Pedalkraft

Der Nahverkehrszug lief in den Zentralbahnhof von Amsterdam ein und bremste quietschend. Alex hatte während der Fahrt ganz allein in einem Abteil gesessen und das Gesicht an die kühle Fensterscheibe gepresst. Er hatte keinen Blick für die langen, fast menschenleeren Bahnsteige übrig und auch nicht für die riesige Bahnhofshalle, die sich hoch über ihm wölbte. Dazu war er viel zu erschöpft. Es war schon nach Mitternacht; natürlich war ihm klar, dass Jack immer noch im Hotel auf ihn wartete und wahrscheinlich vor Angst bereits durchdrehte. Er musste unbedingt so schnell wie möglich zu ihr. Plötzlich sehnte er sich danach, umsorgt zu werden. Und er sehnte sich nach einem heißen Bad, heißem Kakao und nach seinem Bett.

Bei seinem ersten Besuch in Sloterdijk war er beide Strecken geradelt, aber dieses Mal hatte er sein Fahrrad am Bahnhof abgestellt, um Kraft zu sparen. Die Bahnfahrt war zwar nur kurz gewesen, aber er hatte sie schon deshalb genossen, weil mit jeder Sekunde der Abstand zu Damian Cray und seiner höllischen Computerfirma größer wurde. Außerdem brauchte er Zeit, um darüber nachzudenken, was seine Erlebnisse in den letzten Stunden bedeuten mochten. Ein Flugzeug, das in Flammen aufgegangen war. Das Gerede von einer VIP-Lounge. Irgendetwas über ein militärisches Satellitensystem. Ein Mann mit Pockennarben im Gesicht

Außerdem hatte Alex immer noch keine Antwort auf die wichtigste Frage überhaupt: Wozu machte Cray das alles? Der Mann war doch unglaublich reich, er hatte Fans auf der ganzen Welt! Noch vor ein paar Tagen hatte ihm der Präsident der Vereinigten Staaten höchstpersönlich die Hand geschüttelt. Seine Musik plärrte immer noch aus dem Radio und seine Konzerte zogen immer noch Massen von Fans an. Und mit dem neuen Gameslayer-Spielsystem würde er noch einmal ein Riesenvermögen in seinen Geldspeicher karren können. Wenn es je einen Mann gab, der Verschwörungen und Morde überhaupt nicht nötig hatte, dann war es Cray.

Und Eagle Strike? Zwei Wörter– aber was bedeuteten sie?

Der Zug kam zum Stillstand und die Türen öffneten sich zischend. Alex vergewisserte sich, dass der Flash Drive immer noch in seiner Hosentasche steckte, und stieg aus.

Zwar waren auf den Bahnsteigen kaum Leute zu sehen, aber die Bahnhofshalle war ziemlich stark belebt. Viele Studenten und junge Touristen waren mit den internationalen Zügen angekommen. Manche lagen schlafend auf dem Boden oder saßen mit ihren überdimensionalen Rucksäcken an die Wand gelehnt. Im harten, künstlichen Licht der Halle wirkten sie wie Schiffbrüchige. Alex schätzte, dass er ungefähr zehn Minuten brauchen würde, um zum Hotel an der Herengracht zu radeln. Wenn er sich, müde wie er war, überhaupt noch an den Weg erinnerte.

Schnell ging er durch die großen Glastüren und trat ins Freie. Sein Mountainbike stand immer noch an derselben Stelle, an ein Geländer gekettet. Er nahm das Kettenschloss ab– doch irgendetwas ließ ihn zögern. Er spürte die Gefahr, bevor er sie wirklich gesehen hatte. Das war etwas, das man ihm nie beigebracht hatte. Selbst sein Onkel, der ihn viele Jahre lang zum Spion erzogen hatte, hätte es nicht erklären können: diesen sicheren Instinkt, der ihm jetzt befahl zu verschwinden– und zwar presto. Er blickte sich verstohlen um. Ein breiter Vorplatz mit Kopfsteinpflaster, in der Nähe glitzerte eine Wasserfläche, dahinter die Stadt. Ein Kiosk, der Bratwürste und Hot Dogs anbot und noch geöffnet war. Die Würste brutzelten leise auf dem Grill, aber der Verkäufer war nicht zu sehen. Mehrere Paare spazierten über die Brücken, die über die Kanäle führten, und genossen die warme, trockene Nachtluft. Darüber ein mitternachtsblauer Himmel.

Irgendwo schlug eine Uhr. Die Glocken hallten über die Stadt.

Dann fiel Alex ein Auto auf, das so geparkt war, dass sein Kühler zum Bahnhof wies. Und plötzlich gingen die Scheinwerfer an, zwei Lichtstrahlen, die wie Arme über den Platz nach Alex zu greifen schienen. Ein paar Sekunden später leuchteten auch bei einem anderen Fahrzeug die Scheinwerfer auf. Dann ein dritter Wagen. Alle drei Autos sahen gleich aus– zweisitzige Smarts. Und immer mehr Scheinwerfer richteten ihr gleißendes Licht auf Alex. Ringsum waren insgesamt sechs Smarts so geparkt, dass sie jeden Winkel des Bahnhofsvorplatzes abdeckten. Alle Autos waren schwarz; ihre kurze und eigenartig aufgeblähte Karosserie ließ sie wie Spielzeugautos aussehen. Aber Alex wusste mit absoluter Sicherheit, dass ihm das Spiel mit diesen Autos bestimmt keinen Spaß machen würde.

Autotüren schwangen auf, Männer stiegen aus und kamen langsam auf ihn zu; vor den Scheinwerfern ihrer Autos zeichneten sie sich nur als schwarze Silhouetten ab. Dann blieben sie stehen; sekundenlang passierte nichts, niemand bewegte sich. Sie hatten ihn, er saß in der Falle. Ohne jede Chance, hier wieder herauszukommen.

Alex streckte den Daumen aus, bis er die Fahrradglocke berührte, die auf dem Lenker angebracht war und die immer so lächerlich gewirkt hatte. Ein kleiner silberner Glockenhebel ragte heraus. Wenn er dagegen drückte, würde die Glocke läuten, nichts weiter. Aber Alex zog den Hebel in die entgegengesetzte Richtung. Der Glockendeckel sprang auf und fünf Knöpfe wurden sichtbar, alle in verschiedenen Farben. Smithers hatte ihre Funktionen im Handbuch genau beschrieben. Die Farben waren zugleich ein Code, damit er sich leichter an die einzelnen Funktionen erinnern konnte.

Die schwarzen Gestalten hatten sich wieder in Bewegung gesetzt und kamen über den Platz auf Alex zu, als ob sie gespürt hätten, dass er etwas plante. Alex drückte auf den orangefarbenen Knopf. Sofort spürte er eine Erschütterung, die durch den Fahrradrahmen lief, als die Enden des Lenkers zu explodieren schienen und zwei winzige Raketen herausschossen. Sie waren mit Wärmesensoren ausgestattet. Mit leuchtendem Jetstrahl rasten sie über den Platz. Die Männer zögerten, blieben verwirrt stehen, duckten sich. Die Raketen stiegen hoch in die Luft und kippten dann in perfekt synchroner Bewegung plötzlich wieder nach unten. Wie Alex erwartet hatte, war die Würstchenbude mit ihrem Grill der heißeste Gegenstand auf dem Platz. Die Geschosse stürzten genau gleichzeitig in die Bude. Es gab eine gewaltige Explosion. Ein Feuerball stieg auf, breitete sich rasch über das Kopfsteinpflaster aus. Das Feuer spiegelte sich im Wasser des Kanals. Brennende Holzstücke und zerfetzte Würstchen wirbelten in allen Richtungen durch die Luft. Die Explosion war zwar nicht stark genug, um Menschen ernsthaft zu gefährden, aber sie hatte jedenfalls für eine Menge Aufmerksamkeit gesorgt. Die Männer waren momentan abgelenkt. Alex schwang sich auf sein Fahrrad und jagte auf die Bahnhofshalle zu. Der Platz war abgeriegelt; es blieb ihm nur ein einziger Fluchtweg.

Doch die Männer nahmen schon die Verfolgung auf, bevor er auch nur die großen Glastüren erreicht hatte. Menschenmengen bewegen sich in der Nacht langsamer als am Tag. Wer nachts rannte, musste einen ganz bestimmten Grund haben, und Alex hatte jetzt nicht mehr den geringsten Zweifel, dass er der Grund dafür war, dass die Männer auf den Bahnhof zurannten. Wahrscheinlich standen sie in Funkkontakt miteinander. Zwei der Männer hatten ihn bereits wieder erblickt, und das bedeutete, dass auch alle anderen sofort Bescheid wussten.

Er hatte die Glastüren hinter sich und sprang wieder auf das Rad. So schnell er konnte, radelte er an den Ticketschaltern, den Zeitungskiosks, den Informationstafeln und den Treppen vorbei, die zu den Bahnsteigen führten. Er musste versuchen, seinen Vorsprung zu vergrößern. Eine Frau mit einem motorbetriebenen Reinigungswagen schob sich plötzlich in seinen Weg. Er musste hart ausweichen, wobei er fast einen Mann mit Bart und einem riesigen Rucksack über den Haufen gefahren hätte. Der Mann fluchte auf Deutsch hinter ihm her. Alex nahm sich nicht die Zeit, sich zu entschuldigen.

Am Ende der Schalterhalle befanden sich zwei große Schwingtüren, doch bevor er sie erreicht hatte, schwangen sie auf und weitere Männer rannten in die Halle. Dieser Fluchtweg war also auch versperrt! Alex riss das Bike herum, trat wie wild in die Pedale und blickte sich hektisch nach einem anderen Fluchtweg um. Eine menschenleere Rolltreppe, die nach unten führte. Bevor er wusste, was er tat, jagte er schon über die Metallstufen hinab, wobei er dermaßen durchgeschüttelt wurde, dass er das Gleichgewicht verlor und erst gegen die eine, dann gegen die andere Seitenwand der Rolltreppe kippte. Wenn sich nur das Vorderrad unter dem gewaltigen Druck nicht verbog oder gar ein Reifen von den scharfen Treppenkanten zerfetzt wurde! Doch dann hatte er das Ende der Treppe erreicht und raste weiter– eine bizarre Jagd durch eine U-Bahn-Station, in der sich Ticketschalter auf der einen und automatische Eingangsschranken auf der anderen Seite befanden. Alex war heilfroh, dass Mitternacht schon vorbei war, denn die Station war fast menschenleer. Dennoch drehten sich ein paar Köpfe überrascht zu ihm um, als er einen der Durchgänge erreichte und darin verschwand.

Trotz seiner panischen Angst war Alex von dem Fahrrad begeistert. Auf Bad Boy zu fahren war ein einmaliges Erlebnis. Der Alurahmen war leicht und wendig, aber dennoch enorm stabil. Alex erreichte eine Ecke und begab sich automatisch in Angriffsstellung– ein Fuß drückte mit Kraft auf das höher stehende Pedal, während sich sein Körper über dem Bike duckte. Der Schwerpunkt von Fahrer und Bike schien sich auf zwei Punkte zu konzentrieren: auf die beiden winzigen Flächen, mit denen die Reifen auf dem Boden auflagen. Mit perfekter Körperkontrolle bog Alex um die Ecke. Das hatte er vor vielen Jahren gelernt, als er mit seinem Onkel auf Mountainbikes durch die Alpen geradelt war. Nie hätte er gedacht, dass er diese Technik einmal in einer U-Bahn-Station mitten in Amsterdam anwenden müsste!

Eine zweite Rolltreppe brachte ihn wieder nach oben. Alex kam an der abgelegenen Seite des Bahnhofsvorplatzes wieder in die Nacht hinaus. Die Kioskruine brannte immer noch lichterloh, und inzwischen war auch ein Polizeifahrzeug eingetroffen und der hysterische Würstchenverkäufer versuchte einem Beamten aufgeregt zu erklären, dass er keine Ahnung habe, wie so was passieren konnte, während er doch nur kurz pinkeln war. Alex hoffte inständig, dass er seine Verfolger abgeschüttelt hatte und unbemerkt davonradeln konnte. Doch innerhalb von nur einer Sekunde wurde diese Hoffnung jäh zerstört. Schon hörte er Reifen über das Pflaster quietschen. Einer der Smarts hatte in knappem Bogen zurückgesetzt und gewendet und schoss jetzt auf ihn zu. Sie hatten ihn schon wieder gesichtet und nahmen die Verfolgung auf!

Alex stieg wie wild in die Pedale. Er raste die Damrak entlang, eine der Hauptstraßen von Amsterdam, und wurde dabei immer schneller. Er wagte einen kurzen Blick zurück. Dem ersten Smart folgte jetzt ein zweiter, und Alex’ Hoffnung sank immer mehr. Klar, dass Menschenbeine im Wettkampf gegen Motoren nicht gewinnen konnten. Es blieben ihm höchstens noch zwanzig Sekunden, bis sie ihn einholten.

Dann schepperte plötzlich eine Glocke und lautes metallisches Rattern war zu hören. Eine alte Straßenbahn kam auf ihn zu, rumpelte in Richtung Bahnhof. Alex wusste plötzlich, was er zu tun hatte. Er hörte, dass die Smarts schon recht dicht hinter ihm fuhren. Die Tram ragte wie eine riesige Metallschachtel vor ihm auf, versperrte ihm jede Sicht nach vorn. Im allerletzten Augenblick riss er den Lenker herum, kreuzte direkt vor die Straßenbahn. Der Fahrer riss entsetzt die Augen auf und Alex spürte das Rütteln des Bikes, als es über die Gleise holperte. Dann war er auch schon auf der anderen Seite und die Straßenbahn war zu einer Mauer geworden, die ihm die Smarts wenigstens für ein paar Sekunden vom Leib halten würde.

Dennoch versuchte eines der Autos, ihm zu folgen. Das war ein furchtbarer Fehler. Der Smart war bereits halb über die Gleise, als die Straßenbahn mit voller Wucht in ihn fuhr. Ein entsetzliches Krachen; dann wurde der Smart durch die Nacht geschleudert. Es folgte ein grauenhaftes Knirschen und metallisches Kreischen, als die Tram entgleiste. Der angehängte Waggon schleuderte in die andere Richtung und krachte gegen den zweiten Smart, der wie eine lästige Fliege zur Seite gewischt wurde. Alex bog von der Damrak ab und radelte über eine weiß gestrichene Brücke. Er ließ eine Szene absoluter Zerstörung zurück, ein wahres Inferno. Schon heulte die erste Polizeisirene.

Alex befand sich jetzt in einem Gewirr schmaler Gassen, die ziemlich belebt waren. Hier leuchteten die bunten Neonreklamen zahlreicher Pornoläden, Striptease-Clubs und Sexkinos. Er war zufällig in den Rotlichtbezirk von Amsterdam geraten und fragte sich, was Jack wohl davon halten würde. In einer der Türen stand eine Frau und zwinkerte ihm zu. Alex ignorierte sie und radelte weiter.

Doch am Ende der Straße hatten drei Motorräder Stellung bezogen.

Alex stöhnte verzweifelt auf. Es gab nur eine einzige Erklärung, warum die Suzuki Bandits so still und bewegungslos mitten auf der Straße standen. Die Fahrer hatten ihn ebenfalls bemerkt, denn alle drei kickten die Starterpedale. Alex war klar, dass er wieder einmal sehr schnell verschwinden musste. Hektisch blickte er sich um.

Auf der einen Straßenseite gingen Dutzende Menschen in den neonbeleuchteten Läden ein und aus. Und auf der anderen Seite erstreckte sich ein schmaler Kanal. Das Ufer war dort dunkel und konnte ihm Schutz bieten. Aber wie sollte er über den Kanal kommen? Die Brücke? Nein, zu weit weg!

Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. Gerade wendete ein Boot, eines der berühmten Ausflugsboote mit Dächern aus Glas, in denen sich die Touristen das Nachtleben von Amsterdam zeigen ließen. Das Boot stand in diesem Augenblick quer zum Kanal, sodass Bug und Heck praktisch die beiden Ufer berührten. Der Kapitän musste die Kanalbreite überschätzt haben, denn das Boot schien sich festgerammt zu haben.

Wieder trat Alex in die Pedale, dieses Mal mit äußerster Kraftanstrengung. Gleichzeitig drückte er auf den grünen Knopf unter dem Glockendeckel. Unter dem Sattel war eine Wasserflasche umgekehrt montiert. Aus den Augenwinkeln sah er, dass daraus eine silbergrün glänzende Flüssigkeit auf die Straße gespritzt wurde. Als Alex auf den Kanal zuraste, zog er eine glitzernde Schneckenspur hinter sich her. Das Heulen der Suzuki-Motoren dröhnte in seinen Ohren; er wusste, dass sie ihn eingeholt hatten. Und dann brach die Hölle los.

Alex trieb das Bike über das Pflaster und riss es hoch. Dicht hinter ihm geriet das erste Motorrad auf die Glitzerspur. Der Fahrer verlor augenblicklich die Kontrolle über seine Maschine. Er flog so hoch über die Straße, dass es aussah, als habe er sich selbst vom Sattel katapultiert. Sein Motorrad krachte gegen das zweite, das zur Seite geschleudert wurde. Währenddessen stürzte Alex mit dem Bike auf das verstärkte Glasdach des Bootes hinunter und radelte über die gesamte Schiffslänge hinüber zur anderen Seite. Unten im Boot drehten sich die verblüfften Gesichter der Fahrgäste zu ihm hinauf. Ein Kellner mit einem Tablett voller Getränke wirbelte herum und die vollen Gläser und Flaschen fielen klirrend auf den Boden. Eine Kamera blitzte auf. Dann erreichte Alex die andere Seite. Sein Schwung reichte aus, um das Rad hochzureißen und auf die Ufermauer hinaufzusetzen. Er bremste und hielt an.

Er blickte zurück, gerade noch rechtzeitig, um die dritte Bandit zu sehen, deren Fahrer es tatsächlich geschafft hatte, den beiden gestürzten Bikes auszuweichen und die Verfolgung fortzusetzen. Er flog knapp über dem Boot durch die Luft und die Touristen starrten mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu ihm hinauf, als das Motorrad in weitem Bogen auf das Glasdach niederging. Ihr Entsetzen war berechtigt: Das Motorrad war viel zu schwer. Es krachte durch das Glasdach, das wegen seiner Wölbungen ohnehin eine hohe Spannung hatte und deshalb bei dem gewaltigen Aufprall in unzählige Scherben explodierte. Motorrad und Fahrer krachten in die Kabine hinunter, in der die Fahrgäste in wilder Panik auseinanderstoben. Teller und Tische barsten förmlich, dann knallten die Leuchtbirnen und alle Lichter verlöschten. Alex nahm sich jedoch nicht die Zeit, das Spektakel bis zum Ende zu beobachten.

Ziemlich schnell erkannte er, dass er sich getäuscht hatte: Das dunkle Kanalufer auf der anderen Seite bot ebenfalls keine Rettung. Auch dort tauchten zwei Bandits auf und jagten mit brüllenden Motoren am Kanal entlang auf ihn zu. Alex, der inzwischen vor Angst halb wahnsinnig war, stieg wieder in die Pedale. Er musste aus ihrem Blickfeld verschwinden! Rasch bog er um eine Ecke, raste quer über einen Platz. Seine Füße schmerzten, Waden und Schenkelmuskeln brannten wie Feuer.

Und dann machte er einen furchtbaren, unverzeihlichen Fehler.

Eine enge Gasse, dunkel, einladend. Sicher würde sie irgendwohin führen, wo sie ihn nicht finden konnten. Jedenfalls glaubte er das. Aber er hatte noch nicht einmal die Hälfte der Gasse hinter sich, als plötzlich ein Mann vor ihm auftauchte, eine Maschinenpistole in der Hand. Hinter ihm bogen die beiden Bandits um die Ecke und schnitten ihm den Rückweg ab.

Der Mann hob die Waffe und zielte. Alex schlug mit aller Kraft auf den gelben Knopf der Fahrradklingel. Wieder gab es einen lauten Knall. Blendend weißes Licht leuchtete auf, als im Digital-Evolution-Scheinwerfer des Fahrrads die Magnesiumfackel aufflammte. Alex konnte kaum glauben, wie stark das Licht war, das aus dem kleinen Scheinwerfer drang. Die gesamte Straße wurde hell erleuchtet und der Mann mit der Waffe war von dem Lichtschein völlig geblendet.

Alex drückte auf den blauen Knopf und ein lautes Zischen war zu hören. Zwischen seinen Beinen war die Luftpumpe am Fahrradrahmen befestigt; aus ihr stieg jetzt eine große blaue Rauchwolke auf. Die beiden Bandits, die von hinten heranrasten, fuhren direkt in die Rauchwolke und verschwanden darin.

Jetzt herrschte auch in der kleinen Gasse das reine Chaos– blauer Rauch und gleißend helles Licht. Der Mann mit der Maschinenpistole feuerte wild um sich, weil er instinktiv vermutete, dass Alex noch irgendwo vor ihm in der Gasse stehen musste. Aber Alex fuhr in diesem Moment bereits an ihm vorbei und die Kugeln verfehlten ihn. Dafür erwischten sie den Fahrer eines der beiden Motorräder, der auf der Stelle tot war. Irgendwie gelang es dem zweiten Fahrer, durch den Rauch zu fahren, aber dann waren ein Krachen, ein Schrei und der Aufprall von Metall auf Stein zu hören. Das Rattern der Maschinenpistole verstummte abrupt. Alex grinste vor sich hin, als ihm klar wurde, was passiert sein musste: Die zweite Bandit hatte den Mann mit der Maschinenpistole über den Haufen gefahren.

Aber das Grinsen verging ihm schnell wieder. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ein Smart, der zwar noch recht weit entfernt war, sich aber schnell näherte. Wie viele Smarts gab es denn noch, die ihn verfolgten? Bei den bisherigen Materialverlusten mussten doch auch Crays Leute irgendwann die Nase voll von der Sache haben und den geordneten Rückzug antreten! Doch dann fiel Alex der Flash Drive in seiner Hosentasche wieder ein; klar, dass Cray notfalls ganz Amsterdam auseinandernehmen würde, um den Drive zurückzubekommen.

Vor ihm tauchte nun eine Brücke auf, ein altmodisches Bauwerk aus Eisen und Holz, das an dicken Kabeln mit Gegengewichten hing. Der Kanal, über den sie führte, war sehr viel breiter als die anderen Kanäle. Im selben Augenblick näherte sich eine Barkasse. Alex wunderte sich, denn die Brücke war viel zu niedrig, um das Schiff durchzulassen. Doch dann leuchtete eine rote Ampel auf: Die Brücke begann sich zu heben.

Alex warf einen Blick zurück. Der Smart war noch ungefähr 50Meter hinter ihm. Dieses Mal gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken oder zu fliehen. Er blickte wieder nach vorn. Wenn er irgendwie an das andere Kanalufer gelangte, würde er wirklich verschwinden können. Denn hier würde ihm niemand folgen können– jedenfalls nicht, bis die Brücke wieder herabgelassen wurde. Aber es sah so aus, als käme er bereits zu spät. Die Brücke hatte sich schon in der Mitte geteilt und beide Teile hoben sich gleichmäßig in die Höhe. Die Lücke zwischen ihnen wurde mit jeder Sekunde größer.

Der Smart raste heran.

Alex blieb keine andere Wahl.

Er spürte scharfe Muskelschmerzen. Trotzdem stieg er mit seiner ganzen restlichen Kraft in die Pedale. Das Fahrrad wurde immer schneller, aber auch das Motorengeräusch immer stärker. Es dröhnte in seinen Ohren, doch er wagte nicht, sich umzusehen. Seine gesamte Energie war auf die schnell hochsteigende Brücke gerichtet.

Als er endlich auf die Holzplanken gelangte, standen die Brückenteile bereits in einem Winkel von 45Grad zueinander. Wirre Gedanken schossen durch seinen Kopf, etwas aus einer lang vergessenen Mathestunde. Ein rechtwinkliges Dreieck. An der Tafel hatte der Lehrer etwas dazu erklärt. Und jetzt fuhr Alex selbst eine der Dreieckseiten hinauf!

Aber es war unmöglich– unmöglich zu schaffen! Jede Umdrehung der Pedale kostete ihn noch mehr Anstrengung, und doch hatte er noch nicht einmal die Hälfte des Anstiegs hinter sich. Er sah die gähnende Lücke vor sich, sah, dass sie riesig war, sah darunter das kalte, schwarze Wasser des Kanals. Der Smart hatte aufgeholt; er war schon so nahe, dass Alex außer dem Motorenlärm nichts anderes mehr hören konnte. Benzingeruch stieg in seine Nase.

Noch eine letzte Umdrehung der Pedale, eine letzte, verzweifelte Kraftanstrengung– und gleichzeitig drückte er auf den roten Knopf in der Klingel. Der Schleudersitz unter seinem Gesäß explodierte. Pressluft oder irgendein hoch entwickeltes hydraulisches System katapultierte den Sattel schräg vorwärts durch die Luft. Alex schoss hoch hinauf, flog über die Lücke zwischen den Brückenteilen, fiel auf der anderen Seite wieder herunter und rollte, sich mehrfach überschlagend, die Brückenhälfte hinunter. Unten blieb er benommen liegen und starrte zur Brücke hinauf. Völlig verblüfft sah er, dass der Smartfahrer tatsächlich versucht hatte, ihn auch über die Brücke zu verfolgen. Der Smart hing nur noch mit den Stoßstangen an den beiden Brückenhälften, die sich immer weiter öffneten. Alex konnte die weit aufgerissenen Augen und die vor Angst gefletschten Zähne des Fahrers sehen. Dann stürzte der Smart in die Tiefe, fiel mit lautem Platschen in den Kanal und versank sofort im schwarzen Wasser.

Alex rappelte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch. Der Sattel lag neben ihm und er hob ihn auf. An der Unterseite war eine Mitteilung befestigt, die man nur lesen konnte, wenn der Sattel vom Rahmen getrennt wurde.

Wenn du dies lesen kannst,
schuldest du mir ein neues Fahrrad.

Smithers hatte wirklich einen ziemlich bizarren Humor. Mit dem Sattel unter dem Arm humpelte Alex zu seinem Hotel. Er war viel zu geschafft, um über Smithers’ Witz auch nur müde grinsen zu können.