Der Finger am Abzug
Der Polizist, der sich um Alex kümmern sollte, war jung und unerfahren und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Das lag nicht nur daran, dass er Schwierigkeiten mit dem Englischen hatte, sondern vor allem daran, dass ein derartig heftiger Anschlag an diesem so abgelegenen, ruhigen Zipfel im tiefsten Süden Frankreichs eher eine Seltenheit war. Im schlimmsten Fall hatte er sich mit betrunkenen Autofahrern oder kleinen Handtaschendiebstählen zu befassen. Jetzt allerdings hatte er es mit einer völlig ungewohnten Situation zu tun.
»Eine furchtbare Sache«, sagte er. »Kennst du Monsieur Pleasure schon lange?«
»Nein, nicht sehr lange«, antwortete Alex.
»Er wird die bestmögliche Behandlung bekommen«, fuhr der Polizist fort und lächelte ermutigend. »Madame Pleasure und ihre Tochter fahren jetzt ins Krankenhaus. Sie haben uns gebeten, uns um dich zu kümmern.«
Alex saß auf einem Gartenstuhl im Schatten eines Baumes. Es war kurz nach fünf und noch immer sehr heiß. Das Flussufer war nur wenige Meter entfernt und Alex hätte viel dafür gegeben, jetzt ins Wasser springen und einfach weit wegschwimmen zu dürfen: immer nur weiterschwimmen und diese furchtbare Geschichte hinter sich lassen.
Vor ungefähr zehn Minuten waren Sabina und ihre Mutter zum Krankenhaus abgefahren und Alex war mit dem jungen Polizisten allein zurückgeblieben. Man hatte ihm den Stuhl in den Schatten gestellt und ihm eine Flasche Wasser gereicht, aber es war klar, dass niemand so recht wusste, was man mit ihm anfangen sollte. Schließlich gehörte er nicht zur Familie. Er hatte eigentlich gar kein Recht, hier zu sein.
Inzwischen waren noch weitere Beamte aufgetaucht– höhere Polizeibeamte, Feuerwehrkommandanten. Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch die Trümmerhaufen, drehten hier und dort Holzstücke oder ein zerbrochenes Möbelstück um, als hofften sie, darunter die ganze Wahrheit über das zu finden, was geschehen war.
»Wir haben das britische Konsulat verständigt«, sagte der junge Polizist gerade. »Sie schicken jemanden, der dich abholt und nach Hause zurückbringt. Er muss allerdings aus Lyon anreisen, und das ist ziemlich weit weg. Deshalb musst du heute noch in Saint-Pierre übernachten.«
»Ich weiß, wer es getan hat«, sagte Alex.
»Comment?«
»Ich weiß, wer dafür verantwortlich ist«, wiederholte Alex und blickte zu der Hausruine hinüber. »Fahren Sie zum Hafen, dort finden Sie eine Jacht am Kai. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber Sie können sie eigentlich nicht verfehlen. Eine riesige, weiße Jacht. Auf der Jacht ist ein Mann, sein Name ist Yassen Gregorovich. Sie müssen ihn verhaften, bevor er verschwinden kann.«
Der Polizist starrte Alex verblüfft an. Alex fragte sich, ob er überhaupt etwas verstanden hatte.
»Verzeihung… Was hast du da gerade gesagt? Dieser Mann, Yassen…«
»Yassen Gregorovich.«
»Kennst du ihn?«
»Ja.«
»Wer ist das?«
»Ein Killer. Er wird dafür bezahlt, dass er Leute umbringt. Ich habe ihn heute Morgen gesehen.«
»Bitte!« Der Polizist hielt eine Hand hoch. Er wollte offenbar nichts mehr davon hören. »Warte hier.«
Alex sah ihm nach, während er auf die geparkten Streifenwagen zuging, wahrscheinlich suchte er einen seiner Vorgesetzten. Alex trank einen Schluck Wasser, dann stand er auf. Er hatte keine Lust, untätig auf einem Gartenstuhl herumzusitzen. Er ging zum Haus hinüber. Eine leichte Abendbrise hatte eingesetzt, aber der Gestank von verbranntem Holz hing schwer in der Luft. Ein kleiner Zettel, halb verbrannt und verkohlt, flatterte über den Kiesbelag der Auffahrt. Instinktiv bückte sich Alex und hob ihn auf.
Der Zettel war auf einer Seite beschrieben, Maschinenschrift:
Kaviar zum Frühstück, und
Gerüchten zufolge ließ er den Swimmingpool seines Anwesens in
Wiltshire so gestalten, dass seine Umrisse an Elvis Presley
erinnern. Aber Damian Cray ist nicht nur der reichste und
erfolgreichste Popstar der Welt. Seine
Unternehmen– unter denen sich Hotels, Fernsehsender und Labors für
die Entwicklung und Herstellung von Computerspielen
befinden– tragen in Millionenhöhe zu seinem Privatvermögen
bei.
Eine Frage aber bleibt: Warum war Cray Anfang dieser Woche in
Paris, und warum traf er sich dort im Geheimen mit
Mehr war nicht mehr zu lesen. Die Ränder waren zu stark verkohlt.
Alex war sofort klar, was er hier in der Hand hielt. Es musste sich um eine Seite des Artikels handeln, an dem Edward Pleasure gearbeitet hatte, seit er hier im Ferienhaus angekommen war. Etwas, das mit dem Megastar Damian Cray zu tun hatte…
»Excusez-moi, jeune homme…«
Alex blickte auf. Der junge Polizist war mit einem älteren Beamten zurückgekommen– kleiner Schnurrbart, herabhängende Mundwinkel. Alex merkte sofort, mit was für einem Typ er es hier zu tun hatte. Schleimig und eingebildet. Die Uniform übertrieben korrekt. Und mit ungläubiger, ablehnender Miene.
»Du möchtest eine Aussage machen?«, fragte er. Er sprach besser Englisch als sein jüngerer Kollege.
Alex wiederholte, was er schon dem Jüngeren erzählt hatte.
»Woher kennst du diesen Mann? Den auf der Jacht?«
»Er hat meinen Onkel ermordet.«
»Und wer war dein Onkel?«
»Er war ein Spion. Arbeitete für MI6.« Alex holte tief Luft. »Ich glaube, dass ich vielleicht das Ziel für den Bombenanschlag war. Ich glaube, dass er versucht hat, mich umzubringen…«
Die beiden Polizisten unterhielten sich kurz auf Französisch, dann wandten sie sich wieder Alex zu. Alex wusste, was nun kommen würde. Der Ältere hatte seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. Mit einer Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis blickte er jetzt auf Alex herab. Dabei wirkte er ausgesprochen arrogant: Ich habe Recht. Du weißt gar nichts. Und nichts wird mich vom Gegenteil überzeugen können. Wie ein schlechter Lehrer in einer schlechten Schule, der nichts anderes tut, als richtige Antworten abzuhaken.
»Du hast etwas Furchtbares erleben müssen«, verkündete der Polizist. »Die Explosion… wir wissen bereits, dass es ein Leck in der Gasleitung war.«
»Nein…«, begann Alex.
Der Polizist hob die Hand. »Es gibt keinen Grund, warum ein Berufskiller eine Familie in ihren Ferien umbringen sollte. Aber ich sehe, dass du völlig verstört bist. Wahrscheinlich stehst du unter einem schweren Schock und weißt nicht, was du sagst.«
»Bitte, hören Sie…«
»Wir haben jemanden vom britischen Konsulat angefordert und er wird bald hier sein. Bis dahin wird es besser sein, wenn du dich nicht in die Ermittlungen einmischst.«
Alex ließ den Kopf hängen. »Darf ich ein wenig spazieren gehen?«, fragte er mit leiser, halb erstickter Stimme.
»Wohin?«
»Nur ein paar Minuten. Ich möchte allein sein.«
»Natürlich. Aber geh nicht zu weit weg. Soll ich dir jemanden zur Begleitung mitgeben?«
»Nein, danke, ich komme schon allein zurecht.«
Er drehte sich um und ging davon. Dem prüfenden Blick des Polizisten war er ausgewichen; zweifellos dachte der, dass sich Alex schämte. Aber das war okay. Alex wollte nicht, dass der Mann merkte, wie wütend er war. In ihm brodelte es, eine dunkle Wut strömte durch seinen Körper wie ein Lavastrom am Ätna. Sie hatten ihm kein Wort geglaubt! Sie hatten ihn wie ein kleines, dummes Kind behandelt!
Bei jedem Schritt schossen ihm neue Bilder durch den Kopf. Sabinas vor Entsetzen aufgerissene Augen, als sie die rauchende Ruine ihres Ferienhauses erblickte. Edward Pleasure, der zum Krankenhaus geflogen wurde. Die Jacht, die in den Sonnenuntergang segelte, mit Yassen Gregorovich an Deck: Wieder ein Auftrag erfolgreich abgehakt. Und alles war Alex’ Schuld! Das war das Schlimmste an der Sache, das Unverzeihliche. Aber Alex hatte nicht vor, die Angelegenheit einfach auf sich beruhen zu lassen. Er ließ seiner Wut freien Lauf; sie trieb ihn voran. Aber jetzt war es höchste Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Als er die Hauptstraße erreichte, schaute er noch einmal zurück. Die Polizisten schienen ihn bereits vergessen zu haben. Er warf einen letzten Blick auf die ausgebrannte Ruine, die noch vor ungefähr zwei Stunden sein Ferienhaus gewesen war.
Dann wandte er sich ab und begann zu laufen.
Saint-Pierre war etwas mehr als einen Kilometer entfernt. Als er das Dorf erreichte, war es früher Abend und die Straßen und Gassen waren überfüllt. Der Ort war viel belebter als sonst, es herrschte Volksfeststimmung. Im ersten Augenblick war Alex verwundert, doch dann fiel es ihm wieder ein: der Stierkampf. Er fand heute Abend statt und die Leute waren aus allen Richtungen angereist, um dabei zu sein.
Die Sonne versank langsam hinter dem Horizont, aber das Tageslicht hielt sich noch ein wenig. Die Straßenlampen gingen an und warfen unheimliche orangefarbene Lichtkreise auf die Gehwege, auf die der landeinwärts wehende Wind den Sand getrieben hatte. Ein altes Karussell drehte sich unablässig, ein ständig kreisendes Gewirr von bunten elektrischen Lichtern und quäkender Jahrmarktsmusik. Alex kämpfte sich durch die Menge, ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben. Dann erreichte er den anderen Ortsrand. Hier waren die Straßen ruhiger. Die Nacht sank jetzt schneller herab und alles schien ein wenig grauer zu werden.
Alex hatte nicht erwartet, die Jacht noch im Hafen vorzufinden. Er hätte schwören können, dass Yassen längst verschwunden war. Aber dort lag sie, immer noch am selben Platz vertäut wie am Vormittag, und es schien ihm, als sei der Morgen eine Ewigkeit her. Niemand war am Hafen zu sehen. Offenbar war fast die ganze Bevölkerung beim Stierkampf. Auch an Bord der Jacht regte sich nichts. Doch dann trat eine Gestalt aus dem Halbdunkel und Alex erkannte den Glatzköpfigen mit dem Sonnenbrand. Der Dicke ging über den Steg und trat auf den Kai. Er trug noch immer denselben schäbigen weißen Anzug und rauchte eine Zigarre. Jedes Mal, wenn er daran sog, glühte die Spitze auf und warf einen rötlichen Schimmer auf sein Gesicht.
Die Bullaugen der Jacht waren erleuchtet. Vielleicht saß Yassen in einer der Kabinen? Alex hatte keine genaue Vorstellung davon, was er jetzt tun sollte. Allein seine Wut trieb ihn an. Alles, was er wusste, war: Er musste auf die Jacht, und nichts auf der Welt würde ihn davon abhalten können.
Franco war nur deshalb an Deck gekommen, weil Yassen Zigarrengestank in den Kabinen nicht ausstehen konnte. Franco mochte Yassen nicht. Oder richtiger: Er hatte Angst vor ihm. Als der Russe erfahren hatte, dass Edward Pleasure bei dem Anschlag lediglich verletzt worden war und noch lebte, hatte er zwar nichts gesagt, aber den Matrosen Raoul mit einem unangenehm durchdringenden Blick angesehen. Raoul hatte die Bombe gelegt… zu weit vom Arbeitszimmer des Journalisten entfernt, wie sich herausgestellt hatte. Also war Raoul schuld. Und Franco wusste, dass der Russe Raoul beinahe auf der Stelle erschossen hätte. Vielleicht holte er es später nach. Großer Gott, was für eine Katastrophe!
Franco hörte den Kies auf dem Kai knirschen und sah, dass ein Junge auf der Hafenmole auf die Jacht zuschlenderte. Er war schlank und sonnengebräunt, trug Shorts und ein ausgewaschenes T-Shirt der Marke Stone Age. Um seinen Hals hing eine Holzperlenkette. Der Junge war blond und ein paar Haarsträhnen hingen ihm über die Stirn. Sicherlich ein Tourist. Aber was hatte er hier zu suchen?
Alex überlegte, wie nahe ihn der Mann auf dem Kai herankommen lassen würde, bevor er misstrauisch wurde. Wäre er erwachsen gewesen, wäre es wohl anders gelaufen. Doch gerade die Tatsache, dass er erst vierzehn Jahre alt war, ließ ihn für MI6 so wertvoll werden. Minispione konnten sich die Leute eben einfach nicht vorstellen– bis es zu spät war.
Und genau so lief es auch jetzt ab. Der Junge kam immer näher. Franco ließ es zu. Ihm fielen die dunkelbraunen Augen auf und ein Gesicht, das für das Alter des Jungen viel zu ernst wirkte. Augen, die bereits zu viel gesehen hatten.
Dann stand Alex auch schon vor ihm. Und im selben Augenblick wirbelte er auf dem Ballen seines linken Fußes herum und kickte mit dem rechten Fuß aus. Franco wurde von dem Angriff völlig überrascht. Alex’ Ferse traf ihn hart in der Magengrube– aber gleichzeitig merkte Alex, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte. Unter dem lose am Körper des Dicken hängenden Anzug hatte er weiche Fettwülste erwartet. Stattdessen war sein Fuß auf einen harten Muskelring gestoßen, und obwohl der Tritt für Franco sehr schmerzhaft war und ihm den Atem nahm, hatte ihn Alex keineswegs außer Gefecht gesetzt.
Franco ließ die Zigarre fallen und stürzte sich auf Alex, wobei seine Hand gleichzeitig in die Jackentasche fuhr und etwas hervorzog. Ein leises Klicken war zu hören: Zwanzig Zentimeter funkelndes Metall zuckten aus dem Nichts. Ein Sprungmesser! Und Franco bewegte sich viel schneller, als Alex es dem Dicken je zugetraut hätte. Er sprang ihn an und die Hand mit dem Messer wirbelte bedrohlich vor seinen Augen herum. Alex hörte förmlich, wie die Klinge durch die Luft schnitt. Wieder ein Stoß, und dieses Mal blitzte die Schneide nur einen Zentimeter an Alex’ Gesicht vorbei.
Alex war unbewaffnet. Franco hatte sein Sprungmesser wohl schon öfter eingesetzt– zumindest schien er in seinem Gebrauch geübt zu sein. Der ungleiche Kampf wäre sofort vorüber gewesen, wenn Franco durch Alex’ überraschenden Karatekick nicht momentan geschwächt gewesen wäre. Alex blickte sich rasch um und suchte nach einem Gegenstand, mit dem er sich verteidigen konnte. Doch der Kai war fast leer– nur ein paar alte Kisten, ein Eimer und ein Fischernetz lagen herum.
Franco bewegte sich jetzt langsamer. Von einem Kind hatte er schließlich nicht viel zu befürchten. Das Bürschchen mochte ihm mit seinem Karatekick momentan die Luft aus der Lunge getrieben haben, aber jetzt würde er es tranchieren wie ein Suppenhuhn.
Franco murmelte ein paar Wörter auf Französisch, es klang leise und gefährlich. Eine Sekunde später zuckte seine Faust mit der Klinge durch die Luft, doch dieses Mal kam sie in einem Bogen von unten und hätte Alex’ Kehle aufgeschlitzt, wenn der sich nicht geistesgegenwärtig zurückgeworfen hätte.
Alex schrie auf.
Er hatte das Gleichgewicht verloren und fiel mit ausgestrecktem Arm auf den Rücken. Franco grinste. Zwei Goldzähne blitzten auf. Dann trat er ganz nahe an Alex heran, um die Sache zu Ende zu bringen. Zu spät merkte er, dass Alex’ Sturz ein Trick gewesen war. Die ausgestreckte Hand des Jungen hatte das Fischernetz gepackt, und als sich Franco über ihn beugte, riss Alex mit aller Kraft an dem Netz. Es breitete sich aus, fiel über Francos Kopf, Schultern und die Hand, in der dieser noch das Messer hielt. Franco fluchte und strampelte wie wild, um freizukommen, verwickelte sich aber stattdessen immer mehr in dem Netz.
Alex wusste, dass er schnell reagieren musste. Franco kämpfte noch mit dem Netz, aber er riss schon den Mund auf, um nach Hilfe zu rufen. Sie befanden sich genau neben der Jacht. Wenn Yassen etwas hörte, würde Alex mit Sicherheit nichts mehr tun können. Er holte aus und kickte Franco noch einmal mit aller Kraft in die Magengrube. Der Schlag trieb dem Dicken die restliche Luft aus der Lunge; sein Gesicht lief rot an. Er war halb im Netz gefangen und vollführte am Rand des Stegs einen bizarren Tanz, um sich zu befreien. Plötzlich rutschte er aus und stürzte. Mit den vom Netz umwickelten Armen und Händen konnte er den Sturz nicht abfedern und sein Kopf schlug mit einem lauten Krach auf den Asphalt. Dann war es still. Franco bewegte sich nicht mehr.
Alex stand nach vorn gebeugt und rang nach Atem. Aus der Ferne hörte er einen Fanfarenstoß und Applaus. Der Stierkampf würde in zehn Minuten beginnen. Als Vorprogramm spielte eine kleine Musikband. Alex warf einen Blick auf den bewusstlos daliegenden Mann. Klar, dass er nur knapp davongekommen war. Vom Messer war nichts mehr zu sehen, vielleicht war es ins Wasser gefallen. Alex fragte sich, ob er seinen Plan nicht doch besser aufgeben sollte. Aber dann fielen ihm Sabina und ihr Vater wieder ein, und bevor er wusste, was er tat, lief er über den schmalen Bootssteg zur Jacht und stand an Deck.
Die Jacht hieß Fer de Lance. Alex war der Name vorher nicht aufgefallen. Er kam ihm bekannt vor. Ja, das war es! Bei einem Klassenausflug zum Londoner Zoo hatten sie irgendeine Schlange gesehen, die so hieß. Giftig natürlich.
Alex gelangte auf ein breites Deck. Neben einer Tür befanden sich das Steuerruder und die Armaturen. Im hinteren Teil standen Ledersofas, davor ein niedriger Tisch. Hier musste der Glatzköpfige gesessen haben, bevor er auf die Mole ging, um seine Zigarre zu rauchen. Auf dem Tisch stand eine Bierflasche; daneben lagen ein zerfleddertes Magazin, ein Handy und eine Pistole.
Das Telefon erkannte Alex sofort an seiner ungewöhnlichen Farbe– einer Braunschattierung– wieder: Yassen hatte es im Restaurant benutzt. Alex bemerkte, dass es angeschaltet war, und nahm es in die Hand.
Schnell öffnete er das Menü und suchte nach der Liste der eingegangenen Anrufe. In wenigen Sekunden hatte er gefunden, was er suchte: alle Anrufe, die Yassen an diesem Tag empfangen hatte. Um 12.53Uhr hatte er mit jemandem telefoniert, dessen Nummer mit 0044207 begann. 0044 war die Ländervorwahl von Großbritannien; 207 die Ortsvorwahl von London. Das war der Anruf, den Alex im Restaurant belauscht hatte. Schnell prägte er sich die Nummer ein, denn das musste der Anschluss der Person sein, die Yassen den Auftrag erteilt hatte. Alex musste unbedingt herausfinden, wessen Nummer es war.
Er nahm die Pistole in die Hand.
Endlich. Bei jedem seiner Einsätze für MI6 hatte er eine Waffe haben wollen, und jedes Mal hatten sie es abgelehnt. Sie hatten ihm alle möglichen »Spielzeuge« mitgegeben, aber es waren immer nur Betäubungspfeile, Stun-Granaten oder Rauchbomben gewesen– nichts, was einen Menschen töten konnte. Alex spürte die Macht, die von dieser echten Waffe ausging. Er wog sie in seiner Hand. Eine Grach MP-443, schwarz, mit kurzem Lauf und einem gerasterten Griff. Natürlich ein russisches Fabrikat, eine neue Militärwaffe. Er ließ den Finger um den Abzug gleiten und lächelte grimmig. Endlich war er Yassen ebenbürtig.
Vorsichtig öffnete er die Tür und schlich die kurze Treppe zum Unterdeck hinab. Sie führte zunächst zu einem Korridor, der sich durch die gesamte Länge der Jacht zu ziehen schien, mit Kabinentüren auf beiden Seiten. Von oben hatte er die Hauptkabine gesehen, aber er wusste, dass sich niemand darin befand; jedenfalls war durch die Fenster kein Licht zu sehen gewesen. Wenn Yassen überhaupt an Bord war, dann musste er hier unten sein. Alex’ Hand umschloss die Grach fester. Dann schlich er leise den Flur entlang. Auf dem dicken Teppich konnte er sich geräuschlos anpirschen.
Am unteren Rand einer der Türen entdeckte er einen schmalen Lichtspalt. Er biss die Zähne zusammen und griff nach dem Türknauf, wobei er insgeheim hoffte, dass die Tür verschlossen war. Aber sie ließ sich öffnen und er ging hinein.
Die Kabine war überraschend geräumig: ein langes Rechteck mit weißem Teppich und modernen Holzpaneelen an zwei Wänden. An der gegenüberliegenden Wand stand ein niedriges Doppelbett mit Nachttischen und Lampen auf beiden Seiten. Auf dem weißen Bettüberwurf lag ein Mann mit geschlossenen Augen, regungslos wie eine Leiche. Alex trat näher. Hier in der Kabine war es absolut still, aber von der Stierkampfarena schallte die Musik der Band herüber: zwei oder drei Trompeten, eine Tuba und eine Trommel.
Yassen Gregorovich bewegte sich nicht, als Alex mit der Waffe am ausgestreckten Arm näher kam. Alex blieb neben dem Bett stehen. So nahe war er dem Russen noch nie gewesen, dem Mann, der seinen Onkel ermordet hatte. Er konnte jedes Detail seines Gesichts genau erkennen: Lippen wie gemeißelt, die fast weiblich wirkenden langen Wimpern. Die Waffe befand sich nur noch Zentimeter von Yassens Stirn entfernt. Das war das Ende. Jetzt musste er nur noch abdrücken, dann wäre die Sache vorbei.
»Guten Abend, Alex.«
Yassens Augen starrten direkt in Alex’ Gesicht. Er war die ganze Zeit wach gewesen, hatte lediglich die Augen geschlossen. Ganz einfach. Keine Miene hatte er verzogen. Er erkannte Alex sofort wieder, bemerkte die Waffe, die auf ihn gerichtet war. Bemerkte das alles und nahm es einfach ruhig hin.
Alex schwieg. Nur die Hand mit der Pistole zitterte leicht. Er legte auch die linke Hand an die Waffe, um sie zu stabilisieren.
»Du hast meine Pistole«, stellte Yassen fest.
Alex holte tief Luft.
»Hast du vor, sie zu benutzen?«
Keine Antwort.
Yassen fuhr ruhig fort: »An deiner Stelle würde ich mir das gründlich überlegen. Einen Menschen umzubringen ist etwas anderes als das, was du im Fernsehen siehst. Wenn du den Abzug durchdrückst, feuerst du eine echte Kugel ab. Sie trifft einen echten Menschen aus Fleisch und Blut. Ich werde nichts spüren; ich werde sofort tot sein. Aber du wirst den Rest deines Lebens mit dem leben müssen, was du getan hast. Du wirst es nie mehr vergessen.«
Er schwieg eine kurze Weile und ließ seine Worte auf Alex wirken.
»Bist du wirklich dazu fähig, Alex? Wird dir dein Finger überhaupt gehorchen? Könntest du mich wirklich einfach kaltblütig erschießen?«
Alex stand starr wie eine Marmorstatue. Seine ganze Konzentration richtete sich auf den Finger, der am Abzug lag. Alles schien so einfach. Der Abzug hatte einen Federmechanismus. Soweit Alex wusste, würde dabei der Hahn gespannt; eine Art Hammer würde auf die Patrone treffen, ein tödliches Stückchen Metall, ganze neunzehn Millimeter lang, und diese auf ihren kurzen schnellen Flug schicken. Direkt in den Kopf des Mannes. Er, Alex, konnte das jetzt tatsächlich tun.
»Vielleicht hast du schon vergessen, was ich dir einmal gesagt habe. Hier geht es nicht um dein Leben. Die Sache hat nichts mit dir zu tun.«
Yassen lag völlig gelassen auf dem Bett. Seine Stimme klang absolut unbeteiligt. Er schien Alex weit besser zu kennen, als dieser sich selbst kannte. Alex versuchte, das Gesicht abzuwenden, den ruhigen stahlblauen Augen auszuweichen, die ihn mit einem Anflug von Mitleid beobachteten.
»Warum haben Sie das getan?«, wollte Alex wissen. »Sie haben das Haus in die Luft gejagt. Warum?«
Ein kurzes Aufflackern in Yassens Augen. »Ich wurde dafür bezahlt.«
»Dafür, dass Sie mich umbringen?«
»Nein, Alex.« Einen Augenblick lang klang Yassens Stimme fast belustigt. »Ich sagte doch: Es hatte überhaupt nichts mit dir zu tun.«
»Aber wer…«
Doch es war zu spät.
Er sah es zuerst in Yassens Augen, wusste, dass ihn der Russe nur hatte ablenken wollen, während sich die Kabinentür hinter Alex leise öffnete. Zwei Hände packten ihn und rissen ihn brutal vom Bett weg. Er sah, wie sich Yassen schnell wie eine Schlange zur Seite warf. Die Pistole ging los, aber Alex hatte nicht gezielt abgedrückt und die Kugel schlug in den Boden ein. Alex wurde gegen eine Wand geschleudert und die Pistole fiel ihm aus der Hand. Er schmeckte Blut. Die Jacht schien zu schwanken.
Vom Dorf klang ein Fanfarenstoß herüber, gefolgt vom wild hallenden Aufschrei der Massen. Der Stierkampf hatte begonnen.