Der Matador

Alex hörte, dass die drei Männer über sein Schicksal verhandelten. Er lauschte angestrengt, konnte aber kaum etwas verstehen. Raoul und Franco sprachen mit einem fast unverständlichen Marseiller Akzent, bei dem Alex sein Schulfranzösisch wenig nutzte.

Sie hatten ihn in die Hauptkabine gezerrt und grob in einen der breiten Ledersessel gestoßen. Alex war inzwischen klar, wie alles abgelaufen sein musste. Raoul, der Matrose, war mit den Einkäufen aus dem Ort zurückgekommen und hatte Franco bewusstlos auf dem Kai gefunden. Er hatte sich sofort an Bord geschlichen, um Yassen zu warnen, und hatte ihn mit Alex reden hören. Raoul hatte geräuschlos die Tür zu Yassens Kabine geöffnet und Alex von hinten überrumpelt.

Franco saß mit vor Hass und Wut verzerrtem Gesicht in einer Ecke. Der Sturz auf dem Kai hatte ihm einen dunkelvioletten Bluterguss auf der Stirn beschert. Giftig forderte er: »Überlass den kleinen Ganoven mir. Ich mache ihn fertig! Was dann noch übrig ist, kriegen die Fische.«

»Wie hat er uns gefunden, Yassen?«, fragte Raoul. »Und woher wusste er, wer wir sind?«

»Warum verschwenden wir unsere Zeit mit ihm?«, warf Franco ein. »Machen wir ihn endlich kalt.«

Alex blickte zu Yassen hinüber. Bisher hatte der Russe kein Wort gesagt, obwohl er der Anführer der Gruppe war. Er schaute Alex mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Die leeren blauen Augen verrieten nichts, aber Alex spürte trotzdem, dass Yassen ihn einzuschätzen versuchte. Es war, als habe ihn Yassen schon lange gekannt und geradezu darauf gewartet, ihn wiederzusehen.

Yassen hob die Hand, um die beiden Männer zum Schweigen zu bringen. Er ging zu Alex hinüber. »Das frage ich mich auch: Wie hast du uns entdeckt?«

Alex schwieg, und im Gesicht des Russen zuckte es verärgert. »Du bist nur noch am Leben, weil ich es so will. Ich stelle dir jede Frage nur ein einziges Mal.«

Alex zuckte mit den Schultern. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Sie würden ihn wahrscheinlich ohnehin umbringen. »Ich verbringe meine Ferien hier«, sagte er. »Ich lag am Strand in der Sonne, als ich Sie sah. Ihre Jacht legte gerade im Hafen an.«

»Du arbeitest nicht für MI6?«

»Nein.«

»Aber du bist mir bis zum Restaurant gefolgt?«

»Stimmt«, nickte Alex.

Yassen lächelte. »Dachte ich mir doch, dass da jemand war.« Dann wurde er wieder ernst. »Du hast in dem Haus gewohnt.«

»Eine Freundin hat mich eingeladen«, sagte Alex. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Ihr Vater ist Journalist. War er das Ziel, wollten Sie ihn umbringen?«

»Das geht dich nichts an.«

»Jetzt schon.«

»Das war eben einfach Pech, dass du zufällig in dem Haus wohntest, Alex. Ich habe es dir schon einmal gesagt. Das war nicht persönlich gemeint.«

»Klar doch.« Alex starrte Yassen direkt in die Augen. »Sie meinen nie etwas persönlich.«

Yassen ging zu den beiden Männern hinüber. Sofort begann Franco wieder aufgeregt und wütend auf ihn einzureden, wobei er die Wörter förmlich ausspuckte. Er hatte sich ein Glas Whiskey eingegossen und es in einem Zug geleert, aber Alex keine Sekunde aus den Augen gelassen.

»Der Junge weiß nichts und kann uns nicht schaden«, sagte Yassen. Alex glaubte, dass er nur deshalb Englisch sprach, damit Alex alles verstehen konnte.

»Was haben Sie mit ihm vor?«, fragte Raoul in gebrochenem Englisch.

»Legen Sie ihn endlich um!« Das kam von Franco.

»Ich töte keine Kinder«, antwortete Yassen. Aber Alex wusste, dass das nicht stimmte, jedenfalls nicht ganz. Die Bombe, die er im Ferienhaus gelegt hatte, hätte jeden töten können, der sich darin aufhielt. Auch wenn es zehn Kinder gewesen wären, Yassen hätte mit keiner Wimper gezuckt.

»Sind Sie verrückt?« Franco schnappte vor Aufregung nach Luft. »Sie können ihn doch nicht einfach laufen lassen! Er wollte Sie umbringen! Wenn Raoul nicht rechtzeitig zurückgekommen wäre, hätte er es auch tatsächlich geschafft!«

»Mag sein.« Yassen betrachtete Alex noch ein letztes Mal sehr aufmerksam, dann fasste er einen Entschluss. »Es war nicht sehr klug von dir, einfach hier aufzukreuzen, kleiner Alex«, sagte er. »Die beiden hier meinen, dass ich dich zum Schweigen bringen soll, und natürlich haben sie Recht. Aber ich bin überzeugt, dass du wirklich rein zufällig hier aufgetaucht bist. Denn wenn ich glauben würde, dass du irgendetwas weißt, wärst du längst tot. Aber ich bin ein vernünftiger Mensch. Du hattest schon einmal die Gelegenheit, mich umzulegen, und hast es nicht getan. Deshalb will ich dir jetzt auch eine Chance geben.«

Er redete leise und in schnellem Französisch auf Franco ein. Franco schien zunächst zu widersprechen und zu schmollen, doch während Yassen weiterredete, breitete sich auf seinem Gesicht langsam ein Grinsen aus.

»Und wie soll das funktionieren?«, fragte er.

»Sie kennen doch viele Leute. Sie haben Beziehungen. Sie müssen nur die richtigen Leute bestechen.«

»Der Junge wird dabei umkommen.«

»Aber genau das wollen Sie doch, Franco!«

»Also gut!« Franco spuckte auf den Teppich. »Ich freue mich schon darauf, ihm dabei zuzusehen!«

Yassen kam wieder zu Alex herüber und blieb vor ihm stehen. »Du hast Mut, Alex«, sagte er. »Das bewundere ich an dir. Jetzt gebe ich dir die Gelegenheit, allen zu zeigen, wie mutig du bist.« Er nickte Franco zu. »Sie können ihn mitnehmen!«

Neun Uhr abends. Die Nacht senkte sich über Saint-Pierre herab; ein Sommergewitter zog auf. Die Luft lag schwer und still über dem Ort und mächtige Wolken hatten sich vor die Sterne geschoben.

Alex stand auf dem Sandboden im Dunkel eines Durchgangs. Er konnte immer noch nicht glauben, was mit ihm geschah. Franco hatte ihn mit vorgehaltener Pistole gezwungen, seine Kleidung gegen ein dermaßen absurdes Kostüm auszutauschen, dass er sich absolut lächerlich vorgekommen wäre– wenn er nicht gewusst hätte, welch große Gefahr ihm mit dieser Kleidung bevorstand.

Zuerst hatte er ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte anlegen müssen. Dann kam eine Jacke mit großen Schulterstücken, die über seine Oberarme herabhingen, und eine Hose, die äußerst eng um seine Schenkel und seine Taille lag, aber in der Mitte der Waden aufhörte. Jacke und Hose waren mit Goldpailletten und Tausenden winziger Perlen bestickt, sodass Alex, wenn er sich im Licht bewegte, wie ein Miniaturfeuerwerk funkelte und blitzte. Schließlich hatte man ihm schwarze Schuhe gegeben, einen seltsam geformten schwarzen Hut aufgesetzt und ihm ein grellrotes, an einem kurzen Stock befestigtes Tuch, die Muleta, zusammengefaltet über den Arm gelegt.

Die Uniform hatte einen Namen: Traje de luces– was so viel wie Tracht der Lichter bedeutet–, der Anzug, der von den Matadoren beim Stierkampf getragen wird. Das also war die Mutprobe, die sich Yassen für ihn ausgedacht hatte! Alex sollte gegen einen Stier kämpfen.

Yassen stand neben Alex, während um sie herum der Lärm der Menschenmenge in der Arena tobte. Der Killer hatte Alex erklärt, dass bei einem typischen Stierkampf sechs Stiere getötet würden. Der dritte Stier werde manchmal dem unerfahrensten Matador zugeteilt, dem Novillero, einem jungen Mann, der vielleicht sogar zum ersten Mal in der Arena stand. Im Programm der heutigen Veranstaltung war jedoch kein Novillero vorgesehen gewesen– bis der Russe die kleine Programmänderung vorgeschlagen hatte. Vorher hatte allerdings ein wenig Geld den Besitzer gewechselt. Alex hatte ein paar Instruktionen erhalten. Die Sache war zwar absolut verrückt, aber das Publikum würde ausrasten vor Begeisterung. Wenn er erst einmal in der Arena stand, würde kein Mensch merken, dass er gar keine Ausbildung als Torero hatte. Das Publikum würde ihn nur als winzige Gestalt mitten in der riesigen Arena im Flutlicht stehen sehen. Alex’ prächtiger Anzug verdeckte die Wahrheit; niemandem würde es auffallen, dass er erst vierzehn Jahre alt war.

Die Arena explodierte förmlich mit donnerndem Applaus und lautem Jubel. Alex vermutete, dass der Matador gerade den ersten Stier getötet hatte.

»Warum machen Sie das mit mir?«, fragte Alex wütend.

Yassen zuckte mit den Schultern. »Im Grunde tue ich dir damit einen Gefallen, Alex.«

»Das seh ich aber ganz anders.«

»Franco hätte dir am liebsten auf der Stelle sein Messer zwischen die Rippen geschoben. War ziemlich schwierig, ihn davon abzuhalten, deshalb habe ich ihm diese nette kleine Show vorgeschlagen. Zufällig ist er ein Stierkampffan. Auf diese Weise hat er seine Unterhaltung und du hast auch was davon: Du darfst es dir aussuchen.«

»Aussuchen? Was denn?«

»Nun, du darfst dir aussuchen, ob du lieber Stierhörner im Bauch oder ein Messer zwischen den Rippen haben möchtest.«

»Das läuft doch wohl so ziemlich auf dasselbe hinaus. Tot bin ich dann auf jeden Fall.«

»Das scheint in der Tat das wahrscheinlichste Ergebnis zu sein, fürchte ich. Aber wenigstens stirbst du hier einen Heldentod. Tausend Menschen werden dir dabei zusehen. Ihre Stimmen werden das Letzte sein, was du hören wirst.«

»Immer noch weit besser als Ihre Stimme«, knurrte Alex wütend.

Und dann war es plötzlich so weit.

Zwei der schwarz uniformierten Bediensteten rannten an Alex vorbei und stießen das Tor auf. Es war, als öffnete sich vor einer riesigen Bühne ein Vorhang aus Holz. Dahinter wurde eine fantastische Szenerie sichtbar. Vor Alex lag die Arena, ein riesiger kreisrunder Platz, der mit hellem Sand bestreut war. Wie Yassen schon gesagt hatte, waren die Ränge mit etwa tausend Zuschauern zum Bersten gefüllt. Sie aßen und tranken, viele fächelten mit den Programmen vor ihren Gesichtern und versuchten so, die drückend schwere Luft ein wenig zu bewegen. Andere plauderten und rissen Witze. Zwar saßen alle auf ihren Plätzen, aber niemand schien still sitzen zu können. In einer der hinteren Ecken spielte eine Band, fünf Männer in Uniform, die aus der Ferne wie alte Bleisoldaten aussahen. Batterien von Scheinwerfern überfluteten die Arena mit blendend grellem Licht.

Ohne Zuschauer war die Arena nur eine moderne, hässliche, tote Betonschale. Aber in dieser heißen Mittelmeernacht und bis zum Rand mit Menschen gefüllt schien sie wie ein riesiger brodelnder Kessel, in dem die Stimmung fast überkochte. Offenbar hatte hier noch etwas von der Grausamkeit der alten Römer überlebt. Hier hatten die Gladiatorenkämpfe mit ihren wilden Tieren die Jahrhunderte überdauert und erwachten bei jedem Stierkampf zu neuem Leben.

Ein Traktor fuhr auf das Tor zu, hinter dem Alex stand. Er zog einen unförmigen schwarzen Klumpen hinter sich her, der noch vor ein paar Minuten stolz und lebendig gewesen war. Aus dem Rücken des Stiers ragte ungefähr ein Dutzend mit Bändern geschmückter Spieße. Als der Traktor näher kam, entdeckte Alex die glänzende rote Blutspur, die der tote Stier im Sand hinter sich herzog. Alex’ Magen verkrampfte sich, aber er wusste nicht, ob es die Angst vor dem war, was ihm selbst bevorstand, oder der Hass auf das, was bereits geschehen war. Sabina und er hatten sich geschworen, niemals zu einem Stierkampf zu gehen. Alex hatte da allerdings nicht ahnen können, dass er den Schwur so bald brechen würde.

Yassen nickte ihm zu. »Denk daran«, sagte er, »Raoul, Franco und ich stehen hinter der Barrera– also direkt neben der Arena. Wenn du nicht kämpfst oder wenn du zu fliehen versuchst, werden wir dich abknallen. Glaub bloß nicht, dass wir das nicht wagen würden! In diesem Chaos können wir verschwinden, bevor irgendjemand auch nur etwas bemerkt.« Er hob sein Hemd an und ließ Alex die Grach sehen, die in seinem Gürtel steckte. »Aber wenn du kämpfst, werden wir nach genau zehn Minuten gehen. Wenn du durch irgendein Wunder dann noch auf den Beinen bist, kannst du gehen, wohin du willst. Kapiert? Ich gebe dir also eine Chance.«

Wieder schmetterten die Trompeten und kündigten den nächsten Kampf an. Yassen stieß Alex in den Rücken, sodass er in die Arena hinausstolperte. Die ganze Sache war so ungeheuerlich, dass ihm schier schwindlig wurde. Wie konnte das alles nur passieren? Irgendjemand musste doch merken, dass unter der verrückten Uniform nur ein englischer Schuljunge steckte, nicht ein Matador und nicht einmal ein Novillero oder wie auch immer sie es nannten. Jemand musste doch diesen Kampf verhindern!

Aber die Zuschauer jubelten bereits vor Begeisterung. Blumen regneten auf Alex herab. Niemand merkte, was wirklich los war, und wahrscheinlich hatte Franco mit viel Geld dafür gesorgt, dass man die Wahrheit erst entdeckte, wenn es zu spät war. Alex hatte keine Wahl: Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf diesen irrsinnigen Kampf einzulassen. Sein Herz raste und der Geruch von Blut und Tierschweiß stieg ihm in die Nase. So viel Angst hatte er schon lange nicht mehr verspürt.

In der Menge stand ein Mann auf. Er trug einen aufwändigen blauen Anzug mit Perlmuttknöpfen, dessen Schultern ausladend gepolstert waren. Er hob ein weißes Taschentuch in die Höhe: Der Präsident der Stierkampfarena gab den Ring für den nächsten Kampf frei. Die Trompeten schmetterten wieder los. Gegenüber öffnete sich ein weiteres Tor– das »Tor der Angst«–, und der Stier, gegen den Alex kämpfen musste, donnerte in die Arena wie eine Kugel aus der Pistole. Alex fielen fast die Augen aus dem Kopf. Dieses Biest war ja riesig! Eine einzige gewaltige, schwarz schimmernde Masse aus Muskeln und Kraft. Der Stier brachte mindestens sieben- oder achthundert Kilo auf die Waage. Wenn er Alex über den Haufen rannte, würde das eine ähnliche Wirkung haben, wie von einem Bus überfahren zu werden. Nur mit dem feinen Unterschied, dass der Stier Alex zuerst noch mit den Hörnern aufspießen würde– mit Hörnern, die sich aggressiv aus seinem Schädel herauskrümmten und sich zu zwei tödlichen Spitzen verjüngten. Im Moment beachtete der Stier ihn nicht, sondern jagte in wilden, kreisförmigen Bahnen um die Arena und schlug mit den schwarzen Hinterbeinen aus, gereizt von den gleißenden Lichtern und dem Brüllen der Menschen.

Alex wunderte sich, warum man ihm keinen Degen gegeben hatte. Hatten denn Matadore nichts, womit sie sich verteidigen konnten? Ein Spieß, eine Banderilla, war vom letzten Kampf übrig geblieben und lag noch auf dem Boden, ungefähr einen Meter lang, mit bunten Bändern geschmückt und einer kurzen Spitze mit Widerhaken. Bei den Kämpfen wurden Dutzende dieser Waffen in den Nacken des Stiers getrieben. Sie zerstörten seine Muskeln und schwächten ihn, bis dann der Gnadenstoß erfolgen konnte. Im Verlauf des Kampfes würde man Alex zwar einen solchen Speer geben, aber er war bereits zu einem fest entschlossen: Was auch immer geschah, er wollte versuchen, den Stier nicht zu verletzen. Schließlich konnte der sich sicherlich auch etwas Schöneres vorstellen, als in der Arena getötet zu werden.

Trotzdem musste Alex irgendwie entkommen. Die Tore waren wieder geschlossen worden, aber die hölzerne Umgrenzung der Kampffläche, die Yassen Barrera genannt hatte, reichte kaum über Alex’ Kopf hinaus. Mit einem Anlauf könnte es ihm gelingen, sich darüber zu schwingen. Er warf schnell einen Blick zu dem Tor zurück, durch das er gekommen war. Franco hatte sich unmittelbar daneben in der vordersten Reihe einen Platz verschafft. Seine Hand steckte unter der Jacke und Alex hatte nicht den geringsten Zweifel zu wissen, was er dort verbarg. Yassen saß auf der anderen, entfernten Seite, und Raoul entdeckte er rechts im Publikum. Zusammen deckten also die drei Männer mit ihren Waffen den gesamten Ring ab.

Er musste kämpfen. Und den Kampf mindestens zehn Minuten lang überleben. Vielleicht waren es jetzt nur noch neun Minuten? Seit er die Kampffläche betreten hatte, kam ihm jede Sekunde wie eine Ewigkeit vor.

Die Menge wurde still. Tausend Augenpaare warteten auf Alex’ ersten pase.

Da erblickte ihn der Stier.

Er brach seine Kreisbahn durch die Arena plötzlich ab und trabte auf Alex zu. Ungefähr zwanzig Schritte vor ihm blieb er stehen, mit gesenktem Kopf, die Hörner auf Alex gerichtet. Alex’ Magen verkrampfte sich; es war klar, dass der Angriff unmittelbar bevorstand. Zögernd ließ er die capa herabfallen, sodass sie von dem kurzen Stock in seinen Händen bis zum Sandboden hinunterhing. Großer Gott– in diesem lächerlichen Aufzug musste er wie ein Vollidiot aussehen, der keine Ahnung hatte, was er als Nächstes tun sollte. Entsetzt stellte er fest, dass immer noch niemand eingegriffen und den Kampf abgebrochen hatte. Yassen und die beiden anderen Männer verfolgten jede seiner Bewegungen, und Franco musste sowieso nicht groß überredet werden, die Pistole auf Alex abzufeuern. Alex hatte also gar keine andere Wahl: Er musste diese Farce bis zum bitteren Ende weiterspielen.

Stille. Die Schwüle, die dem Sturm vorausging, legte sich drückend auf die Arena. Nichts und niemand rührte sich.

Urplötzlich griff der Bulle an. Alex riss entsetzt die Augen auf, als er sah, wie sich das Tier verwandelte. Eben noch hatte es still dagestanden. Dann, so plötzlich, als habe ihm jemand einen Stromstoß versetzt, stieß der Stier auf ihn herab, mit massigen, muskelbepackten Schultern, jede Sehne aufs Äußerste gespannt und nur auf das eine Ziel gerichtet, das allein, verloren und ohne Waffen vor ihm stand. Das Tier war jetzt so nahe, dass Alex in seine Augen blicken konnte: schwarz, weiß und rot, blutunterlaufen, gereizt und wütend.

Dann ging alles sehr schnell. Der Stier hatte Alex fast erreicht, die bösartigen Hörner stießen auf seinen Bauch zu, der Gestank des Tieres hüllte ihn ein. Alex sprang zur Seite, riss gleichzeitig das Tuch hoch, ahmte die Bewegungen nach, die er irgendwann einmal gesehen hatte– im Fernsehen vielleicht oder im Kino. Der Stier streifte ihn beim Vorbeirasen; der kurze Kontakt reichte aus, um ihn die gewaltige Kraft des Tieres spüren zu lassen. Das rote Tuch wirbelte durch die Luft. Die ganze Arena schien sich zu drehen, die Menge war aufgesprungen, ein tausendfacher Aufschrei brauste auf. Der Stier hatte sein Ziel verfehlt, Alex war unverletzt geblieben.

Unbewusst hatte Alex eine recht passable Imitation der verónica geboten, der ersten und einfachsten Aktion im Stierkampf, die dem Matador gewöhnlich Aufschluss über den Gegner gibt: Schnelligkeit, Kraft, mit welchem Horn der Stier vorzugsweise zustößt. Alex’ stümperhafte verónica hatte ihm allerdings nur zwei Informationen beschert: erstens dass Matadore doch mutiger sein mussten, als er geahnt hatte– eigentlich geradezu verrückt, so etwas freiwillig zu tun!–, und zweitens wusste er jetzt auch, dass er verdammt viel Glück brauchen würde, um auch nur den zweiten Angriff zu überleben.

Der Stier war am anderen Ende der Kampffläche zum Stillstand gekommen. Er schüttelte den Kopf, wobei er graue Speichelfäden um sich schleuderte. Die Zuschauer klatschten immer noch. Alex sah Yassen Gregorovich mitten unter ihnen sitzen; er war der Einzige, der nicht applaudierte. Alex ließ das Tuch entmutigt herabhängen; zum hundertsten Mal fragte er sich, wie viele Minuten schon vergangen sein mochten. Er hatte jedes Gefühl für Zeit verloren.

Dann spürte er förmlich, wie die Menge den Atem anhielt: Der Stier griff erneut an. Dieses Mal kam er noch schneller herangedonnert; seine Hufe trommelten durch den Sand. Wieder waren die Hörner tief gesenkt und direkt auf Alex’ Körpermitte gerichtet. Wenn sie ihn erwischten, würde er unweigerlich in zwei Hälften zerrissen.

Im allerletzten Augenblick warf sich Alex zur Seite, mit derselben Bewegung wie zuvor. Aber dieses Mal hatte der Stier damit gerechnet. Obwohl er zu schnell herankam, um die Richtung noch ändern zu können, warf er doch den Kopf herum und Alex spürte einen stechenden Schmerz quer über seinen Bauch. Er wurde zur Seite geschleudert, überschlug sich rückwärts und knallte mit voller Wucht auf den Boden. Ein einziger gewaltiger Aufschrei brandete durch die Arena. Alex wartete eigentlich nur noch darauf, dass sich der Stier herumwarf und ihm den Rest gab. Aber wieder war das Glück auf seiner Seite: Der Stier hatte noch nicht bemerkt, dass Alex gestürzt war, sondern war weiter bis zum anderen Ende der Arena gerast.

Alex rappelte sich auf, eine Hand auf den Bauch gepresst. Die Jacke war aufgerissen, und als er die Hand von der Wunde hob, tropfte hellrotes Blut in den Sand. Der Stoß hatte ihm den Atem aus der Lunge getrieben; eine Körperseite brannte wie Feuer. Aber die Wunde war nicht sehr tief und schränkte ihn kaum in seiner Beweglichkeit ein, wie Alex mit einiger Enttäuschung bemerkte. Wenn er schwerer verletzt worden wäre, hätten sie den Kampf abbrechen müssen.

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr: Yassen war aufgestanden und verließ die Arena. Waren die zehn Minuten endlich vorbei oder glaubte der Russe, dass die ganze Show zu Ende war und er sich das Unvermeidliche ersparen könne– Alex’ blutiges Ende? Alex blickte sich schnell um: Auch Raoul war auf dem Weg zum Ausgang. Nur Franco blieb sitzen. Breit grinsend. Yassen hatte Alex belogen: Franco hatte keinerlei Absicht zu gehen. Falls es der Stier nicht schaffte, Alex zu erledigen, würde Franco die Sache zu Ende bringen.

Völlig geschwächt bückte sich Alex und hob die Muleta auf. Auch der Stoff hatte beim letzten Zusammentreffen mit dem Stier einen Riss abbekommen. Das brachte Alex auf eine Idee. Es war alles da, was er für seinen Plan brauchte: der Stier, das Tuch, die Banderilla und sogar Freund Franco.

Plötzlich waren die Schmerzen an seiner Hüfte vergessen; er lief einfach los. Das Publikum begann zu murren, dann stieg ein ungläubiges Protestgeheul auf: Beim Stierkampf hatte normalerweise der Stier die Aufgabe, den Matador anzugreifen! Selbst der Stier starrte Alex leicht verdutzt und vorwurfsvoll an, als wollte er sagen, dass Alex sich bitte an die Spielregeln halten und nicht zu mogeln versuchen solle. Doch bevor der Stier auch nur einen Schritt machen konnte, warf Alex das Tuch. Da es an einem Holzgriff befestigt war, riss dessen Gewicht das ganze Ding in weitem Bogen durch die Luft. Es landete perfekt– über den Augen des Stiers. Dieser versuchte, das Tuch abzuschütteln, aber eines seiner Hörner war durch den Riss gestoßen. Der Stier schnaubte wütend und stampfte auf den Boden. Aber das Tuch blieb, wo es war.

Die Menschenmenge brüllte. Fast die Hälfte der Zuschauer war auf den Beinen und der Direktor der Arena schaute sich hilflos um. Alex rannte weiter und hob blitzschnell die Banderilla vom Boden auf. Das Ding hatte einen sehr hässlichen Widerhaken, auf dem das Blut des letzten Stiers bereits geronnen war. Alex drehte sich um, holte weit aus und schleuderte die Banderilla wie einen Speer durch die Luft.

Doch er zielte nicht auf den Stier. Franco war halb aus seinem Sitz aufgestanden, und als ihm dämmerte, was Alex vorhatte, griff er hektisch in die Tasche und riss die Pistole heraus. Aber es war schon zu spät. Entweder hatte Alex besonders viel Glück oder die Verzweiflung hatte seine Treffsicherheit unglaublich gesteigert. Jedenfalls flog die Banderilla durch die Luft und ihre Spitze grub sich in Francos Schulter. Franco schrie erbärmlich. Der Widerhaken verhinderte, dass der Speer wieder aus der Wunde fiel, und er ließ sich auch nicht herausziehen. Schon sickerte das Blut durch Francos Jackenärmel.

Die Arena war kurz vor dem Überkochen. Einen Torero, der zuerst den Stier und dann die Zuschauer angriff, hatte die Menge noch nie erlebt. Aber Alex hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt. Das war auch besser so, denn der Stier hatte inzwischen das rote Tuch abgeschüttelt und suchte jetzt nach seinem Matador, um es ihm heimzuzahlen.

Räche dich lieber an einem anderen, dachte Alex. Mit dir wollte ich mich doch gar nicht streiten.

Er hatte die Barrera erreicht und sprang hinauf, klammerte sich an die Oberkante, zog sich hoch und schwang sich darüber. Franco stand immer noch unter Schock und krümmte sich vor Schmerzen, sodass er nicht reagieren konnte. Außerdem war er dicht umringt von besorgten Zuschauern, die ihm helfen wollten. In dieser Lage die Pistole zu ziehen und auf Alex zu schießen, wäre nicht sehr ratsam gewesen. Schließlich gab der Direktor der Band wütende Zeichen und Musik ertönte. Aber die Band schien ziemlich verwirrt zu sein, denn die einzelnen Instrumente setzten sehr ungleichmäßig ein und spielten unterschiedliche Melodien.

Einer der uniformierten Bediensteten nahm Alex’ Verfolgung auf, wobei er ihm etwas auf Französisch zuschrie. Doch Alex achtete nicht auf ihn. Er schoss aus dem Gebäude und jagte davon, als ob alle Stiere der Welt hinter ihm her wären.

Im selben Augenblick brach über der Arena der Sturm los. Der Regen fiel so schwer und dicht, dass man glauben konnte, das Mittelmeer würde über der Stadt ausgeschüttet. Die Wassermassen schienen den Ort unter sich zu zerschmettern; Wasser spritzte von den Bürgersteigen hoch und bildete sofort Rinnsale und Bäche, die in die Gullys schossen und sie nach kürzester Zeit schlicht überschwemmten. Kein Donner war zu hören. Die Welt schien in der Wasserlawine zu ertrinken.

Alex lief immer weiter. Schon nach wenigen Sekunden war sein Haar völlig durchnässt. Das Wasser rann ihm in Bächen über das Gesicht und er konnte kaum noch etwas sehen. Als er den Ortsrand erreichte, riss er sich die äußeren Teile des Matadorkostüms vom Leib– zuerst den Hut, dann die Jacke und die Krawatte. Er schleuderte alles von sich, als wollte er mit ihnen auch die grausame Erinnerung loswerden.

Rechts von ihm lag das Meer und das schwarze Wasser schien zu kochen, als der schwere, dichte Regen auf die Wasserfläche prasselte. Alex bog von der Straße ab und spürte Sand unter den Füßen. Er war wieder am Strand– demselben Strandabschnitt, auf dem er mit Sabina gelegen hatte, bevor alles anfing. Vor ihm tauchten der Wellenbrecher und der Landesteg auf.

Er sprang auf den Wellenbrecher und kletterte über die riesigen Steine. Das Hemd hing ihm aus der Hose; die Kleider waren völlig durchnässt und klebten auf seiner Haut.

Yassens Jacht war verschwunden.

Alex war nicht sicher, glaubte aber, einen vagen Schatten in der Dunkelheit und dem Regen verschwinden zu sehen. Er musste die Jacht um wenige Sekunden verpasst haben. Keuchend blieb er stehen. Was hatte er überhaupt vorgehabt? Hätte er sich denn noch einmal an Bord gewagt, wenn die Fer de Lance noch am Steg gelegen hätte? Natürlich nicht. Schließlich hatte er mehr Glück als Verstand gehabt, dass er den ersten Versuch überlebt hatte. Dieses Mal war er gerade noch rechtzeitig gekommen, um die Jacht weggleiten zu sehen. Aber erfahren hatte er dabei nichts.

Nein. Aber etwas anderes musste er noch überprüfen.

Er blieb ein paar Augenblicke lang unbeweglich stehen, während ihm der Regen über das Gesicht strömte. Dann wandte er sich um und schleppte sich zum Ort zurück.

In der Straße direkt hinter der Kirche fand er eine Telefonzelle. Er hatte nicht genug Geld bei sich, deshalb war er gezwungen, ein R-Gespräch zu verlangen. Er hoffte, dass es der Angerufene akzeptieren würde. Er rief die Vermittlung an und ließ sich mit der Nummer verbinden, die er in Yassens Handy entdeckt und sich eingeprägt hatte.

»Wer ist dran?«, fragte die Vermittlung.

Alex zögerte. Dann: »Mein Name ist Yassen Gregorovich«, sagte er.

Langes Schweigen herrschte, während die Verbindung hergestellt wurde. Würde sich überhaupt jemand melden? England lag in einer anderen Zeitzone; es war dort zwar eine Stunde früher, aber trotzdem bereits sehr spät.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, trommelte aber immer noch laut auf das gläserne Dach der Telefonzelle. Alex musste lange warten, dann meldete sich die Vermittlung wieder.

»Ihr R-Gespräch ist angenommen worden, Monsieur. Sie können jetzt ihr Gespräch beginnen.«

Wieder Schweigen. Dann kam eine Stimme. Sie sprach nur zwei Worte.

»Damian Cray.«

Alex verschlug es die Sprache.

Die Stimme fragte: »Hallo? Wer ist dran?«

Alex begann heftig zu zittern. Vielleicht war es der Regen, vielleicht aber auch eine verspätete Reaktion auf die vielen Schocks, die er heute erlitten hatte. Er konnte einfach nicht mehr sprechen. Er hörte den Mann am anderen Ende leise atmen.

Dann klickte es und die Leitung war tot.