Geht mich nichts an

Alex Rider lag auf dem Rücken und ließ sich von der Mittagssonne trocknen.

Er hatte im Meer gebadet, das Salzwasser rann durch sein Haar und verdunstete auf seiner Brust. Die Shorts klebten nass an seinem Körper. In diesem Moment war er so glücklich, wie er nur sein konnte: Von der ersten Minute an, in der das Flugzeug in Montpellier gelandet und er in den hell glänzenden Mittelmeertag hinausgetreten war, hatten sich die Ferien als absolut perfekt erwiesen. Alex mochte Südfrankreich sehr– die lebhaften Farben, die Düfte, die langsame Lebensweise. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber allmählich wurde er hungrig, also musste es wohl bald Mittagessen geben.

Für einen kurzen Moment war dröhnende Musik zu hören, weil ein Mädchen mit einem Radiogerät vorbeiging. Alex hob den Kopf, um ihr nachzusehen– und erstarrte. Im selben Augenblick verlöschte die Sonne, das Meer gefror zu Eis und der gesamten Welt stockte der Atem.

Alex’ Blick war dem Mädchen gefolgt und dann an ihr vorbei zu der Kaimauer gewandert, die Strand und Hafen voneinander trennte. Dort glitt gerade eine elegante Jacht heran und begann mit dem Anlegemanöver. Sie war riesig, fast so groß wie die Ausflugsschiffe, mit denen die Touristen an der Küste entlangschipperten. Auf diese Jacht allerdings würde kein Tourist jemals einen Fuß setzen. Geräuschlos glitt sie durch das Wasser und wirkte mit ihren dunkel getönten Fenstern streng und abweisend. Ihr weißer Bug ragte hoch empor wie die Kreidefelsen von Südengland. Und an der äußersten Bugspitze stand ein Mann, der unbeweglich und mit ausdruckslosem Gesicht geradeaus starrte. Ein Gesicht, das Alex sofort wiedererkannte.

Yassen Gregorovich. Kein Zweifel.

Alex hatte sich aufgerichtet, saß völlig still am Strand, auf einen Arm gestützt, die Hand halb im Sand begraben. Ein etwa 25-jähriger Mann war aus der Kabine gekommen und nun damit beschäftigt, die Jacht am Steg zu vertäuen. Er war klein und kräftig, mit überlangen, fast affenähnlichen Armen, und trug ein Netzhemd, das die Tätowierungen sehen ließ, die seine Arme und Schultern vollständig bedeckten. Ein Matrose? Yassen machte keinerlei Anstalten, dem Mann bei der Arbeit zu helfen. Ein dritter Mann lief eilig über die Hafenmole auf die Jacht zu. Er war fett und kahl und trug einen schäbigen weißen Anzug. Seine Glatze hatte zu viel Sonne abbekommen und glänzte nun in hässlichem Krebsrot.

Yassen bemerkte den Mann und ging ihm entgegen. Seine Bewegungen waren fließend und geschmeidig. Er trug Bluejeans und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Andere Männer hätten auf dem schmalen, heftig schwankenden Landungssteg vielleicht das Gleichgewicht verloren, aber Yassen betrat ihn mit sicherem Schritt. Er strahlte etwas Unmenschliches aus, und es war offensichtlich, dass dieser Mann mit dem sehr kurz geschnittenen Haar, den harten stahlblauen Augen und dem blassen, ausdruckslosen Gesicht kein Urlauber war. Aber nur Alex kannte die Wahrheit über ihn. Yassen Gregorovich war ein Berufskiller. Er war der Mann, der Alex’ Onkel ermordet und damit Alex’ gesamtes Leben verändert hatte. Er wurde überall auf der Welt steckbrieflich gesucht.

Was hatte dieser Mann hier am Mittelmeer zu suchen? In diesem kleinen Ferienort, hinter dem sich die Sumpfgebiete und Lagunen der Camargue erstreckten? Schließlich hatte Saint-Pierre absolut nichts zu bieten, abgesehen von seinen Stränden, den Campingplätzen, zu vielen Restaurants und einer überdimensionalen Kirche, die eher wie eine Festung aussah.

»Alex? Wo starrst du jetzt wieder hin?«, murmelte Sabina, die neben ihm lag. Alex zwang sich, seinen Blick von der Jacht zu lösen.

»Ich…« Er stockte, wusste nicht, was er sagen sollte.

»Würdest du vielleicht meinen Rücken noch mal eincremen? Ich verglühe förmlich.«

Das war typisch Sabina. Sie war schlank und dunkelhaarig und wirkte manchmal sehr viel älter als fünfzehn. Aber sie gehörte zu den Mädchen, die wahrscheinlich schon mit elf ihre Teddybären gegen Teddyboys austauschten. Sabina benutzte Lichtschutzfaktor25 und schien jede Viertelstunde noch mehr Sonnencreme zu benötigen.

Alex warf einen Blick auf ihren Rücken, der bereits eine perfekte Bronzetönung hatte. Sie trug einen Bikini aus so winzigen Stoffteilen, dass nicht mal mehr ein Muster darauf gepasst hatte. Ihre Augen wurden von einer dunklen Dior-Sonnenbrille verdeckt, eine Imitation, die sie wahrscheinlich für ein Zehntel des Originalpreises erstanden hatte. Sie war in Tolkiens Herr der Ringe vertieft, wedelte aber gleichzeitig mit der Sonnencremeflasche.

Wieder warf Alex einen Blick zur Jacht hinüber. Yassen schüttelte gerade dem Glatzkopf die Hand. Der Matrose stand wartend in einigem Abstand daneben. Selbst aus dieser Entfernung konnte Alex sehen, dass Yassen alles unter Kontrolle hatte: Wenn er sprach, hörten die beiden anderen aufmerksam zu. Alex hatte einmal beobachtet, wie Yassen einen Mann erschoss, nur weil diesem eine Kiste aus der Hand gerutscht war. Er strahlte eine Kälte aus, gegen die selbst die warme Mittelmeersonne nichts auszurichten schien. Seltsamerweise gab es sehr wenige Menschen auf der Welt, die in der Lage gewesen wären, Yassen zu identifizieren. Alex war einer von ihnen. Hatte also Yassens Auftauchen hier etwas mit ihm zu tun?

»Alex…?«, fragte Sabina.

Die drei Männer entfernten sich von der Jacht und gingen in Richtung Ortsmitte. Alex sprang plötzlich auf, griff nach seinem T-Shirt und schlüpfte in seine Schuhe.

»Bin gleich wieder da!«, sagte er.

»Wohin gehst du denn?«

»Ich hol mir was zu trinken.«

»Ich hab doch Wasser mitgebracht!«

»Nein, danke, ich brauche eine Cola.«

Doch während er hastig sein T-Shirt über den Kopf zog, wurde ihm klar, dass das keine sehr gute Idee war. Vielleicht wollte Yassen Gregorovich in der Camargue nur Urlaub machen. Oder vielleicht plante er ein Attentat auf den Dorfbürgermeister. Was auch immer, es hatte sicherlich nichts mit Alex zu tun. Außerdem wäre es ausgesprochen idiotisch, sich freiwillig noch einmal mit Yassen anzulegen. Alex erinnerte sich noch lebhaft daran, was er bei ihrem letzten Zusammentreffen geschworen hatte, damals, auf dem Dach eines Hochhauses im Zentrum von London.

Sie haben Ian Rider getötet. Eines Tages werde ich Sie töten.

Damals hatte er jedes Wort genau so gemeint– aber das war eben damals gewesen. Jetzt in diesem Moment wollte er absolut gar nichts mit Yassen oder mit dessen mörderischer Welt zu tun haben.

Und doch

Yassen war hier. Und Alex musste unbedingt herausfinden, warum.

Inzwischen gingen die drei Männer die Hauptstraße entlang, die parallel zum Ufer verlief. Alex rannte quer über den Strand, wobei er an der Stierkampfarena aus weißem Beton vorbeikam, die ihm gleich am ersten Tag völlig absurd vorgekommen war– bis ihm eingefallen war, dass der Ort nur 150Kilometer von der spanischen Grenze entfernt lag. Für heute Abend war ein Stierkampf angesagt und die Leute standen bereits jetzt vor den winzigen Kartenschaltern Schlange, um Eintrittskarten zu kaufen. Sabina und Alex hatten beschlossen, nicht hinzugehen. »Hoffentlich gewinnt der Stier«, hatte Sabina nur gemeint.

Yassen und seine Begleiter bogen nach links ab und verschwanden in Richtung Ortsmitte. Alex lief schneller, denn er wusste, wie leicht er die Männer aus den Augen verlieren konnte, wenn sie in das Gewirr der Gassen und Straßen um die Kirche herum eintauchten. Bei der Verfolgung musste er nicht besonders vorsichtig sein: Yassen schien sich hier völlig sicher zu fühlen und außerdem hätte er in diesem überfüllten Touristenort einen Verfolger wohl gar nicht bemerken können. Aber bei Yassen wusste man nie. Alex’ Herzschlag beschleunigte sich bei jedem Schritt. Sein Gaumen war völlig ausgetrocknet.

Doch dann war Yassen plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Alex blickte sich hektisch um. Auf allen Seiten drängelten sich die Leute, strömten aus den Läden und in die Restaurants, deren Tische und Stühle im Freien aufgestellt waren und in denen bereits das Mittagessen serviert wurde. Der Duft von Paella hing in der Luft. Alex verfluchte sich selbst, weil er zu weit zurückgeblieben war, nicht gewagt hatte, sich näher an die drei Männer heranzuschleichen. Sie konnten in irgendeinem Gebäude verschwunden sein. War es nicht vielleicht sogar möglich, dass er sich das alles nur eingebildet hatte? Der Gedanke gefiel ihm, zerplatzte aber sofort wie eine Seifenblase, als er die Männer wieder erspähte. Sie saßen auf der Terrasse eines der eleganteren Restaurants am Platz und der Glatzköpfige winkte gerade den Kellner herbei.

Alex stellte sich vor einen Laden, in dem Postkarten verkauft wurden, und benutzte die Kartenständer als Sichtschutz zum Restaurant. Daneben befand sich ein Café, in dem unter großen bunten Sonnenschirmen Snacks und Drinks angeboten wurden. Er schob sich in das Café. Yassen und die anderen Männer saßen jetzt kaum noch zehn Meter von ihm entfernt und Alex konnte Einzelheiten erkennen. Der Matrose stopfte sich gierig Brotstücke in den Mund, als habe er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Der Kahle redete leise und eindringlich auf Yassen ein, wobei er zur Betonung mit geballter Faust herumfuchtelte. Yassen hörte geduldig zu. Der Lärm auf dem Platz war so stark, dass Alex kein Wort verstehen konnte. Vorsichtig blickte er um einen der Sonnenschirme herum. Dabei rempelte er einen der Kellner an, der daraufhin eine Flut von französischen Flüchen ausstieß. Yassen blickte herüber und Alex duckte sich schnell, um nicht entdeckt zu werden.

Die Terrasse des Restaurants, auf der die Männer saßen, wurde durch eine Reihe hoher Pflanzen in Holztöpfen vom Café getrennt. Alex schlüpfte zwischen zwei Töpfen hindurch und schlich von dort schnell in den dunkleren Innenraum des Restaurants. Hier war er weniger den Blicken ausgesetzt und fühlte sich sicherer. Die Küche war direkt hinter ihm; auf einer Seite war eine Bar und vor ihm standen ungefähr ein Dutzend Tische, an denen jedoch niemand saß. Alle Gäste hatten es vorgezogen, draußen auf der Terrasse zu essen, und die Kellner eilten mit beladenen Tabletts vorbei.

Alex spähte durch die offene Tür– und hielt den Atem an: Yassen war aufgestanden und kam direkt auf ihn zu! Hatte er Alex bemerkt? Doch dann sah er, dass Yassen etwas in der Hand hielt. Ein Handy. Wahrscheinlich hatte er einen Anruf erhalten und kam nun in den leeren Innenraum des Restaurants, um ungestört telefonieren zu können. Noch ein paar Schritte bis zur Tür. Alex blickte sich schnell um und bemerkte hinter sich eine kleine Nische, die durch einen Perlenvorhang vom restlichen Raum abgetrennt war. Schnell huschte er durch den Vorhang und fand sich in einer kleinen Abstellkammer wieder, in die er mit knapper Not noch hineinpasste. Er zwängte sich zwischen Besen, Eimer, Schachteln und Kisten mit leeren Weinflaschen. Der Perlenvorhang bewegte sich noch kurz, dann hing er wieder still herab.

Und Yassen war plötzlich sehr nahe.

»Ich bin vor zwanzig Minuten angekommen«, sagte er gerade. Er sprach Englisch, und sein russischer Akzent war kaum hörbar. »Franco wartete bereits auf mich. Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert.«

Stille. Alex versuchte, den Atem anzuhalten. Er befand sich nur Zentimeter von Yassen entfernt, nur durch einen dünnen Vorhang aus bunten Perlenschnüren von ihm getrennt. Yassen war aus der gleißenden Mittagssonne gekommen und Alex hatte es nur der Dunkelheit im Innenraum des Restaurants zu verdanken, dass Yassen ihn nicht sehen konnte.

»Wir machen es heute Nachmittag. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist besser, wenn wir nicht mehr telefonieren. Ich werde Ihnen genau berichten, wenn ich wieder in England bin.«

Yassen Gregorovich beendete das Gespräch und erstarrte dann plötzlich. Alex konnte förmlich sehen, wie ein innerer Instinkt den Killer warnte, dass er belauscht worden war. Das Handy lag noch in seiner Hand, aber es hätte genauso gut ein Messer sein können, bereit zum tödlichen Wurf. Yassens Kopf bewegte sich nicht, aber seine Augen huschten hin und her und suchten nach dem Feind. Alex blieb hinter dem Vorhang und wagte nicht, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen. Was sollte er jetzt tun? Er unterdrückte den Impuls, einfach loszulaufen und sich ins Freie zu retten. Nein– aussichtslos! Nach nicht mal zwei Schritten würde er tot sein. Yassen würde ihn umbringen, ohne zu prüfen, wen er da vor sich hatte und warum er belauscht worden war. Ganz langsam blickte sich Alex nach einer Waffe um, nach irgendetwas, womit er sich verteidigen konnte.

Plötzlich flog die Küchentür auf und ein Kellner kam mit einem voll beladenen Tablett heraus, eilte schwungvoll um Yassen herum und rief gleichzeitig etwas über die Schulter zurück in die Küche. Yassens Erstarrung löste sich. Er ließ das Handy in seine Hosentasche gleiten und ging wieder zu den beiden Männern nach draußen.

Alex stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Was genau hatte er erfahren?

Yassen Gregorovich war hier, um jemanden umzubringen; das schien Alex absolut sicher. Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert. Aber wenigstens hatte Alex seinen eigenen Namen nicht gehört. Also hatte er Recht gehabt: Das Opfer war wahrscheinlich irgendein Franzose, der hier in Saint-Pierre wohnte. Die Sache sollte am Nachmittag über die Bühne gehen. Ein Schuss, vielleicht ein Messer, das kurz im Sonnenlicht aufblitzte. Ein winziger Augenblick nackter Gewalt. Und irgendwo auf der Welt würde sich der Auftraggeber zurücklehnen, zufrieden, wieder einen Feind weniger zu haben.

Die Frage war nur, ob Alex etwas unternehmen sollte.

Er schob den Perlenvorhang beiseite und verließ das Restaurant durch den Hintereingang. Erleichtert stellte er fest, dass die Straße vom Platz wegführte. Erst jetzt brachte er seine Angst so weit unter Kontrolle, dass er versuchen konnte, seine Gedanken zu ordnen. Natürlich konnte er zur Polizei gehen, konnte ihr erzählen, dass er ein Spion ist, der schon dreimal für den Britischen Militärgeheimdienst MI6 gearbeitet hat. Ja, könnte er sagen, ich habe Yassen ganz sicher wiedererkannt und ich weiß, wer und was der Russe ist, und überhaupt findet heute Nachmittag ein Mord statt, aber er kann noch verhindert werden.

Und was würde ihm das einbringen? Brüllendes Gelächter. Sein Französisch würden die Polizisten zwar gut verstehen, ihm aber kein Wort abkaufen. Schließlich war er nichts weiter als ein 14-jähriger Schüler aus England, ein braun gebrannter Junge mit Sand im Haar. Sie würden ihn bedauernd ansehen und dann zur Tür hinausschieben.

Okay, zweite Möglichkeit: Er konnte Sabina und ihre Eltern einweihen. Aber auch das wollte Alex nicht. Schließlich hatten sie ihn hierher eingeladen. Warum sollte er ihnen mit dieser Mordgeschichte die Ferien verderben? Außerdem würden sie ihm wahrscheinlich genauso wenig glauben wie die Polizei. Alex hatte schon einmal versucht, Sabina die Wahrheit zu sagen, als er mit ihrer Familie ein paar Tage in Cornwall verbracht hatte. Sie hatte geglaubt, er mache Witze.

Er blickte sich um: Touristenläden, Eisdielen, unzählige glückliche Menschen, die sich durch die Gassen schoben. Wie auf einer Ansichtskarte. Die wirkliche Welt. Warum zum Teufel sollte er sich schon wieder mit Spionen und Profikillern einlassen? Er verbrachte hier seine Ferien! Alles andere ging ihn nichts an! Gar nichts! Sollte Yassen doch abknallen, wen er wollte. Alex würde ihn sowieso nicht aufhalten können, selbst wenn er es versuchte. Nein– es war weit besser, zu vergessen, dass er den Russen überhaupt kannte.

Alex holte tief Luft und ging die Straße entlang zum Strand zurück, zu Sabina und ihren Eltern. Unterwegs überlegte er, welche Ausrede er ihnen auftischen konnte: Er brauchte einen plausiblen Grund dafür, dass er so plötzlich verschwunden war.

An diesem Nachmittag ließen sich Sabina und Alex von einem Bauern aus dem Dorf nach Aigues-Mortes mitnehmen, einer Festungsstadt am Rande der Salzsümpfe. Sabina wollte sich endlich einmal von ihren Eltern abseilen, wollte sich einfach nur in ein französisches Café setzen und dem Gedrängel der Einheimischen und Touristen auf den Straßen zusehen. Sie hatte ein Punktesystem entwickelt, mit dem sie gut aussehende französische Jungs bewertete– Punktabzug gab es für dünne Beine, schiefe Zähne und miserable Klamotten. Bisher hatte keiner mehr als sieben von insgesamt zwanzig möglichen Punkten geschafft. Normalerweise hätte es Alex genossen, einfach neben ihr zu sitzen und ihr lautes, frisches Lachen zu hören.

Normalerweise. Aber nicht an diesem Nachmittag.

Nichts stimmte nun mehr. Die gewaltigen Mauern und Türme um ihn herum kamen ihm meilenweit entfernt vor und die Touristenmengen schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Nur zu gern hätte Alex diesen Nachmittag genossen. Er sehnte sich danach, einmal normale Ferien zu erleben. Aber seit er Yassen gesehen hatte, war nichts mehr wie vorher.

Alex hatte Sabina bei einem Tennisturnier in Wimbledon kennengelernt, wo er Balljunge und sie Ballmädchen gewesen waren. Sie hatten sofort Freundschaft geschlossen. Sabinas Mutter Liz war Modedesignerin, ihr Vater Edward Journalist. Geschwister hatte Sabina nicht. Hier in Südfrankreich hatte Alex den Vater noch nicht sehr oft zu Gesicht bekommen. Er war erst später mit dem Zug aus Paris angereist und hatte seither an irgendeinem Zeitungsartikel gearbeitet.

Sabinas Familie hatte ein Haus am Ortsrand von Saint-Pierre gemietet, direkt am Ufer der Petit Rhône. Es war ein sehr einfaches, für diese Gegend typisches Haus mit leuchtend weißen Mauern und blauen Fensterläden. Das Dach war mit Lehmziegeln gedeckt, die im Laufe der Jahre von der Sonne dunkel gebrannt worden waren. Das Haus hatte drei Schlafzimmer und im Erdgeschoss eine luftige, altmodisch eingerichtete Küche. Von hier führte eine Tür in den verwilderten Garten und zum Swimmingpool. Direkt daneben lag ein Tennisplatz, durch dessen Asphaltbelag Unkraut spross. Alex hatte das Haus sofort gemocht. Von seinem Schlafzimmerfenster aus hatte er einen wunderbaren Blick über den Fluss. Abends saßen er und Sabina oft stundenlang auf einem alten Weidensofa, unterhielten sich oder schauten gedankenverloren auf den Fluss hinaus.

Die erste Ferienwoche war wie im Flug vergangen. Sie schwammen im Pool oder im Meer, das kaum eine Meile entfernt war. Sie wanderten, kletterten, fuhren mit Kanus auf dem Fluss oder ritten über die Felder (allerdings nur ein einziges Mal, denn Reiten gehörte nicht zu Alex’ Lieblingssportarten). Alex mochte Sabinas Eltern sehr. Sie gehörten zu den Menschen, die noch nicht vergessen hatten, dass sie selbst auch einmal Teenager gewesen waren; sie ließen ihn und Sabina selbst entscheiden, wie sie ihre Ferien verbringen wollten. Die letzten sieben Tage waren einfach wunderbar gewesen.

Bis Yassen aufgetaucht war.

Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert. Wir machen es heute Nachmittag

Was hatte der Russe nur in Saint-Pierre vor? Welches böse Schicksal hatte ihn ausgerechnet hierhergebracht und dafür gesorgt, dass schon wieder ein dunkler Schatten auf Alex’ Leben fiel? Trotz der Nachmittagshitze überlief den Jungen ein Schauder.

»Alex?«

Er merkte plötzlich, dass Sabina mit ihm sprach, und drehte sich zu ihr. Sie starrte ihn mit besorgter Miene über den Tisch hinweg an. »Du bist meilenweit weg! Woran denkst du denn jetzt wieder?«, fragte sie.

»An nichts Besonderes.«

»Den ganzen Nachmittag warst du irgendwie anders. Ist heute Morgen etwas passiert? Als du plötzlich vom Strand verschwunden bist?«

»Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich wollte etwas trinken.« Er hasste es, sie anlügen zu müssen, aber er konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen.

»Ich hab gerade gesagt, dass wir bald aufbrechen sollten. Ich habe meinen Eltern versprochen, dass wir spätestens um fünf Uhr zu Hause sind. Oh mein Gott! Schau dir nur den Typ dort drüben mal an!« Sie zeigte auf einen Jungen, der gerade an ihnen vorbeiging. »Vier Punkte, Maximum. Gibt’s denn in ganz Frankreich keine gut aussehenden Jungs mehr?« Sie warf Alex einen kurzen Blick zu. »Von dir abgesehen, natürlich.«

»Ach ja? Wie viele Punkte schaffe ich denn?«, grinste Alex.

»Na ja…« Sabina überlegte eine Weile. »Ungefähr zwölfeinhalb«, sagte sie dann. »Aber mach dir nichts draus, Alex. In zehn Jahren bist du perfekt.«

Schreckliche Ereignisse kündigen sich manchmal schon vorher durch kleine Warnzeichen an.

Ein solches Warnzeichen war der Polizeiwagen, der in einem Eiltempo die breite, leere Straße nach Saint-Pierre entlangraste. Alex und Sabina saßen auf den Beifahrersitzen desselben Lastwagens, der sie in die Stadt gebracht hatte. Sie schauten gerade auf eine Herde Kühe hinaus, die auf den Weiden neben der Straße grasten, als ein blau-weißer Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht den Lastwagen überholte und dann weiterraste. Alex konnte Yassen nicht aus seinen Gedanken vertreiben, und als er jetzt das Polizeiauto sah, spürte er plötzlich, wie sich sein Magen verkrampfte. Er versuchte sich zu beruhigen. Das war sicherlich nur ein ganz normaler Streifenwagen. Wahrscheinlich hatte das alles nichts zu bedeuten.

Doch dann tauchte auf einmal ein Hubschrauber auf. Er schien ganz in der Nähe abzuheben und schwang sich über ihnen in den hellen Himmel.

»Da muss etwas passiert sein«, sagte Sabina. »Der Hubschrauber kommt direkt aus dem Dorf.«

Aber kam er wirklich aus dem Dorf? Alex war sich nicht sicher. Er schaute ihm nach, als er über sie hinwegflog und dann in Richtung Aigues-Mortes verschwand. Alex atmete immer schneller und spürte, wie sich in ihm eine grauenhafte Furcht zusammenballte.

Und dann bogen sie um die Kurve und Alex wusste, dass seine größten Ängste wahr geworden waren– aber auf eine Art und Weise, die er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen hätte vorstellen können.

Trümmer, zerborstene Mauern, verbogene Stahlträger. Dicker schwarzer Rauch stieg in sich kräuselnden Schwaden in den Himmel hinauf. Ihr Ferienhaus war ein einziger Trümmerhaufen. Nur eine Wand war unversehrt geblieben, schien vortäuschen zu wollen, dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Aber der Rest des Hauses war verschwunden. Einfach weg. Alex erkannte sein Messingbett, das halb in der Luft hing. Ein paar blau gestrichene Fensterläden lagen 50Meter entfernt im Gras. Das Wasser im Swimmingpool war braun und schlammig. Die Explosion musste gewaltig gewesen sein.

Um die Ruine herum war eine Flotte von Einsatzwagen und Kleinbussen geparkt. Polizeifahrzeuge, Krankenwagen, Feuerwehren, Anti-Terror-Truppen. Alex kam diese Szene völlig unwirklich vor: Die Fahrzeuge sahen wie bunte Spielzeugautos aus, wirkten irgendwie fremdartig auf ihn.

»Mum! Dad!« Sabina schrie. Sie sprang vom Lastwagen, noch bevor er angehalten hatte, rannte über die kiesbedeckte Auffahrt und zwängte sich zwischen den Männern der Rettungsdienste mit ihren verschiedenen Uniformen durch. Auch Alex stieg hastig aus. Der Schock lastete so schwer auf ihm, dass er den Boden kaum unter den Füßen spürte– es war, als müsse er im Erdboden versinken. Ihm war schwindlig; alles drehte sich vor seinen Augen und er glaubte ohnmächtig zu werden.

Niemand sprach ihn an, als er auf das Haus zuging. Als ob er gar nicht existierte. Dann tauchte Sabinas Mutter plötzlich von irgendwoher auf, das Gesicht von Asche und Tränen überzogen, und er dachte, wenn sie diese Explosion überlebt hatte, würde vielleicht auch Edward Pleasure überlebt haben. Doch als er sah, dass Sabina heftig zu zittern begonnen hatte und ihrer Mutter weinend in die Arme fiel, wusste er, dass alles schlimmer war. Viel schlimmer.

Er kam näher. Liz versuchte ihrer Tochter zu erklären, was geschehen war.

»Wir wissen nicht genau, wie es passiert ist. Dad ist mit dem Hubschrauber nach Montpellier gebracht worden. Er lebt, Sabina, aber er ist sehr schwer verletzt. Wir gehen jetzt zu ihm. Du weißt, dass dein Vater eine Kämpfernatur ist. Aber die Ärzte sind nicht sicher, ob er durchkommt. Wir wissen es einfach nicht…«

Brandgeruch hüllte Alex ein. Der Rauch verdunkelte die Sonne. Seine Augen begannen zu tränen und er rang nach Luft.

Das alles war seine Schuld.

Er wusste nicht, warum es passiert war, aber er wusste mit absoluter Sicherheit, wer dafür verantwortlich war.

Yassen Gregorovich.

Geht mich nichts an, hatte Alex gedacht. Das hier war die Quittung.