu interessieren, einen sehr hochrangigen Beamten der NSA. Er hatte gewisse Informationen– woher weiß ich nicht–, dass dieser Roper für die Gegenseite arbeiten könnte. Der Mann war nämlich völlig überschuldet. Außerdem war er süchtig.«
»Drogen?«, fragte Alex.
Antonio schüttelte den Kopf. »Glücksspiel. Das kann einen Menschen genauso zerstören. Ed erfuhr also, dass Roper nach Paris gekommen war, vielleicht, um hier ein paar Informationen zu verkaufen, entweder an die Chinesen oder, was noch wahrscheinlicher ist, an die Nordkoreaner. Vor etwas mehr als einer Woche traf ich mich mit Ed. Wir beide hatten schon mehrmals zusammengearbeitet. Er schrieb die Storys, ich machte die Fotos. Ein Team. Mehr als ein Team– wir sind Freunde.« Marc zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls fanden wir heraus, in welchem Hotel Roper abgestiegen war, und verfolgten ihn von dort aus. Wir hatten absolut keine Ahnung, wen er treffen wollte, und wenn du mir Crays Namen genannt hättest, hätte ich dich glatt für verrückt erklärt.«
Er machte eine Pause und zog an der Zigarette. Die Spitze glühte hellrot auf und der Rauch kringelte sich steil nach oben.
»Roper ging zum Essen in ein Restaurant namens La Tour d’Argent. Eines der teuersten in ganz Paris. Und dort traf er Damian Cray, der dann auch die ganze Rechnung bezahlte. Wir sahen die beiden zusammen am Tisch sitzen. Das Restaurant liegt zwar hoch oben in einem Haus, aber die Fenster sind riesig und man hat von dort eine fantastische Aussicht über Paris. Mit einem Teleobjektiv konnte ich ein paar Aufnahmen von den beiden Männern machen. Cray übergab Roper einen Umschlag. Mit Geld wahrscheinlich– und es muss eine hübsche Summe gewesen sein, denn der Umschlag war sehr dick.«
»Jetzt mal langsam«, warf Alex ein. »Was hat denn ein Popsänger mit einem Mann von der NSA zu tun?«
»Das ist genau das, was Ed herausfinden wollte«, antwortete der Fotograf. »Er fing an herumzufragen. Aber irgendwann muss er wohl zu viele Fragen gestellt haben. Denn das Nächste, was ich von Ed hörte, war, dass jemand versucht hatte, ihn in Saint-Pierre ins Jenseits zu befördern. Und am selben Tag wollten sie auch mich fertigmachen. In meinem Fall war es eine Autobombe. Wenn ich den Zündschlüssel gedreht hätte, müsstest du jetzt hier Selbstgespräche führen.«
»Und warum haben Sie ihn nicht gedreht?«
»Ich bin ein vorsichtiger Mensch. Außerdem hing ein Stück Kabel herunter.« Antonio drückte die Zigarette aus. »Aber sie sind auch in meine Wohnung eingebrochen. Sie haben den größten Teil meiner Fotoausrüstung geklaut, einschließlich meiner Kamera und sämtlicher Fotos, die ich beim Tour d’Argent aufgenommen hatte. Das war bestimmt kein Zufall.«
Wieder hielt er inne.
»Aber warum erzähle ich dir das alles, Alex Rider? Jetzt bist du dran, mir zu erzählen, was du weißt.«
»Ich war in Saint-Pierre in den Ferien«, begann Alex.
Weiter kam er nicht.
Draußen vor dem Haus hielt ein Auto an. Bis zu diesem Augenblick hatte Alex das Motorgeräusch nicht bewusst wahrgenommen; er wurde erst aufmerksam, als das Geräusch des Motors erstarb. Robert Guppy trat plötzlich einen Schritt vor und hob warnend die Hand. Antonios Kopf fuhr herum. Einen Moment lang herrschte Stille– und Alex wusste, dass es die falsche Stille war. Leer, endgültig, tödlich.
Dann krachten Schüsse. Eine Fensterscheibe nach der anderen explodierte, große Glasstücke zersplitterten auf dem Boden. Robert Guppy wurde von einer Salve durchlöchert, die sich wie eine rote Punktreihe quer über seine Brust zog. Er war sofort tot. Eine elektrische Birne wurde getroffen und explodierte. Der Putz fiel in großen Stücken von den Wänden. Durch die zerschmetterten Fenster fegte ein kalter Windstoß und gleichzeitig wurden im Innenhof Befehle gebrüllt. Schnelle Schritte waren zu hören.
Marc Antonio erholte sich als Erster von dem Schock. Da er vor der Küchenzeile saß, hatte er sich nicht direkt in der Schusslinie befunden und war unverletzt. Alex war geschockt, aber auch ihn hatten die Schüsse verfehlt.
»Hier lang!«, schrie der Fotograf und stieß Alex quer durch den Raum. Im selben Moment flog die Tür krachend auf. Holz splitterte. Alex sah gerade noch einen schwarz gekleideten Mann, der eine Maschinenpistole im Anschlag hielt. Dann zerrte ihn Antonio hinter eine der Reflexwände. Dahinter verbarg sich ein weiterer Ausgang– keine Tür, sondern ein durch die Wand gebrochenes Loch. Marc Antonio verschwand darin, dicht gefolgt von Alex.
»Rauf!« Antonio packte Alex und schob ihn vor sich her. »Das ist unsere einzige Chance!«
Hinter dem Loch befand sich eine offenbar selten benutzte Holztreppe, alt und von Gipsstaub bedeckt. Alex kletterte so schnell wie möglich hinauf– drei Stockwerke, vier, und Antonio folgte ihm dicht auf den Fersen. Auf jedem Stockwerk führte die Treppe an einer Tür vorbei, aber Antonio drängte Alex immer weiter. Jetzt hörten sie auch, dass der Mann mit der Maschinenpistole nicht mehr allein war. Zwei Killer waren hinter ihnen her.
Alex erreichte das Ende der Treppe. Auch hier versperrte ihm eine Tür den Weg. Er legte die Hand auf den Türgriff, und im selben Augenblick krachte wieder eine Salve. Antonio stöhnte auf und stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Irgendwie ahnte Alex, dass Antonio tot war. Glücklicherweise war die Tür nicht verschlossen. Alex stieß sie auf und taumelte hinein. Jeden Augenblick erwartete er einen Schuss, der ihn in den Rücken traf. Aber der Fotograf hatte ihm das Leben gerettet, denn er war den Killern entgegengestürzt und hatte ihnen die Sicht und den Weg versperrt. Die Tür führte auf das Dach. Alex kickte sie hinter sich zu.
Die Dachlandschaft bestand aus Oberlichtern, Schornsteinen, Wassertanks und Fernsehantennen. Die Hausdächer zogen sich die gesamte Länge der Rue Britannia entlang. Die Häuser wurden nur durch niedrige Mauern und dicke Röhren voneinander getrennt.
Warum hatte sich Antonio über die Dächer retten wollen? Alex befand sich hier sechs Stockwerke über der Straße. Gab es vielleicht eine Feuerleiter? Oder eine Treppe nach unten?
Alex blieb keine Zeit, es herauszufinden. Die Tür flog auf und die beiden Männer traten auf das Dach. Sie bewegten sich jetzt viel langsamer, denn sie wussten, dass ihr Opfer in der Falle saß. Irgendwo tief in Alex’ Bewusstsein fragte eine leise Stimme, warum sie ihn nicht in Ruhe ließen. Schließlich waren sie hinter Antonio her gewesen, nicht hinter ihm. Er hatte doch mit alldem nichts zu tun! Aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass sie nur ihren Befehlen folgten. Tötet den Fotografen und alle, die bei ihm sind. Es spielte gar keine Rolle, wer Alex war; er war einfach nur ein Teil des Auftrags.
Doch pötzlich hatte er eine Idee– er erinnerte sich an etwas, das er gesehen hatte, als er in die Rue Britannia eingebogen war. Er rannte los, obwohl er nicht einmal sicher war, dass er in die richtige Richtung lief. Wieder ratterte die Maschinenpistole und schwarze Dachziegel zersplitterten direkt hinter seinen Füßen. Dann noch eine Salve. Alex spürte die Kugeln, die dicht an ihm vorbeiheulten und einen der Schornsteine halb zerschmetterten. Ein Staubregen ging auf Alex herab. Er sprang über eine niedrige Trennwand und näherte sich rasch dem Ende der Häuserreihe. Seine Verfolger waren stehen geblieben, denn sie wussten, dass es für ihn keinen Ausweg gab. Doch Alex rannte weiter. Er erreichte die letzte Trennwand und warf sich durch die Luft.
Den Verfolgern musste es so vorkommen, als habe er sich sechs Stockwerke tief direkt auf den Gehweg und in den sicheren Tod gestürzt. Aber Alex hatte sich an das Baumaterial erinnert, an die Gerüste und Betonmischer– und vor allem an ein orangefarbenes Rohr, durch das die Bauarbeiter von den verschiedenen Stockwerken aus den Bauschutt bis in den Container auf der Straße rutschen ließen.
Das Rohr bestand nicht aus einem einzigen Stück, sondern aus zusammenhängenden Rohrstücken, sodass es wie eine Wasserrutsche in einem Schwimmbad aussah. Alex blieb keine Zeit abzuschätzen, wie weit er springen musste, um ohne anzustoßen in die Röhre zu fallen, aber wieder einmal hatte er Glück: Ein oder zwei Sekunden stürzte er im freien Fall hinunter, wobei er Arme und Beine ausbreitete. Als er die obere Öffnung der Röhre auf sich zurasen sah, warf er sich im Fallen herum und stürzte hinein. Der Tunnel war voller Zementstaub und einen Augenblick lang sah Alex nichts außer den orangefarbenen Wänden, an denen er entlangraste. Hinterkopf, Hüftknochen und Schultern mussten gnadenlose Stöße hinnehmen. Ihm stockte der Atem. Ein entsetzlicher Gedanke zuckte durch seinen Kopf: Wenn das Rohrende mit Bauschutt verstopft war, würde er sich sämtliche Knochen brechen.
Doch die Röhre war wie ein lang gestrecktes J geformt, und als Alex das untere Ende erreichte, spürte er, dass er allmählich langsamer wurde. Plötzlich spuckte ihn die Röhre zurück ans Tageslicht. Neben einem der Betonmischer lag ein großer Haufen Sand und Alex plumpste mitten hinein. Der Aufprall war hart und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Sein Mund war voller Sand und Zement. Aber er lebte.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte er sich auf und blickte zum Dach hoch. Weit über ihm standen die beiden Männer an der Dachkante. Offenbar konnten sie sich nicht recht entschließen, Alex’ spektakulären Stunt nachzuahmen. Die orangefarbene Röhre war gerade weit genug gewesen, um Alex durchzulassen, aber die beiden Muskelprotze wären auf halbem Weg stecken geblieben. Alex suchte schnell die Straße ab. Ein Auto war vor Marc Antonios Studiotür geparkt, aber es saß niemand drin.
Er hustete heftig den Staub aus seinen Lungen und fuhr sich mit dem Handrücken über die rauen Lippen. Dann humpelte er schnell davon. Marc Antonio war tot, aber er hatte Alex noch ein weiteres Puzzleteil gegeben. Alex wusste jetzt, wo er weiterforschen musste: in Sloterdijk, genauer gesagt in Crays Softwarefirma außerhalb von Amsterdam. Nur ein paar Stunden mit der Bahn von Paris entfernt.
Alex bog in die Rue Britannia ein und lief immer schneller. Er hatte Prellungen erlitten, war schmutziger als ein Straßenköter und hatte überhaupt unverschämtes Glück gehabt, dass er noch lebte. Und jetzt musste er sich auch noch etwas einfallen lassen, wie er Jack diese ganze Geschichte erklären sollte.